Das Buch
Die nicht allzu ferne Zukunft: Zwei riesige Flutwellen haben New York im Laufe von hundert Jahren getroffen und die Stadt in eine Art Supervenedig verwandelt, in der man sich mit Booten statt mit Autos fortbewegen muss und die Wolkenkratzer wie Inseln aus dem Ozean ragen. Aber das New York des Jahres 2140 ist keine untergegangene Stadt, ganz im Gegenteil: Die Maschinerie dieser Metropole läuft ungehindert weiter. Auch nach der ökologischen Katastrophe ist Profit alles, was hier zählt – und das gilt nicht nur für New York, sondern für die ganze Welt, die unter den Folgen des Klimawandels leidet. Haben die Menschen nichts gelernt? Das könnte man meinen. Doch dann geschieht etwas, was die Richtung der Zivilisation für immer verändern wird. Und es geschieht in New York, der irrsinnigsten Stadt der Welt …
Mit »New York 2140« legt Bestsellerautor Kim Stanley Robinson einen so meisterhaften wie aktuellen Roman vor – ein Gesellschaftspanorama nicht nur der Zukunft, sondern auch der Gegenwart, und ein faszinierender Kommentar zum wichtigsten Thema unserer Zeit.
Der Autor
Kim Stanley Robinson wurde 1952 in Illinois geboren, studierte Literaturwissenschaft an der University of California in San Diego und promovierte über die Romane von Philip K. Dick. Mitte der Siebzigerjahre veröffentlichte er seine ersten Kurzgeschichten, 1984 seinen ersten Roman. 1992 erschien mit »Roter Mars« der Auftakt zu seiner Mars-Trilogie, die ihn weltberühmt machte und für die er mit dem Hugo, dem Nebula und dem Locus Award ausgezeichnet wurde. Zugleich hat sich Kim Stanley Robinson mit zahlreichen Texten als wichtige Stimme in der amerikanischen Umweltdebatte etabliert. Der Autor lebt mit seiner Familie in Davis, Kalifornien. Im Wilhelm Heyne Verlag sind zuletzt seine Romane »2312«, »Schamane« und »Aurora« erschienen.
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KIM STANLEY ROBINSON
NEW YORK
2140
ROMAN
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Jakob Schmidt
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die amerikanische Originalausgabe erscheint unter dem Titel
NEW YORK 2140
bei Orbit, New York
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Zitatnachweise: John Dos Passos: Manhattan Transfer, übersetzt von Dirk van Gunsteren, Rowohlt, Reinbek 2016; Walt Whitman: Grasblätter, übersetzt von Jürgen Brôcan, Carl Hanser Verlag, München 2009; Ambrose Bierce: Des Teufels Wörterbuch, übersetzt von Gisbert Haefs, Manesse Verlag, Zürich 2013.
Redaktion: Alexander Martin
Copyright © 2017 by Kim Stanley Robinson
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe und
der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlagillustration: Stephan Martiniere
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-21658-0
V002
www.diezukunft.de
INHALT
ERSTER TEIL
Die Tyrannei der versenkten Kosten
ZWEITER TEIL
Fachmännische Selbstüberschätzung
DRITTER TEIL
Liquiditätsfalle
VIERTER TEIL
Teuer oder unbezahlbar?
FÜNFTER TEIL
Der Einsatz schraubt sich hoch
SECHSTER TEIL
Migrationshilfe
SIEBTER TEIL
Je mehr, desto lustiger
ACHTER TEIL
Die Komödie der Allmende
ERSTER TEIL
DIE TYRANNEI DER VERSENKTEN KOSTEN
a) MUTT UND JEFF
»Wer den Code schreibt, schafft den Wert.«
»Das ist nicht mal ansatzweise wahr.«
»Doch, das ist es. Der Wert wohnt dem Leben inne, und das Leben ist Code, wie bei der DNA.«
»Also haben Bakterien Werte?«
»Klar. Alles Leben will etwas und jagt ihm nach. Viren, Bakterien, bis hin zu uns.«
»Wo wir gerade davon reden, du bist wieder mal mit Kloputzen dran.«
»Ich weiß. Leben bedeutet Tod.«
»Also heute?«
»Irgendwann auch heute. Aber zurück zu dem, worauf ich hinauswill. Wir schreiben Code. Und ohne unseren Code gibt es keine Computer, keine Finanzen, keine Banken, kein Geld, keinen Tauschwert, keinen Wert.«
»Bei allen Punkten – bis auf den letzten – verstehe ich, was du meinst. Und weiter?«
»Hast du heute die Nachrichten gelesen?«
»Natürlich nicht.«
»Solltest du aber. Es gibt schlimme Neuigkeiten. Wir werden aufgefressen.«
»Das kann man immer sagen. Wie du schon sagtest, Leben bedeutet Tod.«
»Aber es ist schlimmer denn je. Es geht zu weit. Inzwischen nagen sie an unseren Knochen.«
»Das weiß ich auch. Deshalb leben wir ja in einem Zelt auf einem Dach.«
»Genau. Und jetzt machen sich die Leute sogar wegen des Essens Gedanken.«
»Das sollten sie auch. Das ist der eigentliche Wert – Essen im Bauch. Weil man Geld nämlich nicht essen kann.«
»Das sage ich doch!«
»Ich dachte, du hättest gesagt, der Code wäre der wahre Wert. Ist wohl auch kein Wunder, dass das gerade ein Programmierer sagt.«
»Mutt, pass auf. Hör mir mal genau zu. Wir leben in einer Welt, in der die Menschen so tun, als könnte man sich für Geld alles kaufen. Also dreht sich alles ums Geld, also arbeiten wir alle für Geld. Geld wird als Wert betrachtet.«
»Okay, verstehe. Wir sind pleite, das hab ich kapiert.«
»Gut, dann hör weiter zu. Wir leben, indem wir uns für Geld Sachen kaufen, auf einem Markt, der die Preise festlegt.«
»Die unsichtbare Hand.«
»Genau. Verkäufer bieten etwas an, Käufer kaufen es, und durch das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage wird der Preis festgelegt. Das ist Crowdsourcing, das ist demokratisch, das ist Kapitalismus, das ist der Markt.«
»Ja, so läuft das eben.«
»Genau. Und es ist immer und seit jeher falsch.«
»Was meinst du mit falsch?«
»Die Preise sind immer zu niedrig, und deshalb geht die Welt vor die Hunde. Wir erleben gerade ein Massenaussterben, der Meeresspiegel steigt, das Klima verändert sich, das Essen wird knapp – all das Zeug, das nicht in den Nachrichten kommt.«
»Und alles wegen dem Markt.«
»So ist es! Und das sind keine Fehler im Marktgeschehen. Der Markt selbst ist der Fehler.«
»Wie das?«
»Dinge werden zu einem geringeren Preis verkauft, als ihre Herstellung kostet.«
»Klingt wie der Weg in die sichere Pleite.«
»Ja, und ein Haufen Geschäfte macht auch pleite. Aber diejenigen, die nicht Pleite machen, haben ihren Kram nicht etwa für mehr verkauft, als seine Herstellung kostet. Sie haben nur einen Teil der Kosten ignoriert. Sie stehen unter riesigem Druck, zu einem so geringen Preis wie möglich zu verkaufen, weil jeder Käufer die billigste Version von dem Zeug kauft, um das es gerade geht. Also sorgen sie dafür, dass ein Teil der Produktionskosten nicht bei ihnen zu Buche schlägt.«
»Können sie nicht einfach schlechter für die Arbeit bezahlen?«
»Das haben sie ja schon gemacht! Das war einfach. Deshalb sind alle bis auf die Plutokraten pleite.«
»Ich sehe immer diesen Disney-Hund vor mir, wenn du das sagst.«
»Sie pressen uns aus, bis uns das Blut aus den Augen läuft. Ich halte das nicht mehr aus.«
»Blut aus einem Stein. Sir Plutokrat, der auf einem Knochen rumkaut.«
»Der auf meinem Kopf rumkaut! Aber jetzt sind wir aufgekaut. Wir sind leer gepresst. Wir haben einen Bruchteil der tatsächlichen Herstellungskosten für unseren Kram bezahlt, und der Planet und die Arbeiter, die das Zeug herstellen, bekommen die Kosten ab, und zwar volle Kanne.«
»Aber dafür haben sie auch einen billigen Fernseher gekriegt.«
»Stimmt, damit sie sich was Interessantes ansehen können, während sie pleite herumsitzen.«
»Nur dass nichts Interessantes kommt.«
»Nun, das ist ihr geringstes Problem. Ich meine, genau genommen findet man sogar was Interessantes im Fernsehen.«
»Also, das sehe ich anders. Wir haben alles doch schon eine Million Mal gesehen.«
»Kann sein. Ich sage nur, dass schlechtes Fernsehen nicht unsere größte Sorge ist. Artensterben, Hunger, das kaputte Leben unserer Kinder, das sind alles größere Sorgen. Und es wird immer schlimmer. Das Leid der Menschen nimmt ständig zu. Wenn das so weitergeht, explodiert mir bald der Kopf, das schwöre ich dir.«
»Du regst dich nur auf, weil man uns rausgeschmissen hat und wir jetzt in einem Zelt auf einem Dach leben.«
»Aber das ist nicht alles! Das ist nur ein kleiner Teil von etwas Größerem.«
»Okay, das gebe ich zu. Und was nun?«
»Also pass auf, das Problem ist der Kapitalismus. Wir haben gute Technologie, wir haben einen tollen Planeten – und mit unseren dummen Gesetzen machen wir alles kaputt. Das ist der Kapitalismus, eine Reihe dummer Gesetze.«
»Sagen wir mal, dass ich dir da auch Recht gebe. Was können wir dagegen machen?«
»Es ist ein Regelwerk! Und zwar ein globales! Es umfasst die ganze Erde, man kann ihm nicht entkommen, wir sind alle Teil davon, und man kann machen, was man will, das System dankt nicht ab!«
»Da fehlt mir der Was-können-wir-machen-Teil.«
»Denk doch mal nach! Die Regeln sind Codes! Und sie befinden sich in Computern und in der Cloud. Es gibt sechzehn Gesetze, die den Lauf der ganzen Welt steuern.«
»Das kommt mir zu wenig vor. Zu wenig – oder zu viel.«
»Nein. Natürlich gibt es viele verschiedene Ausformulierungen, aber letztlich haben wir es mit sechzehn grundlegenden Gesetzen zu tun. Ich habe das analysiert.«
»Wie immer. Aber das sind trotzdem zu viele. Ich hab noch nie von den sechzehn sonstwas gehört. Es gibt acht edle Wahrheiten oder die beiden bösen Stiefschwestern. Höchstens gibt’s mal zwölf von was, zum Beispiel bei Genesungsstadien oder bei den Aposteln. Aber normalerweise sind es immer einstellige Zahlen.«
»Jetzt lass das mal. Es sind sechzehn Gesetze, verteilt auf die Welthandelsorganisation und die G20. Finanztransaktionen, Währungswechselkurse, Handelsrecht, Körperschaftsrecht, Steuerrecht. Überall gleich.«
»Ich glaube nach wie vor, dass sechzehn entweder zu viel oder zu wenig sind.«
»Ich sage dir, es sind sechzehn. Und sie sind codiert. Und man kann sie ändern, indem man den Code ändert. Was ich sage, ist: Diese sechzehn Gesetze zu verändern ist so, als würde man einen Schlüssel in einem großen Schloss drehen. Der Schlüssel dreht sich, und mit einem Mal hat man kein schlechtes System mehr, sondern ein gutes. Es hilft den Menschen, es fordert die denkbar saubersten Technologien ein, es stellt Landschaften wieder her, das Artensterben hat ein Ende. Es ist global, Abtrünnige können sich ihm also nicht entziehen. Schlechtes Geld wird zu Staub, und das Gleiche gilt für schlechtes Handeln. Niemand könnte schummeln. Die Leute würden dazu gezwungen, gut zu sein.«
»Jeff, bitte. Du machst mir Angst.«
»Ich sag ja nur. Außerdem, was kann einem denn mehr Angst machen als der jetzige Zustand?«
»Ein Wandel? Ich weiß nicht.«
»Warum sollte Wandel einem Angst machen? Du kannst nicht mal die Nachrichten lesen, stimmt’s? Weil sie einem eine Scheißangst machen!«
»Tja, außerdem habe ich keine Zeit dafür.«
Jeff lacht, bis ihm die Stirn auf den Tisch sinkt. Mutt lacht auch, weil sein Freund das so lustig findet. Aber ihre Heiterkeit ist örtlich sehr begrenzt. Sie sind zusammen, sie heitern einander auf, sie arbeiten hart, schreiben Programme für die Hochfrequenz-Börsencomputer in Uptown. Und nun, nach ein paar Rückschlägen, verbringen sie die Nächte in einem Hotello auf der zur Straße hin offenen Farmetage des alten Met Life Tower. Von hier aus liegt das überflutete Lower Manhattan wie ein Supervenedig zu ihren Füßen, ehrfurchtgebietend, wasserglitzernd, großartig. Ihre Stadt.
Jeff sagt: »Also hör zu. Wir wissen, wie man in die Systeme reinkommt, wir wissen, wie man programmiert, wir sind die besten Programmierer der Welt.«
»Oder zumindest die besten in diesem Gebäude.«
»Nein, jetzt komm schon, die besten der Welt! Und ich habe schon dafür gesorgt, dass wir an der richtigen Stelle Zugriff bekommen.«
»Wie bitte?«
»Hier, schau mal. Während dieser Sache für meinen Cousin habe ich ein paar geheime Zugänge gelegt. Wir sind drin, und ich habe die neuen Codes parat. Sechzehn Revisionen der Finanzgesetze – und einen Arschtritt für meinen Cousin. Soll die Börsenaufsicht ruhig erfahren, was er vorhat, und dann geben wir ihr gleich noch die Mittel an die Hand, um dieser Scheiße nachzugehen. Ich habe mir einen kleinen Zugang gelegt, über den ich das Alpha anzapfen und das Geld direkt aufs Konto der Börsenaufsicht verschieben kann.«
»Jetzt machst du mir wirklich Angst.«
»Schon klar, aber sieh dir die Sache doch wenigstens mal an. Ich will wissen, was du davon hältst.«
Mutt bewegt beim Lesen die Lippen. Er spricht die Worte nicht leise zu sich selbst, sondern stimuliert sein Gehirn wie Nero Wolfe, der Privatdetektiv aus den Büchern von Rex Stout. Das ist seine Lieblings-Neurobic-Übung, und er macht viele. Jetzt beginnt er, sich beim Lesen mit den Fingern die Lippen zu kneten, was ernsthafte Sorge verrät.
»Tja«, sagt er, nachdem er etwa zehn Minuten lang gelesen hat. »Ich verstehe, was du vorhast. Und ich würde sagen, es gefällt mir. Weitgehend. Dieses alte trojanische Pferd der Marke Ken Thompson funktioniert eben einfach immer, was? Wie ein Gesetz der Logik. Also, könnte Spaß machen. Jedenfalls ziemlich amüsant.«
Jeff nickt. Er drückt auf die Return-Taste und entlässt seine Programmzeilen in die Welt.
Dann verlassen sie ihr Hotello, stellen sich an die Brüstung der Farmetage und lassen den Blick Richtung Süden über die geflutete Stadt schweifen, nehmen sie mit Whitman’schem Staunen in sich auf. O Mannahatta! Unter ihnen schlängeln sich die Lichter über das schwarze Wasser. In Downtown erleuchten ein paar Wolkenkratzer die dunkleren Hochhäuser, verleihen ihnen einen geologischen Glanz. Es sieht fremdartig aus, wunderschön, gruselig.
Aus ihrem Hotello ertönt ein Piepsen, und geduckt treten sie durch die Klappe zurück in das große, rechteckige Zelt. Jeff liest etwas auf seinem Computer.
»Scheiße«, sagt er. »Sie haben uns entdeckt.«
Sie betrachten den Bildschirm.
»Allerdings Scheiße«, sagt Mutt. »Wie ist das möglich?«
»Ich weiß es nicht, aber es bedeutet, dass ich recht hatte!«
»Ist das gut?«
»Vielleicht hat es sogar funktioniert.«
»Glaubst du?«
»Nein.« Jeff runzelt die Stirn. »Ich weiß nicht.«
»Sie können das jederzeit umprogrammieren, das ist das Problem. Sobald sie es bemerken.«
»Meinst du, wir sollten abhauen?«
»Wohin?«
»Ich weiß nicht.«
»Wie du schon sagtest«, bemerkt Mutt. »Es ist ein globales System.«
»Ja, aber das hier ist eine große Stadt! Mit vielen Ecken und Winkeln, mit vielen dunklen Löchern, mit ihrer eigenen Untersee-Ökonomie und so weiter. Wir könnten untertauchen und verschwinden.«
»Wirklich?«
»Ich weiß nicht. Wir können es versuchen.«
Dann öffnet sich der große Frachtaufzug zur Farmetage. Mutt und Jeff sehen einander an. Jeff deutet mit dem Daumen Richtung Treppenhaus. Mutt nickt. Sie schlüpfen unter der Zeltwand durch nach draußen.
Um es kurz zu machen …
schlug Henry James vor
b) INSPEKTORIN GEN
Inspektorin Gen Octaviasdottir, die mal wieder Überstunden gemacht hatte, saß zusammengesunken in ihrem Büro und versuchte, genug Energie aufzubringen, um sich zu erheben und nach Hause zu gehen. Ein leises Trommeln von Fingernägeln an der Tür kündigte ihren Mitarbeiter Sergeant Olmstead an. »Sean, hör auf damit, und komm rein.«
Ihre sanftmütige junge Bulldogge brachte eine Frau von etwa fünfzig Jahren herein, die Gen entfernt bekannt vorkam. Eins siebzig, eher kräftig, dichtes schwarzes Haar mit einigen weißen Strähnen. Geschäftsanzug, große Umhängetasche. Weit auseinander stehende, intelligente Augen, mit denen sie in eben diesem Moment Gen genau im Blick behielt. Ausdrucksvoller Mund. Kein Make-up. Eine Person, die es ernst meinte. Attraktiv. Aber sie sah so müde aus, wie Gen sich fühlte. Und sie wirkte verunsichert, vielleicht wegen diesem Treffen.
»Hi, ich bin Charlotte Armstrong«, sagte die Frau. »Ich glaube, wir wohnen im selben Gebäude. Der alte Met Life Tower am Madison Square?«
»Ich dachte gleich, dass Sie mir bekannt vorkommen«, erwiderte Gen. »Was führt Sie zu mir?«
»Es hat mit unserem Gebäude zu tun, deshalb habe ich darum gebeten, dass man mich zu Ihnen bringt. Zwei Bewohner sind verschwunden. Kennen Sie die beiden Typen, die auf der Farmetage gewohnt haben?«
»Nein.«
»Hm, vielleicht wollten die lieber nicht mit Ihnen reden. Obwohl sie eine Wohngenehmigung hatten.«
Der Met Life Tower war eine Genossenschaft, also gemeinsames Eigentum seiner Bewohner. Inspektorin Gen hatte ihre Wohnung vor Kurzem von ihrer Mutter geerbt und sich bisher kaum für organisatorische Fragen rund um das Gebäude interessiert. Oft hatte sie das Gefühl, ohnehin nur zum Schlafen dort zu sein. »Also, was ist passiert?«
»Das weiß niemand. Sie sind einfach von einem Tag auf den anderen verschwunden.«
»Hat jemand die Überwachungsvideos überprüft?«
»Ja. Deshalb komme ich zu Ihnen. Am letzten Abend, an dem man die beiden noch gesehen hat, haben sich die Kameras für zwei Stunden abgeschaltet.«
»Abgeschaltet?«
»Wir haben die Dateien gecheckt. Bei allen fehlen zwei Stunden.«
»Wie bei einem Stromausfall?«
»Aber es gab keinen Stromausfall. Außerdem haben sie Reserveakkus.«
»Seltsam.«
»Fanden wir auch. Darum bin ich hier. Normalerweise hätte es Vlade, der Supervisor, gemeldet, aber ich musste sowieso her, um einen Klienten zu vertreten, also habe ich den Bericht abgegeben und anschließend um ein Gespräch mit Ihnen gebeten.«
»Gehen Sie jetzt zum Met zurück?«
»Ja, hatte ich vor.«
»Dann lassen Sie uns doch zusammen gehen. Ich wollte gerade los.« Gen wandte sich Olmstead zu. »Sean, kannst du die Unterlagen zu der Sache raussuchen und sehen, was sich über diese beiden Männer in Erfahrung bringen lässt?«
Der Sergeant nickte und sah dabei zu Boden. Offenbar gab er sich alle Mühe, nicht so auszusehen, als hätte man ihm gerade einen Knochen zugeworfen. Sobald sie weg waren, würde er sich darüber hermachen.
Armstrong ging Richtung Aufzüge und wirkte überrascht, als Inspektorin Gen vorschlug, lieber zu Fuß zu gehen.
»Ich wusste gar nicht, dass man von hier zum Met über Hochbrücken kommt.«
»Eine direkte Verbindung gibt es nicht«, erklärte Gen. »Aber man kann die von hier nach Bellevue nehmen, dann die Treppe runter, schräg über die Straße und anschließend auf der Twenty-Third Skyline nach Westen. Dauert etwa vierunddreißig Minuten. Mit dem Vapo brauchen wir zwanzig, wenn wir Glück haben, und dreißig, wenn nicht. Deshalb gehe ich die Strecke ziemlich oft. Ich kann die Bewegung gebrauchen – und wir haben die Gelegenheit, uns zu unterhalten.«
Armstrong nickte, ohne Gen damit wirklich beizupflichten. Sie schob den Gurt ihrer Umhängetasche weiter zum Hals. Gen fiel auf, dass sie die rechte Hüfte entlastete, und versuchte, sich an Einzelheiten aus den regelmäßigen Met-Bulletins zu erinnern. Vergeblich. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass diese Frau die Vorsitzende des Genossenschaftsvorstands war, und zwar mindestens, seit Gen eingezogen war, um sich um ihre Mutter zu kümmern. Das bedeutete, dass sie schon drei oder vier Amtszeiten hinter sich hatte – in einem Job, für den sich die meisten Leute höchst ungern freiwillig meldeten. Sie bedankte sich bei Armstrong für ihre Arbeit und fragte dann: »Warum machen Sie das schon so lange?«
»Weil ich verrückt bin, wie Sie offenbar andeuten wollen.«
»Das meinte ich nicht.«
»Tja, stimmt aber. Es geht mir einfach besser, wenn ich an etwas arbeite. Dann mache ich mir nicht so viele Sorgen.«
»Sorgen darum, wie es in unserem Gebäude läuft?«
»Ja. Eine ziemlich komplizierte Sache. Da kann alles Mögliche schiefgehen.«
»Sie meinen, dass Wasser eindringen könnte?«
»Nein, das ist größtenteils unter Kontrolle, sonst wären wir am Arsch. Man muss das im Blick behalten, aber dafür sorgen Vlade und seine Leute.«
»Er macht einen guten Eindruck.«
»Vlade macht seine Sache hervorragend. Wobei das Gebäude an sich der einfache Teil ist.«
»Die Leute also.«
»Wie immer, stimmt’s?«
»Bei meiner Arbeit jedenfalls schon.«
»Bei meiner auch. Genau genommen beruhigt mich der Gedanke an das Gebäude an sich. Das kann man immerhin reparieren.«
»Auf welche Art Recht sind Sie denn spezialisiert?«
»Immigration und Gezeitenzonen.«
»Sie arbeiten für die Stadt?«
»Ja. Na ja, früher. Man hat die Einwanderungs- und Asylbehörde letztes Jahr halb privatisiert, und da bin ich mitgegangen. Jetzt heißen wir Householder’s Union. Offiziell sind wir eine öffentlich-private Einrichtung, aber das bedeutet nur, dass sich keine der beiden Seiten um uns kümmert.«
»Machen Sie das seit jeher?«
»Früher habe ich mal für die Amerikanische Bürgerrechtsunion gearbeitet. Aber ja. In erster Linie für die Stadt.«
»Sie verteidigen also Einwanderer?«
»Wir setzen uns für Einwanderer und Wohnungslose ein und eigentlich für alle, die uns um Hilfe bitten.«
»Da sind Sie sicher ziemlich beschäftigt.«
Armstrong zuckte mit den Achseln. Gen führte sie zu dem Fahrstuhl im nordwestlichen Anbau des Bellevue, mit dem man runter zu der Hochbrücke kam, die auf der Nordseite der Twenty-Third von Gebäude zu Gebäude Richtung Westen verlief. Die meisten Hochbrücken verliefen nach wie vor entweder von Süden nach Norden oder von Osten nach Westen, sodass man auf dem Weg durch die Stadt Pferdesprünge machen musste, wie Gen es nannte. Seit Kurzem gab es aber auch einige höhere Brücken, auf denen man sich wie ein Läufer bewegen konnte, was Gen freute, da sie, wenn sie in der Stadt war, mit großer Leidenschaft Finde-den-kürzesten-Weg spielte. »Abkürzen« war die Bezeichnung, die manche für dieses Spiel verwendeten. Gen ihrerseits wollte sich wie eine Dame auf dem Spielfeld durch die Stadt bewegen, immer in gerader Linie ans Ziel. In Manhattan würde das natürlich niemals möglich sein, genauso wenig wie auf einem Schachbrett; beide waren der Logik der Quadrate unterworfen. Trotzdem rief sie sich ihr Ziel vor Augen und begab sich auf der denkbar geradesten Linie dahin, ständig um Verbesserungen bemüht. Mit ihrem Armband konnte sie dabei ihren Erfolg messen. Verglichen mit ihrer sonstigen Arbeit, bei der sie viel schwerer zu fassende und hässlichere Probleme bewältigen musste, war das wunderbar einfach.
Armstrong stapfte neben ihr her, und nach einer Weile bereute Gen ihren Vorschlag. Bei diesem Tempo würden sie wohl eher eine Stunde brauchen. Sie stellte der Rechtsanwältin Fragen über das Gebäude, um sie von ihrem Unwohlsein abzulenken. Derzeit lebten etwa zweitausend Menschen im Met, sagte Armstrong. In etwa siebenhundert Wohneinheiten, von Einpersonen-Kabuffs bis zu großen Gruppenapartments. Man hatte das Gebäude nach der Zweiten Welle, in den nassen Jahren des Ausgleichs, in Wohnraum umgewandelt.
Gen nickte, während Armstrong die Geschichte des Hauses umriss. Dann erzählte sie ihr, dass ihr Vater und ihre Großmutter beide während der Flutjahre Dienst getan hatten. Es war nicht leicht gewesen, damals die Ordnung aufrechtzuerhalten.
Schließlich erreichten sie die Ostseite des Met. Die Hochbrücke vom Dach des alten Postamts führte auf der fünfzehnten Etage in das Gebäude. Während sie durch die drei hintereinander gestaffelten Türen traten, nickte Gen dem diensthabenden Wachmann Manuel zu, der gerade mit seinem Armband plauderte und leicht erschrocken aufblickte. Gen sah durch die Glastüren zurück. Die Ebbe hatte einen schwärzlich-grünen Badewannenschmutzring auf Kanalhöhe freigelegt. Darüber bestanden die Hauswände aus grünlichem Kalkstein oder Granit oder braunrotem Sandstein. Unterhalb der Hochwasserlinie hing Seetang an den Wänden, oberhalb waren sie mit Schimmel und Flechten bedeckt. Die Fenster direkt über der Wasserlinie waren mit schwarzen Gittern versehen; die höheren hatten keine Gitter, und viele standen offen, um frische Luft reinzulassen. Es war ein milder Septemberabend, weder stickig noch brütend heiß. Ein Moment im skandalösen Wettergeschehen der Stadt, in dem man sich sonnen, den man genießen konnte.
»Diese beiden Spinner haben also auf der Farmetage gewohnt?«, fragte Gen.
»Ja. Kommen Sie doch mit hoch, und sehen Sie es sich an, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl zu dem Gewächshaus hoch, das die gesamte offene Loggia des Met-Wolkenkratzers vom einunddreißigsten bis zum fünfunddreißigsten Stock einnahm. Überall auf dem Boden standen Pflanzenkübel, und im hohen Raum verteilt hingen grünblättrige Hydrokulturen. Die Sommerernte sah inzwischen ziemlich reif aus: Tomaten und Kürbisse, Bohnen, Gurken und Paprika, Mais, Kräuter und vieles mehr. Gen verbrachte nur sehr wenig Zeit im Gewächshaus, aber an und an kochte sie gerne, weshalb sie mindestens eine Stunde im Monat hier einlegte; dadurch hatte sie einen Mitanspruch. Der Koriander wucherte wie verrückt. Pflanzen wuchsen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, genau wie Menschen.
»Die beiden haben hier gewohnt?«
»Ja, drüben in der Südostecke neben dem Werkzeugschuppen.«
»Wie lange?«
»Seit etwa drei Monaten.«
»Sie sind mir nie aufgefallen.«
»Offenbar sind sie unter sich geblieben. Sie haben ihre vorige Unterkunft irgendwie verloren, also hat Vlade ihnen das Hotello aufgebaut, das sie mitgebracht haben.«
»Verstehe.« Hotellos waren Zimmer, die man in einen Koffer packen konnte. Oft stellte man sie im Innern von Gebäuden auf, da sie nicht besonders widerstandsfähig waren. Üblicherweise boten sie Privatsphäre in großen Räumen mit vielen Menschen.
Auf der Suche nach Auffälligkeiten schritt Gen die Farmetage ab. Die Wand der Loggia, die sich in mehreren Bögen zur Straße hin öffnete, verfügte über eine Laibung, die als Geländer diente und ihr – sie war eine großgewachsene Frau – bis zur Brust ging. Beim Blick nach unten sah sie etwa drei Meter tiefer ein Sicherheitsnetz.
Sie gingen an den Innenbögen entlang und kamen schließlich zum Hotello in der Südostecke. Gen kniete sich hin und begutachtete den rauen Betonboden; es war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. »Das sollte sich die Spurensicherung genauer ansehen.«
»Ja.«
»Wer hat ihnen die Erlaubnis erteilt, hier zu wohnen?«
»Der Wohnausschuss.«
»Und den beiden geht nicht gerade die Miete aus oder so?«
»Nein.«
»Okay, dann machen wir das volle Vermisstenprogramm.«
Einiges an der Situation war seltsam und erregte Gens Neugier. Warum waren die beiden Männer hergekommen? Warum hatte man sie aufgenommen, obwohl das Gebäude doch schon rappelvoll war?
Wie immer begann die Liste der Verdächtigen im unmittelbaren Umfeld. »Meinen Sie, dass der Supervisor in seinem Büro ist?«
»Normalerweise schon.«
»Dann reden wir mit ihm.«
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl wieder nach unten und fanden den Supervisor an seinem Arbeitstisch, der eine ganze Wand seines Büros einnahm. Die Wand daneben war aus Glas und gab den Blick auf das große Bootshaus des Met frei, ehemals das dritte Stockwerk, jetzt geflutet.
Der Supervisor erhob sich und begrüßte sie. Gen war ihm schon hin und wieder begegnet. Vlade Marovich. Er war groß, breitschultrig, hatte lange Arme und Beine und sah aus wie aus Bohlen zusammengenagelt. Fast zwei Meter, schwarzhaarig. Ein Kopf wie ein mit der Axt zurecht gehackter Holzklotz. Slawische Unruhe, Skeptizismus, ein leichter Akzent. Vielleicht mochte er die Gesellschaft von Polizisten nicht. Jedenfalls blickte er nicht besonders glücklich drein.
Gen stellte Fragen und beobachtete ihn, während er die Ereignisse aus seiner Sicht beschrieb. In seiner Position hatte er die Möglichkeit, die Überwachungskameras zu deaktivieren. Und er wirkte misstrauisch. Aber auch erschöpft. Gen war schon vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass sich niedergeschlagene Menschen normalerweise nicht an kriminellen Verschwörungen beteiligten. Aber man konnte nie wissen.
»Sollen wir uns was zu essen holen?«, fragte sie die beiden. »Ich habe einen Riesenhunger, und ihr wisst ja, wie es im Speisesaal ist. Die Ersten sind die Einzigen.«
Die beiden anderen wussten das nur zu gut.
»Vielleicht essen wir etwas zusammen, und dabei erzählen Sie mir mehr. Und ich mache morgen auf der Wache ein bisschen Druck bei den Ermittlungen.« Gen wandte sich Vlade zu. »Ich brauche eine Liste aller Personen, die für Sie an der Gebäudeinstandhaltung arbeiten. Namen und Akten.«
Er nickte unglücklich.
Die Festlegung des Diskontsatzes ist nun entscheidend für die gesamte Analyse. Ein niedriger Diskontsatz macht die Zukunft wichtiger, ein hoher Diskontsatz misst ihr weniger Bedeutung bei.
– Frank Ackerman: »Can We Afford the Future?«
Die Moral ist offensichtlich. Man kann keinem Programm trauen, das man nicht ganz und gar allein geschrieben hat. Einen Computer falsch zu benutzen ist kein bisschen toller, als betrunken Auto zu fahren.
– Ken Thompson: »Reflections on Trusting Trust«
Ein Vogel in der Hand ist das wert, was er einbringt.
… bemerkte Ambrose Bierce