Dieter Bührig

Schattenmenagerie

Ein musikalischer Kriminalroman

nachMotiven von Carl Maria von Weber und Modest Mussorgskij

Alle Personen und die Handlung des Romans sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen

wäre rein zufällig.

Um unerwünschte Assoziationen zu vermeiden,

wurden die Namen einiger Institutionen, Dienstbezeichnungen
und politischer Funktionen leicht verändert.

 

 

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1. Auflage 2012

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Jascha400d / sxc.hu

978-3-8392-3812-7

Dieses Buch widme ich der jungen blinden Pianistin Anja Braun,

 deren Musik mir ein lieber Begleiter beim Schreiben war.

Dieter Bührig

Kapitel 1: Auf dem Gipfel

 

»Verdammtes Schuhwerk! Ewig gehen diese blöden Schnürsenkel auf. Und jetzt auch noch Blasen an den Fersen. Vielleicht sollte ich mir mal ein Paar richtige Wanderschuhe leisten.«

Inspektor Michael Kroll zog sich vorsichtig seine alten Turnschuhe aus und warf sie laut fluchend gegen den nächstbesten Felsen. Dann folgten die durchweichten Socken. Gott sei Dank hatte er sich vor der Wanderung noch eine Tube Wundcreme eingesteckt, die jetzt rettende Dienste tat. Dann zog er sich Socken und Schuhe wieder an und setzte seinen Weg zum nahen Ziel fort.

Der Kriminalbeamte hatte sich den Urlaub redlich verdient. Jedenfalls war er selbst davon zutiefst überzeugt. Ob das seine Vorgesetzten und die Ganoven der Lübecker Unterwelt auch so sahen, kümmerte ihn momentan nicht.

Er hatte in diesen Osterferien seine Nichte Micha mitgenommen, damit deren Eltern auch mal etwas Ruhe vergönnt war. Die Siebtklässlerin interessierte sich jedoch nicht für seine Wanderungen. Sie lag lieber krimilesend auf dem Liegestuhl am Swimmingpool oder strolchte durch die Boutiquen im nahegelegenen Peguera. Kroll war kein Freund dieser Orte, also gingen beide arbeitsteilig vor. Er Natur, sie Kultur. Seine Aufsichtspflicht übte er dann per Handy aus. Abends trafen sie sich wieder und erzählten sich auf der Terrasse im matt glühenden Licht des Sonnenuntergangs die Erlebnisse des Tages.

Die kleine Wanderung auf den Gipfelfelsen hatte er schon öfter unternommen. Er liebte diese abgelegene und waldreiche Gegend, in die sich nur selten Touristen verirrten, obwohl die Route in einigen Wanderbüchern beschrieben wird. Von Andratx aus führte eine enge Passstraße über Capdella hoch zu dem kleinen, an steilen Felsen klebenden Dorf Galilea. Unterhalb des Ortes ging es noch einen Kilometer weiter in Richtung Puigpuyent, wo man in einer schmalen Kurve vor einem abgezäunten Wirtschaftsweg parken konnte.

Merkwürdig. Heute stand dort bereits ein anderer Mietwagen. Und gerade noch konnte Kroll beobachten, wie ein weiteres Fahrzeug den engen Parkplatz verließ und in Richtung Nordosten verschwand. Ein gelber Ford Focus mit einem Aufkleber von einem Autoverleiher. Mit seinem kriminalistischen siebten Sinn merkte sich der Inspektor das Kennzeichen und die Uhrzeit. Er fand diese Anhäufung von Mietwagen ungewöhnlich. So viele Wanderer an einem Wochentag im April, also nicht gerade zur Hochsaison?

»Nun gut, vielleicht treffen wir uns ja. Offenbar handelt es sich um Gleichgesinnte. Da ergibt sich bestimmt die Gelegenheit zu einem Schwätzchen.«

Die Route war hier so eindeutig, dass man eigentlich nicht aneinander vorbeigehen konnte. Der letzte Teil der Wanderung erwies sich als etwas anstrengend. Kroll musste einen unwirtlichen, steilen und nur spärlich markierten Pfad über Geröll und Felsen hinaufklettern. Wenn man nicht aufpasste, konnte man leicht abrutschen. Dennoch gelangte er zum Gipfel, ohne jemandem zu begegnen. Aber mit seiner ausgeprägten Kriminalistennase spürte er, dass er hier nicht der Einzige war.

Oben angelangt, streifte er sich den Rucksack von den Schultern und machte es sich auf einem breiten Felsvorsprung gemütlich. Wieder entledigte er sich seiner Schuhe, denn seine Füße schmerzten noch. Dann öffnete er seinen Rucksack. Wie immer hatte er selbst geschmierte Stullen sowie zwei Plastikflaschen dabei, eine mit Mineralwasser und eine, die er in seinem apartamento in Camp de Mar mit vino tinto gefüllt hatte. Natürlich durfte auch nicht die kleine Isomatte fehlen, schließlich bekommt man es als Ü 50 schnell im Rücken, wenn man längere Zeit auf einem kalten Stein sitzt. Auch ein Weinglas zauberte er aus dem Rucksack. Genüsslich mischte er sich eine Weinschorle und biss in seine Stulle.

»Wird Zeit, dass die Spanier lernen, vernünftiges Brot herzustellen!«, murmelte er leise vor sich hin. Die ›Stulle‹ war nichts weiter als die übliche längliche barra de pan, ein brötchenartiges Weißbrot, das ihn eher an ein überdimensionales Kaugummi als an ein Brot erinnerte. Trotzdem fühlte er sich hier oben vollends glücklich. Denn eigentlich gehörte für ihn dieses fade spanische Brot zum Urlaub dazu. Hinten am Horizont erahnte er die Umrisse der Insel Sa Dragonera, deren Erkundung er sich für die morgige Wanderung vorgenommen hatte. Er entdeckte sogar ein Segelboot, das sich langsam an der Insel vorbeischob.

»Der wird sich beeilen müssen, wenn er heute noch Port de Sóller erreichen will.« Das ist nach Port d’Andratx über eine lange Strecke entlang der felsigen Nordküste hinweg die erste Möglichkeit, um sicher die Nacht in einem geschützten Hafen zu verbringen. Friede und Geborgenheit, das war es, was auch er hier im fernen Mallorca suchte. Zu Hause in Lübeck erwarteten ihn nur Mord und Totschlag und all die Schattenseiten der menschlichen Seele.

Jetzt ließ er sich und sein lichtes Haupthaar von der mallorquinischen Frühjahrssonne verwöhnen. Der Osterhimmel zeigte sich hier oben von der besten Seite. Kroll wusste nicht, was er mehr bewundern sollte: das cremeblaue, wolkenlose und unendliche Himmelszelt oder das türkisblaue, grenzenlose und glitzernde Meer, das sich von seinem Standpunkt aus fast über den gesamten Norden, den Westen und den Süden ausbreitete.

Eigentlich könnte ich mich für einen Posten bei der hiesigen Kriminalpolizei bewerben, träumte er. Eine passende kleine Finca würde er schon finden. Sie musste ja nicht unbedingt am Meer liegen. Für so etwas würde sein bescheidenes Gehalt sicherlich nicht ausreichen. Er liebte das romantische Landesinnere der Insel sowieso viel mehr als die touristisch überlaufenen Küstenstriche.

Außerdem schwärmte er für die mallorquinische Küche. Aus diesem Grunde mietete er sich schon seit Jahren statt in einem All-inclusive-Hotel lieber in einem kleinen Aparthotel in der Bucht von Camp de Mar ein. Hier gab es außer einem paradiesischen Ausblick auf die romantische Felsenbucht eine praktische Küchennische, welche ihm alles bot, um sich eine seiner heiß geliebten Tapas zu brutzeln. Die Lebensmittel holte er sich gern in den beschaulichen tiendas der nahe gelegenen Ortschaften Andratx oder Calvià. Dank seiner guten Spanischkenntnisse pflegte er gern gesellige Kontakte zu den Einheimischen. Wobei er sich jedes Mal höflich entschuldigte, nicht des Mallorquí kundig zu sein. Nun saß er oben auf dem Gipfel des Bauçà und nahm sich vor, im nächsten Urlaub einen Grundkurs in der Inselsprache zu belegen.

»Hm, heute Abend werde ich mir eine Handvoll gambas anschmoren, mit viel ajo, dazu milde grüne pimientos. Und eine Flasche vino tinto aus Benissalem.« Die Vorfreude ließ ihn seine Fußschmerzen vergessen. Das Picknick auf dem Gipfel des Bauçà wollte Kroll genüsslich mit einer Zigarette abschließen. Er kramte in seinem Rucksack, fand aber nur ein altes Feuerzeug. Da erinnerte er sich, dass er die Packung, die er heute Morgen an der Tankstelle von Andratx gekauft hatte, in seine hintere Hosentasche gesteckt hatte. Und nun saß er darauf! Enttäuscht schaute er auf die zerquetschte Schachtel und brachte etwas ans Tageslicht, das ihn stark an die Überreste der Tempotücher erinnerte, die er zu Hause für gewöhnlich in seiner Jeans vergaß, bevor diese sich der unerbittlichen Gewalt der Waschmaschine unterwarf. Vorsichtig strich er den ›krummen Hund‹ gerade und ließ sein Feuerzeug spielen. Es gab nur ein paar müde Funken von sich.

»Verdammtes Ding!«, fluchte er, diesmal weithin hörbar. Aber das half nichts. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als sich ein paar Krümel in den Mund zu stecken und den Tabak kauend zu genießen.

»Na ja, Rauchen ist hier ja sowieso wegen der Waldbrandgefahr verboten«, tröstete er sich.

Sein lauter Ruf erinnerte ihn daran, dass hier noch irgendwo jemand in der Nähe sein musste. Er packte seine Sachen zusammen, schulterte den Rucksack und vergewisserte sich, dass er keine Abfälle hinterlassen hatte. Plötzlich bemerkte er hinter einem Busch einen Hut.

»Hm. – Lodenhut. – Was für Jäger. Gute Qualität. Gepflegt und sauber. – Richtig. Hier, das Abzeichen am Hutband: DJV – 50. Deutscher Jagdschutzverband. Fünfzigjähriges Jubiläum. Muss ein älterer Herr sein. Vielleicht der unbekannte Wanderer, der hier oben Rast gemacht hat. – Aber ein erfahrener Jäger lässt doch nicht seinen Hut unbemerkt zurück. Und dazu noch so ein gutes Stück. – Merkwürdig.«

Mit einem grübelnden Seufzer legte er die Kopfbedeckung deutlich sichtbar auf einen Stein.

»Vielleicht kommt er ja wieder. So wird er seinen Hut finden.«

Dann machte sich Kroll an den Abstieg. Diesmal wollte er den weiter nördlich gelegenen Pfad versuchen, der in den Wanderführern verschwiegen wird, weil er wesentlich unbequemer zu begehen ist.

Auf halbem Wege stutzte er. Was steckte da unten zwischen den Felsen? Haben da wieder Touristen ihre Abfälle hingeworfen? Kroll kletterte vorsichtig in die Felsmulde. Dort lag ein wie ein Jäger gekleideter Mensch regungslos mit blutendem Kopf zwischen dem Geröll. Dessen Rucksack entdeckte Kroll mehrere Meter weiter den Geröllhang abwärts.

Er holte das Handy aus seinem Rucksack. Um die teuren Fernrufe zu umgehen, hatte er es sich angewöhnt, bei seinen Spanienreisen eine spanische Prepaidkarte in sein Handy einzulegen. Die Notrufnummer kannte er auswendig. Sofort war er mit der spanischen Polizei verbunden. Jetzt erwies es sich als Vorteil, dass er so gut Spanisch konnte. Er erklärte dem Beamten kurz den Sachverhalt. Man versprach ihm, einen Hubschrauber zur Bergung des Verunglückten zu schicken. Er selbst solle vor Ort bleiben, um die Rettungsmannschaft einzuweisen.

Vorsichtig näherte er sich der Person. Kroll hatte schon zu oft Tote gesehen, um zu wissen, dass hier Erste Hilfe fehl am Platze war. Einen kurzen Moment reizte es ihn, die Taschen des Mannes zu durchsuchen. Aber als Profi wusste er, dass er das den Leuten von der Spurensicherung überlassen sollte. So konnte er nichts anderes tun, als auf den Hubschrauber zu warten. Er nahm den Rucksack ab und setzte sich auf einen Felsbrocken.

Stille herrschte, eine beklemmende Stille. Selbst die Natur war verstummt. Kroll wagte es nicht, sich zu bewegen, um die Ruhe des Toten nicht zu stören. Er betrachtete beiläufig seinen vor ihm abgelegten Rucksack. Am liebsten hätte er jetzt einen unverdünnten Schluck Rotwein zu sich genommen. Aber das empfand er als pietätlos.

Plötzlich schoss ihm ein bohrender Gedanke durch den Kopf: Wieso liegt sein Rucksack so weit weg? Wieso hat er ihn nicht umgeschnallt? Man wandert nicht mit dem Rucksack in der Hand durch eine so bergige Gegend! – Meinen Rucksack nehme ich doch nur ab, wenn ich Rast mache. – Wenn der Mann unglücklich gestürzt wäre, hätte er ihn doch bestimmt noch auf dem Rücken. – Und dann der Hut oben auf dem Gipfel. Wahrscheinlich gehört der zu dem Verunglückten. Aber man stolpert doch nicht, und der Hut fällt nach oben! Höchst merkwürdig, das alles.

Unfall oder Mord? Der Instinkt des Kriminalisten war in Kroll erwacht. Wieder hatte ihn sein Beruf eingeholt. Von Urlaub konnte nun keine Rede mehr sein. Er fischte sein Handy erneut aus dem Rucksack und ließ sich mit der Mordkommission in Palma verbinden. Dort wies er sich als Kollege aus und erläuterte seinen Verdacht. Auch vergaß er nicht, den gelben Mietwagen zu erwähnen, der bei seiner Ankunft vom Parkplatz fortgefahren war. Vielleicht ergab sich da eine Spur, die man weiterverfolgen konnte.

Die örtliche Spurensicherung wurde sofort auf den Weg geschickt. Zunächst musste dafür gesorgt werden, dass die Rettungsmannschaft des Hubschraubers keine Spuren verwischte und das einsame Auto auf dem Parkplatz am Eingang der Route sichergestellt wurde. Außerdem bot der spanische Kollege den Einsatz einer Spürhundestaffel an, die sich bei der Spurensuche in wildem Terrain bewährt hatte. Kroll sollte den telefonischen Kontakt auf jeden Fall aufrechterhalten.

Gut, dass ich jetzt meine spanische Prepaidkarte habe, dachte er. Das wären teure Gespräche geworden. Er machte es sich auf einem umgefallenen Baumstamm bequem und genoss ein letztes Mal die herrliche Ruhe der Natur.

Nach etwa 20 Minuten näherte sich unter ohrenbetäubendem Lärm der Helikopter. Er konnte nur auf einem niedriger gelegenen Felsplateau landen. Dort wartete dann die Mannschaft, bis die Leute der Spurensicherung und der Mordkommission mit ihren nicht besonders weniger lauten Landrovers eintrafen und die ganze Gegend mit einer dichten Staubwolke bedeckten. Der Zauber der Insel war für Kroll nun endgültig gebrochen. Ihm kam es so vor, als hätte seine Trauminsel ihre Jungfräulichkeit verloren.

Comisario Alejandro Ruiz-Valdés machte sich mit einem Assistenten allein auf den Weg zum Fundort der Leiche, wo Kroll wartete. Die beiden Profis waren sich auf Anhieb sympathisch. Kroll gefielen die wachen, aber dennoch verträumt wirkenden Augen des Comisario. Im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute redete er nur wenig und verzichtete weitgehend auf das für die Spanier typische Gestikulieren. Alejandro hingegen musste innerlich schmunzeln, als er den Deutschen mit seiner verbeulten Jeans und den klobigen Turnschuhen musterte.

»Ihre Schnürsenkel haben sich gelöst, mein Lieber. Wenn man drauftritt, kann man leicht ins Stolpern kommen, und eine Leiche genügt uns vorläufig.«

Kroll schämte sich ein wenig wegen seiner Nachlässigkeit. »Oh, diese verflixten Schuhe! Wirklich keine gute Qualität, diese Schnürsenkel. Immer rebellisch!«

Der Spanier lachte herzhaft und klopfte seinem Kollegen auf die Schulter. »Wenn das Ihr einziges Problem ist, würde ich gern mit Ihnen tauschen. – Gut, dass ich hier gleich auf einen Profi gestoßen bin. Die normalen Touristen hätten uns alle Spuren verdorben.«

Kroll freute sich heimlich über das Lob.

Dann näherten sich beide vorsichtig der Leiche und musterten sie von allen Seiten. Der Hinterkopf wies eine schwach blutende, offene Wunde auf. Merkwürdigerweise konnte man am restlichen Körper, außer einigen Fallspuren, auf den ersten Blick keine größeren Verletzungen erkennen.

Der Mann war – für einen Wanderer in dieser Gegend etwas ungewöhnlich – mit einer teuren Jägerbekleidung ausgestattet. Die grüne Kniebundhose aus Baumwolle passte stilgetreu zur farbgleichen Lodenjacke aus Schurwolle. Die Füße steckten in schweren Nubuklederschuhen. Der Jagdrucksack aus natogrünem Segelleinen lag geschlossen einen Steinwurf weiter entfernt. Alles wies, abgesehen von Schleifspuren, nur wenig Abnutzung auf.

»Hm«, brummte Kroll vor sich hin. »Eigentlich keine typische Kleidung für einen Wandervogel auf Mallorca! Entweder ein spleeniger deutscher Tourist oder ein pensionierter Jäger aus dem Landadel, den es hierher verschlagen hat.«

»Ein Einheimischer ist es sicher nicht«, meinte der Comisario. »Unsere Jäger sehen anders aus. Außerdem fehlen jegliche Jagdutensilien. – Aber das mit dem Rucksack ist, wie Sie bereits am Telefon bemerkten, in der Tat auffällig. Außerdem kann ich auf den ersten Blick keine Blutspuren an den Felsen entdecken. Wenn der Mann wirklich unglücklich gestürzt wäre, hätte das bestimmt Abdrücke hinterlassen.«

»Ja, und außerdem gefällt mir nicht, dass sein Hut fehlt. Oben auf dem Gipfel liegt einer, der zu dem Toten passt. Der Mann wird doch nicht von dort hinuntergefallen sein. – Ich denke, man sollte das Gebiet weitläufig absperren und auf weitere Spuren hin durchkämmen.«

»Genau. Das hatte ich auch vor.« Der Comisario rief seinen Assistenten und befahl ihm, Wache zu halten. Dann machten sich die beiden Profis auf den Weg zu den anderen, die unten auf dem Felsplateau warteten. Dort wurde ein kurzer Kriegsrat abgehalten, und nach kurzer Zeit wusste jeder, was er zu tun hatte. Dann wandte sich Alejandro an seinen deutschen Kollegen:

»Kommen Sie mit auf ein Tässchen Kaffee nach Galilea, bei María in der Bar Parroquial. Dort können wir uns stärken und den weiteren Gang der Dinge besprechen. Hier stehen wir sowieso nur im Weg. Und außerdem, wissen Sie, arbeiten meine Leute viel besser, wenn ich nicht dabei bin. Mein Assistent wird mir dann Bericht erstatten.«

»Wenn das mit meinem Assistenten Hopfinger auch so gut klappen würde …«, träumte Kroll vor sich hin.

Oben auf der Terrasse der Bar kamen in ihm wieder Urlaubsgefühle hoch. Sie saßen in der Sonne auf dem schönen alten Kirchplatz. Dem Tässchen Kaffee folgte schnell ein Tunel hierbas con hielo. Dazu gab es ein paar kleine Tapas. Kroll nahm sein Glas, schüttelte die Eiswürfel vorsichtig, sodass sie in der Flüssigkeit kreisten, und nippte ein wenig am süßlichen Kräuterlikör.

»Schön haben Sie es hier. Ich würde gern mit Ihnen tauschen. Sonne, Strand, herrliche Berge. Und die meisten Touristen hocken ohnehin den ganzen Tag in ihren All-inclusive-Ghettos. Da bleibt für Sie doch höchstens mal ein kleiner Ladendiebstahl.«

»Na ja, da zu arbeiten, wo andere Leute Urlaub machen, ist in unserem Beruf auch nicht gerade das Gelbe vom Ei. Und im Übrigen macht das Kapitalverbrechen auch vor unserer Insel nicht halt. Wenn Sie wüssten, was wir mit Drogenbanden und Mafiastrukturen zu schaffen haben!«

»Ach, vergessen wir für heute unsere Klientel. Trinken wir noch einen Hierbas. Das wird wohl die letzte Stunde meines Urlaubs sein. Ich werde das Gefühl nicht los, dass der Tote ein Deutscher ist und dass man mich zu Hause braucht, zumindest, um rasche Amtshilfe zu leisten.

So wie es aussieht, muss ich ihn frühzeitig abbrechen. Sie kennen ja uns Deutsche: Schnaps ist Schnaps – Dienst ist Dienst. Jetzt habe ich erst einmal die traurige Aufgabe, meiner Nichte mitzuteilen, dass wir unseren Urlaub abbrechen müssen. Die wird ganz schön sauer sein. Ich fürchte, ich werd ihr ein besonderes Trostpflaster schenken müssen. Sie ist jetzt in einem Alter, in dem Mädels von einem modernen Handy träumen. – Schade um den Urlaub. Aber hilft nichts. Wie gesagt: Dienst ist Dienst.«

 

*

 

Am übernächsten Tag fuhr Kroll nach Palma in das Büro des Comisario. Der präsentierte ihm die Ergebnisse der Spurensicherung und den Obduktionsbericht. Bei dem Toten handelte es sich laut Personalausweis um einen deutschen Staatsbürger, einen gewissen Ferdinand Graf zu Stolberg, wohnhaft in Eutin/Ostholstein. In seiner Brieftasche schien nichts zu fehlen: Ausweise, Scheckkarten, ein Adressbüchlein und eine beträchtliche Summe an Bargeld. Raubmord konnte weitgehend ausgeschlossen werden.

Der Tod erfolgte durch einen heftigen Steinaufschlag am Hinterkopf. Den Zeitpunkt konnten die Spezialisten aufgrund der Gehirnuntersuchungen mit einer Ungenauigkeit von etwa einer Stunde ziemlich genau angeben. Es musste geschehen sein, kurz bevor Kroll seine Bergwanderung antrat. In unmittelbarer Nähe des Fundorts fand man keinen Felsen, der als Stoßkante infrage gekommen wäre. Wohl aber entdeckten die Spürhunde auf dem Gipfelplateau des Bauçà einen blutbefleckten Brocken, an dem Haare des Toten nachgewiesen wurden. Ein unglücklicher Sturz von dort oben hätte schon zu einer tödlichen Verletzung geführt. Es war aber auch möglich, dass der Felsbrocken dem Opfer mit höchster Kraft auf den Hinterkopf geschlagen wurde. Den Schleifspuren zufolge musste jemand, falls diese Hypothese stimmte, dann den leblosen Körper den Abhang hinuntergerollt und den Rucksack hinterhergeschickt haben. Der Jägerhut wurde offenbar achtlos hinter das Gebüsch geworfen. Fingerabdrücke oder sonstige Spuren gab es nicht.

»Tja, lieber Kollege, für mich riecht das nach einem Kapitalverbrechen, obwohl alle klassischen Indizien für einen Raubüberfall fehlen. – Und Sie wären beinahe Zeuge geworden!«

Der Comisario klopfte Kroll väterlich auf die Schulter. Der sah seine Urlaubspläne endgültig davonschwimmen. Er kramte seine zerbeulte Zigarettenschachtel aus der Hose. Als sein Kollege die ›krummen Hunde‹ sah, bot er ihm aus Mitleid eine seiner eigenen an und ließ ein Tischfeuerzeug aufschnappen:

»Mein Gott, wo haben Sie die denn her? Ist das Schmugglerware aus einem Lkw-Reifen oder haben die auch einen Sturz vom Felsengipfel mitgemacht?«

Kroll achtete nicht auf den spöttischen Unterton. Er war dankbar, endlich wieder einmal eine richtige Zigarette, mit einem richtigen Feuerzeug angezündet, zu rauchen.

»In seinem Rucksack fanden wir zwei Ansichtskarten. Der Tote war wohl nicht mehr dazu gekommen, sie abzuschicken, obwohl bereits Briefmarken darauf klebten. Eine an eine gewisse Barbara von Bülow in Eutin-Uklei. Auf den ersten Blick belanglose Urlaubsgrüße. Aber da stand noch ein Nachsatz, den wir im Auge behalten sollten: ›Habe was Ideales für unser Projekt gefunden.‹ Die andere an einen gewissen Friedrich Georg Herzog von Altenburg auf Gut Altenburg. Nur mit der Bemerkung: ›Alles klar. Es kann losgehen.‹ – Ich weiß nicht, was der Graf damit meinte, aber die deutschen Kollegen sollten sich dahinterklemmen.

Übrigens hat uns Ihr Hinweis auf den gelben Mietwagen weitergeholfen. Er war auf einen gefälschten Namen gebucht, aber nach Recherchen in der Mietwagenzentrale und in Abgleich mit den Listen der Flugzeugpassagiere konnten wir den Burschen eindeutig zuordnen. Es handelt sich um einen in einschlägigen Kreisen wohlbekannten Auftragskiller einer russischen Mafiabande, wohnhaft in Hamburg, den Interpol schon lange im Visier hat, dem man aber bislang nichts nachweisen konnte. – Nun, das hat sich jetzt dank Ihrer Beobachtungsgabe geändert. Auf den Mann ist ein internationaler Fahndungsbefehl rausgegangen. – Pech für den Kerl, dass er ausgerechnet in der abgelegensten Gegend unserer Insel einem deutschen Kriminalbullen über den Weg laufen musste! – Bueno, wir hätten zwar einen Täter, aber weder ein Motiv und erst recht keinen Auftraggeber. Der wird ja allem Anschein nach in Deutschland zu suchen sein.«

Je länger der Comisario redete, umso mehr sackte Kroll in sich zusammen. Er spürte Unheil auf sich zukommen.

»Eutin – wo liegt das? Kennen Sie den Ort?«, fragte der Comisario.

»Nun ja«, druckste der Deutsche, »Sie werden es nicht glauben, aber das liegt in der Nähe meiner Heimatstadt Lübeck und gehört in meinen Zuständigkeitsbereich. Wenn sich der Fall als Mord herausstellen sollte, muss ich wohl oder übel Ihre Arbeit weiterführen.«

»Na prima, dann kann ich ja mal eine Dienstreise ins schöne Deutschland antreten. Vorher muss aber der örtliche Untersuchungsrichter entscheiden, ob die Unfalltheorie zugunsten einer Mordtheorie aufgegeben wird.«

Wenige Tage später war es offiziell: Die spanischen Behörden ersuchten die deutschen, namentlich die Regionale Kriminalbehörde Lübeck, um Amtshilfe.

Also doch: Anfangsverdacht auf Mord.

Kapitel 2: Michas E-Diary – 1. Teil

 

Eins – zwei – … eins – zwei … Hallo! – Mist, warum nimmt das verdammte Ding nicht auf? – Eins – zwei – drei … Aha, jetzt schlägt die Anzeige aus. Da muss man wohl erst bis drei zählen, damit es anspringt. Steht aber nicht in der Gebrauchsanweisung!

Egal. Jetzt geht’s los. – Also. Hier spricht Micha. Eigentlich Michaela, aber alle rufen mich nur Micha. Und mein neues Walkman-Handy nenne ich Ela. Denn es soll meine – wie sagt doch Papa immer zu Mama? – meine bessere Hälfte sein. Heute ist mein 14. Geburtstag, und jetzt, wo ich groß geworden bin, kann ich schließlich nicht mehr in ein Poesiealbum schreiben.

Das ist kindisch. Außerdem hasse ich das Schreiben. Wegen meiner pummeligen kleinen Finger. So wie die von Onkel Michel. Nur die sind nicht nur dick, sondern auch noch lang und knorrig. Das kommt wohl davon, dass er immer seine Leichen anfassen muss.

Wahrscheinlich habe ich sie von ihm geerbt. Aber er ist ein Mann. Da darf man mal hässlich aussehen. Ich bin schließlich eine Frau. Und da ist das schlecht. Abends ziehe ich mir heimlich die Finger lang. Ein bisschen hat’s schon geholfen. Aber so schön wie bei meiner besten Freundin Ricki sind sie nicht. Wie ich die beneide!

Dafür hat sie noch kein so geiles Handy, mit dem man nicht nur Fotos schießen oder Musik hören, sondern auch stundenlang Sprache aufnehmen kann. Dann werde ich das alles zu Hause auf meinem Notebook mit einem Spracherkennungsprogramm umwandeln und es zusammen mit den Fotos als E-Book ausbauen. Also gewissermaßen ein E-Diary.

Onkel Michel hat es mir zum Geburtstag geschenkt. Eigentlich wollte er mich und meine Freundinnen zu einer Schnitzeljagd im Eutiner Schlosspark einladen. Aber dann habe ich ihm klargemacht, dass das ja wohl nur was für kleine Kinder ist. Jetzt, wo ich erwachsen bin, wollte ich ihn lieber auf seiner Verbrecherjagd begleiten. Schließlich war ich doch dabei, als das auf Mallorca passierte. Und so sind wir beide gerade auf dem Weg von Lübeck nach Eutin, wo er in diesem Fall ermitteln muss.

Onkel Michel heißt eigentlich Michael und ist ein hohes Tier in der Lübecker Kripo. Auch wenn er viel zu alt für mich ist – er ist mit seinen 50 Jahren schließlich schon fast am Ende seines Lebens –, so mag ich ihn sehr. Ich mag ihn, weil er immer mit offenen Schnürsenkeln rumläuft und das nicht mal merkt. Und weil er nicht so streng ist wie Papa, der mir immer vorhält, Handys und Laptops seien nichts für kleine Mädchen. Aber das ist typisch für Eltern. Von ihren Kindern haben sie überhaupt keine Ahnung. Dabei gehe ich jetzt schon in die siebente Klasse und weiß, worauf es im Leben ankommt.

Bei Onkel Michel ist das anders. Irgendwie ist er einer von uns. Er kickt auch gern mal Fußball mit mir oder lädt mich zu Pommes ein. Nur den zerknitterten Mantel, in dem er ständig rumläuft, könnte er mal austauschen. Und dann diese ekeligen zerdrückten Kippen, die er ab und zu aus der Manteltasche kramt. Wenigstens raucht er sie nicht, weil sein Feuerzeug nie funktioniert. Ich werde ihm zu Weihnachten ein neues schenken. Das bin ich ihm schuldig, wo er mir so ein geiles Handy geschenkt hat.

Ach ja, das kann man auch als Navi benutzen. Mal sehn …

»Onkel Michel, wir sind jetzt kurz hinter Ahrensbök. Bei der nächsten Kreuzung musst du geradeaus weiterfahren, sonst kommen wir linker Hand nach Bosau!«

… Da bin ich früher, als ich noch Kind war, mit Mama und Papa auf dem Fahrrad entlang des Plöner Sees gefahren. Zu Ostern musste ich dann am Wegrand Eier suchen. Heute weiß ich, dass die Eltern die Schokoeier einfach in einem unbeobachteten Moment im hohen Bogen nach vorne werfen, und die naiven Kids mit der Nase darauf stoßen. An den Ostertagen machten das Massen von Landausflüglern und nicht selten entdeckte ich auch ein fremdes Ei, was dann regelmäßig zu Streitigkeiten mit anderen Kindern führte.

Komisch, dass ich damals an so was geglaubt hab! Übrigens hat der Landpächter jetzt ein großes Schild anbringen lassen: ›Ostereier suchen verboten!‹ Wahrscheinlich sind seinen Kühen die aus Versehen liegen gelassenen Schokoeier samt Verpackung schlecht bekommen.

Moment, da kommt gerade eine SMS an. – Von Ricki.

›Hi, Micha. Haben Musik. Tot langweilig. Hören gerade Weber – Freischütz. Völlig uncool. Gute Story, aber blöde Musik. Beneide dich. G+K Ricki.‹

Arme Ricki! Aber schließlich können nicht alle freihaben. Stell dir vor, der Lehrer muss sich seinen Freischütz ganz allein anhören. Das wäre doch auch langweilig. Und außerdem hat sich dieser Weber bestimmt viel Mühe gegeben.

Mein Gott, ist die Gegend hier langweilig, aber Onkel Michel scheint begeistert zu sein: Da, schau mal, Kühe! Da hinten, ein Pferd! – Oh, da drüben am Waldrand: Rehe! – Na ja. Ich hab schon Spannenderes geseh’n …

»Jetzt kommt die neue Umgehungsstraße. Da darfst du nicht rauffahren, Onkel Michel! Immer weiter geradeaus!«

… Aber ich will mich nicht beklagen, schließlich hat er es geschafft, mich schon vor der Mittagspause aus der Schule herauszuholen. Mich mal mitzunehmen auf seine Verbrecherjagd, das hat er mir schließlich zum Geburtstag versprochen. Und es auch gehalten. Mama sah das nicht gern, aber gestern kam Onkel Michel zu meiner Schule, machte sich vorm Schulleiter wichtig, murmelte irgendwas von dienstlichem Anlass, Zeugenbefragung und so weiter, und schon hatte ich frei.

Die Schule ist ein Kreuz geworden. Seit diesem Jahr ist unsere Gemeinschaftsschule eine sogenannte gebundene Ganztagsschule. Das hat sich der blöde Schulleiter ausgedacht, weil er dadurch zusätzliche Gelder aus dem Ministerium bekommen konnte. An uns Kinder hat er dabei wohl nicht gedacht. Wir müssen jetzt von 8 bis 16 Uhr in der muffigen Schule rumhocken, müssen das widerliche Kantinenessen runterwürgen und ständig ruhig an den Tischen sitzen und pauken. Rund um die Uhr. Dabei haben auch wir Kinder ein Recht auf Freizeit. Ich will auch mal rumtoben, rumlungern, mit anderen Kindern spielen, durch den großen Mediamarkt stromern und die neusten Handys oder Computerspiele ausprobieren, – oder einfach zu Hause auf dem Sofa liegen und meine Lieblingsband ›Pausenbrot‹ hören …

»Da vorne musst du rechts in die Elisabethstraße fahren und bei der nächsten Ampel links in die Weidestraße!«

… Jetzt haben sie uns wie in einer Kaserne eingesperrt. Viele Kinder, gerade die Jungs, sind erheblich aggressiver geworden. Auch den Lehrern merkt man es an, dass sie jetzt mehr Stress haben. Manche haben den Spaß am Unterrichten verloren und übertragen ihre schlechte Laune auf uns.

Angeblich waren die Eltern dafür. Wegen der Berufstätigkeit, hieß es. Aber das kann ich nicht glauben. Mama hätte mich lieber zu Hause gehabt. Das darf sie jetzt aber nicht mehr. Außerdem kocht sie besser. Und viele Mütter meiner Klassenkameraden leben von Hartz IV, die hocken ohnehin gelangweilt zu Hause vor der Glotze …

»So, jetzt hinter dem Bahnübergang einen kleinen Schlenker nach rechts und gleich danach links in den Jungfernstieg einbiegen. – Ja, genau. Prima hast du das gemacht. Da vorne am Rande des Schlossparks können wir parken.«

… Ach, vergessen wir die blöde Schule. Ich freue mich, dass ich jetzt nicht bei Frau Heinzmann in Musik hocken muss, – obwohl sie ja eigentlich eine ganz Nette ist.

Weber, – wer das wohl wahr? Und so ein komischer Titel, – Freischütz …

»Onkel Micha, was ist ein Freischütz? Ist das ein Mörder? Auch so einer wie die, mit denen du es zu tun hast?«

»Freischütz … Ja. – Nee, das hat mit Verbrechen nichts zu tun, glaube ich. Eher mit Musik oder so. – Frag mal heute Abend deine Mutter. Die kennt sich da besser aus. Ich muss mich jetzt auf meine Arbeit konzentrieren. Du weißt, dass ich dienstlich hier bin.«

»Wo sind denn nun deine Verbrecher, Onkel Michel?«

»Das muss ich doch erst noch herausbekommen! Selbst hier in der Provinz laufen die Täter nicht mit einem Hinweisschild herum. – Aber du kannst mir ja helfen, sie zu finden. Die Jugend hat doch für vieles eine feinere Nase als wir Erwachsenen.«

… Stimmt, wenn ich mir so seine Nase anschaue. Ein wirklich heftiger Kolben. Meine ist dagegen zierlich und schön geschwungen. Eigentlich bin ich doch ganz schön. – Wenn nicht meine Pummelfinger wären …

Wow, das Schloss ist ja echt geil! Das muss ich gleich Ricki simsen. Die wird jetzt Mathe haben. Da steht ihr Lehrer sowieso nur vor der Tafel und verschwendet seine Kreide, ohne zu merken, dass überhaupt keiner aufpasst. Bestimmt wird sie meine SMS unter der Bank lesen können. – So, noch ein Schnappschuss vom Schloss, den füge ich ihr bei …

›Hi Ricki. Bin in Eutin vorm Schloss. Würde gern drin wohnen. Fühl mich wie eine Märchenprinzessin. Dann bräuchte ich nicht zur Schule. Du als meine Hofdame. Hätten unseren eigenen Freischütz. Onkel Michel sucht Verbrecher. Werde ihm helfen. Ist wichtiger als Mathe. G+K Micha …‹

»So, Micha, wir sind da. Pack das Handy jetzt weg. Wir haben eine Menge zu erledigen, da kannst du nicht immer mit dem Ding rumspielen.«

Kapitel 3: Eutin – Utin

 

Inspektor Kroll parkte seinen englischgrünen Mini Cooper, das traditionelle Modell Baujahr 2000, direkt neben dem Schlosspark und stellte den Motor ab. Die wichtigsten Recherchen konnte er von hier aus zu Fuß machen. Er liebte seinen Mini mit der Holzarmatur, dem typischen weißen Doppelstreifen auf der Motorhaube und den großen Nebelscheinwerfern an der Stoßstange. Als einzigen neumodischen Luxus hatte er sich einen CD-Player samt Powerboxen einbauen lassen. So konnte er in aller Ruhe seine Led-Zeppelin-CDs anhören. Aber nur, wenn er die Musik lauter machte als den Auspufflärm.

Eigentlich hätte er sich bei seinem Gehalt auch so einen Mittelklassewagen leisten können wie sein Nachbar. Der fuhr einen schwarzen Volvo, der Kroll jeden Morgen, wenn er zum Dienst fuhr, an den Leichenwagen erinnerte, der Michas Opa vor zwei Jahren zu seiner letzten Reise abgeholt hatte.

Passend zu seinem Auto lief der geschäftige Nachbar stets in einem mausgrauen Anzug und einer unscheinbaren Krawatte herum. Kroll kleidete sich lieber etwas legerer, in Turnschuhe, Jeans, ein ewig junges Sweatshirt mit dem Aufdruck ›I have a dream‹ und einen zerknitterten grauen Mantel, den er sich offenbar vom Titelhelden der Fernsehserie Columbo abgeguckt hatte. Er liebte die Sendung, denn da wusste man gleich von Anfang an, wer der Mörder war. Kroll war aufgefallen, dass der Täter stets die Person war, die Columbo als Erste die Hand schüttelte. Schade, dass sein Job nicht auch so ablaufen konnte.

Der Kriminalinspektor hatte kürzlich sein Fünfzigstes vollendet. Das einst hippielange Haupthaar hatte einer Dreiviertelglatze weichen müssen. Seine Mitarbeiter hielten sie für sein Erkennungszeichen und nannten ihn hinter vorgehaltener Hand die Verbrecherkrolle. Krolle ist ein norddeutscher Ausdruck für Locke. Keine Locke – kein Verbrecher. Sollte das eine Anspielung auf die Tatsache sein, dass es dem Inspektor bisher nur selten gelang, einen Übeltäter zu überführen?

Kroll war im Grunde genommen eher ein Romantiker als ein Mann der Tat. Und so hatten seine, von buschigen Brauen verdeckten, tief liegenden Augen mehr den weichen Glanz eines Träumers als den harten Strahl eines Superagenten. Er versuchte, das Verbrechen mit dem Herzen, weniger mit dem Hirn aufzuklären. Das machte ihn für Außenstehende sympathisch.

Sein Gesicht sah aus, als sei es zu oft im Schleudergang gewaschen worden. Den Ansatz zum Doppelkinn konnte er auch nicht mehr durch den ungebügelten, dunkelblauen Wollschal verdecken. Sein Zweifingerbart erinnerte entfernt an Charlie Chaplin. Dazu passten allerdings nicht die gut gefütterten Wangen, die, ebenso wie die auffälligen Augensäcke, den Gesetzen der Gravitation folgend, nach unten strebten.

Himmelaufwärts führten dagegen die buschigen Augenbrauen, unter denen die kleinen, aber intensiv leuchtenden Augen lagen. Sein Blick war das Jugendlichste an ihm. Wenn er mit jemandem sprach, funkelten die Pupillen, als wäre er ein Maler, der in seinem Modell ein Motiv für ein Meisterwerk suchte. Er neigte dazu, beim Sprechen schnell hintereinander zu blinzeln. Gewöhnlich heftete er seinen Blick solange auf seinen Gesprächspartner, bis dieser verlegen zur Seite schaute. Manche hatten den Eindruck, der Inspektor könne bis tief in die Seele seines Gegenüber blicken.

Micha schaltete ihr Handy mit einem Seufzer auf Standby und folgte ihrem Onkel. Schließlich hatte sie sich fest vorgenommen, ihm zu helfen. Sie wusste, dass er, obwohl er es bis zum Oberinspektor geschafft hatte, ein wenig lebensfremd war. Eben ein richtiger Träumer, – eben ein echter Mini-Cooper-Fahrer.

Die Spur mit dem mutmaßlichen Auftragskiller hatte sich zerschlagen. Wenige Tage nachdem Kroll aus Mallorca zurück war, erhielt er die Nachricht, dass der Bursche bei einer Schießerei in Zusammenhang mit einem Bandenkrieg in Hamburg ums Leben gekommen war. Als Profi hinterließ er natürlich keine verwertbaren Spuren. So mussten sich die Nachforschungen auf den Raum Eutin beschränken, der Wirkungsstätte des Toten.

Kroll kletterte unsportlich aus seinem etwas engen Kleinwagen und kramte zwei Zettel aus der Tasche seines zerknitterten und etwas angeschmutzten Mantels. Zu Micha sagte er:

»Lauf du schon mal vor zur Torbrücke. Ich komme gleich nach.«

Sein Assistent Hopfinger hatte ihm vor der Abfahrt in Lübeck eine Checkliste in die Hand gedrückt.

»Dieser eingebildete Dummkopf«, brummte Kroll vor sich hin. »Denkt, er sei das Hirn unserer Abteilung. Glaubt, die Fälle mit messerscharfer Logik und knallharten Theorien lösen zu können. Ich vertraue lieber meiner Menschenkenntnis und meiner Intuition.«

Was ihn aber nicht abhielt, sorgfältig den Spickzettel seines Assistenten zu studieren.

 

1. Wohnhaus Graf Stolberg in der Lübecker Straße aufsuchen; nach verwertbaren Spuren durchsuchen.

2. Haussuchung im Büro des Grafen im Schloss.

3. Kontakt mit Kommissar Dorndorf von der Kripo Eutin aufnehmen.

4. Barbara von Bülow verhören. Wohnhaft auf Gut Uklei nördlich von Eutin, nahe dem Ukleisee.

5. Herzog Friedrich Georg von Altenburg über Stolbergs Tod informieren. Wohnhaft auf dem Gut Altenburg, nördlich von Eutin und westlich von Lensahn.

 

»Komisch, abgesehen von dem Kollegen nur Adelige! – Mal sehen, was Frau Grell über die Geschichte Eutins zu berichten hat.« Der zweite Zettel enthielt das Ergebnis der Recherchen seiner Sekretärin:

 

Im 9./10. Jahrhundert beherrschten die Slawen die Gegend. Sie unterhielten eine Inselburg namens Utin auf der Fasaneninsel, gleich gegenüber dem heutigen Schloss. Außer wenigen Holz- und Knochenresten und einigen Tonscherben ist nichts davon übrig geblieben. Damals war die Insel größer, da der Wasserspiegel des Eutiner Sees ein paar Jahrhunderte später durch Stauwehren anstieg. Unter Wasser fand man die Überreste von Pfählen, die darauf hinweisen, dass es früher eine Holzbrücke zum Festland gab. Manche Forscher vermuten einen unterirdischen Verbindungsgang zwischen der Insel und dem Festland.

Im 18. Jahrhundert stand ein kleines Gartenschlösschen auf der Insel, das jedoch 1770 abgebrochen wurde und als Steinbruch für das St. Georgs-Hospital diente. Heute steht ein schmuckes Fachwerkbauernhaus auf dem Gelände, das nur per Motorboot erreichbar ist. Übrigens das Einzige, das – abgesehen von dem Ausflugsdampfer – den Großen Eutiner See befahren darf. Hier wohnt der Pächter der Insel und alleinige Inhaber der Fischereirechte.

Im 13. Jahrhundert stand Utin an einem entscheidenden Wendepunkt seiner Entwicklung. Der Bischof von Lübeck, der dort im Domkapitel, einer Art politischer Enklave rings um die Domkirche, residierte, musste aufgrund von Auseinandersetzungen mit dem Lübecker Rat die Stadt verlassen. Er zog samt Gefolgschaft nach Utin, dem Zentrum seiner weltlichen Grundherrschaft. Seine Domherren wohnten in den noch heute teilweise erhaltenen Kapitelhöfen nahe der Eutiner Stadtkirche. Die Grafen zu Stolberg zählen dazu. Auch einige der Lübecker Kapitelhäuser blieben bis in die jüngere Vergangenheit in ihrem Besitztum.

Der Bischof selbst residierte in einem großen Steinhaus, an das er 1293 eine Schlosskapelle anbauen ließ. Damit war der Grundstock für das spätere Eutiner Schloss gelegt. Der groß angelegte Ausbau zur heutigen nahezu quadratischen Form geschah erst im 18. Jahrhundert.