»Wer hat bloß die Engel aus der Welt verbannt, obwohl ich sie noch immer um mich spüre?« Ein überraschender Gedanke für eine junge Frau, die am eigenen Leib erfahren mußte, daß unsere Welt mehr mit der Hölle als mit dem Paradies zu tun hat. Alma ist eines Abends auf einer ziellosen Fahrt durch São Paulo vergewaltigt worden. Um das Geschehene zu verkraften, reist sie mit ihrer Freundin Almut in das Land ihrer gemeinsamen Kindheitsträume, nach Australien. Dort begegnet sie in der Leere der Wüste einer Stille, die sie versöhnt. Doch die Traumzeit ist längst vergangen, die mythische Welt der Aborigines versunken. Also nimmt Alma Abschied von den Reservaten des Garten Eden und macht die Welt zu ihrer Wüste – nicht ohne darin Spuren zu hinterlassen. Für den niederländischen Journalisten, dem sie bei einem Festival in Perth begegnet, ist sie auf jeden Fall eine Offenbarung des Himmels.

»Erst einmal und vor allem eine Liebesgeschichte. … Der holländische Großmeister auf der Höhe seines ganzen Könnens.« Martin Lüdke, Frankfurter Rundschau

Cees Nooteboom, 1933 in Den Haag geboren, lebt in Amsterdam und auf Menorca. Sein umfangreiches Werk ist in viele Sprachen übersetzt und liegt in den acht Bänden seiner Gesammelten Werke im Suhrkamp Verlag vor. Zuletzt erschienen: Nachts kommen die Füchse (st 4194), Roter Regen (st 4246), und Schiffstagebuch (2011).

Cees Nooteboom

Paradies verloren

Roman

Aus dem Niederländischen von
Helga van Beuningen

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel

Paradijs verloren

bei Uitgeverij Atlas, Amsterdam / Antwerpen.

© Cees Nooteboom 2004

Umschlagabbildung:

Sandro Botticelli.Verkündigung (Ausschnitt), um 1490.

Galleria degli Uffizi, Florenz.

Foto: The Bridgeman Art Library, London

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73665-4

www.suhrkamp.de

Für Antje Ellermann-Landshoff

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich existierenden Personen ist in diesem Roman ausgeschlossen, es sei denn, der eine oder andere wolle sich oder einen anderen unbedingt wiedererkennen, wobei dann vor dem Wirklichkeitsverlust gewarnt werden muß, den fiktive Personen erleiden können. Das Angel Project in Perth dagegen hat es wirklich gegeben, im Jahr 2000, wenngleich das möglicherweise nicht das Jahr ist, in dem diese Geschichte spielt.

Prolog

»The pronoun I is better because more direct.«

Aus: The Secretaries Guide, Lemma »The Writer«

The New Webster Encyclopedic Dictionary of the

English Language MCMLII

Dash 8-300. Ich bin weiß Gott schon mit allen möglichen Flugzeugen geflogen, aber eine Dash war noch nie darunter. Es ist eine kleine, kompakte Maschine, aber sie wirkt größer, weil die Zahl der Passagiere gering ist. Der Platz neben mir ist leer. Es besteht offenbar nicht viel Interesse, von Friedrichshafen nach Berlin-Tempelhof zu fliegen. Als kleine, verirrte Gruppe sind wir von dem winzigen Hauptgebäude zum Flugzeug gegangen, das darf man hier noch. Jetzt warten wir. Die Sonne scheint, es ist recht windig. Der Pilot sitzt bereits vorn in der Kanzel, er dreht an diesem und jenem herum, ich höre den Kopiloten mit dem Tower sprechen. Wer häufig fliegt, kennt diese leeren Augenblicke.

Die Motoren sind noch nicht gestartet worden. Manche Passagiere lesen bereits, andere schauen nach draußen, aber da ist nicht viel zu sehen. Ich habe das Magazin der kleinen Fluggesellschaft hervorgeholt, verspüre aber noch keine Lust, ernsthaft zu lesen. Die übliche Propaganda für die eigene Gesellschaft, danach einige Informationen über die wenigen Orte, die sie anfliegen, Bern, Wien, Zürich, ferner ein paar gekaufte Artikel, etwas über Australien und die Aborigines, Felszeichnungen, in fröhlichen Farben bemalte Baststücke, all das, was in letzter Zeit ziemlich in Mode ist. Dann noch ein Bericht über São Paulo, ein Horizont voller Wolkenkratzer, Paläste reicher Leute und natürlich die ewigen, ach so pittoresken Armenviertel, Slums, Favelas, wie nennt man die. Dächer aus Wellblech, wacklige Holzkonstruktionen, Menschen, die so aussehen, als mache es ihnen Spaß, dort zu wohnen. Alles schon gesehen, ich darf mir das nicht zu lange anschauen, sonst überkommt mich das Gefühl, hundert Jahre alt zu sein. Vielleicht bin ich ja auch hundert Jahre alt, man muß nur das tatsächliche Alter mit einer geheimen Formel multiplizieren, der Zauberzahl, in der alle Reisen, die man in seinem Leben unternommen hat, und das dazugehörige ungebührliche Déjà-vu verarbeitet sind, und schon ist man dort angelangt. Für gewöhnlich habe ich kein großes Problem mit solchen Gedanken, allein schon, weil ich sie etwas billig finde, doch gestern abend in Lindau waren es drei Obstler zuviel, und in meinem Alter rächt sich das. Die Stewardeß schaut durch die Tür nach draußen, anscheinend wartet man noch auf jemanden, und nun, da dieser Jemand die Maschine betritt, entpuppt er sich als Frau, so eine, von der man hofft, daß sie sich neben einen setzt. So alt bin ich offenbar doch wieder nicht. Neben mich, daraus wird nichts, sie hat einen Fensterplatz, eine Reihe vor mir, links vom Gang. Eigentlich besser, denn jetzt kann ich sie richtig betrachten.

Sie hat lange Beine in einer Hose aus khakifarbenem Stoff, ein männliches Attribut, das sie weiblicher macht. Starke, große Hände, mit denen sie jetzt ein Buch aus dem karmesinroten Einwickelpapier packt, das sorgfältig mit Tesafilm zugeklebt ist. Dafür haben diese großen Hände keine Geduld, als das Klebeband nicht sofort nachgibt, wird das Päckchen aufgerissen. Ich bin ein Voyeur. Eines der größten Vergnügen beim Reisen besteht darin, Unbekannte zu beobachten, die nicht wissen, daß man sie beobachtet. Sie schlägt das Buch so schnell auf, daß ich den Titel nicht erkennen kann.

Mich interessiert immer, was andere Leute lesen, aber meistens sind Leute Frauen, denn Männer lesen nicht mehr. Und Frauen, diese Erfahrung habe ich gemacht, halten, egal ob im Zug, auf einer Parkbank oder am Strand, ihre Bücher oft so, daß man den Titel nicht lesen kann. Achten Sie mal darauf.

Und selbst wenn ich vor Neugier brenne, ich traue mich fast nie, danach zu fragen. Auf dem Titelblatt steht eine lange Widmung. Die liest sie ziemlich schnell, und während sie das Buch auf den leeren Platz neben sich legt, schaut sie schon wieder nach draußen. Die Motoren werden gestartet, das kleine Flugzeug beginnt zu rütteln, ich sehe ihre Brüste in dem engen T-Shirt sacht mitbeben und finde das erregend. Sie hat ihr linkes Bein hochgenommen, Licht fällt auf ihr Haar, Kastanie mit einer Art goldenem Schimmer darin. Das Buch hat sie verkehrt herum hingelegt, unmöglich, den Titel zu lesen. Es ist dünn, das mag ich. Calvino zufolge müssen Bücher kurz sein, daran hat er selbst sich meist auch gehalten. Wir preschen über den Beton. Vor allem bei kleineren Flugzeugen gibt es beim Abheben immer einen wollüstigen Moment, wenn gleich zu Beginn schon ein wenig Thermik im Spiel ist und die Maschine von unten einen zusätzlichen Schubs zu bekommen scheint, so etwas wie ein Streicheln, das gleiche Gefühl, wie man es früher als Kind beim Schaukeln hatte.

Auf den Hügeln liegt noch Schnee. Das macht die Landschaft sehr graphisch, radierte kahle Bäume auf einem weißen Blatt, manchmal braucht es nicht mehr, um etwas deutlich zu machen. Sie schaut nicht lange hin. Sie hat das Buch wieder in die Hand genommen und liest die Widmung jetzt noch einmal, aber genauso ungeduldig. Ich versuche, mir dazu etwas auszumalen – das ist schließlich mein Beruf –, komme aber nicht weit. Ein Mann, der etwas gutzumachen hatte? Mit Büchern muß man da vorsichtig sein. Schenk das falsche Buch oder den falschen Autor, und schon bist du in der Gefahrenzone.

Sie blättert darin, schaut ab und an etwas länger auf eine Seite. Für so ein kleines Buch hat es ziemlich viele Kapitel. Das bedeutet jedesmal einen Neubeginn, dafür muß man schon einen guten Grund haben. Wer den Anfang oder das Ende eines Buches vermasselt, hat nicht viel Ahnung, und das gilt eigentlich auch für die Kapitel. Wer dieser Autor auch sein mag, er geht ein ziemliches Risiko ein. Jetzt hat sie das Buch wieder neben sich gelegt, diesmal mit dem Titel nach oben, doch wegen des Lichts, das sie über sich eingeschaltet hat, glänzt der Plastikumschlag so, daß ich die Worte noch immer nicht lesen kann, ich müßte aufstehen, um besser zu sehen.

Cruising altitude, immer gemocht, diese Worte. Ich erwarte dann Skifahrer, schließlich fliegen wir über Wolken mit seltsam abfallenden Hängen, das hat mich noch nie gelangweilt. In dieser Höhe hat die Welt nur unbeschriebene Seiten, man kann einfach loslegen. Sie aber schaut nicht hinaus, sie hat das Bordmagazin zur Hand genommen und betrachtet es von hinten nach vorn. São Paulo hat sie überflogen, etwas länger bei einem großen grünen Park verweilt, und jetzt starrt sie auf die Malereien der Aborigines, führt ab und an die Seite sogar etwas näher an die Augen, und einmal sehe ich, wie sie mit ihren langen Fingern eine fremdartige Schlangenfigur auf einem der Bilder nachzieht. Dann klappt sie die Zeitschrift zu und schläft sofort ein. Manche Menschen können das, verhalten schlafen. Sie hat eine Hand auf das Buch gelegt, die andere ruht hinten am Hals, unter dem rötlichen Haar. Das Rätsel, das andere Menschen aufgeben, hat mich mein Leben lang beschäftigt. Ich weiß, da ist eine Geschichte, und ich weiß, ich werde sie nicht erfahren. Dieses Buch bleibt geschlossen, genau wie das andere. Als wir eine gute Stunde später zur Landung auf Tempelhof ansetzen, habe ich ein Viertel der Einführung zu einem Bildband über Friedhofsengel geschrieben. Unter uns liegen die grauen Wohnblöcke von Berlin, der große Riß in der Geschichte, der noch immer durch die Stadt verläuft. Sie kämmt ihr Haar und greift dann zu dem karmesinroten Papier, um das Buch wieder einzupacken. Sie streicht es auf ihren Oberschenkeln glatt, ich weiß nicht, warum mich das rührt. Dann nimmt sie das Buch und hält es einen Augenblick so, daß ich den Titel lesen kann.

Es ist dieses Buch hier, ein Buch, aus dem sie jetzt gleich verschwindet, zusammen mit mir. Während ich in der langen Halle auf mein Gepäck warte, sehe ich, wie sie schnell nach draußen geht, wo ein Mann auf sie wartet. Sie küßt ihn flüchtig, so flüchtig, wie sie das Buch betrachtet hat, von dem sie nur die handgeschriebene Widmung kennt, die ich nicht gelesen und auch nicht geschrieben habe.

Das Gepäck kommt hier schnell, als ich draußen bin, steigt sie mit dem Mann in ein Taxi und wird unsichtbar. Ich bleibe wie immer zurück mit ein paar Wörtern und mit der Stadt, die sich wie eine Klammer um mich schließt.

I

Dieß sprach die Mutter unser Aller; froh

vernimmt es Adam, doch erwiedert er

ihr nichts darauf. Der Fürst der Engel stand

zu nahe schon, und von des Berges Gipfel

aus ihrem Lager, zog der Cherubim

hellleuchtendes Geschwader sich herab,

und schwebte nun sanft übern Boden hin,

wie Nebeldunst, nach Sonnenuntergang

dem Bach’ entsteigend übers Moorland schwebt,

und wenn der müde Pflüger heimwärts eilt,

ihm an der Ferse nachschlüpft. An der Spitze

des Heeres flammte Gottes Schwerdt empor,

gleich einem lodernden Cometen. Gluth

durchströmte nun die sonst so milde Luft,

erstickend, wie die Dünste Lybiens.

Drum nahm der Engel jetzt die zögernden

Verbannten bei der Hand, und führte sie

ans Gartenthor in Osten, und von dort

den Fels hinab ins Ebne, und verschwand.

Johann Milton’s Verlornes Paradies (Zwölftes Buch)

Übersetzt von Samuel Gottlieb Bürde

Berlin 1793 bei Friedrich Vieweg, dem älteren

1

Jemand hat an einem heißen Sommerabend ihr Haus in Jardins verlassen, Jacaranda-, Magnoliendüfte, alles schwer und feucht. In Jardins wohnen die reichen Leute, die Personal haben, das von weit her kommen muß, Gärtner, Köchinnen, zwei Stunden sind nichts, und das zweimal am Tag. São Paulo ist eine große Stadt. Wenn es regnet, brauchen die Busse noch länger.

Jemand hat ihr Haus verlassen, ist ins Zweitauto ihrer Mutter gestiegen und gefahren, einfach so, Musik von Björk überlaut aufgedreht, Nibelungengejammer, das nicht in die Tropen paßt. Jemand hat mitgesungen, aber schrill, hysterisch, in einer Wut, die gegen niemand gerichtet war und mit einer Trauer zusammenhing, die sich auch nicht benennen ließ.

Jemand ist die Marginal hinuntergefahren, am TietÞ entlang, vorbei an den Häusern der Neureichen von Morumbi, und ist, ohne darauf zu achten, ohne darüber nachzudenken, in das verbotene Gebiet eingedrungen, und zwar noch nicht mal Ebffl-Ecffl, sondern gleich das allerschlimmste, Paraisópolis, das mehr mit der Hölle zu tun hat als mit dem Paradies, gefährlich, und dadurch jetzt, in diesem Augenblick, verlockend. Jemand fährt nicht selbst, das Auto fährt, das Auto und die Musik. Der Motor hat ausgesetzt, jetzt sind da nur noch die Angst und das Jaulen von Björk, das in die Richtung dieser Holzbruchbuden ruft, das dem Gestank zuruft, dem Mondlicht auf den Wellblechplatten, dem Geräusch billiger Fernseher, die zurückrufen, sich mit dem erregten Lachen mischen, den Stimmen, die näher kommen, sich zu einem Kreis formieren, der sich um sie schließt und sie nicht mehr durchläßt. Danach ging alles sehr schnell, zu schnell für Panik, zu schnell, um zu schreien oder wegzurennen. Wie viele es waren, weiß sie nicht mehr, und was sie sich immer vorwerfen wird, viel mehr als die Fahrt selbst, ist der widerlich poetische Gedanke, mit dem sie aus Gründen der Selbsterhaltung das Geschehene im nachhinein verfälschen sollte: daß es wie eine schwarze Wolke war. Eine schwarze Wolke war über sie gekommen. Natürlich hatte sie doch geschrien und natürlich hatte es weh getan, aber da war Gelächter gewesen, als ihr die Kleider vom Leibe gerissen wurden, dieses Gelächter war unvergeßlich, hoch und ekstatisch, eine Welt hatte darin mitgeklungen, die davor für sie nicht existiert hatte, eine Wut und ein Haß, so tief, daß man für immer darin hätte verschwinden können, und gleichzeitig dieses hohe hysterische Geschrei, die keuchenden Stimmen, die sich gegenseitig anstachelten, es sollte sie nie mehr verlassen. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, sie umzubringen, sie war liegengeblieben wie ein weggeworfenes Stück Müll. Vielleicht war das von allem das Schlimmste: wie diese Stimmen wieder verschwanden, zurück in ihre eigenen Leben, in denen sie nicht mehr gewesen war als ein Zwischenfall. Später sollte die Polizei sie fragen, was sie an diesem Ort zu suchen gehabt habe, und natürlich hatte sie begriffen, daß sie damit meinten, sie habe es sich selbst zuzuschreiben, doch was sie sich wirklich vorwarf, war die erniedrigende, verlogene Vorstellung von dieser Wolke, denn es sind keine Wolken, die einem die Kleider herunterreißen, es sind Männer, die für immer in deinen Körper und in dein Leben eindringen und ein Rätsel zurücklassen, das du nicht lösen kannst. Das ich nicht lösen kann, denn dieser Jemand war ich, dieselbe, die jetzt hier, auf der anderen Seite der Welt, neben einem Mann liegt, der so schwarz ist, wie es die anderen waren, jemand, der sich nichts genommen hat, den ich nicht kenne und den ich wieder verlassen muß. Ob es richtig ist, daß ich hier bin, weiß ich nicht. Warum es nicht richtig sein sollte? Weil er nicht weiß, warum ich hier bin, weil er den wahren Grund nicht kennt. Den wird er auch nie erfahren. In diesem Sinne betrüge ich ihn.

Ich bin hier, um einen Teufel auszutreiben. Er ist hier, um mit mir zu vögeln. Denke ich. Zumindest ist es das, was wir getan haben. Eine Woche, hat er gesagt, nicht länger. Dann müsse er wieder zurück zu seinem mob. Sein mob, sein Clan, so heißt das hier. Aber er hat nicht gesagt, wo das ist. Irgendwo im Outback, in der Endlosigkeit dieses Landes. Was er denkt, weiß ich nicht. Vielleicht betrügt er mich auch. Aber kann jemand lügen, der kaum etwas sagt?

Er schläft, und wenn er schläft, ist er die Zeit selbst. Dies sind die ältesten Menschen der Welt. Mehr als vierzigtausend Jahre haben sie jetzt schon in diesem Land gelebt, näher kann man der Ewigkeit nicht kommen. Ich bin eines Abends in São Paulo ins Auto gestiegen und kam hier an. Das ist nicht so, aber ich denke es. Keiner meiner Gedanken ist erlaubt, aber niemand kann mir verbieten zu denken, was ich denke. Ich blicke auf einen schlafenden Mann, der aussieht, als hätte er schon tausend Jahre gelebt, so jung er auch ist. Er liegt auf dem Boden neben mir, zusammengerollt wie ein Tier. Wenn er die Augen öffnet, hat er das Alter von Steinen, von Eidechsen, die man hier in der Wüste sieht, aber es ist ein leichtes Alter, weil seine Bewegungen leicht sind, als könnte er das Gewicht seines Körpers nicht spüren. Ich versuche mir zu sagen, daß diese Vorstellung genauso verlogen ist wie die andere, aber das stimmt nicht. Ich bin in etwas gelandet, wo ich nichts zu sagen habe, weil meine Zeit hier nicht gilt. Manchmal, wenn ich mit ihm in der Wüste bin in diesem Land, das fast nur aus Wüste besteht, und wenn er mir Dinge zeigt, die ich nicht sehe, wenn er fast das Land selbst ist und weiß, wo das Wasser ist, das für mich verborgen bleibt, wenn ich mir armselig vorkomme gegenüber seinem unermeßlichen Alter, das Nahrung erkennt, wo ich Sand sehe, denke ich wider besseres Wissen, daß ich an jenem Abend mein Haus verlassen habe, um hier anzukommen. Ich habe die Schwere der Tropen verlassen, wo sich alles bewegt und alles lärmt, um in dieser Stille anzukommen.

2

Almut ist schuld, daß ich hier bin. Almut hat einen deutschen Großvater, wie ich. Zusammen sind wir Almut und Alma, schon seit der Schule. Wir lachen zusammen über den komischen Akzent unserer Großväter, die nach dem Krieg nach Brasilien gekommen sind und nicht über ihre Vergangenheit sprechen wollen. Krank vor Heimweh sind sie, aber sie gehen nicht zurück, sie jaulen mit Fischer-Dieskau die Kindertotenlieder und wünschen sich, daß Deutschland Fußballweltmeister wird. Über den Krieg wollen sie nicht sprechen, und unsere Väter wollen nicht über ihre Väter sprechen. Sie haben auch nie Deutsch gelernt, unsere Väter. Wir schon, obgleich es eine Mistsprache ist. Alles ist immer andersherum, alles, was männlich ist, wird weiblich und umgekehrt, a morte