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D,as Buch

Der Tod ist überwunden, die Verstorbenen leben weiter: John F. Kennedy ist 2044 wieder Präsident der USA, Michael Jackson beherrscht die Charts und in Deutschland regiert Helmut Schmidt. In einer Welt, in der echte und virtuelle Realität längst miteinander verschmolzen sind, kann jeder ewig leben – als perfekte digitale Simulation. Bis eines Tages plötzlich Marlene Dietrich verschwindet. Der Traum der Menschen von der Unsterblichkeit, für die das letzte Hemd geopfert wurde, ist bedroht, und es kommt weltweit zu Protesten gegen den amerikanischen Hersteller Immortal. Dieser hat ganz andere Sorgen: Auf Marlene Dietrichs Klon hatten Hollywoodstudios eine hohe Summe abgeschlossen. Immortal bezichtigt die Verewigungsgegner von Thanatos, die Diva entführt zu haben. Oder handelt es sich gar um einen Mord? Als der Versicherungsangestellte Benjamin Kari den Fall aufklären soll und dafür nach Deutschland geschickt wird, entdeckt er immer mehr Hinweise auf ein inoffizielles Projekt von Immortal – und gerät ins Visier ihres größenwahnsinnigen Programmierers Reuben Mars, der, wie sich herausstellt, längst eigene Pläne verfolgt.

Der Autor

Jens Lubbadeh ist freier Journalist und hat bereits für Technology Review, Greenpeace Magazin, Spiegel Online und viele weitere Print- und Digitalmedien geschrieben. Für seine Arbeit wurde er mit dem Herbert Quandt Medienpreis ausgezeichnet. »Unsterblich« ist sein erster Roman. Jens Lubbadeh lebt in Hamburg.

Jens Lubbadeh

Unsterblich

Roman

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Deutsche Erstausgabe 01/2016

Copyright © 2016 by Jens Lubbadeh

Copyright © 2016 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-18072-0
V001

www.diezukunft.de

Für Claudia

There’s no chance for us

It’s all decided for us

This world has only one sweet moment set aside for us

Queen, »Who wants to live forever«

Prolog

Der Regen sah aus, als würde er niemals aufhören. Noch vierzehn Minuten bis Mitternacht, dann hatte Benjamin Kari Geburtstag. Er würde ihn allein verbringen, wie schon die letzten sechs Geburtstage zuvor. Doch dieses Mal wollte er sich ein besonderes Geschenk machen: Er wollte Hannah wiedersehen. Hannah, die seit sechs Jahren tot war.

Die Regentropfen fielen auf ihn herab. Der Asphalt war vollgesogen mit der Wärme des Tages. Es roch nach feuchter Erde. Kari stand gegenüber von Hannahs Haus unter den großen alten Kastanien. Wie oft war er nachts hierhergekommen. Er war ein Gefangener der Vergangenheit. Genau wie sie.

Das Haus war ein gutbürgerlicher Bau in Echo Park, mehr als einhundert Jahre alt. Die Spitzen des Eisenzaunes, der das Haus einschloss wie ein Fort, wirkten wie die Speere von Urmenschen. Im Fort gab es nur eine Gefangene.

In Hannahs Zimmer brannte Licht. Dann erschien sie auf ihrem Balkon, aus dem Nichts. Sie hatte nicht einmal die Tür geöffnet.

Hannah sah genauso aus, wie sie kurz vor ihrem Tod ausgesehen hatte. Sie trug eine dunkelgraue Wolljacke, die ihr ein bisschen zu groß war. Ihre langen braunen Locken fielen ihr über die Schultern. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute in den Himmel. Eine typische Haltung für sie.

»Hannah«, rief er.

Sie senkte den Blick und sah ihn. Ihre Arme lösten sich, aber ihr Gesicht blieb ausdruckslos.

Sie erkannte ihn nicht.

Ein Stich in seiner Brust. Er wusste, warum sie so reagierte.

Dann war sie verschwunden. Kari drehte sich um und ging.

1

Im Sommer 2044 ruhte die Vergangenheit nicht länger. Die Menschen hatten sie wiederbelebt wie einen Zombie. Der Tod war eine überwindbare Grenze geworden. Menschen konnten als virtuelle Klone wiederauferstehen. Diese Ewigen waren unsterblich.

Als Karis Bürotelefon an diesem wolkenfreien, makellosen Tag in Downtown Los Angeles zum ersten Mal klingelte, hörte er es nicht, denn er war noch nicht an seinem Platz.

Er lag immer noch auf der Couch, wo er nach seinem Ausflug letzte Nacht eingeschlafen war. Sein Kater Fellini lag am Fußende zusammengerollt. Er schreckte hoch, als das Mobiltelefon auf dem Wohnzimmertisch zu vibrieren begann. Es war auf lautlos gestellt, berührte jedoch die halbleere Thunfischdose auf dem Tisch und brachte sie zum Klappern.

Kari schlug die Augen auf. Sein Schädel brummte. Das Sonnenlicht fiel auf die leere Whiskeyflasche auf dem Tisch und blendete ihn. Die Flasche stand neben dem kleinen Buchstapel, auf dem zuoberst die Biografie einer längst vergessenen Hollywooddiva lag: »Jean Arthur – The Actress Nobody Knew«. Ein paar Tropfen Whiskey waren auf dem Buch gelandet, ein Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit befand sich noch im Glas.

Kari griff nach dem Telefon und blickte auf das Display. Es war Gibson, sein Chef. Er hatte verschlafen. »Scheiße«, murmelte er und nahm ab.

Er hoffte, Wesley würde nicht sofort hören, dass er völlig am Arsch war.

»Ben. Wo bist du?«

»Zu Hause«, sagte Kari. »Ist länger geworden, gestern.«

»Ach ja, stimmt«, sagte Gibson. »Herzlichen Glückwunsch. Hast du gefeiert?«

»Ein bisschen.«

Gibson brannte etwas auf der Seele.

»Du musst sofort reinkommen. Direkt zu mir. Es ist dringend.«

Seine Stimme klang seltsam. Diese Tonart hatte Kari noch nie zuvor bei ihm gehört. Eine Mischung aus Ernst und Besorgnis. Ungewöhnlich. Bei Fidelity war niemand besorgt. Man verkaufte Sicherheit.

»Ich komme«, sagte Kari. Aber am anderen Ende der Leitung war schon niemand mehr, der seine Worte hören konnte. Gibson hatte aufgelegt.

Kari warf das Telefon zurück auf den Tisch. Es knallte gegen die Thunfischdose. Sie fiel runter und verspritzte dabei ihren Inhalt. Das meiste landete auf dem Boden, aber etwas Fleisch und Öl waren auf sein weißes Hemd geflogen, das über der Couchlehne hing. Auf der Brust des Hemdes prangte nun ein olivfarbener Fettfleck. Nicht groß, aber sichtbar.

»Happy Birthday«, sagte er.

Fidelity residierte im dritthöchsten Gebäude von Los Angeles. In der Bevölkerung wurde es immer noch das Aeon Center genannt, obwohl Fidelity Aeon schon vor mehr als dreißig Jahren geschluckt hatte. Nun ruhte der einstige Versicherungskonzern, der in den 1920er-Jahren groß geworden war, in den Eingeweiden dieses viel mächtigeren Gebildes.

Aeon. Ein Name voller Hybris, der nach der Ewigkeit von Äonen gegriffen hatte. Es hatte nicht sein sollen. Aber der Name des Gebäudes passte, fand Kari. Das sah auch das Management so und hatte das rote Logo mit den leicht nach rechts geneigten Buchstaben absichtlich an der Spitze des schwarzen Glasphallus hängen lassen. Fidelity bewahrte jetzt Aeons Erbe – wie das von so vielen anderen auch.

Bevor er zu Gibson in den Olymp ging – so wurde die Chefetage im zweiundsechzigsten Stock genannt –, suchte Kari sein Büro auf. Er hoffte, dort noch ein Wechselhemd zu finden.

Auf dem Tisch lag die geöffnete Akte, an der er gerade arbeitete.

Ein nervtötender Fall: Es ging um die Immortalisierung des ehemaligen Managers eines Automobilkonzerns, dessen Firma Fidelity mit der Zertifizierung beauftragt hatte. Der Mann war verheiratet gewesen, mit zwei erwachsenen Kindern, aber eigentlich hatte die Familie in seinem Leben keine Rolle gespielt, wie so oft bei diesen Managertypen, dachte Kari. Es war ein Leben nur für die Arbeit. Und nach seiner Immortalisierung würde es das auch weiterhin sein. Spannend wurde es nun bei dem einzigen Makel im Leben des Managers: seiner Untreue. Er hatte seine Frau jahrzehntelang mit wechselnden Geliebten betrogen. Seine Familie wusste davon nichts und würde es auch nicht erfahren – die Daten seines Lebenstrackers wurden natürlich streng vertraulich behandelt. Und die Akte, die jetzt auf Karis Tisch lag, würden nur ganz wenige Menschen zu Gesicht bekommen. Doch der Mann hatte in seinem Testament seine Firma als offiziellen Rechteinhaber seines virtuellen Klons bestimmt. Die waren jetzt über seine Seitensprünge im Bild – und not amused.

Die Firma hatte unmissverständlich den Wunsch geäußert, diesen Charakterzug bei der Immortalisierung außen vor zu lassen. Kari sollte, so lautete die Anweisung, bei der Echtheitsprüfung großzügig darüber hinwegsehen. Eigentlich unvereinbar mit den Prinzipien von Immortal und vor allem von Fidelity. Karis Firma war dafür da, die Echtheit und Authentizität eines Ewigen zu prüfen, zu zertifizieren und gegen juristische Klagen abzusichern. Aber der Konzern des Managers war eine Tochterfirma von Immortal. Und gegen Immortal ließ sich schlecht argumentieren.

Kari gingen diese Schönungen gegen den Strich, aber sie kamen vor. Er würde mit Gibson noch einmal darüber sprechen müssen. Der Fall nervte ihn. Viel lieber würde er sich voll und ganz seinem anderen Projekt widmen: der Zertifizierung von Federico Fellini, dem Regisseur, der in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wunderbar skurrile Filme geschaffen hatte. Film war Karis Steckenpferd. Und wenn er an Regisseuren und Schauspielern arbeiten konnte, blühte er auf. Wirtschaftsleute fand er sterbenslangweilig.

Aber jetzt stand offenbar erst einmal Wichtigeres an.

In der Garderobe seines Büros hing kein Wechselhemd mehr. Er würde mit Fettfleck gehen müssen. Kari betrachtete sich im Spiegel. Er zupfte an der Krawatte herum, um das Schlimmste zu verbergen, aber es gelang ihm nur halbwegs. Außerdem hatte er Augenringe. Er hoffte, dass Gibson niemanden sonst zu dem Meeting geladen hatte. »Schöner Geburtstag«, sagte er zu sich selbst. Dann machte er sich auf den Weg in die Chefetage, den Olymp. Auf dem Weg zum Aufzug schnappte er sich die Zeitung.

Die New York Times machte mit den Abrüstungsverhandlungen zwischen China und den USA auf. Ein durchgestrichenes Radioaktivzeichen war das Bild, die Headline nur ein Wort: »Peace?« Und daneben irgendwas Chinesisches, das wahrscheinlich auch Frieden hieß. Kari hatte sein bisschen Schulchinesisch längst vergessen. Die Verhandlungen über die Vernichtung des kompletten Atomwaffenarsenals zogen sich seit Monaten hin. Nun war es offenbar so weit. Die Journalisten spekulierten, ob JFK und Deng Xiaoping dafür wohl den Friedensnobelpreis bekommen würden. Weitere Schlagzeilen und Nachrichten: Kein Durchbruch bei der Klimakonferenz in Reykjavik. Immortal schluckt Microsoft, oder das, was davon noch übrig war. Michael Jacksons Ranch und Hades wurde von Neverland in Foreverland umbenannt. Der virtuelle Ewige des King of Pop wolle damit ein Zeichen für die Unsterblichkeit setzen, hieß es. Dazu passte auch der Titel seines neuen Albums »Immortal«. Ein bisschen plump, die Werbung für Immortal, aber sicher ein lukrativer Deal für Jackson. Und Steve Jobs kündigte das iCar 6 an, das bei normaler Nutzung nur einmal die Woche aufgeladen werden musste. Kari gähnte.

Als sich die Aufzugtüren öffneten, blickte er direkt in das Gesicht von Vermeers »Mädchen mit dem Perlenohrgehänge«. Der zweiundsechzigste Stock war ein Museum im Kleinformat. Eines für die Werke alter Meister. Die kompletten Flurwände waren über und über von Gemälden bedeckt, eine Marotte der ersten Vorstandsvorsitzenden, die den Olymp hatten vollhängen lassen. Vermeer war gleich mehrfach vertreten. Daneben Werke von Dürer, Rubens und einigen anderen Giganten der Kunstgeschichte. Man sprach niemals darüber, ob sie echt waren. Aber Kari ging davon aus. Alles andere hätte nicht zu seiner Firma gepasst.

Die schweren, dunklen Farben, die ernsten Gesichter, all das Obst … Kari war mit anderen Bildern aufgewachsen. Seine Mutter hatte Kunstgeschichte studiert und für ihre Abschlussarbeit über Edward Hopper fast schon im Art Institute in Chicago gewohnt. Tag für Tag hatte sie dort verbracht, wochenlang. Dort hatte sie tatsächlich vor Hoppers berühmtestem Werk »Nighthawks« seinen Vater kennengelernt. Eine nette Anekdote, die seine Mutter gerne so erzählte, dass sein Vater, notorisch schüchtern, wie er war, stundenlang im Raum mit dem Bild gestanden hatte, ohne sie anzusprechen. Er hatte wohl geglaubt, sie würde ihn nicht bemerken. Nachdem das Spielchen ein paar Tage gegangen war, hatte sie sich ein Herz gefasst und ihn angesprochen. So romantisch das Ganze begonnen haben mochte – letzten Endes waren seine Eltern selbst zu den Nighthawks in dem Bild geworden: Fremde am selben Ort, die nebeneinander her lebten.

Jedenfalls hatte Karis Mutter die Wohnung immer mit Kunst vollgehängt, alter und neuer. Obwohl er nicht unbedingt ein Fan der alten Meister war, konnte er sich dem Reiz mancher Bilder hier nicht entziehen.

Eigentlich musste er sich beeilen, Gibson wartete. Aber die dunklen Augen des Mädchens mit den Perlenohrringen sahen ihn über ihre linke Schulter hinweg an. Er konnte nicht anders, als stehen zu bleiben. Kari trat auf Vermeers Gemälde zu; seine Füße machten keinen Laut auf dem zentimeterdicken Teppich. Dann blieb er dicht vor dem Porträt stehen. Dieses Gesicht schlug ihn immer wieder in seinen Bann. Er sah dem Mädchen direkt in die Augen. Ein Moment im Strom der Zeit, vor vierhundert Jahren vom Auge Jan Vermeers eingefroren – für immer, immortalisiert mit den Mitteln seiner Zeit. Er betrachtete ihren leicht geöffneten Mund. Sie sah neugierig, traurig, belustigt und ängstlich zugleich aus. Jedes Mal, wenn er das Bild sah, überwog eine andere Emotion.

Er hob seine rechte Hand und verbarg die linke Hälfte des Gesichts. Jetzt sah sie traurig und ein wenig ängstlich aus. Dann wechselte er die Seite. Nun blickte sie neugierig. Welche dieser Empfindungen hatte sie wohl wirklich gefühlt, in diesem Moment vor vierhundert Jahren? Ein Gemälde konnte nicht antworten. Es war kein digitaler Klon. Kein Ewiger.

Er ließ von dem Bild ab und ging den Flur entlang, vorbei an Dürers »Selbstbildnis im Pelzrock«, Rubens’ »Kopf eines Kindes«. Links und rechts waren Büros, die Türen standen offen. Im Vorbeigehen warf Kari einen schnellen Blick hinein. In allen saßen Mitarbeiter; ob sie selbst physisch präsent waren oder nur ihre Avatare, konnte er natürlich nicht sehen. Die Simulationen waren längst so gut, dass man den Unterschied nicht erkannte. Zumindest nicht auf den ersten Blick.

Dann stand er vor einer Tür, an der ein bronzenes Schild hing: »Wesley Gibson. Zertifizierung«. Kari klopfte. Niemand rief »Herein«. Er wartete einen Augenblick, räusperte sich kurz, schob seine Krawatte noch einmal vor den Fettfleck und trat ein.

Es würde keine Unterredung zu zweit werden – der große ovale Glastisch in der Mitte von Gibsons Büro war voll besetzt. Und wie Kari sofort sah, war der gesamte Fidelity-Vorstand anwesend. Ein unwohles Gefühl machte sich in ihm breit. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Und das ausgerechnet heute, wo er aussah wie durch den Fleischwolf gedreht.

Gibson saß rechts neben dem unteren Kopfplatz. Derjenige, der dort saß, drehte sich nicht um, als Kari eintrat. Auch Gibson rührte sich nicht. Er hatte die Hände gefaltet wie ein Betender, der Mund war hinter seinen Händen verborgen. Die anderen blickten nur kurz zu Kari auf.

Gibsons Büro war groß und langgezogen. Das Panoramafenster am Ende des Raumes zeigte die Skyline von Los Angeles. Ein Meer von Skyscrapern, rechteckig, dreieckig, schräg, gewunden – wie Spielfiguren auf einem gewaltigen Schachbrett.

Gibson hatte die Jalousien herabgelassen und aufgestellt, was das Büro in ein Zwielicht tauchte. Vor dem Fenster stand sein schwerer Schreibtisch aus massivem Eichenholz, als wäre die Eiche nie gefällt worden und hätte lediglich eine andere Form angenommen. Sonst: Standard-Chef-Einrichtung. Keine alten Meister. Gibson hatte es nicht so mit Kunst, aber weil er irgendwas an die Wände hatte hängen müssen – so waren die Firmenvorschriften; »Scheiß-Corporate-Identity, Ben« –, hing dort jetzt das große gerahmte Cover der Rolling-Stones-LP »Let It Bleed«, die 1960er-Anti-Torte aus Pizza und Gummireifen, auf einem Plattenteller serviert, gekrönt von der Band als Zuckerfigürchen. Gibson hatte ein Faible für Old-School-Rock und sich dementsprechend darüber gefreut, dass die immortalisierten Stones anlässlich des 75-jährigen Erscheinens der Platte gerade auf der Let-It-Bleed-Tour unterwegs waren.

»Setz dich, Ben«, sagte Gibson. Kari nahm den einzigen freien Platz, ihm schräg gegenüber. Gibson legte normalerweise großen Wert auf eine lässige Erscheinung. Kari erinnerte er immer ein wenig an den jungen Brad Pitt, aber im Moment sah Gibson angespannt und müde aus.

Kari kannte fast alle der Anwesenden mit Namen. Auf dem Platz gegenüber saß Jeff Dalton, der mit seiner Hakennase aussah wie ein Mäusebussard und nach allem, was Kari gehört hatte, seine Mitarbeiter auch wie Mäuse behandelte. Dalton musterte ihn skeptisch, als er sich setzte. Zwischen Dalton und Gibson saß Timothy Warren, dessen Rechtsscheitel auch heute so perfekt zementiert lag wie an jedem anderen Tag. Man hätte meinen können, dass er ein Avatar war, wenn nicht Warrens Stirnfalten gewesen wären, die ein Eigenleben zu besitzen schienen und unregelmäßig zuckten. Die Avatar-Software hätte das herausgefiltert. Ein nervöser Tick, der ziemlich irritierte, wenn man versuchte, mit ihm zu sprechen. Jetzt jedoch starrte er stumpf vor sich hin. Neben Warren saß die einzige Frau, Jessica Huber, Mitte fünfzig, Typ Oberlehrerin, sehr aufrecht sitzend; wahrscheinlich achtete sie permanent auf eine akkurate Haltung. Neben Kari saß ein kleiner dicklicher Mann, der einzige, den er nicht kannte. Niemand nahm Notiz von ihm.

Und der Mann am Kopfende des Tisches, der ihm beim Eintreten den Rücken zugewandt hatte, war Robert Dabney, seit drei Jahren Vorstandsvorsitzender von Fidelity. Gerade mal Mitte vierzig und eine Maschine von Mensch. Er hatte Augen wie Bergkristalle, die einen Laserzielfernrohren gleich ins Visier nahmen. Vor Dabney auf dem Tisch lag eine Akte. Seine Hände hatte er darauf abgelegt, die Finger ineinander verschränkt. Nun ruhten die Laseraugen auf Kari. Er fragte sich, ob Dabney persönlich hier war oder nur sein Avatar. Virtuell am Arbeitsplatz zu erscheinen war ein Privileg der Leitungsebene. Einfache Angestellte, die ihren Avatar ins Büro schickten, brauchten einen triftigen Grund, zum Beispiel eine Krankschreibung.

Aber offenbar gab es einen besonderen Anlass; gut möglich also, dass Dabney leibhaftig am Tisch saß. Niemand sagte etwas. Kari blickte von Gibson zu Dalton, zu Warren, zu Dabney und zurück zu Gibson.

»Es ist eine außergewöhnliche Situation eingetreten«, ergriff Gibson schließlich das Wort und blickte zu Dabney. Der ignorierte den Blick und stierte wieder auf die Akte vor sich. Dann sah Gibson zu Kari und sagte: »Marlene Dietrich ist verschwunden.«

Kari hielt die Luft an. »Wie bitte?«, fragte er.

»Wir haben es erst vor wenigen Stunden erfahren«, sagte Gibson.

Vor Karis innerem Auge erschien die schöne deutsche Schauspielerin so, wie sie sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt hatte. Seltsamerweise waren es Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die er vor sich sah, obwohl er Marlene Dietrichs virtuellem Ewigen persönlich gegenüber gesessen und mit ihr gesprochen hatte. Er hatte sie zertifiziert. Ihre hohe Stirn, die halb geschlossenen Augenlider, die hohen Wangenknochen hatten sich ihm eingeprägt. Das Bild in seinem Kopf zeigte sie mit Zylinder, in einen Smoking gekleidet, und sie zog an einer Zigarette. Auf dem Bild war sie etwa dreißig Jahre alt, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Ihrer ersten Karriere.

Natürlich war Marlene Dietrich seit Jahren überall in Farbe zu sehen. Sie drehte schließlich dauernd neue Filme.

Kari schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Ewige können nicht verschwinden.« Seine Stimme war eine Nuance höher als sonst, was ihn ärgerte. Ein Zeichen der Verunsicherung. Die Anwesenheit all dieser wichtigen Leute schüchterte ihn ein.

Dabney beugte sich vor, die Laser lagen erneut auf Kari. »Sie ist weg.«

Er sagte es in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

»Alles, was wir wissen, ist, dass sie vorgestern das letzte Mal gesehen wurde, in einem Restaurant in Berlin. Sie war dort mit Lars von Trier.«

»Der Regisseur?«, fragte Kari.

»Ja, natürlich der Regisseur«, sagte er genervt. »Er will offenbar einen Film mit ihr drehen, wie wir von Paramount erfahren haben. Worüber, wissen wir nicht. Immortal hat von Trier selbstverständlich kontaktiert. Er sagt, dass Dietrich sich kurz vor Mitternacht von ihm verabschiedet hat und nach Hause wollte. Aber dort ist sie nie aufgetaucht, wie die Haushälterin bestätigt hat. Sie ist einfach verschwunden. Einfach so – zack!« Dabneys Hand klatschte auf die Akte.

»Kann Immortal sie nicht orten?«, fragte Kari.

»Das haben sie natürlich versucht, Ben«, sagte Gibson. »Aber wie es aussieht, ist ihr Signal komplett ausgefallen.«

Immortal konnte zu jeder Zeit den genauen Aufenthaltsort jedes Ewigen bestimmen. Ein verschwundener Ewiger. Das hatte es noch nie gegeben.

Kari blickte auf seine gefalteten Hände – so hielt er sie immer, wenn er nicht wusste, was er mit ihnen machen sollte. Sein Blick blieb an dem Ehering an seinem linken Ringfinger hängen. Ein ungutes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus.

Hannah erschien vor seinem inneren Auge. Wie sie auf dem Balkon ihres Elternhauses gestanden hatte. Digital und doch so real. Dann war sie weg. Ein anderes Bild schob sich davor. Hannahs Gesicht, die Augen geschlossen. Blut auf den Wangen. Er riss den Blick von seinem Ehering, seinen Händen.

»Wir müssen wissen, was hier los ist. Wir können uns einfach keine Peinlichkeiten erlauben«, sagte Dabney.

»Wäre ja nicht das erste Mal«, murmelte Jessica Huber.

Dabneys Kopf fuhr herum. »Wie bitte?«

Jessica Huber hielt seinem Blick nicht stand. Sie schwieg.

»Ich glaube kaum, dass man das hier mit Jagger vergleichen kann«, sagte Dabney. Er blickte sie einen Moment länger an als nötig, dann wandte er sich von ihr ab. Offenbar wollte er seiner Maßregelung durch die theatralische Pause mehr Gewicht verleihen.

In Karis Kopf rauschten die Gedanken. Vor vielen Jahren hatte ein Mick-Jagger-Hack für beträchtlichen Wirbel gesorgt. Saudische Scheichs hatten den virtuellen Ewigen des Rolling-Stone-Sängers für mehrere Konzerte engagiert. Viele Millionen Dollar Gage waren geflossen. Dumm nur, dass es sich bei Jaggers Ewigem um eine Fälschung gehandelt hatte. Das Konzert hatte privat stattfinden sollen; insofern war der Termin nicht bekannt geworden, denn andernfalls wäre er dem echten Ewigen oder den wahren Rechteinhabern aufgefallen. Dass das Ganze aufflog, war einem anwesenden Scheich zu verdanken. Ihm waren das Verhalten und die Aussagen des falschen Jagger reichlich seltsam erschienen. Nicht dass der echte Jagger zu seinen Lebzeiten und natürlich auch noch als Ewiger nicht ständig reichlich seltsames Zeug geredet hätte, aber das hatte eine neue Qualität. Ein erstes Gutachten wurde in Auftrag gegeben, und Fidelity bestätigte die vermeintliche Echtheit des falschen Jagger. Es gab Gerüchte, dass Dabney damals indirekt dafür verantwortlich gewesen sein soll. Aber Kari wusste nicht, ob das stimmte. Jedenfalls endete es sehr peinlich für Fidelity, als die Kopie aufflog. Eine fette Strafzahlung ging nach Saudi-Arabien, Immortal eliminierte den falschen Ewigen, und der Hacker wurde hart bestraft. Zum Glück wurde die Sache nie öffentlich bekannt, Fidelity kam mit einem blauen Auge davon, auch wenn die Geschäftsbeziehung zu Immortal anschließend belastet war. Aber das war lange her; Fidelitys Prüfmechanismen waren seitdem besser geworden. Fälschungen kamen nur noch sehr selten vor und waren bisher immer entdeckt worden, bevor sie publik wurden. Auch dank Kari.

Dabney richtete sich auf. Er zog die Augenbrauen zusammen, eine Spur zu früh, als dass die Geste natürlich hätte wirken können. »Ich weiß nicht, ob Ihnen allen die Brisanz dieses Falles klar ist«, sagte er. »Das hier«, er tippte mit dem Zeigefinger zweimal auf die Akte, »könnte die allererste Entführung eines Ewigen sein.«

Jetzt kam Leben in die Runde. Heftiges Gemurmel. Kopfschütteln. Nur Gibson hatte die Hände wieder verschränkt und den Mund dahinter verborgen.

Eine Ewigen-Entführung? Kari fand diesen Gedanken völlig absurd. Bei all den Sicherheitsvorkehrungen? Und wieso ausgerechnet Marlene Dietrich? Warum nicht Steve Jobs? Apple würde Unsummen für ihn bezahlen. Warum nicht den amtierenden US-Präsidenten John F. Kennedy? Er war gegenwärtig der mächtigste Ewige der Welt. Was wollte ein genialer Hacker, der Immortals Technologie austricksen konnte, mit einem Filmstar? Und warum Marlene Dietrich, wenn er Tom Cruise oder Robert de Niro haben könnte?

»Was, wenn sie tot ist?« Jessica Huber schaute mit großen Augen in die Runde. »Was, wenn diese verrückten Verewigungsgegner sie ermordet haben?«

Dabneys Mundwinkel zuckten für den Bruchteil einer Sekunde. Mehrere Stimmen erklangen gleichzeitig, Warren schüttelte den Kopf. Dalton hustete.

»Dass die Thanatiker dahinterstecken könnten, ist Spekulation, Mrs. Huber. Sonst nichts«, sagte Dabney.

»Eine Entführung anzunehmen ist genauso Spekulation«, sagte sie mit gesenkter Stimme.

Neuerliches Gemurmel.

»Was, wenn es ein Virus ist?«, fragte Warren. Seine Stirnfalten zuckten außer Rand und Band. Er war nervös.

Gibson blickte überrascht. An diese Möglichkeit hatte er anscheinend noch nicht gedacht. Es wurde lauter. Huber nickte heftig. Offenbar fand sie diese Möglichkeit plausibel. Kari schwirrte nur noch der Kopf. Er war müde und verkatert und fühlte sich seltsam entrückt, als wäre er gar nicht körperlich anwesend, als schwebte nur sein Geist über dem Tisch, wie eine Kamera, die alles beobachtete. Dieses Gefühl kannte er von seinen Avatar-Sitzungen. Verstohlen blickte er an seinem Hemd hinunter. Die Krawatte hatte sich leicht verschoben, der Fleck war sichtbar. Mist! Kari zupfte sie unauffällig zurecht.

Dabney hob die Hände. Sofort wurde es still. »Schluss jetzt. Wildes Spekulieren hilft uns nicht weiter«, sagte er. »Wir haben zu diesem Zeitpunkt keinerlei Informationen, ob es sich bei dem Verschwinden von Marlene Dietrichs Ewigem um einen Angriff von außen handelt oder eine Fehlfunktion oder was auch immer. Und genau das ist unser Problem. Wir brauchen Informationen. Und wir brauchen sie schnell – bevor das Filmstudio von der Sache erfährt!«

»Ach herrje, richtig!«, sagte Dalton. »Wenn wir Paramount verlieren, werden Fox und Sony auch abspringen. Dann können wir einpacken.«

Das konnten sie dann in der Tat, dachte Kari. Diese drei Studiogiganten machten einen Großteil der Umsätze von Fidelity aus.

»Ich will, dass Sie den Fall untersuchen, Kari«, sagte Dabney.

Kari sah auf. Was hatte er da gerade gesagt?

Gibson ergriff das Wort: »Ben, du bist unser bester Mann, was Ewigen-Qualität und Ewigen-Manipulationen angeht. Und du hast damals Dietrichs Zertifizierung erstellt.«

Kari verstand gar nichts. Er hatte angenommen, dass sie seine technische Expertise einholen wollten. Sein Job waren Gutachten, Authentizitätsprüfungen, Zertifizierungen. Er war dafür da, zu beurteilen, ob ein Ewiger echt war, also seinem biologischen Vorbild entsprach. Und ob er die Standards erfüllte, die Immortal an die Ewigen stellte. Nicht mehr, nicht weniger. Und nun sollte er Detektiv spielen? Einen verschwundenen Ewigen suchen?

»Ähm, mit Verlaub, Mr. Dabney …«, setzte Kari an. »Immortal hat die Technologie erfunden, sie haben die besten Programmierer und die besten Rechner der Welt. Glauben Sie nicht, dass in diesem Moment bereits eine riesige Taskforce nach der Dietrich sucht?«

Dabney schnaubte. Er griff in seine Westentasche, holte ein frisches Päckchen Zigaretten heraus, öffnete es und fingerte eine Zigarette heraus. Zigarettenduft, echt oder virtuell, erfüllte den Raum. Dabney hielt die Zigarette nicht eingeklemmt zwischen Zeige- und Mittelfinger. Nicht so, wie Marlene Dietrich es tun würde, dachte Kari und wunderte sich über diesen Gedanken. Dabney hielt die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, so wie Al Pacino es als Mafiaboss in »Der Pate« getan hatte.

»Immortal schweigt«, sagte Dabney. »Wie immer.« In seiner Stimme schwang Verachtung mit. Immortals Kommunikation war nicht die beste, selbst was enge Geschäftspartner anging.

»Ich glaube ja«, sagte Mäusebussard Dalton mit einem prüfenden Seitenblick zu Dabney, »dass Immortal selbst keinen blassen Schimmer hat, was los ist.«

Dabney blies eine Wolke Zigarettenrauch in die Runde.

»Es ist ziemlich egal, Dalton, was wir glauben. Sagte ich das nicht bereits?«

Dalton zuckte zusammen.

»Es zählt nur das, was wir wissen. Und wir wissen nichts.«

Dabney machte eine Pause. Dann sagte er mit leiser Stimme: »Wenn wir wissen wollen, ob Dietrich gelöscht, entführt oder in ein virtuelles Plüschtier verwandelt wurde, werden wir das bestimmt nicht von Immortal erfahren.«

Plötzlich begann er zu brüllen, so unvermittelt, dass alle zusammenzuckten: »Ich habe keine Lust, das Schicksal unserer Firma von diesen gottverdammten Arschlöchern abhängig zu machen! Schlimm genug, wenn Paramount erfährt, dass einer seiner wichtigsten Ewigen im Arsch ist. Aber haben Sie alle nur den Hauch einer Ahnung, was hier los sein wird, wenn das an die Öffentlichkeit gelangt?«

Dabneys Gesicht war knallrot.

Fidelity wäre blamiert. Aber das wäre gar nicht mal das Schlimmste. Wenn ein Superstar wie Marlene Dietrich verschwinden konnte, war kein Ewiger mehr sicher. Dann wäre der Traum vom ewigen Leben ziemlich schnell beendet. Es könnte eine Massenpanik geben.

Dabneys Zeigefinger streckte sich wie ein Gewehrlauf Kari entgegen. »Kari, setzen Sie Ihren Arsch in Bewegung und finden Sie raus, was los ist. Sofort.«

Dabney schob ihm die Akte rüber und machte Anstalten aufzustehen.

»Mr. Dabney …« Die Worte entfuhren Kari, bevor er überlegen konnte. Wahrscheinlich hätte er sonst den Mund gehalten. Stille im Raum. Dabney sah ihn ausdruckslos an. Zu spät. Er musste es nun aussprechen: »Wieso ausgerechnet ich? Ich bin dafür überhaupt nicht geeignet.«

Einen Moment lang blieb Dabneys Gesicht unbeweglich, und Kari befürchtete schon, dass er ihn gleich wieder anschreien würde. Doch dann wandelte sich der Ausdruck von Dabneys Miene, als hätte er auf einen Knopf gedrückt. Sie verzog sich zu einer Fratze. Im selben Augenblick wurde Kari klar, dass Dabney physisch anwesend war. Eine solch schräge Mimik hätte die Avatar-Korrektur niemals zugelassen. Sie war darauf programmiert, die optimale soziale Reaktion zu erzeugen, um den Avatar sympathischer wirken zu lassen. Kari brauchte einen Moment, um Dabneys Mimik zu deuten: Es war ein Grinsen. Dann sagte Dabney: »Genau deswegen. Und übrigens, Kari: herzlichen Glückwunsch.«