Das Buch

Vier Jahre ist es her, dass der Virus kam und alle Erwachsenen tötete. Mittlerweile gibt es keine Elektrizität mehr, die Wasser- und Lebensmittelvorräte gehen zu Ende. Brände haben gewütet und von einem einst blühenden Sizilien eine gespenstische Wüstenlandschaft hinterlassen. In dieser Welt lebt die dreizehnjährige Anna mit ihrem kleinen Bruder in einem Haus im Wald und versucht mit allen Mitteln, ihn vor den Gefahren des Lebens draußen zu bewahren. Doch Anna weiß: Früher oder später muss sie mit ihrem Bruder ihre alte Welt verlassen, um woanders eine neue zu finden.

»Anna« ist ein von der ersten Seite an fesselnder Abenteuerroman und gleichzeitig eine Parabel auf eine Welt, in der Kinder sich selbst überlassen sind und ohne Vorbilder aufwachsen. Eine Parabel auf das Leben in einer Gesellschaft ohne Zukunftsaussichten. »Anna« ist aber auch eine Hymne an die Kraft der Liebe. Denn so rettungslos die hier geschilderte Welt erscheint, so hell leuchten in ihr immer wieder Zärtlichkeit und pure Lebensfreude auf. Anna zeigt uns, was Menschen auf sich zu nehmen bereit sind, um zu überleben und die Hoffnung in sich nicht sterben zu lassen. Sie ist eine Heldin, der Ammaniti all seine Bewunderung schenkt und mit der der große Autor anknüpft an seinen Welterfolg »Ich habe keine Angst«.

Der Autor

NICCOLÒ AMMANITI, geboren 1966 in Rom, ist einer der erfolgreichsten und international renommiertesten Autoren italienischer Sprache. Sein Weltbestseller »Ich habe keine Angst« gewann den Premio Viareggio, der Roman »Wie es Gott gefällt« den Premio Strega. Fünf seiner Bücher wurden von international herausragenden Regisseuren für das Kino verfilmt, darunter Gabriele Salvatores und Bernardo Bertolucci. Ammanitis Werke wurden in 44 Sprachen übersetzt.

LUIS RUBY, geboren 1970 in München, übersetzt aus dem Spanischen, Italienischen, Portugiesischen und Englischen Autoren wie Eduardo Halfon, Marco Malvaldi und Clarice Lispector. Er wurde für seine Arbeit u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis und dem Münchner Literaturstipendium ausgezeichnet.

NICCOLÒ AMMANITI

ANNA

ROMAN

AUS DEM ITALIENISCHEN
VON LUIS RUBY

Besuchen Sie uns im Internet:
www.eisele-verlag.de


ISBN 978-3-96161-510-0


Die Originalausgabe »Anna«

erschien 2015 bei Giulio Einaudi Editore.

© 2015 Niccolò Ammaniti

© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagillustration: FAVORITBUERO, München

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

There was a boy
A very strange enchanted boy
They say he wandered very far, very far
Over land and sea
A little shy and sad of eye
But very wise was he.

Eden Ahbez, Nature Boy.

Er war drei, vielleicht vier Jahre alt. Er saß auf einem kleinen Kunstledersessel, das Kinn auf sein grünes ­T-­Shirt gesenkt. Die Jeans hochgekrempelt über den Turnschuhen. In einer Hand hielt er einen kleinen Spielzeugzug aus Holz, der zwischen seinen Beinen baumelte wie ein Rosenkranz.

Die Frau in dem Bett auf der anderen Seite des Zimmers mochte dreißig oder auch vierzig Jahre alt sein. Ihr mit roten Flecken und dunklem Schorf überzogener Arm hing an einem leeren Tropf. Der Virus hatte von ihr nichts als ein keuchendes Skelett gelassen, über das sich ausgetrocknete, pustelige Haut spannte, aber es war ihm nicht gelungen, ihr jegliche Schönheit zu rauben, das Ebenmaß ihrer Wangenknochen und der zierlichen Nase.

Der kleine Junge hob den Kopf und sah sie an. Dann hielt er sich an der Armlehne fest, kletterte vom Sessel und trat mit dem Zug in der Hand ans Bett.

Die Frau bekam davon nichts mit. Ihre in zwei tiefe dunkle Höhlen versunkenen Augen starrten zur Decke.

Der Kleine begann, an einem Knopf des schmutzigen Kissenbezugs herumzuspielen. Seine blonden Haare fielen ihm in die Stirn; im Sonnenlicht, das durch die weißen Vorhänge drang, glichen sie Nylonfäden.

Unvermittelt stützte sich die Frau auf die Ellenbogen hoch und bäumte sich auf, als würde ihr die Seele aus dem Leib gerissen, und ihre Hände krallten sich in die Laken, bis ein Hustenanfall sie zurück aufs Bett warf. Arme und Beine von sich streckend, schnappte sie nach Luft. Dann entspannte sich ihr Gesicht, ihr Mund öffnete sich weit, und sie starb mit aufgerissenen Augen.

Der kleine Junge nahm behutsam ihre Hand und zog sie ein paar Mal am Zeigefinger. Kaum hörbar flüsterte er: »Mama? Mama?« Er legte ihr den Zug auf die Brust und ließ ihn dann seitlich aufs Laken gleiten. Er nestelte an dem blutverkrusteten Pflaster, unter dem sich die Infusionsnadel verbarg. Schließlich verließ er das Zimmer.

Der Korridor war nur schwach beleuchtet. Von irgendwoher kam das Piepen medizinischen Geräts.

Der Junge ging an der Leiche eines dicken Mannes vorbei, der neben einer Tragbahre auf dem Bauch lag. Die Stirn auf dem Boden, ein Bein unnatürlich abgewinkelt. Zwischen den blauen Zipfeln des Krankenhaushemds lugte ein bleicher Rücken hervor.

Schwankend ging er weiter, als bekäme er seine kindlichen Beine nicht unter Kontrolle. Auf einer anderen Bahre, neben einem Plakat, das zur Brustkrebsprävention aufrief, und einer Ansicht von Lüttich mit der St.-Pauls-­Kathedrale, ruhte der Leichnam einer alten Frau.

Der Kleine lief unter einer flackernden gelben Neonröhre entlang. Ein Teenager in Nachthemd und Frotteepantoffeln lag tot auf der Schwelle zu einem langen Schlafsaal, einen Arm vorgestreckt, die Finger verkrampft, als kämpfte er dagegen an, von einem Strudel mitgerissen zu werden.

Am Ende des Korridors rang die Dunkelheit mit den Sonnenstrahlen, die durch die Eingangstüren des Krankenhauses drangen.

Der kleine Junge hielt inne. Auf der linken Seite befanden sich das Treppenhaus, die Aufzüge und der Empfangsschalter. Hinter dem stählernen Tresen sah man Schreibtische mit umgestürzten Computerbildschirmen, dazu eine in unzählige stumpfe Teilchen zerplatzte Tür aus Sicherheitsglas.

Er ließ den Spielzeugzug fallen und rannte in Richtung Ausgang. Die Augen zusammengekniffen, streckte er die Arme aus, drückte gegen die großen Türflügel und trat hinaus ins Licht.

Draußen hinter der Freitreppe, hinter dem rot-weißen Absperrband, erhoben sich die schwarzen Schemen der Polizeiautos, Krankenwägen und Feuerwehrfahrzeuge.

Jemand rief: »Ein Kind! Da ist ein Kind …«

Der Kleine bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

Eine plumpe Gestalt lief ihm entgegen und verdunkelte die Sonne.

Der Junge sah gerade noch, dass der Mann in einem dicken Overall aus gelbem Plastik steckte.

Dann wurde er am Arm gefasst und weggeführt.

Vier Jahre später …

Erster Teil

GUT MAULBEERBAUM

1.

Anna ging auf der Autobahn, die Hände fest an den Riemen ihres Rucksacks, der auf dem Rücken auf und ab hüpfte. Von Zeit zu Zeit wandte sie den Kopf.

Die Hunde waren immer noch da. Sie liefen in einer Reihe. Sechs, sieben an der Zahl. Ein paar von den Schwächeren waren auf dem Weg zurückgeblieben, aber der Große an der Spitze kam allmählich näher.

Zwei Stunden zuvor hatte Anna sie auf einem verbrannten Feld entdeckt, weit hinten zwischen dunklen Steinbrocken und den rußschwarzen Baumstämmen der Olivenbäume, sie tauchten gelegentlich auf und verschwanden dann wieder, das Mädchen hatte nicht groß auf sie geachtet.

Es war nicht das erste Mal, dass ihr ein Rudel wilder Hunde hinterherlief, sie folgten einem für eine Weile, bis sie müde wurden und sich trollten.

Doch diesmal hatte sie erleichtert geseufzt, als sie die Hunde nicht mehr sah. Sie war stehengeblieben, um ihr restliches Wasser zu trinken, und schließlich weitergegangen.

Unterwegs zählte sie gerne. Sie zählte, wie viele Schritte sie für einen Kilometer brauchte, zählte blaue und rote Autos, zählte Überführungen.

Dann waren die Hunde plötzlich wieder da.

Verzweifelte Kreaturen, ziellos dahintreibend auf einem Meer von Asche. Sie war schon vielen begegnet, das Fell durchlöchert, an den Ohren ganze Trauben von Zecken, abgemagert bis auf die Rippen. Schon um die Reste eines Kaninchens trugen sie wilde Kämpfe aus. Die Brände im Sommer hatten die Ebene versengt, und es gab so gut wie nichts mehr zu essen.

Anna kam an einer Reihe von Autos mit kaputten Scheiben vorüber. Zwischen den mit einer Ascheschicht überzogenen Wracks wuchsen Korn und Gestrüpp.

Der Schirokko hatte die Flammen bis ans Meer geweht und hinter sich eine Wüste zurückgelassen. Der Asphalt­streifen der A29, die von Palermo nach Mazara del Vallo führte, zerschnitt eine tote Weite, aus der die geschwärzten Kronen der Palmen aufragten und hier und da eine Rauchfahne. Zur Linken, hinter den Überresten von Castellammare del Golfo, war ein graues Stück Meer eins mit dem Himmel. Rechts schwebten eine Reihe von niedrigen dunklen Hügeln wie ferne Inseln über der Ebene.

Die Fahrbahn war durch einen umgekippten LKW blockiert. Der Anhänger hatte die Leitplanke geknickt, Waschbecken, Bidets, Toilettenschüsseln und weiße Keramikscherben lagen meterweit verstreut. Das Mädchen ging zwischen ihnen hindurch.

Ihr rechter Knöchel tat weh. In Alcamo hatte sie die Tür eines Lebensmittelgeschäfts mit Fußtritten aufgebrochen.

Eigentlich war bis zum Auftauchen der Hunde alles glattgegangen.

Beim Aufbruch war es noch dunkel gewesen. Sie musste immer weitere Strecken zurücklegen, um an Essen zu gelangen. Am Anfang hatte sie es leichter gehabt, da brauchte sie nur nach Castellammare zu gehen, wo man fand, was man haben wollte. Aber seit den Bränden war alles kompliziert geworden. So war sie nun drei Stunden lang unter der Sonne marschiert, die an einem blassen, wolkenlosen Himmel stand. Der Sommer war längst vorbei, aber die Hitze ließ nicht nach. Nachdem der Wind das Feuer angefacht hatte, war er verschwunden, als interessierte ihn dieser Teil der Schöpfung nicht mehr.

In einer Gärtnerei, neben dem Krater, den die Explosion einer Zapfsäule hinterlassen hatte, war sie unter einer staubbedeckten Plane auf einen Karton voller Lebensmittel gestoßen.

Nun trug sie im Rucksack sechs Cirio-Konserven­dosen mit Bohnen, vier weitere mit Tomaten der Marke Graziella, eine Flasche Amaro Lucano, eine dicke Tube Nestlé-Kondensmilch, eine Packung Zwieback, der bröckelig war, aber noch gut genug, um mit Wasser verrührt zu werden, und ein halbes Kilo vakuumverpackten Bauchspeck. Dem Speck hatte sie nicht widerstehen können, sie hatte ihn sofort vertilgt, auf den Säcken mit Pflanzenerde kauernd, die sich mit Mäuseschiss überkrustet am Boden stapelten. Der Speck war zäh wie Leder und so salzig, dass ihr der Mund brannte.

Der schwarze Hund kam immer näher.

Anna ging schneller, und ihr Herz pumpte im Rhythmus ihrer Schritte. Allzu lange würde sie nicht mehr durchhalten. Sie musste stehenbleiben und sich ihm stellen. Wenn sie wenigstens ein Messer gehabt hätte. Eigentlich nahm sie immer eines mit, aber an diesem Morgen hatte sie es vergessen. Der Rucksack, mit dem sie aufgebrochen war, enthielt nur eine Flasche Wasser.

Die Sonne stand vier Finger breit über dem Horizont. Ein oranger Ball, von violettem Speichel benetzt. Noch wenige Minuten, und die Ebene würde ihn verschlucken. Auf der anderen Seite hing der Mond, so schmal wie ein Fingernagel.

Sie drehte sich um.

Der Hund war immer noch da. Die anderen hatten einer nach dem anderen aufgegeben, er nicht. Auf dem letzten Kilometer hatte er die Distanz zu ihr nicht verringert, aber sie war fast gerannt, während er dahintrottete.

Vielleicht wartete er die Dunkelheit ab, um anzugreifen, doch das kam ihr unwahrscheinlich vor, Hunde waren nicht so berechnend. So oder so würde sie kaum bis Einbruch der Dunkelheit durchhalten. Ihr Knöchel pochte, und die Wade war hart vor Schmerz.

Sie ging an einem grünen Schild vorbei. Fünf Kilometer bis Castellammare. Um auch wirklich immer geradeaus zu gehen, folgte sie dem Streifen in der Mitte der Fahrbahn. Hätten ihr nicht ihr eigener Atem und das Geräusch ihrer Füße auf dem Asphalt in den Ohren gedröhnt, sie hätte die Stille hören können. Da war nicht der leiseste Windhauch, auch keine Vögel, Grillen, Zikaden.

Sooft sie am Straßenrand ein Auto sah, flüsterte ihr die Müdigkeit zu, doch einfach einzusteigen, ihr Verstand widersprach. Sie konnte versuchen, dem Hund den Zwieback hinzuwerfen, oder auf die andere Seite des Zauns wechseln. Allerdings waren die Maschen viel zu eng, und sie hatte keine Löcher gesehen, durch die sie gepasst hätte.

Auf dem Mittelstreifen hingen die Oleandersträucher, die das Feuer überlebt hatten, voller rosa Blüten, und die Zweige wölbten sich schwer hinab. Ihr süßlicher Duft mischte sich mit dem Geruch nach Verbranntem.

Das Hindernis war hoch.

Aber du bist doch das Känguru, sprach sie sich Mut zu.

In der Schule hatte ihr die Sportlehrerin, Signora Pini, den Spitznamen Känguru gegeben, weil sie weiter springen konnte als die Jungen. Anna mochte diesen Namen nicht. Kängurus hatten Segelohren. Da wäre Leopard ihr lieber gewesen, der konnte auch springen und war viel schöner.

Sie streifte den Rucksack ab und warf ihn über die Sträucher. Dann nahm sie Anlauf, setzte einen Fuß auf das Betonmäuerchen, machte einen Satz zwischen den Zweigen hindurch und fand sich auf der Gegenfahrbahn wieder.

Sie hob den Rucksack auf und zählte keuchend bis zehn. Dann reckte sie die Faust und lächelte. Sie hatte ein schönes Lächeln, lauter weiße Zähne, die sie nur selten zeigte.

Sie humpelte weiter. Jetzt brauchte sie nur noch den Zaun zu überwinden, dann war sie in Sicherheit.

Auf der anderen Seite fiel eine Böschung zu der Nebenstraße hin ab, die parallel zur Autobahn verlief. Nicht der beste Ort, um mit einem lädierten Knöchel herumzuklettern. Sie stellte den Rucksack auf den Boden und drehte sich um.

Da sah sie, wie der Hund zwischen den Oleandersträuchern hindurchsetzte und auf sie zustürmte.

Er war nicht schwarz, sondern weiß, das Fell mit Asche überzogen. An einem Ohr fehlte ein Stück. So einen Riesenhund hatte sie noch nie gesehen.

Und wenn du nicht machst, dass du wegkommst, dann frisst er dich.

Sie krallte sich in die Maschen des Zauns, aber ihre Arme waren vor Angst wie gelähmt. Sie drehte sich um und rutschte ab.

Das Tier überquerte die letzten Meter Autobahn und sprang über die Leitplanke und den Ablaufkanal. Ein dunkler Schatten, der das Licht der Dämmerung löschte, vierzig Kilo auf sie losspringender räudiger Gestank.

Anna stieß den Ellbogen nach oben, dem Hund zwischen die Rippen, der zusammensackte und neben ihr liegen blieb. Sie rappelte sich hoch.

Der Köter lag ausgestreckt im Gras. Ein fast schon menschliches Staunen glitt durch seine kohlschwarzen Pupillen.

Das Mädchen hob den Rucksack vom Boden auf und schlug mit einem lauten Schrei zu. Einmal, zweimal, dreimal. Erst gegen seinen Kopf, dann gegen den Hals und wieder gegen den Kopf. Das Tier winselte fassungslos und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Anna drehte sich um die eigene Achse wie ein Kugelstoßer beim Schwungholen, eine vollkommene Kreisbewegung, doch der Riemen riss, und sie verlor das Gleichgewicht. Sie stemmte das freie Bein in den Boden, aber der schmerzende Knöchel machte nicht mehr mit. Sie strauchelte und fiel.

Nebeneinander liegend, starrten sie sich an. Dann knurrte der Hund, straffte die Muskeln und stürzte sich mit aufgerissenem Maul ein weiteres Mal auf Anna.

Sie hob ihr heiles Bein und rammte ihm die Ferse in die Brust, und er prallte rücklings gegen die Leitplanke.

Der Hund landete auf der Seite. Er hechelte, die lange Zunge hing schlaff aus der Schnauze, die Augen waren zu dunklen Schlitzen verengt.

Während er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, sah Anna sich nach einem Gegenstand um, mit dem sie ihm den Garaus machen könnte. Ein Stein, ein Stock, aber da war nichts, nur verbrannter Unrat, Plastiktüten, zerknitterte Blechdosen.

»Was willst du von mir? Lass mich in Ruhe!«, schrie sie. »Ich hab dir doch nichts getan!«

Der Köter fixierte sie mit hasserfüllten Augen und zog die schwarzen Lefzen hoch, so dass seine gelblichen Fangzähne entblößt wurden. In den Mundwinkeln sammelten sich Speichelbläschen. Ein leises, bedrohliches Knurren vibrierte in seiner Brust.

Das Mädchen ging weiter, nach rechts und links schwankend, über ihre offenen Schnürsenkel stolpernd. Die Oleandersträucher, der düstere Himmel, das rußschwarze Gerippe eines einsam dastehenden Hauses ohne Dach, all das veränderte sich bei jedem Schritt, verschwamm und erschien wieder. Anna blieb stehen und sah sich um.

Der Hund folgte ihr.

Sie hinkte zu einem blauen Kombi mit zerknautschter Motorhaube. Die Vordertür stand offen, und hinten fehlte die Heckscheibe. Mit letzter Kraft kroch sie hinein und versuchte, die Tür zuzuziehen, aber sie klemmte. Sie versuchte es mit beiden Händen. Die Tür quietschte in den Angeln und knallte gegen das rostige Schloss. Sie versuchte es noch einmal, aber vergeblich. Am Ende verrammelte sie die Fahrerkabine, indem sie den Sicherheitsgurt am Türgriff festknotete. Dann ließ sie den Kopf auf das Lenkrad sinken und blieb mit zusammengekniffenen Augen sitzen, atmete die von Vogelkot geschwängerte Luft ein und wieder aus, ein und wieder und aus. Die mit Asche und Staub überzogenen Scheiben ließen kaum Licht ins Innere fallen.

Auf dem Beifahrersitz leistete ihr ein mit weißem Vogel­mist bedecktes Skelett Gesellschaft. Die pergament­artigen Reste einer Moncler-Jacke waren mit dem Sitzbezug verschmolzen, und durch die Risse im Stoff lugten gelbe Daunen und Rippen. Der Schädel hing auf die Brust hinunter, nur noch von vertrockneten Sehnen gehalten. An den Füßen trug das Skelett Velourslederstiefel mit hohen Absätzen.

Anna kletterte auf den Rücksitz und machte sich lang, um durchs leere Heckfenster zu schauen. Sie wagte nicht, den Kopf hinauszustrecken, doch der Hund schien verschwunden zu sein.

Sie rollte sich neben zwei ausgeleerten Rollkoffern zusammen. Verschränkte die Arme über der Brust und schob ihre Hände unter die verschwitzten Achseln. Ihr Adrenalin war verbraucht, und sie hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. Fünf Minuten Schlaf, mehr brauchte sie doch nicht. Sie mühte sich, die Koffer in die Fensteröffnung zu klemmen. Der eine war zu klein, den anderen gelang es ihr schließlich, mit den Füßen an seinen Platz zu schieben.

Sie fuhr sich über die Lippen. Ihr Blick fiel auf ein dreckverschmiertes, aus einem Heft gerissenes Blatt Papier. Darauf stand in Druckbuchstaben: UM HIMMELS WILLEN HELFT MIR!

Das musste die Frau da vorne geschrieben haben.

Ihr Name, hieß es, sei Giovanna Improta, sie liege im Sterben und habe zwei Kinder in Palermo, Ettore und Francesca, die im obersten Stockwerk eines Hauses auf sie warteten, in der Via Re Federico 36. Die beiden seien erst vier und fünf und würden verhungern, wenn sie niemand rettete. In einer Schublade der Kommode am Eingang lägen fünfhundert Euro.

Anna warf den Zettel auf den Boden, lehnte den Kopf ans Seitenfenster und schloss die Augen.

Sie schreckte aus dem Schlaf, umgeben von Dunkelheit und Stille. Ein paar Sekunden verstrichen, bis ihr wieder einfiel, wo sie war. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, auszusteigen, um zu pinkeln, doch dann besann sie sich. Draußen schien kein Mondlicht. Sie wäre blind und hilflos gewesen.

Anna hatte eine Regel. Stets einen Unterschlupf zu finden, bevor die Sonne unterging. Ein paar Mal war sie von der Dunkelheit überrascht worden und hatte sich im nächstbesten Haus verstecken müssen.

Nein, besser, sie erleichterte sich im Kofferraum und kroch dann auf den Rücksitz. Sie knöpfte ihre Shorts auf. Während sie noch damit beschäftigt war, die Hose herunterzuziehen, ließ ihr ein plötzliches Geräusch wie vom Knacken eines trockenen Zweigs den Atem stocken. Das Geräusch von schnüffelnden Hunden.

Sie presste die Hand vor den Mund, ließ sich mit dem nackten Hintern auf die Fußmatte sinken und versuchte, nicht zu atmen, nicht zu zittern, sich nicht zu bewegen, noch nicht einmal die Zunge.

Die Krallen der Hunde schabten über das Blech und ließen den Wagen erbeben.

Ihre Blase entspannte sich, und es rann warm zwischen ihren Schenkeln hinab. Die Matte unter ihrem Gesäß wurde feucht, und ihre Lippen öffneten sich in einem Moment reiner Lust.

Sie begann zu beten. Ein verzweifeltes Flehen um Hilfe, an niemanden gerichtet.

Die Hunde schienen miteinander zu rangeln. Sie umkreisten den Wagen. Ihre Krallen scharrten über den Asphalt.

In Annas Vorstellung waren es Tausende. Der Wagen war umgeben von einem Teppich aus Hunden, er reichte bis ans Meer und hoch in die Berge und hüllte den ganzen Planeten in Fell.

Sie presste sich die Hände an die Ohren.

Denk an Eiscreme.

Süß und kalt wie Hagelkörner, in allen Geschmacksrichtungen. Man konnte sich die Sorten aussuchen, die man am liebsten hatte, und die wurden dann aus bunten Behältern genommen und auf eine Waffel gesetzt. Ihr fiel ein, wie sie einmal am Verkaufstresen der Eisdiele Le Sirene gestanden hatte, die Nase an der verglasten Kühl­vitrine: »Ich will Schokolade und Zitrone.«

Mama hatte angewidert das Gesicht verzogen. »Igitt­i­gitt …«

»Wieso igittigitt?«

»Das passt doch überhaupt nicht zusammen.«

»Darf ich trotzdem?«

»Nur wenn du’s dann auch isst.«

Und so lief Anna mit ihrem Eis in der Hand zum Strand hinunter und setzte sich ans Wasser. Die Möwen hüpften hintereinander her, auf diesen Zahnstochern, die sie anstelle von Beinen hatten.

Vor dem großen Brand hatte man noch Süßes finden können. Mars, Müsliriegel, Bounty und Pralinen. Sie waren vertrocknet, verschimmelt oder von Mäusen angeknabbert, aber manchmal, wenn man Glück hatte, fand man noch ein paar gute. Mit Eiscreme freilich nicht zu vergleichen. Alles Kalte war zusammen mit den Großen verschwunden.

Sie löste die Hände von den Ohren.

Die Hunde waren nicht mehr da.

Es war der Augenblick der Morgendämmerung, in dem Nacht und Tag gleich schwer sind und alles größer erscheint, als es ist. Ein milchiger Streifen erstreckte sich am Ende der Ebene, und der Wind raschelte zwischen den Flecken Getreide, die vom Feuer verschont geblieben waren.

Anna stieg aus dem Auto und räkelte sich. Ihr Knöchel war noch steif, aber nach der nächtlichen Ruhe tat er nicht mehr so weh.

Die Autobahn erstreckte sich vor ihr wie eine aufgerollte Lakritzschnecke. Um den Wagen herum war der Asphalt von den Abdrücken der Pfoten bedeckt. Etwa fünfzig Meter weiter lag etwas auf dem Mittelstreifen.

Zuerst dachte sie an ihren Rucksack, dann an eine Plane, an einen Haufen Lumpen. Dann richteten sich die Lumpen auf und verwandelten sich in einen Hund.

Der Hund mit den drei Namen

Der Hund war auf einem Schrottplatz am Stadtrand von Trapani zur Welt gekommen, unter dem Wrack eines Alfa Romeo. Die Mutter, ein Maremma-Schäferhund ­namens Lisa, hatte ihn ein paar Monate lang zusammen mit fünf Geschwistern gesäugt. Der Schmächtigste von ihnen überstand den harten Kampf um die Zitzen nicht. Die anderen wurden, kaum entwöhnt, für ein paar Groschen fortgegeben, und nur er, der gierigste und wachste von allen, erhielt das Privileg zu bleiben.

Daniele Oddo, der Inhaber des Schrottplatzes, war ein Mann, der aufs Geld schaute. Und da seine Frau am 13. Oktober Geburtstag hatte, kam ihm ein Gedanke – warum ihr nicht den kleinen Welpen schenken, den mit der hübschen roten Zeichnung am Hals?

Signora Rosita, die mit einem neuen Wäschetrockner der Marke Ariston gerechnet hatte, zeigte sich von dem kleinen weißen Fellbausch nicht gerade angetan. Einem wahren Teufel, der auf den Teppich schiss und pinkelte und an den Füßen der Anrichte im Wohnzimmer nagte.

Die Frau fand mühelos einen Spitznamen für ihn: Trampel.

Aber es gab da im Haus jemanden, dem der Neuling noch mehr auf die Nerven ging: Colonnello, einen alten Rauhaardackel, reizbar und bissig, der das Bett, das er über ein eigens bereitgestelltes Treppchen erreichte, zu seinem Heim erklärt hatte, wenn er nicht gerade in der Vuitton-Handtasche seines Frauchens hockte und alles anknurrte, was auf vier Pfoten lief.

Barmherzigkeit zählte nicht zu Colonnellos Gaben. Sooft der Welpe den Winkel verließ, in den er ihn verwiesen hatte, biss er zu.

Signora Rosita beschloss, Trampel auf die Terrasse vor der Küche auszusperren. Doch dieser Dickschädel von einem Welpen winselte und kratzte an der Tür, bis die Nachbarn sich beschwerten. Sein prekäres Los als Haushund änderte sich erst, als es ihm eines Tages gelang, sich in die Wohnung zu schleichen. Da schlitterte er, vom Frauchen verfolgt, über das gebohnerte Parkett und verfing sich im Kabel einer Lampe, welche prompt auf die Sammlung von Keramikpandabären knallte, die auf der Hausbar standen.

Trampel fand sich schnurstracks auf den Schrottplatz zurückbefördert, wo ihm trotz Milchzähnen und Verspieltheit eine Kette um den Hals gelegt wurde. Lisa, die Mutter, wachte auf der anderen Seite des Geländes hinter zwei Mauern aus Autowracks und verbellte jeden Wagen, der zum Tor hereinfuhr.

Auf dem Speisezettel des Welpen ersetzte chinesisches Fast Food das Dosenfutter aus Rehragout. Frühlingsrollen, Huhn mit Bambussprossen und Schwein in süßsaurer Soße, die Reste aus dem China Garden, dem widerlichen Restaurant von gegenüber.

Auf dem Schrottplatz arbeitete Signor Oddos Sohn Christian. Vielleicht ist arbeiten nicht der richtige Ausdruck, er lümmelte in einem zum Büro umfunktionierten Container vor dem PC und sah sich Pornofilme an. Christian war ein magerer, nervöser Bursche mit einer Unmenge von Haaren auf dem Kopf und einem spitzen Kinn, das durch sein Ziegenbärtchen noch betont wurde. Im Nebenjob dealte er vor den weiterführenden Schulen des Ortes mit abgelaufenen Pillen. Sein Traum jedoch war, Rapper zu werden. Er liebte, wie seine Idole sich kleideten, wie sie gestikulierten, und dann erst die Frauen und die Kampfhunde! Aber es war schwierig zu rappen, wenn man das r nicht richtig rollen konnte.

Während er Trampel durch die Riesengläser seiner Sonnenbrille hindurch betrachtete, begriff er, dass in diesem Hund, der schnell und robust heranwuchs, gewisse Möglichkeiten steckten.

Als er eines Abends vor einem Einkaufszentrum im Auto saß, vertraute er seinem besten Freund Samuel ­einen Plan an: Trampel zu einer »gottverdammten Todesmaschine« zu machen.

»Also, mit dem Namen …« Samuel, der eine Ausbildung zum Modedesigner machte, fand »Trampel« für eine Todesmaschine nicht gerade passend.

»Wie soll ich ihn sonst nennen?«

»Keine Ahnung … Bob«, sagte der Freund aufs Geratewohl.

»Bob? Was ist denn das für ein Name? Dann schon lieber Manson.«

»Wie Marilyn?«

»Quatsch! Charles Manson! Der größte Mörder aller Zeiten.«

Christian hoffte, irgendein Einwanderer oder Zigeuner würde mal nachts zum Klauen vorbeikommen und sich plötzlich Manson gegenübersehen.

»Kannst du dir das vorstellen? Da versucht so’n Neger, zurück über den Zaun zu klettern, die Eingeweide hängen ihm schon runter, und Manson beißt ihn zum Abschluss in den Arsch?« Er lachte höhnisch und schlug Samuel kräftig auf die Schulter.

Um den Maremma-Schäferhund so richtig böse zu machen, recherchierte Christian auf Kampfhund-Seiten im Internet. Er besorgte sich einen Taser und einen schaumstoffüberzogenen Knüppel und begann damit das Training, das Manson zur Todesmaschine erziehen sollte. Da ihn die genannten Methoden nicht zufriedenstellten, begoss er den Hund im Winter mit eiskaltem Wasser, um ihn gegen die Witterung abzuhärten.

Nach weniger als einem Jahr war Manson so aggressiv, dass man ihm sein Futter aus sicherer Entfernung zuwerfen musste, und die Wasserschale konnte man nur noch mit dem Gartenschlauch auffüllen. Saubere Arbeit: Man konnte ihn nicht einmal mehr nachts von der Kette lassen, weil man sonst sein Leben riskiert hätte, wenn man in seine Nähe kam.

Wie vielen anderen Hunden schien es Manson vorbestimmt, sein Leben an der Kette zu verbringen.

Der Virus änderte alles.

Die Epidemie raffte binnen weniger Monate die Fa­milie Oddo dahin, und der Hund blieb allein und angekettet zurück. Er hielt durch, indem er das Regenwasser trank, das sich im Blech der Autos sammelte, und trockene Essensreste vom Boden aufleckte. Hin und wieder kam jemand die Straße entlang, doch keiner blieb stehen, um ihn vom Hunger zu erlösen, und so heulte er verzweifelt den Himmel an. Für eine gewisse Zeit antwortete noch seine Mutter auf sein Rufen, doch dann verstummte sie, und auch der vom Fasten ausgezehrte Manson verlor die Stimme. In seine Nase drang der Gestank der Leichen aus den Massengräbern von Trapani.

Irgendwann wurde ihm instinktiv klar, dass seine Besitzer ihm nichts mehr zu fressen bringen würden und dass dies für ihn den Tod bedeutete.

Die Kette, die er um den Hals trug, war gut zehn Meter lang und endete in einem in die Erde gerammten Pflock. Er begann daran zu zerren, indem er die Hinterpfoten in den Boden stemmte und sich mit den Vorderpfoten abstieß. Abgemagert wie er war, saß das Halsband recht locker, und am Ende gelang es ihm, es abzustreifen.

Er war in einem üblen Zustand, mit Wunden am ganzen Leib, die Läuse hatten ihn ausgesaugt, und er kam nur mit Mühe von der Stelle. Er stolperte an den Überresten der Mutter vorbei, beschnupperte sie kurz und tappte dann auf unsicheren Pfoten zur Einfahrt hinaus.

Manson wusste nichts von der Welt und fragte sich nicht, warum von den Menschen einige zu Futter geworden waren und andere, kleinere, noch am Leben. Die rannten allerdings davon, wenn sie ihn sahen.

Binnen kurzer Zeit war er wieder ganz der Alte. Er ernährte sich von Abfällen, streunte durch die Häuser und verputzte alles, was er dort finden konnte, häufig ging er auch auf die Krähen los, die sich an den Leichen gütlich taten. Auf seinem Weg durch die Straßen begegnete er einem Rudel herrenloser Hunde und schloss sich ihnen an.

Als er vorneweg lief, um sich auf das Gerippe eines Schafs zu stürzen, bleckten die anderen ihre Fangzähne und knurrten. So erfuhr er hautnah, dass in der Gruppe eine Hierarchie herrschte: Man hatte sich von den läufigen Hündinnen fernzuhalten und zu warten, bis man mit dem Fressen an die Reihe kam.

Eines Tages sprang aus einem brachliegenden Feld hinter einem Autoreifenlager ein Hase aus seiner Deckung.

Hasen sind schwer zu fangen, sie sind schnell und können Verfolger durch plötzliche Richtungswechsel verwirren. Sie haben nur ein Manko, sie ermüden rasch. Mansons Körper dagegen war ein Berg aus Muskeln und Ausdauer. Nach einer halsbrecherischen Jagd bekam er den Hasen schließlich in die Fänge, brach ihm das Rückgrat und machte sich daran, ihn zu verschlingen.

Ein gelenkiger Spürhund mit Schlappohren und einer Schnauze, die aussah wie ein großer Trüffel, in der Rudel­hierarchie kaum weiter oben als er angesiedelt, pflanzte sich vor ihm auf. Manson ließ den Schwanz hängen und rückte zur Seite, doch im selben Moment, als der andere zu fressen begann, sprang er los und riss ihm mit einem Biss ein Ohr ab. Bluttriefend fuhr der arme Kerl herum, überrascht und erschrocken, und schlug seine Zähne ins dichte Fell des Schäferhunds. Manson machte einen Satz zurück und wieder einen nach vorn, packte seinen Wider­sacher an der Kehle und durchbiss ihm Halsschlagader, Luft- und Speiseröhre. Dann ließ er ihn in einer Blutlache liegen.

Kämpfe zwischen Hunden oder Wölfen verlaufen so gut wie nie tödlich, sie dienen nur dazu, die Rangordnung im Rudel zu bestimmen, zu klären, wer das Alphatier ist, doch Manson war ein Kämpfer, der sich nicht an Regeln hielt, sondern erst Halt machte, wenn sein Gegner tot am Boden lag. Christian Oddos Eindruck hatte ihn nicht getrogen. Dieses Tier war eine Todesmaschine, und all die Schmerzen und Qualen, die es hatte erdulden müssen, hatten es unempfindlich für Wunden gemacht und unbarmherzig gegenüber den Besiegten.

Blut hatte auf Manson eine erregende Wirkung, er war dann wie unter Strom, was ihm den Respekt seiner Rudelgenossen eintrug und die Gunst der läufigen Hündinnen. Die Welt dort draußen gefiel ihm, da gab es weder Ketten noch grausame Menschen, man brauchte nur die Fangzähne einzusetzen, um sich Respekt zu verschaffen. Ohne auch nur mit dem Leithund kämpfen zu müssen, der sich vor ihm auf den Boden warf und alle viere von sich streckte, wurde er nach wenigen Wochen zum Alphahund, demjenigen, der als Erster fraß und die Weibchen schwängerte.

Als drei Jahre später die Explosion eines Methanlagers das Rudel überraschte, während es auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums I Girasoli ein Pferd umkreiste, hatte er seinen Posten immer noch inne. Es war ein Rätsel, was ein Pferd auf diesem Parkplatz zu suchen hatte, aber das interessierte keinen. Der magere und mit Wunden übersäte Gaul war mit einem Huf in einem Einkaufswagen stecken geblieben und stand nun reglos inmitten einer Wolke von Fliegen bei den Geldautomaten. Der große braune Kopf baumelte zwischen seinen Läufen. Er war in dem Zustand gelassener Resignation, der manche Pflanzenfresser überkommt, wenn sie merken, dass der Tod naht und ihnen nur noch zu warten bleibt. Die Hunde rückten ohne Eile, fast schon lustlos näher, denn sie wussten ja, früher oder später würden sie frisches Fleisch bekommen.

Manson, der seinen Status herausstreichen wollte, ging den Gaul als Erster an. Als der spürte, wie sich die Fangzähne in sein Sprunggelenk gruben, trat er nur schwach aus. Aber die vom Wind genährte Feuerfront hüllte die Szene in beißenden, rotglühenden Rauch. Eingekreist von den Flammen und verschreckt von den Explosionen der Zapfsäulen, zogen sich die Hunde in ein Elektrogeschäft zurück. Dort blieben sie tagelang, halb erstickt, unter einer Kuppel aus Feuer. Als alles vorbei war und sie sich ins Freie wagten, war die Welt eine endlose Weite aus Asche ohne Nahrung und Wasser.

Anna strich sich die Haare zurück.

Der Schäferhund rückte ein Stück vor und hielt inne, die Ohren aufgestellt, die Augen fest auf seine Beute gerichtet.

Das Mädchen warf einen Blick in Richtung Zaun. Zu hoch. Zurück in den Wagen wollte sie nicht, dort drinnen würde sie sterben.

Sie breitete die Arme aus: »Na, komm her! Worauf wartest du noch?«

Der Köter schien unentschlossen.

»Los, mach schon!« Sie wippte auf den Fußballen auf und ab. »Bringen wir’s hinter uns.«

Der Hund duckte sich auf den Asphalt. Eine Krähe flog krächzend über sie hinweg.

»Was ist? Hast du Angst?«

Der Köter sprang.

Das Mädchen rannte so ungestüm auf das Auto zu, dass sie mit der Hüfte gegen eine der Flanken stieß. Mit einem Schmerzensschrei schlüpfte sie hinein und knallte die Tür hinter sich zu.

Ein dumpfer Schlag, und der Wagen begann zu schwanken.

Anna griff nach dem Sicherheitsgurt, schlang ihn um den Türgriff und band ihn am Lenkrad fest. Durch die getönte Scheibe sah sie den dunklen Schatten des Tiers gegen das Fenster anspringen.

Sie kroch nach hinten und kauerte sich in den Kofferraum, aber da kam ihr auch schon der Hund entgegen, zusammen mit dem Rollkoffer, den sie vor das Heckfenster geschoben hatte. Sie hielt den Koffer hoch wie einen Schild und sah sich panisch nach etwas um, womit sie sich wehren könnte. Unter dem Sitz lag ein Regenschirm. Sie packte ihn mit beiden Händen und reckte ihn wie eine Lanze.

Knurrend drängte der Hund ins Innere des Wagens.

Anna rammte ihm die Metallspitze in den Hals, und ein Blutschwall spritzte ihr ins Gesicht.

Der Köter jaulte auf, wich jedoch nicht zurück. Er drängte über die Sitzlehne, und seine dreckverschmierte Kruppe schleifte am Dach des Wagens entlang.

»Ich bin stärker als du!« Das Mädchen traf ihn in die Flanke, wo sich eine rot klaffende Wunde öffnete. Sie versuchte, den Schirm wieder herauszuziehen, aber er zerbrach, und ihr blieb nur noch der Griff in der Hand.

Das Ungetüm stürzte sich auf sie, den behelfsmäßigen Speer zwischen den Rippen. Sein Gebiss schnappte nur wenige Zentimeter vor Annas Nase zu, und heißer, fau­liger Atem schlug ihr entgegen. Sie riss schützend die Ellbogen hoch und versetzte dem Hund einen Stoß, und er taumelte rückwärts, während sie auf den Vordersitz zurückkroch, geradewegs auf das Gerippe der Frau.

Der Hund regte sich nicht. Das Fell verschmiert mit Blut und Asche, das Maul von rötlichem Speichel triefend, starrte er ihr in die Augen, legte den Hals schief, wie um sie besser zu verstehen, schwankte ein wenig und brach zusammen.

Anna trällerte ein Lied, das sie sich ausgedacht hatte: »Hier kommt der Nello, hat Schuhe weiß wie Mehl, und dazu ’nen Schnauzer, so braun wie ein Kamel.«

Nello war ein Freund ihres Vaters, er fuhr einen weißen Lieferwagen und kam hin und wieder aus Palermo, um der Mutter Bücher zu bringen. Anna war ihm nur ein paar Mal begegnet, erinnerte sich jedoch gut an ihn, ein netter Mann war das gewesen. Sie dachte oft an seinen Schnauzbart.

Die Sonne war zwischen weißen Wolken aufgegangen, die in Schlieren am Himmel hingen. Es war noch nicht heiß, und die Strahlen wärmten angenehm die nachtkühle Haut.

Das Mädchen schulterte den Rucksack. Die Hunde hatten daran herumgebissen, ihn aber nicht aufbekommen. Sogar die Flasche Amaro war noch heil. Bevor sie gegangen war, hatte sie einen letzten Blick auf das Untier geworfen. Aus sicherem Abstand, durch die offene Tür. Ein Stück schmutziges Fell hob und senkte sich mit jedem keuchenden Atemzug. Sie hatte sich gefragt, ob sie dem Hund den Rest geben sollte, sich aber nicht näher herangetraut. Besser, sie ließ ihn einfach sterben.

Über eine Straße, die entlang der A29 verlief, um dann in Richtung Meer abzubiegen, durchquerte sie ein Gewerbegebiet. Von dem Discounter, bei dem sie früher eingekauft hatten, waren nur noch die Wandpfeiler und die eisernen Dachträger übrig. Das Einrichtungshaus, in dem sie per Ratenzahlung das Sofa und das Stockbett erworben hatten, war den Flammen zum Opfer gefallen. Der weiße Stein der Freitreppe war dicht mit Asche bedeckt. Von den schönen Vasen mit den dunkelbraunen Keramikköpfen keine Spur mehr. Man sah nur noch die Gerippe einiger Kanapees und eines Klaviers.

Anna überquerte den Parkplatz eines Ford-Händlers, ausgebrannte PKWs in ordentlichen Reihen, und schlug sich dann durch die Felder. Von den Weinbergen waren nur die Spaliere geblieben, neben Stümpfen von Olivenbäumen und niedrigen Steinmauern. Ein Mähdrescher neben der Ruine eines Bauernhofs glich einem Insekt, das Maul voller Zähne. Ein Pflug schob seine spitze Schnauze in die Erde wie ein Ameisenbär. Hier und dort sprossen zwischen den schwarzen Schollen die Triebe von Feigenbäumen, und an den verkohlten Stämmen der Bäume zeigten sich helle Knospen.

Der moderne Flachbau der De-Roberto-Grundschule trieb auf einem schwarzen Meer zwischen Hitzeschwaden, die sich über den Horizont hinzogen. Das Basketballfeld auf der Rückseite des Gebäudes war von Gras überwuchert. Das Feuer hatte die Bretter hinter den Körben schmelzen lassen. Durch die scheibenlosen Fenster waren die Bänke zu sehen, die Stühle, das mit Staub bedeckte Linoleum. An der Wand ihres Klassenzimmers, der III C, hing noch immer die Zeichnung einer Giraffe und eines Löwen, die Daniela Sperno angefertigt hatte. Das Lehrerpult stand auf einem Podest neben der Tafel. Früher hatten sich in der Schublade das Klassenbuch und der kleine Spiegel befunden, in dem die Lehrerin, Maestra Rigoni, die Haare auf ihrem Kinn und den Lippenstift in Augenschein genommen hatte. Normalerweise ging Anna hinein und setzte sich für eine Weile auf ihren Platz, aber diesmal ging sie ohne Unterbrechung weiter.

In der Ferne erschienen die Überreste der Wohnanlage Torre Normanna. Zwei Straßen, so lang wie Landebahnen und von Häusern mit Garten gesäumt, bildeten ein Kreuz auf der Ebene hinter Castellammare.

Es gab dort auch einen Sportclub mit zwei Tennisplätzen und einem Swimmingpool, ein Restaurant und einen kleinen Supermarkt. Ein Großteil ihrer Schulkameraden hatte dort gewohnt.

Jetzt, nach den Plünderungen und Bränden, blieben von den hübschen Häusern im mediterranen Stil nur noch die Wandpfeiler aus Beton, dazu haufenweise Ziegel, Schutt und rostige Gittertüren. Bei Häusern, die das Feuer verschont hatte, waren die Türen aus den Angeln gerissen, die Scheiben zerbrochen und die Mauern voller Graffiti. Auf den Straßen lagen die winzigen stumpfen Glasstücke zerplatzter Autoscheiben. Der Asphalt auf der Piazzetta dei Venti war geschmolzen und anschließend zu einer dicken Masse voller Buckel und Blasen geronnen, aber die Schaukeln, die Rutsche und das große Schild mit der lila Languste des Restaurants Il gusto di Afrodite waren intakt geblieben.

Anna durchquerte die Wohnanlage mit raschen Schritten. Ihr gefiel es dort nicht. Ihre Mutter hatte immer gesagt, da würden die neureichen Arschlöcher wohnen, die mit ihren illegalen Abwässern den Boden verseuchten. Sie hatte sogar einen Leserbrief an die Zeitung geschrieben, um den Missstand anzuzeigen. Jetzt war von den neureichen Arschlöchern niemand mehr da, aber deren Geister spähten zum Fenster heraus und wisperten: »Guckt mal her! Das ist doch die Tochter von der Tante, die uns immer neureiche Arschlöcher genannt hat.«

Als sie die Häuser hinter sich gelassen hatte, bog sie auf eine Nebenstraße ein, die einem ausgetrockneten Bachbett folgte und sich am Fuß der runden, kahlen Hügel dahinzog, die wie Nadelkissen von den Rankhilfen der Weinreben durchstoßen wurden. Am Fahrbahnrand wuchs dichtes Schilf, dessen Federbüsche in den blauen Himmel ragten.

Nach etwa hundert Metern tauchte Anna in den frischen Schatten eines Eichenhains. In ihren Augen war das ein Zauberwald, der Brand hatte ihm nichts anhaben können, er war bis an die Schwelle gelangt, hatte daran geleckt und es dann gut sein lassen. Zwischen dichten Baumstämmen hindurch besprenkelte die Sonne die Efeudecke und die Hundsrosen, die sich an einem baufälligen Zaun emporrankten, mit goldenen Flecken. Hinter einem Gartentor versiegte der Pfad in einem Buchsbaumgehölz, das seit langem nicht mehr beschnitten worden war.

Auf einem Betonpfeiler stand der verblasste Schriftzug »Gut Maulbeerbaum«.