Stefan Kühl
Brauchbare Illegalität
Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Alle weichen mal von den Regeln ab. Das gehört zum Leben in Organisationen dazu. Der Grund: Organisationen brauchen Regeln, um berechenbar zu sein, zur situativen Anpassungen sind aber auch Regelbrüche nötig. Da diese überhaupt erst das Funktionieren von Organisationen aufrechterhalten, spricht man in der Organisationsforschung von »brauchbarer Illegalität«. Dabei ist, so der Soziologie und Organisationsberater Stefan Kühl, nicht jeder Verstoß nützlich: Manchmal zielt er nur auf einen persönlichen Vorteil, nicht selten endet er in einem für die Organisation hochriskanten Skandal. Wie kommt es zu Regelbrüchen? Wann können von ihnen wichtige Impulse ausgehen? Wo liegen Probleme der Regelabweichungen? Wie kann man sich intern über sie austauschen? Anhand einer Vielzahl von konkreten Fällen wirft der Autor einen genauen Blick auf die Nützlichkeiten und Risiken der alltäglichen Regelabweichungen in Organisationen.
Vita
Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Er arbeitet als Organisationsberater der Firma Metaplan für Ministerien, Verwaltungen, Unternehmen und Hochschulen. Zuletzt erschienen von ihm bei Campus Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücke der flachen Hierarchien, Das Regenmacher-Phänomen. Widersprüche im Konzept der lernenden Organisation und Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur.
Kontakt: stefan.kuehl@uni-bielefeld.de oder stefankuehl@metaplan.com
Regelverletzungen in Organisationen – Eine Einleitung
Funktionale Regelverletzungen und brauchbare Illegalität
Scheiternde und gelingende brauchbare Illegalität
Die Probleme bei der Verengung auf Einzelfälle
Regelabweichungen in unterschiedlichen Organisationstypen
Zu einer systemsensiblen Theorie der Regelabweichung
Der Blick auf die Grauzonen
Ein Text für Praktiker und Wissenschaftler
1Funktionale Regelverstöße und brauchbare Illegalität – Warum sich Regelabweichungen in Organisationen nicht vermeiden lassen
1.1Die Personalisierung der Verantwortung
Personalistische Erklärungsmuster
Funktionen der Personalisierung
1.2Gründe für Regelabweichungen
Widersprüchliche Anforderungen
Grenzen der Optimierung
1.3Zwischen formalen Konsistenzerwartungen und widersprüchlichen Umweltanforderungen
Anforderungen an die Konsistenz der Formalstruktur
Die Tücke widersprüchlicher Erwartungen
Leichtigkeit und Geschmeidigkeit der Organisation
1.4Grauzonen zwischen Regeleinhaltung und Regelverletzung
Das Zwielicht beim Betrachten von Regelabweichung und Regelkonformität
Zur Ausdehnung und Einengung von Graubereichen
2Verstöße gegen »Gesetze des Staates« und »Gesetze der Organisation«
2.1Wie man Erwartungen fixieren kann – Ähnlichkeiten und Unterschieden von Positivierung und Formalisierung
Die Unterschiede der Positivierung von Rechtserwartungen und Formalisierung von Organisationserwartungen
Zur Bedeutung von Gesetzen und Verordnungen für Organisationen
Zur Unterscheidung von organisierter und organisationaler Kriminalität
2.2Die Zurechnung der Verantwortung für Gesetzesverstöße
Die Schwierigkeit der Bestrafung von Organisationen
Organisationale Stellen als interne Verantwortlichkeitszurechnungsmechanismen
Das Ausspielen von Organisation und Organisationsmitgliedern
2.3Sensibilitäten und Toleranzen gegenüber Gesetzesverstößen
Toleranzen für die Duldung von Gesetzesverstößen
Fehlende Eingrenzungsmechanismen bei Gesetzesverstößen
2.4Fließende Übergänge zwischen Verstößen gegen Gesetze und Verstößen gegen die Formalstruktur
Schwierigkeiten der Abgrenzung zwischen Verstößen gegen staatliche Gesetze und formale Regeln
Die Bedeutung des Rechts in der modernen Gesellschaft
3Die schwierige Unterscheidung zwischen brauchbarer und unbrauchbarer Illegalität
3.1Auf der Suche nach persönlichen Vorteilen – Unterschlagung, Korruption, Arbeitsverweigerung
Verschiedene Möglichkeiten, Vorteile aus einer organisatorischen Tätigkeit zu ziehen
Regelabweichung durch Einzelne, Gruppen von Personen oder alle Organisationsmitglieder
Regelabweichungen auf verschiedenen Ebenen der Organisation
3.2Illegale Lösungen für das Motivationsproblem
Zum Motivationsproblem von Mitarbeitern
Das Problem der Übersetzung in reale Arbeitsleistungen
Subtile Belohnungsmechanismen
3.3Der Charme informaler Entlohnungen in Organisationen
Gründe für informale Belohnungen
Vorteile informaler Belohnungen
3.4Die Grenzen informaler Belohnungssysteme
Sensibilitäten
Die Rolle von Kollegen, Vorgesetzten und Untergebenen
Unterbindung oder Duldung
4Zur Erosion formaler Normen – Der Kontakt von Organisationen mit eingehegter Illegalität zu Organisationen mit entgrenzter Illegalität
4.1Epidemische und eingedämmte Regelabweichung
Zwischen entgrenzter und eingehegter Informalität
Der Lackmustest – Wie wird auf Regel- und Gesetzesverstöße reagiert?
Zum Verbreitungsgrad von Organisationen mit erodierender Formalität
4.2Eine Frage der Loyalität – Organisationsmitglieder in Rollenkonflikten
Die Institutionalisierung der Erwartung zur Abweichung
Die Organisation als Beute
Die Bedeutung der formalen Ordnung in formalitätserodierenden Organisationen
Die Unwahrscheinlichkeit der Ausbildung von Organisationen
4.3Kontaktflächen – Kooperationen zwischen Organisationen mit eingehegter und entgrenzter Illegalität
Notwendige Übersetzungsleistungen
Jenseits einfacher Unterscheidungen
4.4Organisationen im Graubereich zwischen kontrollierter und unkontrollierter Regelabweichung
Zu Anpassungen
Der Einfluss unterschiedlicher Kontextbedingungen
5Entstehung, Durchsetzung und Regulierung von Regelabweichungen
5.1Die Entstehung von regelmäßigen Regelabweichungen
Imitationen von Innovationen
Die Etablierung der Abweichung von Regeln als organisationskulturelle Erwartung
5.2Das Erlernen von Regelabweichungen
Kontrolle des Sozialisationsprozesses
Inoffizielle Auszeichnungen
5.3Die Herstellung von Kooperationsbeziehungen bei brauchbarer Illegalität
Tausch in Organisationen
Die Bedeutung von Vertrauen
5.4Zur Durchsetzung informaler Erwartungen
Rückgriff auf formale Ressourcen
Jenseits der Klage
5.5Öffnung und Schließung von Fenstern rationaler Kalkulationen
6Regelbuch statt Regelbruch – Reaktion auf das Bekanntwerden brauchbarer Illegalität
6.1Auf der Suche nach der transparenten, durchformalisierten Organisation
Ansatzpunkte zur Veränderung der Formalstruktur
Das implizite Maschinenmodell der Organisation
6.2Ungewollte Nebenfolgen einer Politik konsequenter Regelkonformität
Bürokratisierungseffekte in formalen Organisationen
Zweck-Mittel-Verschiebungen – Lieber Regeln einhalten als Ergebnisse erzielen
Die Verschiebung der Machtverhältnisse
6.3Das geschicktere Verstecken von Regelabweichungen
Die Ironie der Regelverschärfung
Der bürokratische Teufelskreis
6.4Die Zerstörung des informalen Wissensmanagements
7Die Moralisierung der Organisation – Zur Produktion von Heuchelei
7.1Zum Unterschied von Legalität und Moralität
Zum Verhältnis von Moralität und Legalität
Unterschiedliche Eindeutigkeiten von Legalität und Moralität
Die Verschärfung der Diskrepanz in Organisationen
7.2Moral als Ausdruck der Achtung und Missachtung von Personen
Die Konkretionssuggestion von Moral
Moralisierung als Personalisierung
7.3Moralisch aufgeladene Kulturprogramme als Aufforderung zur Heuchelei
Heuchelei statt Konflikt – Effekte moralischer Kommunikation in Organisationen
Die Ausbildung von Zensurmechanismen
7.4Die Akzeptanz der Funktionalität von Regelabweichungen
8Zum Management von Regelkonformität und Regelabweichung – Ein Fazit
8.1Regelkonformität und Regelabweichung als Sprichwörter des Managements
8.2Daumenregeln zum Umgang mit brauchbarer und unbrauchbarer Illegalität
Sachfragen – Sensibilität für die Effekte von Strukturentscheidungen
Soziale Fragen – Unterschiedliche Perspektiven auf Regelabweichungen
Zeitfragen – »Richtige« und »falsche« Zeiten für Regelabweichungen
Zur Bestimmung der Bezugsprobleme
8.3Die Thematisierbarkeit des Nichtthematisierbaren
Zur Auswahl der Themen
Zur Auswahl von Gesprächspartnern
Zur Abfolge von Interaktionen
8.4Auswege aus dem Prinz-von-Homburg-Dilemma
Anhang – Theoretische und methodische Überlegungen
Zur Konzeption des Buches
Empirischer Zugriff
Öffentlich zugängliche Fälle
Empirie aus Forschungsprojekten
Empirie aus eigener Beratung
Empirie aus Workshops zum Thema brauchbare Illegalität
Die eigene Erfahrung als Organisationsmitglied
Zur Anonymisierung der Empirie
Das Dilemma der empirischen Sozialforschung
Daumenregel – Wer nicht anonymisieren muss, hat nichts herausbekommen
Die hilfreiche Trennung von Forschenden und Beforschten
Ansatzpunkte für den Umgang mit dem Spannungsfeld
Der Goldstandard gelungener Anonymisierung
Anmerkungen
Literatur
Konvertierung in EPUB: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Wenn wieder einmal eine Organisation wegen eines Umweltverstoßes, Schmiergeldskandals oder einer Finanzmanipulation in der öffentlichen Kritik steht, lohnt sich ein Blick in das klassische Theaterstück des Dramatikers Heinrich von Kleist über die Befehlsverweigerung des Prinzen Friedrich von Homburg. Kleist, der selbst in seiner Jugend als Leutnant in der preußischen Armee gedient hatte, konfrontiert in diesem Theaterstück seinen Helden mit allen Tücken einer erfolgreichen Regelabweichung.1 Die Geschichte ist denkbar einfach. Der Prinz von Homburg dient als General der Reiterei in der Armee des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Vor der Schlacht gegen die schwedischen Truppen erteilt der Kurfürst seinen Generälen den Befehl, den Feind nur nach ausdrücklicher Anordnung anzugreifen – jeder solle, »wie immer auch die Schlacht sich wenden mag, vom Platz nicht, der ihm angewiesen, weichen« (Kleist 1996, S. 528). Der oberste Befehlshaber der Armee verpflichtet die Organisation und all ihre Mitglieder auf strikte Gefolgschaft und Einhaltung der Befehlswege.
Aber der Prinz von Homburg tut so, als hätte er diesen Befehl nicht gehört – vielleicht hat er ihn auch nicht gehört – und befiehlt seiner Kavallerie trotz der fehlenden Order und trotz der eindrücklichen Warnung seines ersten Offiziers den Angriff. Er fordert von seinen Untergebenen unbedingte Gefolgschaft ein: »Ein Schurke, wer seinem General zur Schlacht nicht folgt!« Und er übernimmt die Verantwortung: »Ich nehm’s auf meine Kappe. Folgt mir, Brüder!« (Kleist 1996, S. 536) Der Prinz entpuppt sich also als Paradebeispiel einer proaktiv agierenden, Risiko eingehenden und Verantwortung übernehmenden transformationalen Führungskraft.2
Und die Risikobereitschaft zahlt sich aus. Der Überraschungseffekt gelingt. Durch die mutige Initiative des Prinzen gewinnt die Brandenburg-preußische Armee die Schlacht. Der Erfolg ändert jedoch nichts daran, dass es sich um einen klaren Fall von Befehlsverletzung handelt. Der Kurfürst von Brandenburg ist empört: »Wer immer auch die Reiterei geführt, am Tag der Schlacht … damit ist aufgebrochen, eigenmächtig, … bevor ich Order gab …, der ist des Todes schuldig, das erklär ich.« (Kleist 1996, S. 544) Der Kurfürst lässt den Prinzen verhaften und verhängt das Todesurteil über den Gehorsamsverweigerer.
Sicherlich – in Kleists Drama geht es nicht um die ähnlichen Verhaltensmuster der Vielen, sondern es lebt von der für Theaterstücke üblichen Zuspitzung auf einzelne Personen und ihre Konflikte. Dennoch stecken in dem Stück bereits fast alle Fragen, die sich Organisationen beim Umgang mit Regelabweichung und Gesetzesverstößen stellen. Es liegt ein klarer Regelverstoß vor, aber gibt der Erfolg dem Regelbrecher nicht nachträglich recht? Und wer darf beurteilen, ob der Regelbruch letztlich ein Erfolg gewesen ist? Die Schlacht ist gewonnen, aber ein Großteil der schwedischen Armee konnte fliehen. Ist der Gewinn der Schlacht nicht nur ein Pyrrhussieg, der sich bei der nächsten Schlacht bitter rächen kann? Hätte ein kluges Abwarten vielleicht die Vernichtung des gegnerischen Heeres und damit nicht nur den Sieg in der Schlacht, sondern vielleicht auch im ganzen Krieg bedeutet?3 Und was treibt den Regelbrecher an? Auf den ersten Blick nur das Wohl der Organisation – aber spielt nicht auch die Suche nach individuellem Ruhm eine Rolle? Hat er die Kosten und Nutzen der Befehlsverweigerung für sich – und auch für das gesamte Herr – rational durchkalkuliert, oder hat er intuitiv gehandelt? Und last, but not least – wie soll die Organisation mit diesem auf den ersten Blick erfolgreichen Regelbruch umgehen? Soll man den Regelverletzer – wie vom Kurfürsten angekündigt – trotz seiner möglicherweise guten Absichten und trotz des Erfolges bestrafen oder soll man ihn als vorbildhaften Organisationsrebellen und Musterbrecher feiern?
Organisationen müssen, so die Lehre aus Kleists Theaterstück, einerseits die Wirksamkeit des formalen Regelwerks sicherstellen, sind aber andererseits darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder zum Wohle der Organisation immer wieder von Regeln abweichen und Anweisungen ignorieren (Bosetzky 2019, S. 37ff.). Denn formale Regeln sind häufig zu rigide, um für jede Situation angemessen zu sein, und verlangen deswegen von der Organisation die Bereitschaft, Abweichungen zu dulden, durch die aber die Existenz der formalen Ordnung nicht grundlegend in Frage gestellt werden darf.
In der Wissenschaft wird die für die Organisation funktionalen Regelabweichungen als »brauchbare Illegalität« bezeichnet. Mit brauchbarer Illegalität wird dabei nicht nur ein Verhalten bezeichnet, das gegen staatliche Gesetze verstößt, sondern auch ein Verhalten, das formale Erwartungen in Organisationen – also die Gesetze der Organisation – verletzt (Luhmann 1964b, S. 304).4 Es geht also bei brauchbarer Illegalität sowohl um die Missachtung von Arbeitsschutzgesetzen, das Überschreiten staatlich vorgegebener Ruhezeiten bei LKW-Fahrern oder die Bestechung von Kunden zur Erhaltung eines Auftrages als auch um Fälle wie die Nichteinhaltung von vorgeschriebenen Dienstwegen oder der Verstoß gegen interne Verfahrensrichtlinien, durch die zwar formale Erwartungen der Organisation verletzt, aber nicht staatliche Gesetze gebrochen werden.5 Auffällig ist dabei, wie regelmäßig die Regeln in Organisationen gebrochen werden. Die Regelabweichungen sind so stark in der Organisation verankert, dass Organisationsmitglieder informale Erwartungen enttäuschen, wenn sie sich nicht an diesen beteiligen oder sie nicht dulden. Sie sind zentraler Teil der Kultur von Organisationen.
Bei aller üblichen Skandalisierung von Regelbrüchen und Gesetzesverstößen ist die Einsicht in die Funktionalität der Regelabweichung in Organisationen in der Praxis weit verbreitet. Nicht umsonst gilt der Dienst nach Vorschrift als die effektivste Streikform, um eine Organisation lahmzulegen. Wenn alle Regeln und Anweisungen buchstabengetreu ausgeführt werden, wird die Organisation auch bei noch so guter Planung immer schwerfälliger. Die Organisation zerbricht an der rigiden Auslegung ihrer formalen Strukturen. Sie geht an ihrem »Ordnungs- und Verordnungswahn«, ihrer »Regulierungswut« und ihrem »Regelfetischismus« zugrunde (vgl. früh schon Crozier 1963, S. 247ff.).
Wer es nicht glaubt, probiere in einer Art Krisenexperiment aus, über mehrere Tage bis ins Detail nur genau das zu tun, was von der Organisation vorgeschrieben ist.6 Man würde den Arbeitsprozess weitgehend zum Erliegen bringen. Man würde als »bürokratischer Virtuose«, der nie auch nur eine Regel vergessen könne, als »penetranter Formalist«, der nicht in der Lage sei, auch mal »Fünfe grade sein zu lassen«, oder als »regelbesessener Korinthenkacker«, der nicht wisse, wie eine Organisation wirklich funktioniert, diskreditiert werden. Der Druck von Kollegen und Vorgesetzten würde stetig wachsen, den »Bürokratismus« – so nennt man die strikte Einhaltung der formalen Ordnung – nicht zu übertreiben.7
Die Einsicht in die Funktionalität von punktuellen Regelabweichungen in Organisationen wird durch ein Phänomen erschwert. Über Regelabweichungen wird immer dann öffentlich diskutiert, wenn etwas grundlegend schiefgegangen ist.8 Die spektakuläre Pleite eines US-amerikanischen Energieunternehmens führt zur Verdammung von Tricks bei der Darstellung der Finanzen und nicht zum Lob für die buchhalterische Kreativität des Unternehmens (siehe z. B. McBarnet 2006). Das Bekanntwerden der Manipulation von Abgaswerten durch Unternehmen eines Automobilkonzerns hat zur Folge, dass die Einhaltung von Gesetzen öffentlich eingefordert wird und blockiert wiederum das Verständnis dafür, dass Verstöße gegen Regeln in Organisationen immer wieder notwendig sind.
Allein der Blick auf diese Beispiele zeigt, wie sehr unsere Perspektive auf Regelabweichungen durch das öffentlich sichtbare Scheitern dieser Organisationen verzerrt wird. Hat sich eine skandalisierende massenmediale Bewertung erst einmal festgesetzt, ist es sehr schwer, komplexer gearbeitete Alternativinterpretationen einzubringen. Zugespitzt ausgedrückt: Die unvermeidlichen massenmedialen Dramatisierungen und Trivialisierungen verbauen eine organisationswissenschaftlich abwägende Prüfung.9
Sicherlich ‒ für viele kann ein spektakulär gescheiterter Energiekonzern schnell als Inbegriff einer gescheiterten, kriminellen Unternehmung gelten. Dabei spielt dann keine Rolle mehr, dass die eigenen Haus- und Hofberater das Unternehmen noch wenige Monate vor der Insolvenz euphorisch als Musterbeispiel für nachhaltig profitable Unternehmensentwicklung durch permanente schöpferische Zerstörung preisen konnten.10 Aufgrund der Manipulation der Abgasmesswerte würde ein Automobilkonzern nicht nur zu Strafzahlungen und Schadensersatzzahlungen in Milliardenhöhe verpflichtet werden, sondern hätte auch gegen die Reputation anzukämpfen, eine »kriminelle Vereinigung« zu sein, die ihre Kunden systematisch betrügt. Schnell würde vergessen werden, wenn das Unternehmen bis kurz vor Bekanntwerden des Abgasskandals in der Wirtschaftspresse nahezu einhellig wegen seiner Ingenieurskünste und seiner hohen Profitabilität als großes Vorbild gepriesen worden wäre.11 Es leuchtet ein, dass das Bekanntwerden eines Regelbruchs oder Gesetzesverstoßes für eine Organisation finanzielle Konsequenzen haben kann, die dieses Vorgehen im Nachhinein irrational erscheinen lassen (so z. B. Reichert et al. 1996; Baucus und Baucus 1997). Aber die finanzielle Bilanz hätte – das wird häufig übersehen – ganz anders ausgesehen, wenn die Regelbrüche und Gesetzesverstöße nicht bekannt geworden wären.
Häufig hängt es von Zufällen ab, ob Handlungen später als erfolgreich eingeschätzt werden oder nicht.12 Die Buchhaltungstricks eines Energiekonzerns mögen im Nachhinein als Ursache für den Niedergang des Unternehmens erscheinen. Aber dabei würde man übersehen, dass diese Buchhaltungstricks vermutlich ohne ein Platzen einer Blase an den Finanzmärkten nicht bekannt werden würden und es damit nicht ausgeschlossen wäre, dass das Unternehmen durch eine Monopolstellung im Gas- und Strommarkt am Ende auch »reales Geld« verdient hätte.13 Die Abgas-Trickserei eines Automobilkonzerns mag aufgrund des Bekanntwerdens als zentraler Grund für die Probleme des Konzerns gelten, dabei würde aber übersehen, dass ohne dieses zufällige Bekanntwerden es dem Unternehmen möglich gewesen wäre, die eigenen ingenieurstechnischen Meisterleistungen im Bereich der Abgasreinigung weiterhin zu preisen, bis andere kostengünstige Lösungen für eine effiziente Abgasreinigung zur Verfügung stehen würden.14 Schließlich ist das professionelle Management der Schauseite für nicht wenige politische, religiöse und wirtschaftliche Organisationen die Basis ihres Erfolges.15
Kontrastierend zu grandios gescheiterten Regelabweichungen müsste man deswegen bei als erfolgreich betrachteten Organisationen durch Detailanalysen recherchieren, inwiefern der Erfolg auch auf Praktiken brauchbarer Illegalität zurückgeführt werden kann.16 Vermutlich würde man überrascht feststellen, dass bei nicht wenigen dieser Organisationen Manöver im Grenzbereich des eben noch Erlaubten, gezielte kleinere Gesetzesverstöße oder über Jahre geduldete Regelabweichungen zu beobachten sind – bloß dass bei diesen Organisationen diese Vorgehensweise nicht öffentlich skandalisiert wurde und sie deswegen nicht in eine Legitimitätskrise geraten sind.17
Entscheidungen in Organisationen finden immer unter Unsicherheit statt und sind deswegen notgedrungen immer riskant. Man hätte ja stets auch anders entscheiden können (siehe dazu Luhmann 1984b und Luhmann 2009). Die Entwicklung eines Großflugzeuges ist mit einem Risiko belastet, weil man nicht wissen kann, ob es sich am Markt als Erfolg oder als Flop erweisen wird. Die Einführung einer neuen Software in einer Verwaltung ist ein Wagnis, weil man keine Sicherheit haben kann, ob sie sich im Vergleich zu einer anderen Software als Effizienzgewinn herausstellen wird oder vielmehr zu weiteren Verkomplizierungen führt.
Zugestanden – ein zentrales Merkmal funktionaler Regelabweichungen ist die Ungewissheit ihrer Kosten (so Luhmann 1964b, S. 314). Aber die Entscheidung in Organisationen, gegen Gesetze zu verstoßen oder Regeln zu missachten, unterscheidet sich in ihrem Risiko nicht grundlegend von anderen Entscheidungen in Organisationen. Ob sich die Ausbildung einer für die Organisation funktionalen Regelabweichung im Nachhinein als Beitrag zu mehr Effizienz und Kundenzufriedenheit oder als verheerender Schritt in eine Katastrophe herausstellt, ist ein typisches organisationales Risiko. Statt aufgrund von öffentlich gemachten Skandalen für die Organisation funktionale Regelabweichungen oder Gesetzesverstöße pauschal zu verurteilen, müssen wir also ein Sensorium dafür entwickeln, dass es sowohl erfolgreiche als auch gescheiterte Fälle brauchbarer Illegalität in Organisationen gibt.
Jedes Mal, wenn eine Organisation wegen eines Schmiergeldskandals, eines Umweltschutzverstoßes oder einer Finanzmanipulation in die öffentliche Kritik gerät, läuft das gleiche Spiel ab. Kommentatoren in den Massenmedien empören sich über die Gesetzesverstöße, Politikerinnen und Politiker äußern ihr Unverständnis, wie so dreist gegen geltende Regeln verstoßen werden konnte, und die beschuldigten Organisationen zeigen sich angesichts der in ihrem Namen getroffenen Entscheidungen selbst erschrocken und geloben Besserung. Über Wochen, manchmal Monate, herrscht ein allgemeiner Erregungszustand, bis das Interesse langsam nachlässt und der Fall in Vergessenheit gerät.
Sicherlich – einige Fälle von Gesetzesverstößen und Regelabweichungen bleiben in Erinnerung oder werden sogar Teil eines globalen kollektiven Gedächtnisses. Man denke nur an das Kriegsverbrechen von My Lai, bei dem US-amerikanische Soldaten in Vietnam Hunderte von Zivilisten massakrierten (Jones 2019), den Einbruch in die Büros der Demokraten im Watergate Hotel in Washington, der letztlich zum Rücktritt eines US-amerikanischen Präsidenten führte (Bernstein und Woodward 1974), oder auch die Explosion einer Fabrik von Union Carbide im indischen Bhopal, die Tausende von Todesopfer forderte (Shrivastava 1987). Aber wer erinnert sich dagegen noch an die Bestechung von Staatsbeamten in Dutzenden von Ländern durch den Flugzeugbauer Lockheed (Bolton 1977), die Manipulation von Quiz-Shows im US-amerikanischen Fernsehen der 1950er Jahre (Stone und Yohn 1992), den Betrugsversuch der inzwischen verschwundenen US-amerikanischen Apothekenkette Revco an staatlichen Wohlfahrtsbehörden (Vaughan 1980) oder die finanzielle Unterstützung der Terrororganisation des Islamischen Staates durch das französische Zementunternehmen Lafarge (Belhoste und Nivet 2018)?18
Zugegeben ‒ die ausführliche Schilderung eines Einzelfalls befriedigt das Bedürfnis nach »guten Geschichten«, die bekanntlich besonders dann gut sind, wenn sie Schlechtes zum Gegenstand haben. Die Darstellungen in Zeitungen und Büchern über Gesetzesbrüche von Organisationen lesen sich nicht selten wie Krimis, in denen einige aufrechte Kämpfer allen Widerständen zum Trotz die Schandtaten der Bösen aufdecken und bekämpfen.19 Filme, in denen die Hintergründe eines Skandals rekonstruiert werden, sind spannender als so mancher Thriller.20 Trotzdem bleibt nicht selten ein unbefriedigendes Gefühl, weil man über die detaillierte Schilderung des Einzelfalls hinaus wenig über die Funktionsweise von Organisationen erfährt.21 Man wurde gut unterhalten, hat aber nur wenig Anregung zum Nachdenken bekommen.
In diesem Buch interessieren mich deswegen keine Einzelfälle, sondern grundlegende Muster der Regelverletzung in Organisationen.22 Aber das bedeutet nicht, dass einzelne Vorkommnisse von Regelabweichungen keine Rolle spielen. Ich greife auf diese zurück, um grundlegende Muster der Regelabweichung zu illustrieren und zentrale Problemlagen deutlich zu machen. Das können sowohl Fälle sein, die aufgrund der von ihnen verursachten massenmedialen Erregung den meisten in Erinnerung sind, als auch Fälle, die unterhalb der allgemeinen Aufmerksamkeitsschwelle lagen, aus denen man aber auch heutzutage noch etwas lernen kann.
Mich beschäftigen Regelabweichungen in Unternehmen, Ministerien und Verwaltungen genauso wie in Universitäten und Schulen, in Armeen und Polizeien sowie in Parteien und Nichtregierungsorganisationen.23 Ohne Zweifel macht es im Detail einen Unterschied, ob wir es mit Regelabweichungen der Ministerien im NS-Staat, in Gefängnissen der USA, bei Parteien auf den Philippinen oder von Verwaltungen für Wasser- und Abwasser in Jordanien zu tun haben. Aber bei allen Einflüssen, die politische Staatsformen, wirtschaftliche Marktprozesse, kulturelle Ausprägungen oder auch technische Entwicklungen auf Praktiken ganz unterschiedlicher Organisationstypen haben, stecken hinter Regelabweichungen in Organisationen letztlich ähnliche Prozesse.
In dieser Darstellung will ich die Verengung auf Regelabweichungen in Unternehmen überwinden. Unternehmen sind – ohne dass dies systematisch begründet wird – der Prototyp, an dem Fragen von Regelabweichungen und Gesetzesverstößen in Organisationen durchgespielt werden.24 Dadurch gibt es die Tendenz, Regelabweichungen nicht auf Eigenheiten von Organisationen generell zurückzuführen, sondern auf die besonderen Bedingungen von Unternehmen in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Je nach politischen Sympathien der Beobachter werden dann Regelverstöße oder Gesetzesbrüche von Unternehmen mit zu wenig oder zu viel Kapitalismus erklärt.
Dabei führen Verfechter einer neoliberalen Wirtschaftsordnung Gesetzesbrüche von Unternehmen darauf zurück, dass der Staat zu stark in diese Wirtschaftsorganisationen eingegriffen habe. Das Erschleichen von Subventionen durch ein öffentliches Nahverkehrsunternehmen im Staatsbesitz wird dann damit erklärt, dass das Unternehmen nicht dem gleichen Marktdruck ausgesetzt sei, wie im Privatbesitz befindliche Verkehrsunternehmen.25 Der Umweltskandal bei einem Automobilkonzern wird dann nicht mit der Rationalität von Unternehmen erklärt, Umweltauflagen nach Möglichkeit zu umgehen, sondern auf einen zu großen staatlichen Einfluss auf dieses Unternehmen zurückgeführt.26 Der Tenor ist: Würde man Organisationen stärker von staatlichen Einflüssen befreien, würden sie sich auch an die Gesetze halten.
Kritiker einer neoliberalen Wirtschaftsordnung erklären dagegen, dass Organisationen durch ihre kapitalistische Wirtschaftsweise fast zwangsläufig »kriminogen« würden (so Farberman 1975, S. 438; Punch 1996, S. 213). Die Manipulation von Abgasmesswerten, das Schmieren von öffentlichen Bediensteten zur Gewinnung von Aufträgen und die Manipulation von Bilanzen seien angesichts des tendenziellen Falls der Profitrate im Kapitalismus dann Ausdruck eines rationalen Verhaltens von Unternehmen. Eine Reduzierung von Gesetzesverstößen oder Regelabweichungen sei, so die weitestgehende Schlussfolgerung, letztlich nur durch eine Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu erreichen (siehe zu diesem Ansatz z. B. Barnett 1981).27
Für diese Verengungen gibt es empirisch wenig Plausibilität. Wir wissen, dass in planwirtschaftlichen Unternehmen Regelabweichungen und Gesetzesverstöße genauso verbreitet sind wie in kapitalistischen Unternehmen und weitergehend, dass aufgrund des höheren Bürokratisierungsgrades Unternehmen sowohl in Planwirtschaften als auch in Marktwirtschaften nur mit ausgeprägten Kulturen der Regelabweichung überhaupt funktionieren können (so schon früh und einschlägig Berliner 1952; siehe auch Meirovich et al. 2000). Wir wissen, dass bei staatlichen Organisationen die Funktion als »Gesetzesmacher« und »Gesetzesüberwacher« nicht ausschließt, dass diese auch gelegentlich zum »Gesetzesbrecher« werden können und Regelabweichungen deswegen in Armeen, Polizeien und Verwaltungen mindestens genauso alltäglich sind wie in Unternehmen.28
Wir haben es bei Regelabweichungen und Gesetzesverstößen primär nicht mit den Resultaten einer zu starken oder zu schwachen kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu tun, sondern mit den Folgen komplexer Anforderungen, der jede Organisation ausgesetzt ist. Die soziale Welt von Organisationen ist so vielfältig, so überraschend und so widersprüchlich, dass sie mit einem fixierten Regel- oder Gesetzeswerk nicht ausreichend beherrscht werden kann.
Dieses Buch konzentriert sich bewusst auf die Regelabweichung in Organisationen und unterscheidet sich damit von einer Tradition soziologischer und philosophischer Arbeiten, in der Regelabweichungen ganz unterschiedlicher Natur weitgehend ungeordnet aneinandergereiht werden (vgl. nur beispielhaft Popitz 1968; Williams 1970; Ortmann 2003). Man ist in diesen Studien fasziniert von der Allgegenwart der Regelabweichung und behandelt den Verstoß gegen die stillschweigenden Konventionen im Literaturbetrieb, die Gefechtspausen im Zweiten Weltkrieg, die punktuelle Anarchie beim venezianischen Karneval und den Kölschen Klüngel mit demselben analytischen Apparat.29
Entgegen dieser umfassenden Behandlung besteht ein zentraler Mehrwert eines systemtheoretischen Zugangs darin, den Blick für die Besonderheit der Regelabweichungen in ganz unterschiedlichen sozialen Situationen zu schärfen. Die Stärke der Systemtheorie – man verzeihe die tautologische Formulierung – ist, dass sie die unterschiedlichen Logiken in verschiedenartigen sozialen Systemen begreifbar macht und für ihre Analysen nutzen kann. Organisationen haben andere Regeln und damit auch andere Formen des Regelbruchs als Familien, Gruppen oder Protestbewegungen. Die einzelnen Funktionssysteme wie Recht, Religion oder Politik haben ihre eigenen spezifischen Logiken und Programme und bilden eigene Formen der Abweichung aus.
Aufgrund der unterschiedlichen Logiken ist für die Systemtheorie ein Gesetzesbruch ein grundlegend anderer Regelverstoß als die Vernachlässigung einer Soll-Menge bei der Lagerhaltung. Deswegen ist eine Vergewaltigung etwas anderes als die Verletzung eines allseits akzeptierten Taktgefühls auf einer Party. Deswegen wird der Besuch eines Prominenten bei einer ukrainischen Prostituierten in der eigenen Familie anders behandelt als in der Berichterstattung der Massenmedien. Sicherlich, bei allen Fällen handelt es sich um Verstöße gegen Normen. Die Bezeichnung und Behandlung dieser Abweichungen erfolgt jedoch je nach Systemtypus nach grundlegend unterschiedlichen Logiken.
Der Vorzug der systemtheoretischen Sichtweise besteht darin, Organisationen – und damit deren Regelverletzungen – sehr genau bestimmen zu können. Organisationen unterscheiden sich von anderen mitgliedschaftsbasierten Systemen dadurch, dass sie die Mitgliedschaft an die Befolgung genau definierter Regeln binden. Nur in Organisationen bildet sich deswegen in dieser Prägnanz ein Kontrast zwischen formalen Strukturen und – nicht selten von ihnen abweichenden – informalen beziehungsweise organisationskulturellen Normen aus.
Das Ziel dieses Buches ist es, die grundlegenden Fragen zu beleuchten, die sich bei Regelbrüchen und Gesetzesverstößen in Organisationen stellen. Weswegen kommt es überhaupt zu Regelverstößen in Organisationen (Kapitel 1)? Welchen Unterschied macht es, ob gegen staatliche Gesetze oder gegen interne Regeln der Organisation verstoßen wird (Kapitel 2)? Wie unterscheiden sich Regelbrüche, die für die Organisation brauchbar sind, von Regelbrüchen, die lediglich einzelnen Organisationsmitgliedern persönlich nützen (Kapitel 3)? Was unterscheidet die durch Formalstrukturen eingehegten Regelverstöße in vielen Organisationen von den unkontrollierten, epidemischen Regelverstößen, die man in Organisationen in manchen afrikanischen, asiatischen, amerikanischen aber auch europäischen Ländern beobachten kann (Kapitel 4)? Wie entstehen überhaupt Regelbrüche und Gesetzesverstöße in Organisationen, wie erlernen Organisationsmitglieder ihre Anwendung und wie werden sie intern durchgesetzt (Kapitel 5)? Was passiert in Organisationen, wenn sie aufgrund des Bekanntwerdens eines Regelverstoßes in eine Legitimationskrise geraten (Kapitel 6)? Welche Effekte produzieren die Versuche, durch eine stärkere Moralisierung der Organisation ihre Mitglieder zu einem integreren Verhalten zu bringen (Kapitel 7)? Welche Möglichkeiten existieren überhaupt in Organisationen, mit funktionalen Regelabweichungen und brauchbaren Illegalitäten umzugehen (Kapitel 8)?
Der Fokus auf grundlegende Fragen der Regelabweichungen und Gesetzesverstöße in Organisationen ermöglicht, sich von den Schwarz-Weiß-Bildern zu lösen, die bei der Betrachtung von Einzelfällen fast zwangsläufig entstehen. Die Behandlung eines Einzelfalls legt nahe, die »Bösen« zu identifizieren, die aus Unachtsamkeit, Profitgier oder Narzissmus Regelabweichungen der Organisation initiiert oder geduldet haben. Und es tauchen die »Guten« auf, die frühzeitig auf jene Verstöße hingewiesen, die mögliche Folgen der Gesetzesbrüche aufgezeigt haben und dabei häufig mit erheblichen Widerständen aus der Organisation zu kämpfen hatten.
In diesem Buch möchte ich die Grauzonen bei Regelabweichungen und Gesetzesverstößen von Organisationen jenseits dieser Schwarz-Weiß-Bilder ausleuchten. Wenn es das Problem aller Organisationen ist, in einer Welt zurechtzukommen, die sie immer wieder überrascht und überfordert, dann mögen dichotome Unterscheidungen wie »erlaubtes oder verbotenes Handeln«, »brauchbare oder unbrauchbare Gesetzesverstöße« und »bekannte oder unbekannt Regelbrüche« für eine erste Einordnung helfen. Letztlich reduzieren sie die Komplexität jedoch zu schnell in sauber voneinander getrennte Klassen (siehe dazu Luhmann 1972, S. 124f.). Das Überleben von Organisationen basiert schließlich vor allem darauf, sich flexibel in den Bereichen zwischen vermeintlich klaren Polen zu bewegen.
Nun ist es sicherlich nicht so, dass man sich in der Organisationsforschung diesen Grauzonen zwischen Regelkonformität und Regelverletzung bisher nicht bewusst gewesen ist.30 Es ist klar, dass man sich bei der Betrachtung von Organisationen von der groben Technik lösen muss, die alles Handeln als entweder legal oder illegal charakterisiert (Luhmann 1964b, S. 311). Aber es fällt auf, dass der Behandlung dieser Grauzonen keine nähere Aufmerksamkeit gewidmet wird.31
Grauzonen haben es an sich, in ihrer eigentümlichen Ambivalenz nicht ohne Weiteres aufgelöst werden zu können. Die Hoffnungen, Grautöne ähnlich präzise bestimmen zu können wie Schwarz oder Weiß, müssen zwangsläufig enttäuscht werden. Aber man kann sie ausleuchten, sodass man die Schattierungen besser versteht. Einige Organisationspraktiker mögen angesichts dieses Blickes auf Grauzonen nervös werden. Wenn man allzu sehr an die typische Managementliteratur mit ihren eindrucksvollen Heldengeschichten, schillernden Vorzeigeorganisationen und simplen Handlungsempfehlungen gewöhnt ist, sind Beschreibungen jenseits dieser einfachen Kontrastierungen schwer zu ertragen. Leider ist das Leben in Organisationen komplexer, als es simplifizierte Empfehlungen, bunte Schaubilder und eindrucksvolle Erfolgsgeschichten in der Ratgeberliteratur von Beratern, den Autobiographien von Unternehmensführern oder Berichterstattungen in der Wirtschaftspresse suggerieren.
Es ist für Wissenschaftler vergleichsweise einfach, einen Text entweder nur für andere Wissenschaftler oder nur für Praktiker zu schreiben. Artikel für ein wissenschaftliches Publikum sind in ihrem Duktus inzwischen so stark standardisiert, dass sie sich – einen neuen Gedanken und eine interessante Empirie vorausgesetzt – fast von allein schreiben. Artikel von Wissenschaftlern, die sich ausschließlich an Praktiker richten, unterliegen grundlegend anderen Anforderungen, sind deswegen aber nicht weniger standardisiert. Man muss sich nur anschauen, mit welcher Penetranz die führenden Managementzeitschriften eine immergleiche Textstruktur aus Praxistipps, Best-Practice-Beispielen und zumindest angedeuteter Empirie von ihren Autoren einfordern.
Schwierig wird es immer, wenn man versucht, mit einem Text sowohl eine wissenschaftliche Debatte zu beeinflussen als auch eine Diskussion unter Praktikern zu bereichern. Ein Text, der den Anspruch hat, in der wissenschaftlichen Diskussion verortet zu sein, gleichzeitig aber für Praktiker zugänglich und verständlich sein soll, zieht zwangsläufig Kritik von beiden Seiten auf sich. Praktiker können leicht den Eindruck haben, dass es sich bei theoretischen Figuren um unnötige Verkomplizierungen handelt und mit einem wissenschaftlichen Fachvokabular vergleichsweise simple Sachverhalte dargestellt werden. Theoretiker können sich berechtigterweise über zu viele Zugeständnisse an Praktiker bezüglich Verständlichkeit und Unterhaltsamkeit beschweren.
Insofern verlangt dieses Buch von seinen Leserinnen und Lesern eine gewisse Toleranz. Praktikern wird abverlangt, dass der Text nicht die gleiche Eingängigkeit hat, die sonst Managementliteratur oft auszeichnet. Sie müssen ertragen, dass es keine Erfolgsrezepte für das bessere Management von Regelabweichungen gibt; keine Geschichten von Organisationen, die als Vorbild für alle andere dienen können und keine Spiegelstriche, in denen die zentralen Gedanken noch einmal zusammengefasst werden. Sie müssen stattdessen wissenschaftliche Einordnungen, ergänzende Fußnoten und einen umfangreichen Literaturkörper auf sich nehmen. Kollegen aus der Wissenschaft müssen erdulden, dass die theoretischen Verortungen nicht die gewohnte auf Kurzformeln basierende Kompaktheit haben; dass für ihren Geschmack vielleicht das eine oder andere illustrierende Beispiel zu viel dabei ist und die Darstellung der Empirie nicht die Detailgenauigkeit hat, die man aus Fachartikeln kennt.
»Bürokraten bekämpft man am besten, indem man ihre Vorschriften genau befolgt.«
Zugeschrieben Cyril Northcote Parkinson, britischer Historiker und Soziologe 32
Im Allgemeinen werden Regelabweichungen und Gesetzesbrüche in Organisationen als Problem betrachtet. Sie werden als »Verfehlung«, »Fehlverhalten« (Wardi und Weitz 2004), »antisoziales Verhalten« (Giacalone und Greenberg 1997), als »Sittenverfall« oder gar als »Verbrechen« bezeichnet (Greve et al. 2010). Gesprochen wird von den »schmutzigen Geschäften« von Unternehmen (Punch 1996), dem »falschen Handeln« in Organisationen (Palmer 2012) oder den »dunklen Seiten« von Organisationen (Vardi und Wiener 1996). Die Organisationen, in denen solche Regelabweichungen und Gesetzesbrüche exzessiv zu beobachten sind, werden als »unzivilisierte Organisation« (Andersson und Pearson 1999) oder als »Schattenorganisationen« (Allen und Pilnick 1973) bezeichnet.33
Die Formen der Regelabweichungen dieser so kritisierten Organisationen können sehr unterschiedlich sein. Sie können in der Manipulation der Finanzabschlüsse von Banken, im Schmieren von Auftraggebern in der Elektronikindustrie oder in Verstößen von Automobilkonzernen gegen Umweltschutzauflagen ausgemacht werden. Es kann um die alltäglichen Manipulationen in Universitäten gehen, mit denen die Leistungen der Studierenden in ein immer komplexer werdendes Regelwerk eingepresst werden, um die kleinen Tricksereien bei der EDV-gestützten Dokumentation von Pflegeleistungen in Altenheimen oder um die Kniffe, mit denen in Verwaltungen und Unternehmen Ausschreibungsrichtlinien umgangen werden. Es kann sich um sexuellen Missbrauch von Minderjährigen durch Priester in der katholischen Kirche handeln, um die Manipulation von Patientendaten in einem Krankenhaus, damit möglichst viele Spenderorgane transplantiert werden können, um die gewalttätigen Initiationsrituale in Armeen oder um Bestechungsgelder für Sportler, damit diese ein Spiel absichtlich verlieren.
Glaubt man der Managementliteratur, liegen die Lösungen für Gesetzesverstöße und Regelabweichungen auf der Hand. Führungskräfte sollten, so der Tenor der Managementliteratur, ihren Mitarbeitern »proaktiv klarmachen, dass illegales Verhalten niemals im Sinne der Organisation« sein kann. Mitarbeiter müssten zu »Ungehorsam« ermutigt werden, wenn Vorgesetzte von ihren Untergebenen Dinge verlangen, die nicht den organisationsinternen Regeln entsprechen (Brief et al. 2001, S. 491ff.). Im organisatorischen Alltag sollten bei Schwierigkeiten »Bedenken und Ängste der Mitarbeiter« nach oben eskaliert werden, damit Mitarbeiter zur Erreichung von Zielen nicht auf Mittel zurückgreifen müssen, die gegen die Regeln der Organisation verstoßen. Um Regelabweichungen zu vermeiden, müssten dann auch »Managemententscheidungen der oberen Ebene konstruktiv in Frage« gestellt werden (Müthel 2017, S. 35). Es komme darauf an, eine Kultur zu schaffen, in der Mitarbeiter angehalten werden, sich auch in schwierigen Situationen regelkonform zu verhalten (Anand et al. 2005, S. 17ff.).
Welches Organisationsverständnis steckt hinter diesen vergleichsweise einfachen Lösungsvorschlägen, und wie plausibel ist es?