Martin Kronauer
Kritik der auseinanderdriftenden Gesellschaft
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
In den 1970er-Jahren begann in Westeuropa und den USA der politische Gegenschlag gegen die Ausweitung der sozialen Rechte, die bis dahin hatten durchgesetzt werden können. Im »Krieg zwischen Bürgerrechten und kapitalistischem Klassensystem« (Thomas H. Marshall) gewannen die Verfechter des Klassensystems seither wieder die Oberhand. Auseinanderdriftende Gesellschaften sind die Folge. Sie fordern Kritik in zweierlei Weise heraus: Zum einen gilt es, die Triebkräfte der Spaltungsbewegung aufzuzeigen, zum anderen, die Frage aufzuwerfen, in welcher Gesellschaft man leben will. Diese lässt sich nur aus den Widersprüchen und Konflikten der Gesellschaft heraus beantworten. Um beide Formen der Kritik geht es im vorliegenden Buch. Sie sind besonders dringlich angesichts des Aufstiegs einer internationalen Rechten, die das Auseinanderdriften nutezn will, um Gesellschaft durch das exklusive »Wir« nationalistischer und völkischer Gemeinschaften zu ersetzen.
Vita
Martin Kronauer, Soziologe, war nach Stationen an der New School for Social Research New York und am SOFI Göttingen bis 2014 Professor für Gesellschaftswissenschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.
Für Hassan Givsan
Vorbemerkung
Einleitung: Warum Kritik der auseinanderdriftenden Gesellschaft?
Der Ausgangspunkt: Eine Kriegserklärung gegen die Gesellschaft
Bürgerrechte und kapitalistisches Klassensystem
Die Aufgabe der Kritik
Zur Entstehung des Buchs
Ein Überblick
Teil I — Das Auseinanderdriften der Gesellschaft: Triebkräfte, Dynamiken, Folgen
Der Skandal der Exklusion
Die Debatte
Der Skandal
Die Krise
Eine neue Qualität der Exklusion
Auseinanderdriftende Gesellschaft
Soziale Verwundbarkeit, Klassenlage und die »verunsicherte Mitte«
Die »Rückkehr der Unsicherheit«
Dimensionen der Entsicherung
Verunsicherung, soziale Verwundbarkeit und Klassenlage
Gesellschaftspolitische Folgerungen
Matthäuseffekt und Teufelskreis: Inklusion und Exklusion in kapitalistischen Gesellschaften
Das Problem
Das Inklusionsproblem und die »Mehrdimensionalität« kapitalistischer Gesellschaften
Matthäuseffekt der Inklusion und Teufelskreis der Exklusion im gegenwärtigen Kapitalismus
Die Komplementarität von Institutionen und der Selbstschutz der Gesellschaft
Was die Institutionenökonomie von der Ungleichheitsforschung lernen könnte: Eine kritische Auseinandersetzung mit »institutioneller Komplementarität«
Warum die »Komplementarität von Institutionen« auch für die Ungleichheitsforschung wichtig ist
»Institutional complementarities« bei Hall und Soskice
Nachfragen zu den »institutionellen Komplementaritäten« in Varieties of Capitalism
Eine folgenreiche Lücke in der Institutionenanalyse
»Institutionelle Komplementaritäten« und die Dynamiken sozialer Ungleichheit
Wozu aktiviert der »aktivierende Wohlfahrtsstaat«?
Eine sozialpolitische Wende
Der »aktivierende Wohlfahrtsstaat« – Eine begriffliche Annäherung
Der »aktivierende Wohlfahrtsstaat« – Eine historische Annäherung
»Aktivierungspolitik« in Deutschland
Stadt und soziale Frage
Kehrt die soziale Frage als städtische Frage zurück?
Stadt und soziale Frage – Ein Rückblick
Koordinaten und Lösungsversuche der sozialen Frage
Eine neue soziale Frage
Stadt und soziale Frage in der Gegenwart
Plädoyer für eine Allianz für soziale Rechte in der Stadt
Teil II — Elemente einer widerständigen Politik des Sozialen
Kann »Inklusion« ein Ziel praktischer Gesellschaftskritik sein? Eine neuerliche Lektüre von Peter Brückners Kritik an sozialer Integration
Die fruchtbare Provokation von Peter Brückners Kritik heute
Peter Brückners Kritik der sozialen Integration
Formwandel von sozialer Integration und neue Konfliktlinien: Herrschaft durch marktvermittelte »Aktivierung«, soziale Entsicherungen und Ausgrenzungen
Inklusion als Kritik exkludierender Gesellschaftsverhältnisse
Rechtstendenzen in der Arbeiterschaft und die Notwendigkeit der sozialen Transformation
Rechtstendenzen in der Arbeiterschaft als gesellschaftspolitisches Problem
Die klassenübergreifende »imperiale Lebensweise«
Die Marginalisierung der Arbeiterklasse
Die Erosion des »impliziten Gesellschaftsvertrags«, der Aufstieg der Rechten und Folgerungen aus der Marginalisierung der Arbeiterklasse
Warum Lohnarbeit noch immer eine Kraft der gesellschaftlichen Transformation sein kann
Warum und wie die Linke heute für soziale Gerechtigkeit streiten muss
Warum es politisch notwendig ist, sich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit auseinanderzusetzen
Die Doppeldeutigkeit von Gerechtigkeitsprinzipien
Gerechtigkeitsprinzipien und Voraussetzungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts
Politischer Sprengstoff: Auseinanderdriftende Gesellschaft und enttäuschte Gerechtigkeitserwartungen
Zwiespältigkeit der Ungerechtigkeitserfahrungen und die Notwendigkeit, politisch zu intervenieren
Bedingungsloses Grundeinkommen oder Recht auf Arbeit?
Der Ausgangspunkt: Die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft
Der Kern der Auseinandersetzung
Ein grundlegender Einwand in der Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen
Bedingungsloses Grundeinkommen und Recht auf Arbeit auf dem Prüfstand der Teilhabe: einzelne Aspekte im Vergleich
Ein anderer Blick auf Arbeit
Bedenkenswerte Schritte in Richtung auf ein Recht auf Arbeit
Zum Schluss
Nach dem Bruch des impliziten Gesellschaftsvertrags
Der »Gesellschaftsvertrag« als politischer Akt bei Hobbes und Rousseau
Der »implizite Gesellschaftsvertrag« als umstrittenes Herrschaftsverhältnis bei Moore
Ausgrenzende oder egalitäre Antworten auf einen Bruch des impliziten Gesellschaftsvertrags
Bruch des impliziten Gesellschaftsvertrags in der auseinanderdriftenden Gesellschaft und seine Folgen
Auseinandersetzungen um das selbstbestimmte Leben
Warum hat die Linke dem Neoliberalismus so wenig entgegenzusetzen?
Erinnerung an eine linke Tradition: Das selbstbestimmte Leben
Die erste Voraussetzung selbstbestimmten Lebens: Gleichheiten
Die zweite Voraussetzung selbstbestimmten Lebens: Schutz vor Marktabhängigkeit (Sicherheit)
Die dritte Voraussetzung selbstbestimmten Lebens: Substanzielle Demokratie
Individualisierung, soziale Entsicherung und das selbstbestimmte Leben
Nachtrag in Zeiten der Corona‑Pandemie
Anhang
Anmerkungen
Danksagung
Nachweise
Literatur
Was kann ein Buch zur Gegenwartsdiagnose beitragen, das just zu Beginn der sozialen Auswirkungen der Corona-Pandemie abgeschlossen wurde? Ein Buch zumal, das das Auseinanderdriften der Gesellschaft in Deutschland, aber auch anderen europäischen Ländern und den USA zum Gegenstand hat, wo nun, während der Corona‑Krise, allenthalben gesellschaftliche Solidarität eingefordert und in der Bevölkerung (noch) in einem erstaunlichen Maße praktiziert wird? Ein Buch, das sich mit den sozialen Folgen einer jahrzehntelangen Politik der Unterordnung von Politik unter Marktregeln und Marktmacht auf das Gemeinwesen auseinandersetzt, während gerade in einer noch vor wenigen Wochen unvorstellbaren Weise wieder ein Primat der Politik über die Ökonomie etabliert wurde?
Aus einem Buch zur Gegenwartsdiagnose wurde ein Buch zur Diagnose einer erst kurz zurückliegenden Vergangenheit. Aber diese Vergangenheit ist nicht abgeschlossen. Sie wirkt weiter in die Gegenwart hinein. Die Gesellschaften, von denen im Folgenden die Rede ist, gerieten in die Corona‑Pandemie in einer Verfassung, die vom jahrzehntelangen Auseinanderdriften geprägt war. Das manifestiert sich im problematischen Zustand von Infrastruktur und sozialen Dienstleistungen, insbesondere im Gesundheitswesen, aber auch in der ungleichen Verteilung der sozialen Folgen der Pandemie.
Von der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hängt wiederum die Entscheidung über die Zukunft ab. Wenn auch in Deutschland die Gesellschaft nach der Corona-Krise eine andere sein wird als bevor, worin wird das »Andere« bestehen? In einer nach innen wie nach außen stärker egalitär und solidarisch ausgerichteten Gesellschaft? Oder in einer Gesellschaft, die noch schärfer in Gewinner und Verlierer der Krise auseinanderdriften wird? Der »Nachtrag in Zeiten der Corona-Pandemie« greift diese Frage wieder auf.
Martin Kronauer
Berlin, im Mai 2020
In den 1970er Jahren begann in Westeuropa und den USA ein politischer Krieg gegen die Gesellschaft. Die Kriegserklärung lieferte die Premierministerin von Großbritannien, Margaret Thatcher, 1987 in einem viel zitierten Interview nach:
»[…] too many children and people […] are casting their problems on society and who is society? There is no such thing! There are individual men and women and there are families and no government can do anything except through people and people look to themselves first. It is our duty to look after ourselves and then also to help look after our neighbours […]« (Thatcher 1987).1
Um eine veritable Kriegserklärung handelte es sich deshalb, weil es nicht ausreicht, Gesellschaft zu leugnen, wie Thatcher es im Interview tut, um sie zum Verschwinden zu bringen. Um aus vergesellschafteten Individuen die vereinzelten Einzelnen (und vereinzelten Familien) zu machen, von denen Thatcher hier spricht, muss erst das Wissen um die Abhängigkeit von Anderen und die Verantwortung für Andere über den Kreis von Familie und Nachbarschaft hinaus getilgt werden, müssen erst die Institutionen, die Menschen erkämpft haben, um sich gegenseitig zu unterstützen und zu schützen, zerstört werden, muss erst die Macht, die ohnmächtige Einzelne durch ihren Zusammenschluss gegen die Mächtigen gewonnen haben, gebrochen werden. Und darauf zielte in der Tat die Politik der Thatcher‑Regierung seit dem Ende der 1970er Jahre ab, vor allem ihr Krieg gegen die Gewerkschaften. Von den streikenden Bergarbeitern sprach sie 1984 »als dem ›inneren Feind‹« (Schröder 2010: 91).
Ihr Vorgehen hat Vorbildcharakter. Noch am 9. Juli 2003 schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Margaret Thatcher ist etwas gelungen, wovon andere Regierungen nur träumen, und sei es insgeheim: die Gewerkschaften in die Knie zu zwingen«. Richtungsweisend wurde bis heute auch ihre Politik der Privatisierungen von Staatsunternehmen und Unternehmen der lokalen Daseinsvorsorge.2
Um sich die Tragweite des hier proklamierten Angriffs auf die Gesellschaft zu vergegenwärtigen, muss er als Gegenrevolution gegen die »geistig‑moralische Revolution« verstanden werden, die am Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte. Wie Pierre Rosanvallon in seiner Ideengeschichte der Gleichheit ausführt, wurde »die Aufwertung von Gleichheit und Solidarität gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch durch ein neues Verständnis vom Wesen der Gesellschaft befördert« (Rosanvallon 2013: 224). Dieses neue Verständnis entstand als Antwort auf die neue Realität des industriellen Kapitalismus und die neue gesellschaftspolitische Kraft, die er hervorbrachte, die Arbeiterbewegung. Es breitete sich in verschiedenen geistigen und politischen Strömungen in Frankreich, Deutschland und Großbritannien aus,3 schloss eine Auffassung des Menschen als genuin gesellschaftliches Wesen ein, das in wechselseitiger Abhängigkeit und somit auch wechselseitiger Verantwortung lebt, gründete das Postulat sozialer Gerechtigkeit nicht mehr auf dem Gebot der Nächstenliebe, sondern auf »der Struktur des Sozialen selbst« (ebd.: 229)4 und wies dem Staat eine neue Rolle zu: »Es war sogar möglich, die Ausdehnung seiner Tätigkeit zur Voraussetzung für die Verwirklichung der Grundrechte und der Solidarität zu erklären«.5 Auf diese Weise, schreibt Rosanvallon, »vollzog sich eine regelrechte Neuformulierung des republikanischen Gedankens« (ebd.).
Er findet sich im Kern bereits bei Rousseau, im politischen Charakter des Gesellschaftsvertrags:
»Jene öffentliche Person, formiert aus der Assoziation aller, hieß früher polis und heißt heute Republik oder Gemeinwesen; wir benutzen die Bezeichnungen politische Körperschaft oder schlicht politischer Körper« (Rousseau [1762] 2012: 29).
Gesellschaft, die Assoziation aller, ist mehr als die Summe vereinzelter Einzelner. Sie muss sich politisch als Gemeinwesen konstituieren, um das Allgemeine der Assoziation zur Geltung zu bringen, ohne die Besonderheit der Einzelnen auszulöschen. Gegen Gesellschaft als politisches Gemeinwesen richtete sich Thatchers Kriegserklärung. Mit politischen Mitteln führte sie ihren Kampf.
Wem die Kriegsmetapher zu weit hergeholt erscheint, den möchte ich an einen Autor erinnern, der sich ihrer 1947 ebenfalls in England bediente. Damals schienen allerdings diejenigen Kräfte die Oberhand zu gewinnen, die das Allgemeine, nämlich Gesellschaft und Demokratie, durch soziale Rechte politisch stärken wollten. In den für die Soziologie des Sozialstaats bahnbrechenden Vorlesungen von Thomas Humphrey Marshall zum Thema »Bürgerrechte und soziale Klassen« heißt es:
»Ich habe bereits gesagt, dass im zwanzigsten Jahrhundert Staatsbürgerrechte und kapitalistisches Klassensystem miteinander im Krieg liegen. Vielleicht ist die Wortwahl etwas zu stark, aber es ist ohne weiteres einzusehen, dass die ersteren dem zweiten Beschränkungen auferlegt haben« (Marshall 1992: 81).
Das kapitalistische Klassensystem musste bekämpft werden, es mussten ihm politisch »Beschränkungen auferlegt« werden, damit im westlichen Europa (und in gewissem Umfang auch in den USA, dort jedoch unter Ausschluss der indigenen und afroamerikanischen Bevölkerungsgruppen) der Bürgerstatus ausgeweitet und die Lohnabhängigen und die Frauen im Rahmen nationalstaatlicher Verfassungen gleichberechtigt (wenn auch noch immer nicht als Gleiche) einbezogen werden konnten. Allerdings blieb der Bürgerstatus in einer wesentlichen Hinsicht eingeschränkt: Er schloss die demokratische Kontrolle über Unternehmen und kapitalistische Marktwirtschaft aus.
In der Phase der verminderten Einkommensungleichheit und der relativen Vollbeschäftigung nach dem Zweiten Weltkrieg, des Ausbaus der sozialen Sicherungssysteme und der sozialen Dienstleistungen, der engeren Einbindung von kapitalistischen Unternehmen in nationalstaatliche Regeln haben sich die Gesellschaften weitreichend verändert. Sie wurden zu »Lohnarbeitsgesellschaften« (Castel 2000a: 283), in denen Erwerbsarbeit für immer mehr Menschen (insbesondere die Frauen) eine zentrale Bedeutung erlangte und sich zugleich immer stärker differenzierte; in denen sich auf der Grundlage einer vorübergehenden Annäherung in den Lebensverhältnissen die Spielräume für individuelle Entscheidungen erweiterten.
Es ist ein bedrückender historischer Befund, dass seit der französischen Revolution Schübe in die Richtung größerer sozialer Gleichheit in Europa und den USA fast ausschließlich erst nach großen politischen und wirtschaftlichen Katastrophen durchgesetzt wurden, nach dem Ersten Weltkrieg, nach der Weltwirtschaftskrise und nach dem Zweiten Weltkrieg (Piketty 2014: 627; Scheidel 2017).6 In den drei Jahrzehnten nach Marshalls Vorlesungen schien der Krieg zwischen Bürgerrechten und Klassensystem in einen, wenn auch prekären, Frieden gemündet zu sein. Umso heftiger brach er danach wieder aus, nun jedoch mit umgekehrten Vorzeichen, diesmal mit den Verfechtern des Klassensystems auf dem Vormarsch.7
Die Verfechter des Klassensystems sind nicht ihrerseits vereinzelte Einzelne. Es sind sozial bestens vernetzte, in ihrer Klasse vergesellschaftete Individuen und deren Familien. Sie verfügen über Mittel, die sie nie jemals aus eigener Kraft hätten schaffen können, sondern die genuin gesellschaftlich erzeugt wurden und die sie sich angeeignet haben, als Kapital in seinen verschiedenen Formen und daraus abgeleitete Macht.8
Zwei im letzten Jahr in deutscher Übersetzung erschienene Studien werfen ein neues Licht auf die Ziele und strategischen Überlegungen der Protagonisten des »Neoliberalismus«, die in besagtem Krieg federführend werden sollten. Die Autoren betonen den ausgesprochen politischen Charakter des neoliberalen Denkens. Und sie zeigen, dass es in der Tat auf die Zerstörung von Gesellschaft als politischem Gemeinwesen angelegt ist.
In »Die unregierbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus« zeichnet Grégoire Chamayou »aus der Sicht der herrschenden Klassen« (Chamayou 2019: 10) Doktrinen und Techniken dieses Krieges nach.9 Er begann in den 1970er Jahren als Antwort auf »aufsässige Arbeiter« (ebd.: 17), eine Legitimationskrise des Kapitalismus, Kontrollverluste der Eigentümer über die Unternehmen, soziale und ökologische Bewegungen, kurz: auf eine aus Sicht der herrschenden Klassen »unregierbare Gesellschaft«.10 Die Zielrichtung ihres Kampfs war und ist eine doppelte: Zurückdrängen des Staats als Sozialstaat aus der Gesellschaft, und Befreiung staatlicher Autorität vom »Druck des ›Volkswillens‹« (ebd.: 346). Im Kern geht es um »das absolute Verbot, die Ordnung sozialer Ungleichheiten anzutasten, die Verweigerung jeglicher Umverteilungspolitik« (ebd.: 346 f.).
Um ein solches Verbot durchzusetzen, bedarf es eines starken Staats, der in der Lage sein muss, Widerstände in der Gesellschaft zu brechen. Immer wieder weist Chamayou auf eine innere Verbindung im Denken von Friedrich Hayek und Carl Schmitt hin (ebd.: 305 f.). Zugleich soll dieser Staat aber auch nach Hayek »die Politik entthronen« (ebd.: 309). Wie ist es möglich, einer scheinbar so widersprüchlichen Anforderung Genüge zu tun? Dadurch, dass der Markt zur »politischen Technologie« erhoben wird: »Der Markt wurde von dem, woraus sich die Politik gefälligst heraushalten sollte, zu etwas, dem die Politik sich fortan zu unterwerfen hatte« (ebd.: 316). Zu einem entscheidenden Hebel wurde dabei wiederum die Politik selbst, vor allem in Gestalt der Privatisierung oder Teilprivatisierung öffentlicher Unternehmen und der Einführung von Kriterien der Markteffizienz in die Erbringung sozialer Dienstleistungen.
Quinn Slobodian weist in seiner Untersuchung über »die Geburt des Neoliberalismus« nach, dass das Ziel, die Politik zu enttrohnen, nicht allein national, sondern transnational auf das Zurückdrängen des Einflusses der Nationalstaaten angelegt war. Hayek
»konzentrierte sich zusehends auf die Suche nach einer rechtlichen und institutionellen Lösung für die Störung der Marktprozesse durch die Demokratie. Anders als die Ordoliberalen, die nach einer ›Wirtschaftsverfassung‹ auf nationaler Ebene riefen, strebten die Neoliberalen der Genfer Schule eine Wirtschaftsverfassung für die Welt an« (Slobodian 2019: 22).
Ihren Einfluss machten sie wiederum politisch geltend, insbesondere bei der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO). Aber auch Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IMF) oder der Vorrang der Märkte vor der wirtschafts‑ und sozialpolitischen Einheit bei der Institutionalisierung der Europäischen Union stehen im Zeichen neoliberaler Doktrin und politischer Praxis. Globalisierung verstanden Hayek und seine Mitstreiter als politisches Projekt, das die Märkte gegen Einflüsse aus der Gesellschaft abschirmen sollte:
»Die normative neoliberale Weltordnung ist kein grenzenloser Markt ohne Staaten, sondern eine doppelte Welt, die von den Hütern der Wirtschaftsverfassung vor den Forderungen der Massen nach sozialer Gerechtigkeit und Umverteilung geschützt wird« (ebd.: 29).
Vereinzelte Einzelne zu schaffen, die einerseits dem (aus gesellschaftlicher Verantwortung entlassenen) Staat, andererseits dem Markt und damit dem Kapital ausgeliefert sind, darauf laufen Thatchers Kriegserklärung gegen die Gesellschaft ebenso wie die »normative neoliberale Weltordnung« hinaus.
Angriffe auf das politische Gemeinwesen wurden und werden seither mit ähnlichen Mitteln, aber in national unterschiedlichen Varianten in vielen europäischen Ländern ebenso wie in den USA geführt.11 Dass sich die neoliberale Doktrin und politische Praxis weder in Großbritannien noch in anderen europäischen Ländern oder der Europäischen Union ungebrochen durchsetzen konnten, liegt an Widerständen aus der »unregierbaren Gesellschaft«. Jedoch hatten sich bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Kräfteverhältnisse zwischen Bürgerstatus und kapitalistischem Klassensystem wieder deutlich zugunsten des Klassensystems in alter wie neuer Gestalt verschoben. Auseinanderdriftende Gesellschaften waren und sind die Folge.
Auch in Deutschland driften die Lebensverhältnisse auseinander. Es ist keine »Abstiegsgesellschaft«12 (denn die wäre im Abstieg geeint), sondern eine Gesellschaft mit zunehmenden Ungleichheiten in der Verteilung von Einkommen, Vermögen, Arbeitsplatzsicherheit, sozialer Absicherung, Zugang zu Infrastruktur und sozialen Dienstleistungen, politischer Beteiligung, wirtschaftlicher und politischer Macht. Vor allem die Regierung Schröder erhob den Markt zur »politischen Technologie«.13 Dass auch bei ihr die Vereinzelung der Einzelnen politisches Programm wurde, hat eine in all ihrer Widersinnigkeit doch bezeichnende Wortschöpfung auf den Punkt gebracht: »Ich‑AG«.
An drei eng miteinander verbundenen und für das gesellschaftliche Zusammenleben heute zentralen Verhältnissen setzt der Angriff auf das politische Gemeinwesen an: an den Beschäftigungs‑ und Arbeitsverhältnissen (die gegenwärtig um abhängige Erwerbsarbeit zentriert sind), an den sozialen Rechten, die das kapitalistische Klassensystem beschränken und damit die politischen und persönlichen Rechte des Bürgerstatus fundieren und absichern sollen, sowie an den Verteilungsverhältnissen des gesellschaftlichen Reichtums. Die Auswirkungen betreffen nicht zuletzt den Rückhalt in sozialen Beziehungen von Verwandtschaft und Bekanntenkreisen, die Thatcher den ansonsten vereinzelten Einzelnen immerhin zugestehen wollte. Was dies für die Gesellschaft bedeutet, ist Thema dieses Buchs.
Einen Weg zurück zum Ausgangspunkt, bevor das Auseinanderdriften einsetzte, gibt es nicht. Zum Ausgangspunkt zurückkehren zu wollen wäre aber auch sinnlos, denn in ihm war die Möglichkeit des Auseinanderdriftens bereits angelegt. Daraus resultiert die Hilflosigkeit, die derzeit in vielen politischen Beschwörungen des »sozialen Zusammenhalts« zum Ausdruck kommt.14
Mehr noch: Die Rede vom Zusammenhalt verliert ihre Unschuld angesichts der Fratze, in der er heute von der Rechten auch wieder als völkische Gemeinschaft in aller Aggressivität gegen zu inneren und äußeren Feinden erklärte Menschen propagiert wird. Wie in den zwölf Jahren des ›Tausendjährigen Reichs‹ bündelt sich hier die Wut und die Lust am Untergang bei denen, die in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft weder zurück in eine mythisierte Vergangenheit können,15 noch eine Zukunft vor sich sehen, weil sie »die Veränderung der gesellschaftlichen Basis« nicht wollen (Adorno 2019: 20), die ihre Wut erzeugt. Wo »Gutmenschen« zum Hassobjekt geworden sind, hilft auch kein Appell an Zusammenhalt durch Toleranz.
So sehr Menschen kooperieren müssen, um als soziale Wesen zu überleben, so wenig selbstverständlich ist es, dass und wie dies gelingt. Gerade in kapitalistischen Gesellschaften mit ihren inneren Widersprüchen sind die Regeln des Zusammenlebens immer umkämpft. Um welche Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens, um welchen »gesellschaftlichen Zusammenhalt« also soll es gehen? Allein die Frage zu stellen, scheint mir heute bereits von zentraler Bedeutung zu sein. Sie schließt eine für das politische Handeln noch wichtigere Frage ein: In welcher Gesellschaft will man leben? Mit Blick auf die Zukunft des politischen Gemeinwesens ist sie entscheidend.
Dass sie heute in dieser Form kaum noch gestellt wird, auch von der Linken nicht, zeigt an, wie erfolgreich die Politik der Entthronung von Politik, ihrer Unterwerfung unter Märkte und Kapitalmacht, in den letzten Jahrzehnten war. Die Rechte beutet die damit entstandene Leerstelle politischen Handelns aus, indem sie die Politik wieder auf ihre, in Deutschland bereits von den Nazis bekannten Weise in den Vordergrund rückt: durch die Entgegensetzung von Freund und Feind.16
Die Frage, in welcher Gesellschaft man leben will, lässt sich nicht aus einem großen Wurf nach den Prinzipien des ›guten Lebens‹ beantworten. Aber schon gar nicht hilft die vorgestanzte Antwort, es gelte nur das zu verteidigen, was bereits da sei – den Kapitalismus und die Demokratie, wie wir sie kennen und die unverbrüchlich in der besten aller möglichen Welten verbunden seien. Das Auseinanderdriften der Gesellschaft straft die Antwort Lügen und legt die Partikularität der Interessen bloß, die sie leitet.
Wie kann ›man‹17 aber die Frage, in welcher Gesellschaft man leben will, überhaupt stellen? Nur aus den Widersprüchen der auseinanderdriftenden Gesellschaft selbst heraus. Dort entscheidet sich, ob ›man‹ gegenüber denjenigen, die das Auseinanderdriften vorantreiben, ein widerständiges Potenzial entwickelt.18 Und dort entscheidet sich auch, ob ›man‹ dabei ein Allgemeines zur Geltung bringt, das im Unterschied zum exklusiven und exkludierenden ›wir‹ der Rechten die Besonderheiten nicht auslöscht. Nur in der Kritik der auseinanderdriftenden Gesellschaft lassen sich Widersprüche und Konfliktpunkte aufzeigen, in denen jenes Allgemeine, für das die Besonderheiten gleich gültig sind, als Möglichkeit zum Vorschein kommt: als Möglichkeit für ein selbstbestimmtes Leben.
Die Entscheidung, von den Widersprüchen und Konflikten des Auseinanderdriftens selbst auszugehen, ist ihrerseits theoretisch begründet. Soziologische Analyse wird durch konkrete, historische Probleme herausgefordert und muss sich in der Darlegung der inneren, diese Probleme charakterisierenden Verhältnisse bewähren. Kritik ist dabei in zweifachem Sinn gemeint: als Aufzeigen von Triebkräften und Formen, vor allem aber auch den Folgen des Auseinanderdriftens. Und damit zugleich Kritik als Aufzeigen von Ansatzpunkten und Alternativen möglicher politischer Intervention – wenn eine solche denn gewollt wird. Wo zeichnen sich Widersprüche ab, an denen Widerstand gegen die herrschende Politik der gesellschaftlichen Spaltung ansetzen kann? Drei Konfliktlinien scheinen mir heute von zentraler Bedeutung zu sein.
Die erste betrifft das selbstbestimmte Leben. Der Krieg gegen die Gesellschaft verspricht Freiheit,19 betreibt aber die Unterwerfung der vereinzelten Einzelnen unter die Zwänge der Märkte und derer, die am Markt die Macht haben; er fordert Eigeninitiative, verhindert aber die Selbstbestimmung der Individuen als Teilen des politischen Gemeinwesens. Die Kämpfe um ein Gemeinwesen ›auf der Höhe der Zeit‹ werden das selbstbestimmte Leben ins Zentrum rücken müssen, nicht im Gegensatz zum Sozialen, sondern auf dessen Grundlage; nicht in der Form von Vereinheitlichung, sondern von institutionalisierten Möglichkeiten, Unterschiede auf der Basis von gleicher Wertigkeit und gleichen sozialen Rechten zur Geltung bringen und Differenzen austragen zu können.20 Nur durch eine Stärkung des Sozialen und daraus resultierender Gegenmacht wird auch selbstbestimmtes Leben möglich und verallgemeinerbar, kann erst ein demokratisches Gemeinwesen im strengen Sinn entstehen.
Die zweite Konfliktlinie ist mit der ersten eng verbunden. Sie betrifft die für gesellschaftliches Zusammenleben unhintergehbare Bedeutung der Arbeit. An der abhängigen Erwerbsarbeit setzt die Politik der gesellschaftlichen Spaltungen in vorderster Front an. Mit der Ausbreitung der Lohn‑ und Gehaltsabhängigkeit in ihren verschiedenen Gestalten und den neuen Formen abhängiger Selbständigkeit haben sich über traditionelle Klassengrenzen hinweg aber auch Interessenverletzungen verallgemeinert, die in der Krise der »Lohnarbeitsgesellschaft« (Castel), in der wir uns gegenwärtig befinden, zum Ausgangspunkt einer widerständigen Politik des Sozialen, einer Politik gegen das ›Teile und Herrsche‹, gemacht werden können.
Gleiches gilt, und das ist die dritte Konfliktlinie, für die Interessenverletzungen, die aus der zunehmenden Unterwerfung von für das Zusammenleben essenziellen Gütern wie Bildung, Information, Gesundheit und von Naturumwelt als Voraussetzung aller Gesellschaftlichkeit unter die Ausbeutung nach Markt‑ und Profitlogiken erwachsen.
Mit »Politik des Sozialen« meine ich nicht Sozialpolitik im herkömmlichen Sinn, sondern eine Politik, die das politische Gemeinwesen selbst zum Gegenstand hat (Kronauer 2007: 370 f.). Denn die besondere Bedeutung jener Widerspruchsbereiche und Konfliktlinien liegt darin, dass sie sich wesentlich auf die drei Grundprobleme »der sozialen Koordination« beziehen, die Barrington Moore für gesellschaftliches Zusammenleben hervorhebt: »Autorität (d. h. die Regelung von Herrschaft, M. K.), Arbeitsteilung und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen« (Moore 1987: 27). Diese habe ich vor Augen, wenn ich vom grundlegenden ›Unterbau‹ von Gesellschaft spreche.
Aber ergibt die Rede vom »Gemeinwesen« in Zeiten der Europäisierung und Globalisierung überhaupt noch einen Sinn? Leben wir nicht gleichzeitig in sehr verschiedenen und in unterschiedlicher Weise institutionalisierten Gemeinwesen? Und ergibt sich nicht gerade daraus die allseits erfahrene Ohnmacht, wenn es um die Regelung von die Lebensverhältnisse mittelbar und unmittelbar betreffenden gesellschaftlichen Voraussetzungen geht?
Diese Problemkonstellation ist nicht völlig neu. Es gibt deshalb starke, historisch begründete Argumente dafür, dass die Erkämpfung sozialer Schutzrechte für die lohnabhängigen Klassen eine wesentliche Voraussetzung für die Bewältigung bereits der früheren Schübe wirtschaftlicher Globalisierung bildete (Rieger/Leibfried 2001; Rosanvallon 2013: 234; Atkinson 2016: 337–359; Manow 2018: 43 f.). Sollte dies nicht auch heute noch gelten, auf nationaler ebenso wie auf europäischer Ebene und der Ebene weiterer transnationaler Institutionen?
Mit zunehmender Transnationalisierung von Kapitalmacht haben sich auch die zuvor angesprochenen Widersprüche und Konfliktlinien in den auseinanderdriftenden Gesellschaften Europas und den USA verallgemeinert. Wäre es nicht Aufgabe von Gesellschaftskritik ›auf der Höhe der Zeit‹, gerade auch über diese Gemeinsamkeiten aufzuklären, um gemeinsam eine widerständige Politik des Sozialen in den jeweiligen nationalen und internationalen Kontexten voranzutreiben?
Und folgt nicht aus der unwiderruflichen Intensivierung internationaler und transnationaler Abhängigkeiten geradezu die Notwendigkeit, den zentralen Themen der Gegenwart, den Ursachen von Fluchtmigration und Klimawandel, an die Wurzeln zu gehen, und zwar aus schierem Eigeninteresse, weil jedes politische Gemeinwesen auf die eine oder andere Weise mit ihren Folgen konfrontiert ist? Ihnen im globalen Norden ausweichen zu wollen, wäre eine Illusion. Sie dort der Realität angemessen anzugehen, ist schwierig genug, wird aber in Gesellschaften, die auseinanderdriften, überhaupt nicht möglich sein.
Die Kritik der auseinanderdriftenden Gesellschaft, von der hier die Rede ist, macht sich an zunehmenden sozialen Ungleichheiten und Unsicherheiten fest. Aber sind nicht kulturelle Gegensätze, Fragen der Identität und der Abgrenzung gegen Fremde und Fremdes, mindestens ebenso bedeutsam für das Auseinanderdriften der Gesellschaft?
Dass die Ablehnung von Fremden gerade dort besonders stark verbreitet ist, wo die Möglichkeit, ihnen zu begegnen, geringer ist als anderswo, mag mit solchen antizipierenden Ängsten und Abgrenzungswünschen zu tun haben, die auf kulturelle Orientierungen und mangelnde Erfahrung im Umgang mit Fremden hinweisen. Die Aggressivität, mit der sie vielerorts auftritt und toleriert wird, erklärt dies allein jedoch nicht. Auch für die Kulturkämpfe, die sich mittlerweile wieder an unterschiedlichen Lebensstilen und Lebensorientierungen festmachen, gilt, dass sie nicht selbsterklärend sind. Man muss die Vorlieben anderer Menschen nicht teilen, um dennoch mit ihnen zusammenleben oder wenigstens nebeneinander her leben zu können. Wenn dies nicht oder nicht mehr ohne Weiteres akzeptiert wird, verweist dies auf Verwerfungen im grundlegenden gesellschaftlichen ›Unterbau‹.21 An ihnen setzen die vorliegenden Beiträge an.
Bereits in der Neuauflage des Exklusionsbuchs hatte ich argumentiert, dass sich der Exklusionsbegriff nicht auf ein ›Randgruppen‹-Thema reduzieren lässt (Kronauer 2010a: 19). Vielmehr zwingt er dazu, den analytischen Blick auf die Prozesse zu richten, die ein Auseinanderdriften der Gesellschaft bewirken und dabei Exklusionen als spezifische, extreme Ungleichheitslagen in der Gesellschaft erzeugen und reproduzieren. Diese analytische Blickrichtung wird in den vorliegenden Texten weiterverfolgt, der Blick dabei auf unterschiedliche Aspekte des Auseinanderdriftens der Gesellschaft, vor allem aber auf ihre gesellschaftspolitischen Folgen erweitert.
Dabei beziehe ich mich in erster Linie auf Deutschland, greife aber auch Befunde und Debatten aus anderen europäischen Ländern sowie den USA auf. Auch dort macht sich das Auseinanderdriften der Gesellschaft nach einer Phase der Annäherung in den Lebensverhältnissen in unterschiedlicher Schärfe und Form geltend, auch dort befeuert es Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Exklusion, Prekarität, soziale Spaltung, Polarisierung sind zentrale Begriffe, die international verwendet werden, um die Tendenz des Auseinanderdriftens und ihre Folgen analytisch zu fassen.
Den meisten Beiträgen dieses Bands liegen Aufsätze und Vorträge zugrunde, die in den letzten Jahren zu unterschiedlichen Anlässen entstanden sind. Wie sich im Nachhinein der Zusammenschau zeigte, gehen sie einander ergänzend, vertiefend und unterschiedliche Blickwinkel einnehmend immer wieder der Frage nach, was aus der Kritik der auseinanderdriftenden Gesellschaft für das politische Gemeinwesen folgt. Die Auseinandersetzung darüber ist mit dem internationalen Aufstieg einer politischen Rechten in den letzten Jahren immer dringlicher geworden. Das schien mir Grund genug, die Texte in einem neuen Rahmen zusammenzustellen. Um das gemeinsame innere Band der Analyserichtung und der Suche nach einer Antwort zu verdeutlichen, habe ich sie noch einmal mehr oder weniger stark überarbeitet und eine Anordnung gewählt, die ihren Zusammenhang kenntlich machen soll. Einige der Texte sind aus Vorträgen hervorgegangen, die in aktuelle Debatten intervenierten. Die Spuren ihrer Entstehung wollte ich nicht tilgen. Aufgenommen habe ich in den Band fünf neu verfasste bzw. bislang unveröffentlichte Beiträge. Da die Texte auch noch als eigenständige Aufsätze lesbar sein sollen, sind gelegentliche Wiederholungen in unterschiedlichen Zusammenhängen nicht zu vermeiden.
Teil I befasst sich mit den Auswirkungen des Kriegs gegen die Gesellschaft auf das politische Gemeinwesen. Die Beiträge verfolgen nach, wie die selektive Entsicherung der Erwerbsarbeitsverhältnisse, die zunehmende Vereinzelung der Einzelnen im Zuge der Neuausrichtung von Sozialstaatlichkeit und die gezielte Förderung der Ungleichheit in der Verteilung von Einkommen und Vermögen ineinandergreifen und das Auseinanderdriften der Gesellschaft vorantreiben.
Der Skandal der Exklusion arbeitet heraus, dass die Diskussion über Exklusion in Europa seit den 1980er Jahren eine Krise der Verbindung von Kapitalismus und Demokratie anzeigt, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war. Was der Exklusionsbegriff zur Analyse der Krise austrägt, führt der Beitrag an seinen wesentlichen Bestimmungen, der Mehrdimensionalität und dem Prozesscharakter von Exklusion, aus.
Soziale Verwundbarkeit, Klassenlage und die ›verunsicherte Mitte‹ befasst sich mit einer zentralen Folge des Auseinanderdriftens, der Zunahme sozialer Unsicherheit und Verunsicherung. Der Beitrag stellt die Klassenunterschiede und interne Differenzierungen auslöschende Vorstellung von ›der Mitte‹ der Gesellschaft in Frage und weist auf die politisch gefährlichen Folgen hin, die die Verschiebung der Aufmerksamkeit weg von den der sozialen Verwundbarkeit am stärksten ausgesetzten gesellschaftlichen Klassenlagen und hin auf eine fiktive ›Mitte‹ zeitigt.
Matthäuseffekt und Teufelskreis: Inklusion und Exklusion in kapitalistischen Gesellschaften geht der für das Auseinanderdriften wesentlichen Frage nach, wie sich soziale Ungleichheiten, die aus den Lohnarbeitsverhältnissen erwachsen, über unterschiedliche Dimensionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens hinweg (Erwerbsarbeit, Bürgerstatus, soziale Nahbeziehungen) ausbreiten, wechselseitig verstärken und dadurch die Tendenz zur gesellschaftlichen Spaltung verschärfen können.
Was die Institutionenökonomie von der Ungleichheitsforschung lernen könnte. Eine kritische Auseinandersetzung mit »institutioneller Komplementarität« greift im gleichen Zusammenhang eine zentrale Kategorie der international vergleichenden Institutionenökonomie, »institutionelle Komplementarität« auf, um sie für die Analyse von Ungleichheitsdynamiken fruchtbar zu machen. Dies setzt allerdings eine kritische Auseinandersetzung mit der Theorie der »Varieties of Capitalism« voraus, der das Begriffspaar entstammt. Der Beitrag zeigt am deutschen Beispiel, dass und wie eine »koordinierte Marktökonomie« zugleich die Effizienz von kapitalistischen Unternehmen steigern und gesellschaftlichen Zusammenhalt untergraben kann.
Wozu aktiviert der ›aktivierende Wohlfahrtsstaat‹? behandelt die Neuausrichtung von Sozialstaatlichkeit, die im Zuge des Kriegs gegen die Gesellschaft als politisches Gemeinwesen in den letzten Jahrzehnten in unterschiedlichen nationalen Varianten und unterschiedlicher Tiefe unter dem Stichwort der »Aktivierung« stattgefunden hat. »People look to themselves first«, um es in Thatchers Worten zu sagen. Erörtert werden die Folgen für das Auseinanderdriften der Gesellschaft.
Stadt und soziale Frage untersucht, worin sich die soziale Frage des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die Arbeiterfrage, von der sozialen Frage von heute unterscheidet, die aus der Erosion sozialstaatlicher Absicherungen von abhängiger Erwerbsarbeit und dem Auseinanderdriften der Gesellschaft entspringt. Beide, die historische wie die aktuelle soziale Frage, manifestierten bzw. manifestieren sich in der Stadt. Der Beitrag legt dar, dass und in welcher Weise der Stadt auch für die Bewältigung der neuen sozialen Frage eine besondere Bedeutung zukommt.
Teil II geht den Widersprüchen der auseinanderdriftenden Gesellschaft und den Konflikten nach, die aus ihnen entspringen. Wo zeichnen sich Möglichkeiten für Widerstand gegen die herrschende Politik der gesellschaftlichen Spaltung ab, der ein Allgemeines zur Geltung bringt, das die Besonderheiten nicht auslöscht?
Kann »Inklusion« ein Ziel praktischer Gesellschaftskritik sein? Der Beitrag argumentiert, dass sich Gesellschaftskritik heute aus historischen, theoretischen und politischen Gründen mit dem Auseinanderdriften der Gesellschaft, somit auch mit dem Thema »Inklusion«, auseinandersetzen muss, und zwar in der Perspektive einer praktischen Kritik der »Exklusion«, die über den Kapitalismus hinausweist. Dass damit ein notwendiger Perspektivenwechsel verbunden ist, führt er in einer Auseinandersetzung mit der Kritik an »sozialer Integration« aus, die Peter Brückner Anfang der 1970er Jahre in seiner Schrift »Sozialpsychologie des Kapitalismus« entwickelt hatte.
Rechtstendenzen in der Arbeiterschaft und die Notwendigkeit der sozialen Transformation setzt sich mit dem starken Rückhalt auseinander, den die politische Rechte international bei Wahlen unter Arbeitern findet. Zwei in der Linken verbreitete Erklärungsansätze, die These von der »imperialen Lebensweise«, in die auch die Arbeiterklassen des kapitalistischen Nordens verstrickt seien, und die These von der »Marginalisierung der Arbeiterklasse«, die mit der Unterstützung rechter Positionen ihre politisch verdrängten Interessen zur Geltung bringen wolle, stehen zur Diskussion. Der Beitrag zeigt die Berechtigung und die Grenzen beider Thesen auf, kritisiert jede politische Anpassung an die Rechtstendenzen und legt dar, welche Bedeutung der Lohnabhängigkeit in einem umfassenden, über die Arbeiterschaft hinausgehenden Sinn angesichts der »Krise der Lohnarbeitsgesellschaft« für gesellschaftliche Transformation zukommen kann.
Warum und wie die Linke für soziale Gerechtigkeit streiten muss zeigt, wo in der auseinanderdriftenden Gesellschaft Gerechtigkeitserwartungen verletzt werden, wie die empfundene Ungerechtigkeit aber auch von den Ursachen abgelenkt und gegen Sündenböcke gerichtet werden kann, wenn keine Aussicht besteht, die Ungleichheits‑ und Machtverhältnisse selbst anzugehen. Deshalb gilt es, diese im Streit um Gerechtigkeit wieder ins Zentrum zu rücken.
Bedingungsloses Grundeinkommen oder Recht auf Arbeit?
Nach dem Bruch des impliziten Gesellschaftsvertrags führt die These aus, dass erhebliche Teile der Bevölkerungen Westeuropas und der USA die Folgen des Auseinanderdriftens als Bruch eines »impliziten Gesellschaftsvertrags« wahrnehmen. Er kann sozial ausgrenzende, autoritäre bis hin zu faschistischen Reaktionen hervorrufen, aber auch Reaktionen, die auf demokratische, egalitäre Veränderungen abzielen. Welche Richtung die Oberhand gewinnt, hängt entscheidend davon ab, ob und in welcher Weise das Auseinanderdriften der Gesellschaft selbst zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung gemacht wird.
Auseinandersetzungen um das selbstbestimmte Leben greift in die Debatte ein, die sich an dem Vorwurf entzündet hat, die Linke kümmere sich zu sehr um Kämpfe gegen Diskriminierung und für individuelle Rechte und vernachlässige den Kampf um soziale Rechte für die Lohnabhängigen. Der Beitrag weist die Alternative zurück und argumentiert, dass es heute, in einem Kapitalismus, der immer stärker Eigeninitiative einfordert und zugleich Selbstbestimmung verhindert, entscheidend darauf ankommt, die emanzipatorische Forderung nach einem selbstbestimmten Leben in einer Kritik kapitalistischer Verhältnisse zur Geltung zu bringen.
Den Abschluss bildet ein Nachtrag in Zeiten der Corona-Pandemie.