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© Piper Verlag GmbH, München 2021
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Stiefel Kapitel 38: © shutterstock/Andri Kurniawan
Redaktion: Michelle Gyo
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
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Ich weiß nicht, ob Shootingstar in unserer Branche der richtige Begriff ist. Aber ja, es stimmt, ich bin ziemlich jung in diese Position gekommen. Die Leidenschaft für Whisky ist allerdings nicht ans Alter geknüpft – solange man volljährig ist. Ich bin mit Whisky aufgewachsen. Mein Vater, Bryson Tulloch, erzählt gern die Geschichte, wie ich im Alter von zwei Jahren eine Flasche Tulloch von seinem Barwagen im Arbeitszimmer stibitzt und in mein Zimmer geschleppt habe. Natürlich habe ich sie nicht aufbekommen. Ein paar Monate später fand unsere Haushaltshilfe die Flasche in meiner Spielzeugkiste. »Im Kinderzimmer gereift«, hat mein Vater auf das Etikett geschrieben. Die Flasche steht immer noch in seinem Arbeitszimmer. Bis heute ungeöffnet. Das Familienunternehmen, die Tulloch Distillery, die auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblickt, bedeutete mir schon immer alles. Familie bedeutet mir alles. Ich denke, das ist die Antwort auf Ihre Frage. Im Sinne der Familie zu handeln bedeutet, der Verantwortung gerecht zu werden. Solange ich das Familienwohl im Blick behalte, treffe ich überlegte Entscheidungen.
Ich habe einen wiederkehrenden Traum. Darin wate ich ins Wasser, ein Mädchen an der Hand. Manchmal sind es zwei. Und seltener ist es ein Junge. Ich wate einem Ziel entgegen, das ich nicht kenne. Aber ich weiß, ich muss es erreichen. Meine Kleider saugen sich voll Wasser, ziehen schwer an meinem Körper, die kleinen Finger klammern sich fester an mich. Es ist kalt, es ist nass, ich rutsche auf den Steinen aus, fange mich wieder, halte die Hand. Ich darf sie nicht loslassen. Wind zerrt an meinen Haaren, Wellen rollen auf uns zu. Erst sind sie klein und zu bewältigen. Doch je weiter wir waten, desto höher wachsen sie, steigen, schwellen an. Sie reichen mir bis zur Hüfte, dann bis zur Brust, bis zu den Schultern. Das Mädchen neben mir schluckt Wasser, ich muss schneller sein. Muss schneller waten, sie in Sicherheit bringen. Doch der Widerstand des Wassers ist groß, zu groß. In der Ferne sehe ich ein Ruderboot. Ein Mann sitzt darin, und ich will schreien, winke ihm hektisch. Aber er hört mich nicht, weil ich keinen Laut von mir gebe. Wenn ich genauer hinsehe, kann ich erkennen, dass es mein Vater ist, doch er rudert nicht einmal, sondern ergibt sich vollkommen den Fluten. Wieder versuche ich zu schreien, wieder ist kein Laut zu hören. Das Wasser steht mir bis zum Hals, Wellen schwappen in meinen geöffneten Mund, schwappen über mich, hohe Wellen, mächtige Wellen. Sie sind mächtiger als ich, und ich habe ihnen nichts entgegenzusetzen. In dem Moment, da die nächste Woge mich und das Mädchen an meiner Hand unter Wasser drückt, hinunterzieht, bis auf den Meeresgrund, erwache ich.
Früher war ich jedes Mal schweißgebadet, hatte das Gefühl zu ersticken, keuchte nach Luft. Inzwischen ist der Traum Gewohnheit. Noch während ich schlafe, weiß ich, dass ich träume, und wenn es mir zu viel wird, zwinge ich mich, aufzuwachen. Das funktioniert meistens. Weil es eben nur ein Traum ist.
In der Realität lassen sich Probleme leider nicht so einfach lösen. Obwohl mir auch in wachem Zustand das Wasser bis zum Hals steht. Geldprobleme, Übermüdung (aufgrund einer unnachahmlichen Mischung aus zu wenig Schlaf dank wiederkehrender Träume und Überarbeitung), ellenlange To-do-Listen.
Neben kleinen Aufgaben wie »Medikamente für Mrs Henderson abholen« und »Marigold Whiskynachschub bringen« steht seit einigen Tagen »Vorbereitung Banktermin« auf meiner Liste. Denn ich brauche für meine Mikro-Destillerie Golden Plover Whisky dringend einen kleinen Kredit. Unsere Abfüllanlage ist kurz davor, endgültig den Geist aufzugeben, ich schulde Henry, meinem einzigen Mitarbeiter und besten Freund seit der ersten Klasse, ein Monatsgehalt (und mir selbst mindestens drei) und eine längst überfällige Gehaltserhöhung. Außerdem will ich in neue innovative Finishing-Fässer investieren. Seit über einem Jahr suche ich nach den perfekten Fässern. Jetzt habe ich sie gefunden, kann sie mir aber nicht leisten. Und dann ist da noch die ungeplante Ausgabe für die Whiskymesse, an der wir aufgrund einer Unüberlegtheit meinerseits teilnehmen müssen. Normalerweise treffe ich überlegte Entscheidungen. Aber wenn Boyd Tulloch, Erbe und Geschäftsführer der größten Destillerie der Shetlands und meine Nemesis, seit ich vor Jahren ein Praktikum bei der Tulloch Distillery absolviert habe, in der Nähe ist, lasse ich mich zu leicht provozieren.
»Verflucht noch mal, du Mistding, jetzt geh endlich an!« Henry kniet mit einem Schraubenzieher in der Hand neben unserer Abfüllanlage und versucht seit geschlagenen zwei Stunden, sie wieder zum Laufen zu bringen. Ich sitze am Schreibtisch neben der Küchennische und starre auf meinen Bildschirm. Auf die Verläufe unserer Finanzen. Einnahmen, Ausgaben. Zwei Ordner mit den Unterlagen liegen aufgeschlagen daneben.
Bis vor anderthalb Jahren hatte ich das Glück, von einer staatlichen Förderung für junge Unternehmerinnen zu profitieren. Die Kurve ging stetig bergauf. Doch leider zu langsam, sodass wir seit einiger Zeit keine schwarzen Zahlen mehr schreiben. Aber die Differenz wird geringer – wiederum stetig, wiederum zu langsam.
Ich seufze, nehme einen Schluck von meinem inzwischen lauwarmen Schwarztee. Ich hasse Finanzen. Hasse Excel. Hasse Kurven, vor allem, wenn sie so flach sind wie diese hier. Deswegen öffne ich die Website mit den Fässern. Fünf verschiedene Holzarten – vier Eichenarten und Kastanie. Jahrzehntelang wurde Mezcal in ihnen gelagert. An solche speziellen Fässer zu kommen, ist schwierig, aber Henry und ich würden gern ein Experiment mit schnell gemaischtem, dreifach destilliertem Whisky wagen. Mit einer sehr kurzen Gärung wollen wir so einen Whisky kreieren, der über drei Jahre die Würze der Sherry- und Bourbon-Fässer mit starkem Malzcharakter verbindet und durch den kurzen Maischprozess die Getreidenoten behält. Das Finishing in diesen Fässern würde dem Whisky in unserer Vorstellung die perfekte Rauchnote verpassen.
»Schaust du dir schon wieder die fancy Fässer an?« Henry kennt mich einfach zu gut.
»Sie sind jedenfalls noch da. Aber der Preis leider auch … Was wärst du bereit zu zahlen?« Ich bin zwar die Geschäftsführerin von Golden Plover, sehe Henry aber als vollkommen gleichberechtigt an. Golden Plover, das sind er und ich. Henry und Nessa. so wie ich es uns in der ersten Klasse mit schwarzem Filzschreiber auf den Arm malte, als wir endlich beide Buchstaben gelernt hatten. Jede Entscheidung treffen wir gemeinsam. Ein paarmal wollte ich ihn schon überreden, Teilhaber zu werden, doch bislang hat er immer abgelehnt.
»Mehr als dreihundert pro Fass ist Wahnsinn«, sagt Henry, und ich gebe ihm recht. Allerdings könnten wir uns im Moment nicht einmal das leisten, geschweige denn den Wucherpreis von fünfhundert Euro, den Ariel82, der Verkäufer auf der Plattform, dafür haben will. Das absolute Maximum sind eigentlich tausend für alle vier Fässer, obwohl sich die Investition sicher lohnen würde. Nur eben erst in drei Jahren, wenn der Whisky fertig ist. Bei Whisky braucht man einen langen Atem, sowohl finanziell als auch geduldsmäßig. Letzteren habe ich. Ersterer fehlt, seit unsere Nachwuchsförderung ausgelaufen ist.
»Aber du willst diese Fässer, oder? Vielleicht solltest du sie einfach kaufen.«
»Ich will sie dringend, weil ich glaube, dass der Whisky spektakulär wird. Aber ohne den Kredit wird das nichts.«
»Hoffen wir, dass sie nach dem Termin mit der Bank noch da sind«, sagt Henry und schlägt einmal fest mit der Faust gegen die Abfüllanlage, die daraufhin sofort anfängt zu rumpeln. »Ernsthaft?«, fragt er. »Stundenlang versuche ich es mit Liebe, aber ein einziger Faustschlag genügt, um sie wieder zum Laufen zu bringen?«
Ich lache. Aber innerlich bin ich einfach nur erleichtert, dass Henry jetzt weiter abfüllen kann. Denn ohne Abfüllanlage keine abgefüllten Flaschen. Und ohne abgefüllte Flaschen keine Verkäufe. Und ohne Verkäufe kein Kredit und ohne Kredit keine neue Abfüllanlage. Keine Fässer. Ein weiterer Monat ohne Gehalt. Ich muss diesen Kreislauf durchbrechen. Für unseren Traum, die schottische Whiskylandschaft mit unseren Kreationen zu bereichern. Sie bunter zu machen, vielfältiger, mutiger. Die Innovationen in den letzten Jahren kamen aus den , aus Japan, aus der ganzen Welt. Aber hier, wo der Whisky seinen Ursprung hat, haben es kleine Destillerien wie meine schwer. Mit neuem Elan wende ich mich wieder Excel zu.
Glücklicherweise habe ich Erfahrung mit schwierigen Situationen dieser Art, weil ich mich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr um die Finanzen der Familie kümmere. Fiona war damals elf, Effie neun und unsere Mutter seit ebenso vielen Jahren verstorben – und unser Dad versuchte, seinen Kummer im Pub hinunterzuschlucken.
Während Henry Flaschen abfüllt und etikettiert, suche ich die letzten Jahre meiner peniblen Buchführung zusammen und erstelle eine Bestandsaufnahme der Ist-Situation der Destillerie. Dann wage ich mich an eine Prognose. Eine optimistische Prognose, denn Henry hat vor Kurzem eine kleine Getränkemarktkette in Nordschottland überzeugt, unseren Whisky ins Sortiment aufzunehmen. Ich setze Zahlen ein, lasse Excel kalkulieren, korrigiere, setze optimistischere Zahlen ein, bin immer noch nicht zufrieden. Ich kratze an der Grenze des Realistischen, aber jetzt sieht die Prognose deutlich besser aus. Deutlich kreditwürdiger. Einige Schönheitskorrekturen werde ich noch durchführen müssen, aber für ein paar Stunden Arbeit bin ich ziemlich zufrieden mit dem Material. Ich hoffe nur, dass Mr McGill es auch sein wird.
Bevor ich Marigold Whiskynachschub bringe, muss ich noch einen Punkt meiner To-do-Liste hinter mich bringen. Das Telefonat mit der Immobilienfirma, die für die Pacht der Halle zuständig ist. Mein Vater hatte den Pachtvertrag vor Jahren in einer seiner manischen Phasen zu einem Spottpreis abgeschlossen, was der Grund war, warum ich ihn sofort übernahm. Den Pachtvertrag und den Traum einer eigenen Destillerie, den ich im Gegensatz zu ihm allerdings wirklich in die Tat umsetzte.
»Guten Tag, mein Name ist Nessa Linklater. Ich rufe an wegen der Erneuerung einer Pacht«, sage ich ins Telefon, das ich mir zwischen Schulter und Kinn geklemmt habe.
»Einen guten Tag wünsche ich Bitte warten Sie einen Moment, ich verbinde Sie.« Die freundliche Frau am anderen Ende der Leitung verschwindet zugunsten einer nervtötenden Warteschleifenmusik. Ich stehe auf, beginne unter Henrys Blicken, unruhig durch die kleine Halle zu laufen. Vorbei an unserer kupferfarbenen Brennanlage mit der glänzenden Brennblase, nach hinten, wo auf Edelstahlregalen unsere Fässer lagern, und wieder zurück, bis ich am anderen Ende der Halle zu unserer altersschwachen Abfüllanlage komme. Dieser hundert Quadratmeter große Raum ist mein ganzer Stolz, und ich liebe einfach alles daran. Ganz besonders das winzig kleine das ich an unserem ersten Tag in der Halle, als sie noch vollkommen leer war, in den Betonboden geritzt habe.
Die Musik verstummt, und eine Männerstimme meldet sich.
»Nessa Linklater hier. Ich rufe an wegen der Verlängerung der Pacht von 17 Cunningham Way.«
»Lassen Sie mich mal eben … ah ja, da haben wir es. Die Pacht läuft aus.«
»Ja, das weiß ich, deswegen würde ich sie gerne verlängern.«
»Sind Sie sicher?«, fragt er und lacht. »Ich schaue mir gerade Bilder an …«
»Meine Existenz hängt davon ab, also ja, ich bin mir sicher.« Es ist schön, dass ihm nach Witzen zumute ist. Aber für mich steht hier eine Menge auf dem Spiel. Meine Lebensgrundlage beispielsweise. »Denken Sie, die Pacht wird erhöht?« Ich kann nichts dagegen tun, dass man mir die Sorge anmerkt.
Ich höre, wie der Typ auf einer Tastatur tippt. »Wenn es nach mir ginge, könnten Sie die Halle einfach geschenkt haben. Aber leider bin ich ein zu kleines Licht, um das zu entscheiden. Und wenn ich mir ansehe, wie wenig Sie im Moment zahlen, könnte ich mir schon vorstellen, dass …«
»Okay? Und wer kann es entscheiden?«, unterbreche ich ihn, weil ich nicht hören muss, dass ich mir die Pacht demnächst nicht mehr werde leisten können.
»Ich leite Ihr Anliegen weiter.« Wieder klappert die Tastatur. »Wir melden uns dann bei Ihnen.«
»Können Sie mir sagen, wann ungefähr?«, frage ich mit einem mulmigen Gefühl.
»Ich will Ihnen keine falschen Versprechungen machen. Wie schrecklich finden Sie es, wenn ich zeitnah sage? Vermutlich nicht so schrecklich wie ich …«
Ich versuche mich an einem wenig überzeugenden Lachen, dann verabschieden wir uns, und ich lege auf.
»Mach dir keine Sorgen«, sagt Henry. »Wir finden für alles eine Lösung. Haben wir immer. Hast immer. Du bist unser aller Fels in der Brandung, Nessa.« Und das weiß ich, doch was, wenn die Wellen zu hoch werden?
»Ich helfe dir beim Einräumen«, biete ich Marigold am frühen Abend an. Ihr gehört der Geschenkladen im Zentrum Lerwicks, in dem Fiona ihre Keramik anbietet, Effie ihre Strickwaren und ich meine Whiskykreationen. Die dreijährige No 1 steht neben der fünfjährigen No 2 und der dreijährigen No 3. Die No 1 ist solide, interessant, ein Scotch mit Edge. Die No 2 ist ein sanfter, beinahe vanillig-fruchtiger Whisky, den ich sehr liebe. Aber unsere No 3, die das Finishing in Chardonnay-Fässern erhält, ist mein ganzer Stolz.
»Du hast sicher genug zu tun, meine liebe Nessa.« Marigold erhebt sich von ihrem Sessel hinter dem Kassentresen, wo sie bis zu meinem Eintreffen ihren Tee geschlürft hat.
» hast genug zu tun, Marigold«, erwidere ich, denn Marigold wird nicht jünger, und ich will versuchen, ihr unter die Arme zu greifen, wo ich kann.
»Ich habe die Flasche aus dem Schaufenster gestern verkauft. Wenn du willst, kannst du die auch gleich ersetzen.« Marigold zeigt auf das große Fenster zur Straße hin.
In der rechten Ecke des Schaufensters schläft Red Leg Greaves, ein dicker, rotgetigerter einäugiger Kater, von dem niemand so genau weiß, woher er kommt. Er stand eines Tages vor Marigolds Ladentür, und seither lebt er hier – zu seinen Konditionen. In der linken Ecke stehen verschiedene Whiskys, unsere, ein paar vom Festland und zwei Tullochs. Die Tulloch Distillery ist die einzige andere Destillerie der Shetlands. Ein Familienunternehmen mit jahrhundertealter Tradition, aufgrund derer Boyd Tulloch sich für die Krone der Schöpfung hält. Gleichzeitig ist die Tulloch Distillery der größte Arbeitgeber der Inseln, so riesig ist das Unternehmen inzwischen. Ich verziehe das Gesicht und stelle kurz entschlossen die No 3 ganz nach vorne, so, dass sie die konservativ aufgemachten grünen Tulloch-Flaschen verdeckt. Ich könnte mich schlecht fühlen, es könnte mir peinlich sein, dass ich zu solchen Mitteln greife, aber es ist noch nicht lange her, da versuchte Boyd Tulloch Marigold davon zu überzeugen, meine Whiskys aus dem Sortiment zu nehmen. Deshalb hält sich mein schlechtes Gewissen in Grenzen, wenn ich nun Boyds Whiskys mit meinen verdecke. Vor allem, weil es Boyd Tulloch egal sein kann. Seine Whiskys werden weltweit vertrieben. Ich bin froh, wenn Golden Plover Shetland-weit und in ein paar ausgewählten Läden auf dem Festland verkauft wird.
Ich stelle mir vor, wie der großkotzige Boyd demnächst an Marigolds Schaufenster vorbeikommt und ihm sein arrogantes Grinsen vergeht, wenn er sieht, dass sein Whisky in die hinterste Reihe verbannt wurde. Und für einen kurzen Moment drängt dieser Gedanke all meine Sorgen in den Hintergrund. Die Erneuerung der Pacht, die defekte Abfüllanlage, die Fässer, die ich mir nicht leisten kann, den Banktermin mit Mr McGill. So groß ist die Befriedigung über meine kleine Racheaktion.
Die vorderen Reihen in der Aula des Rathauses sind bereits voll besetzt. Die leisen Gespräche vereinen sich zu einem lauten Summen. Hier und da werden Stühle gerückt. Jacken rascheln. Effie steuert auf eine noch ziemlich leere Stuhlreihe im hinteren Drittel zu.
»Nein, warte, nicht hinter Mr O’Toole«, sagt Fiona. »Letztes Mal hatte er ein so penetrant riechendes Sandwich dabei, dass mir beim Gedanken an geräucherten Fisch immer noch übel wird.« Und tatsächlich liegt ein eingepacktes Sandwich auf dem Stuhl neben Mr O’Toole.
»Dann hier?«, frage ich und zeige auf die Reihe dahinter. Sie ist zwar schon gut besetzt, aber am Rand sind noch Plätze frei. Effie und Fiona rutschen rein, und ich nehme auf dem Stuhl direkt am Mittelgang Platz.
Ein paar Leute sehen uns, kommen vorbei, um uns zu begrüßen, machen Small Talk. Vor uns sitzt Henrys großer Bruder Benjamin und dreht sich um.
»Habt ihr auch ein Thema für die Stadtversammlung?«
»Nein, wir sind nur zur Unterhaltung hier«, erwidert Effie grinsend.
»Ihr müsst euch ja wirklich langweilen …« Ben lacht.
»Hi, Effie!« Erwin, einer von Effies engsten Freunden, klettert über die Stuhllehne und setzt sich neben sie. »Hi, ihr.« Doch er wartet nicht ab, bis wir seine Höflichkeit erwidern, sondern verwickelt Effie gleich in ein Gespräch. Fiona und ich sind uns ziemlich sicher, dass er in Effie verschossen ist, sie streitet es jedoch vehement ab.
In allerletzter Sekunde gesellt sich auch noch Connal zu uns, Fionas Ex-Freund und seit Neuestem Wieder-Freund. Erwin und Effie rutschen einen Platz weiter, damit er neben Fiona Platz findet. Er küsst sie, dann nimmt er ihre Hand. Es ist so normal, so verblüffend alltäglich. In solchen Situationen kommt es mir beinahe komisch vor, dass sie über drei Jahre lang getrennt waren. Räumlich und als Paar. Vor allem, weil ich mir ebenfalls diese Art von Alltäglichkeit mit meiner Schwester zurückwünsche. So wie es war, bevor sie vor dreieinhalb Jahren ohne ein Wort, ohne eine Erklärung uns und die Insel verließ, weil sie annahm, Connal würde unter einer Kinderlosigkeit mit ihr mehr leiden als unter einer Fionalosigkeit. Aber die Fionalosigkeit war schlimmer als alles. Für Connal. Und für Effie und mich ebenso. Und während es Connal und Effie gelungen ist, Fiona zu vergeben, hinke ich noch ein bisschen hinterher.
»Guten Abend, liebe Bürgerinnen und Bürger Lerwicks!«, ruft Bürgermeister Scolley ins Mikrofon und reißt mich damit aus meinen Gedanken. »Ist das an? Test, Test, !« Er wird immer lauter, obwohl wir ihn wunderbar durch das eingeschaltete Mikrofon verstehen. »Hallo? Hören mich alle?« Er tippt mit dem Finger dagegen.
»Ja, Munro, alle hören dich«, ruft seine Frau Edith laut aus der ersten Reihe. »Das Mikrofon ist an. Wie jedes Mal.«
»Guten Abend, liebe Bürgerinnen und Bürger Lerwicks!«, wiederholt Munro Scolley, vollkommen unbeeindruckt von der Tatsache, dass er schon die ganze Zeit wunderbar zu hören war. »Ich freue mich, dass Sie alle hier sind.« Aus seiner Hosentasche zieht er einen Stapel Karteikarten, ohne die man ihn noch nie bei einem öffentlichen Event angetroffen hat. »Neben einigen allgemeinen Informationen«, liest er ab, »wird der Haupttagesordnungspunkt heute die nordschottische Whiskymesse sein, die wir dieses Jahr in unserer wunderschönen Stadt ausrichten. Danke noch einmal an Boyd Tulloch, dem wir diese Ehre zu verdanken haben.«
Ich stöhne und rutsche tiefer in meinen Stuhl, um nicht mit ansehen zu müssen, wie sich Boyd Tulloch in der zweiten Reihe erhebt. Natürlich sehe ich ihn dennoch. Er ist groß, breitschultrig, trägt ein bis zu den Ellenbogen hochgekrempeltes weißes Hemd, das über seinem Bizeps spannt. Dieser elende Angeber deutet ein paar alberne Verbeugungen Richtung Saal an, grinst selbstgefällig. Und ich verdrehe die Augen.
»Das wird dein Abend heute, Nessa, was?«, flüstert mir Effie an Fiona und Connal vorbei zu.
»Hör bloß auf.« Ich wende mich mit einer genervten Grimasse ab.
»Wir haben Sponsoren für die Tischtennisplatten auf dem Schulhof der Lerwick High School gefunden. Mein Dank gilt hier vor allem dem engagierten Lehrerkollegium und dem Elternbeirat, die Hand in Hand gearbeitet haben.«
Er redet noch darüber, dass wir ab nächstem Monat endlich die neuen Recyclingtüten bekommen, die alten aber bis Jahresende auch noch abgeholt werden. Der Termin der Beisetzung von Stuart McAdam, einem ehemaligen Fischer, und weitere allgemeine Bekanntmachungen folgen. Ich merke, wie meine Augen schwer werden. Wie sich mein Atem vertieft. Ich denke an mein warmes Bett, an das Gefühl, die Socken erst unter der Decke auszuziehen. Ich will mich komplett ausstrecken, bis mein Rücken knackt. Und das wird er, das tut er jeden Abend. Vielleicht noch ein paar Seiten in einem Krimi oder in lesen. In einer dieser kurzen Phasen, in der es unserem Dad besser ging, schloss er ein Abonnement ab. Noch heute ist er der offizielle Empfänger, obwohl ich längst selbst für das Magazin zahle. Aber ich habe mir nicht die Mühe gemacht, ihnen mitzuteilen, dass er verstorben ist. Whisky war immer sein Traum, auch wenn er nur ab und zu die Kraft aufbringen konnte, zu träumen. Abgesehen von der Trauer um unsere Mum und den Pints im Pub, konnte er für ziemlich wenig Kraft aufbringen, sodass ich mit fünfzehn den Entschluss fasste, erwachsen zu sein, und die Verantwortung für die Familie übernahm. Mit sechzehn übernahm ich das Abo von mit achtzehn die Pacht der Halle. Und mit zwanzig übernahm ich seinen Traum, der schon lange zu meinem Traum geworden war.
Auf einmal ertönt Gelächter. »Was ist passiert?«, frage ich Fiona.
»Munro hat versucht, einen Witz zu machen.«
»Und deswegen lachen die Leute?« Ich runzle die Stirn.
»Der Witz war unfreiwillig zweideutig.« Und das macht schon mehr Sinn.
»Und jetzt übergebe ich das Wort an Boyd Tulloch«, verkündet Munro Scolley. »Boyd?«
Erneut erhebt er sich, drängelt sich durch die Reihe. Er hätte sich durchaus auch an den Rand setzen können, aber auf diese Weise kann er länger zeigen, von welch enormer Bedeutung seine Anwesenheit hier ist.
»Du wirst immer größer, mein Junge«, sagt Munro, als Boyd mit einem behänden Satz auf die Bühne springt. Boyd ist locker anderthalb Köpfe größer als Munro, und dessen Blick wandert nun ehrfürchtig an ihm hinauf.
»Ich danke Ihnen«, sagt Boyd und schüttelt die Hand des Bürgermeisters ein bisschen länger, als nötig wäre. »Ich freue mich über die Möglichkeit, heute zu euch zu sprechen, meine lieben Freunde.«
»Er hält sich für den Messias«, murmle ich, und Fiona kichert neben mir.
»Die Vorbereitungen für das Event des Jahrzehnts gehen ab nächster Woche in die entscheidende Phase, und wir freuen uns über jeden Freiwilligen, der Zeit und Lust hat, sich zu engagieren. Ich als Mitveranstalter und Whiskyaushängeschild Shetlands …«
»Noch«, murmle ich. »Aber ich werde der Welt zeigen, dass shetlandischer Whisky mehr ist als deine öde Plörre.«
sagt Effie, und Fiona und ich sehen sie etwas ratlos an. Zu den unpassendsten Gelegenheiten versucht sich Effie an -Witzen, und wir kommen nicht dahinter, warum eigentlich.
»Du weißt schon, wie diese Witze funktionieren, oder?«, fragt Fiona grinsend. »Die sind immer zweideutig. Und immer versaut.«
»Aber er hat es doch gesagt!«, verteidigt sich Effie, und ich mache mir nicht die Mühe, diesen Moment zu nutzen, um ihr zu erklären, dass selbst Munro Scolley die Zweideutigkeit, die für diese Art von Witzen nötig ist, verstehen würde.
»Genau genommen hat er Öko-Plörre gesagt«, mischt Fiona sich ein.
»Danke für die Erinnerung«, sage ich.
»Es gibt verschiedene Kategorien«, fährt Boyd fort, »Aufbau, Öffentlichkeitsarbeit, Organisation und so weiter, bei denen eure Talente gefragt sind.« Sofort schnellen ein paar Hände in die Höhe. Ausnahmslos weibliche Hände. »Danke, danke, ich weiß eure Begeisterung sehr zu schätzen. Meine kleine Schwester hat hinten einige Listen ausgelegt, auf denen ihr euch eintragen könnt.«
Alle Köpfe wenden sich um. Dort, hinter einem Tisch, sitzt ein Mädchen im Teenageralter, das gelangweilt auf einem Kaugummi herumkaut.
»Jamielee?«, fragt Boyd, und sie blickt auf, winkt lustlos.
»Ich glaube, die habe ich noch nie gesehen«, flüstert Fiona.
»Sei froh. Ein verzogenes Ding«, sagt Effie. »Habe einmal für die Tullochs gebabysittet.«
»Hast du?«, frage ich entgeistert.
»Schhhhh«, macht jemand vor uns.
»Ja, aber ist schon ewig her. Und so gut, wie das Mädchen schrecklich ist, können die einen gar nicht bezahlen. Sie ist so ein richtiges Rich Kid. Mit eigenem Pony und so.« Effie fängt sich ein weiteres »Schhhhh« ein, und ich wende mich wieder dem Geschehen auf der Bühne zu.
»Jeder, der hilft, bekommt einen kostenlosen Tagespass für die Messe sowie Verzehrbons im Wert von zehn Pfund«, kündigt Boyd gerade an.
»Wie großzügig. Hoffentlich übernimmt er sich nicht«, murmle ich.
Nachdem Boyd noch gefühlt eine halbe Stunde über den geplanten Ablauf, hohen Besuch, verschiedene große Destillerien, die ihre Teilnahme angekündigt haben, und seine eigenen Erfolge schwadroniert hat, übernimmt Munro wieder und löst offiziell die Versammlung auf.
Ein kollektives Stühlerücken und Jackenrascheln geht durch den Raum. Die Leute erheben sich, drängen in die Gänge und nach draußen. Als unsere Gruppe den Ausgang ansteuert, ertönt hinter uns eine Stimme.
»Nessa Linklater.«
Ich wende mich um und blicke direkt in sein Gesicht. Fünftagebart, blaue Augen, dunkelblonde Haare, sein linkes Ohr steht etwas weiter ab als das rechte. »Boyd Tulloch.«
»Kein Interesse an einem Tagesticket? Hast du mit dem Whiskypanschen aufgehört?« Er grinst dämlich.
»Falls es dich interessiert, ich habe bereits vor einer Woche einen Stand angemietet.«
Boyd runzelt die Stirn. »Ist dir das nicht peinlich? Jeder wird wissen, dass du für diesen Witz von Whisky verantwortlich bist …«
»Ist dir dein Benehmen nicht peinlich?«, frage ich zurück, und Effie applaudiert glucksend.
Ohne auf meinen Konter einzugehen, fährt er fort: »Hast du dir nicht auf die Fahnen geschrieben, dich für den schottischen Whisky zu engagieren? Auch wenn es natürlich ein etwas zweifelhaftes Engagement ist …«
»Was meinst du?« Ich kann nichts dagegen tun, dass ich giftig klinge.
»Na ja, das hier wäre deine Chance, um wirklich mal einen Beitrag zu leisten, oder?«, fragt Boyd und wedelt mit einer der Namenslisten.
»Ich habe leider keine Zeit. Manche von uns müssen einen Messeauftritt ohne Hundertschaften von Angestellten auf die Beine stellen, weißt du?« Sein arrogantes Gelaber treibt mich zur Weißglut. Dass er dabei äußerlich so ruhig bleibt, als würden wir eine normale Unterhaltung führen, macht die Sache nur noch schlimmer. Denn ich für meinen Teil koche innerlich. Am liebsten würde ich einfach abhauen. Aber diese Genugtuung gebe ich ihm nicht.
»Nessa, Nessa, Nessa«, sagt er und schüttelt den Kopf. Ich hasse es, wie er meinen Namen sagt. Dass er ihn überhaupt sagt. Fiona und Effie sind einen Schritt zurückgewichen, als hätten sie Angst, gleich in einen Faustkampf zu geraten. Und im Moment wäre mir wirklich danach, auf ihn loszugehen. »Ich hoffe, du übernimmst dich nicht.«
»Lass das mal meine Sorge sein«, gebe ich zurück und recke den Kopf, um mich etwas größer zu machen. Aber natürlich wirke ich neben dem Hünen Boyd bestenfalls zerbrechlich.
»Ich würde nicht so weit gehen, zu sagen, dass ich mich sorge«, sagt er. »Ich wünsche mir nur, dass sich auf meinem Event niemand blamiert.«
»Du hast Angst, dass deine Messe zur Blamage wird, wenn ich die Organisation nicht übernehme? Ach so!«, sage ich. »Jetzt verstehe ich. Aber es tut mir leid, das hast du dir selbst eingebrockt, Boyd.«
Er lacht verächtlich. »Ist vielleicht das Beste so.« Er tätschelt meine Schulter auf eine pseudo-verständnisvolle Weise. »Wenn deine organisatorischen Fähigkeiten genauso ausgeprägt sind wie dein Talent zum Whiskybrennen, sind wir ohne deine Hilfe wohl besser dran.« Er zuckt mit den Schultern und will sich abwenden.
Ich habe das Bedürfnis, ihm wüste Beschimpfungen an den Kopf zu werfen. Richtig ausfallend zu werden. Doch in diesem Moment kommt eine Mutter mit zwei kleinen Kindern vorbei, und um ihretwillen schlucke ich die Worte hinunter, die mir auf der Zunge liegen.
»Nur, damit du Bescheid weißt, die Anmeldegebühr entfällt für alle, die helfen.« Er macht Anstalten, zu gehen, und ich will nichts lieber, als dass er endlich verschwindet. Aber ich erinnere mich noch zu gut an meine Kurzschlussreaktion, in der ich ankündigte, es Boyd bei der Messe Damals dachte ich nicht an die finanziellen Implikationen. Und als Henry fragte, ob wir uns die Teilnahme überhaupt leisten könnten, war es für einen Rückzieher zu spät. Jetzt habe ich die Chance, ein bisschen Geld zu sparen.
»Weißt du, was, du Großkotz?«
Boyd dreht sich langsam wieder zu mir um. Mit einem wissenden, triumphierenden Ausdruck im Gesicht. O Gott, wie ich ihn verabscheue! Ich muss mich wirklich zusammenreißen, damit meine Stimme nicht vor Wut zittert.
»Schreib mich ruhig auf deine alberne Liste. Das Event soll schließlich ein Erfolg werden. Na los! Schreib!«, weise ich ihn an.
Ein süffisantes Grinsen umspielt seine Mundwinkel. »Nessa Linklater«, wiederholt er meinen Namen, während er schreibt. »Hier bitte noch deine Telefonnummer und E-Mail-Adresse eintragen.«
Er hält mir die Liste hin, und ich kritzle beides neben meinen Namen.
»Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee war?«, fragt Fiona, als wir uns endlich auf den Weg nach draußen begeben. »Ich meine, du hast wirklich viel zu tun und …«
»Weißt du, Fi«, sage ich und sauge gierig die kalte, feuchte Abendluft ein. »In meinen fünfundzwanzig Lebensjahren habe ich eine Sache gelernt. Wenn du willst, dass etwas gut wird, musst du es selbst machen.« Dass mich eher die Aussicht überzeugt hat, ein paar Hundert Pfund zu sparen, behalte ich für mich.
Dennoch habe ich das Gefühl, als hätte Boyd gewonnen. Als hätte er mich ausgetrickst. Aber er kann mich nicht ausstehen, warum also sollte er mich absichtlich dazu provozieren, meinen Namen auf diese alberne Liste zu setzen?
»Ich geh mit Erwin noch auf ein Pint in den «, ruft Effie und winkt.
»Aber wenn es dir zu viel ist, sagst du es, oder?«, fragt Fiona. Sie ist ein paar Schritte gerannt, um zu mir aufzuschließen, und man sieht ihre Atemwölkchen im Schein der Straßenlaterne. »Ich könnte dir ein bisschen unter die Arme greifen …«
»Danke«, sage ich, weiß aber, dass es besser ist, sich auf niemanden zu verlassen. Und schon gar nicht auf die eigene Familie, die einen immer genau dann hängen lässt, wenn man sie am dringendsten braucht. Und die einen immer dann am dringendsten braucht, wenn man selbst eigentlich schon auf dem Zahnfleisch geht.
»Es tut mir leid, Nessa, aber du kommst für einen Kredit nicht infrage.« Mr McGill, der Bankangestellte, blickt unglücklich von seinem Computer zu mir und wieder zurück. Ich kenne ihn, seit ich in der Grundschule mit seiner Tochter auf dem Pausenhof in einen Streit geraten bin, der in Haareziehen, Kreischen und jeder Menge Tränen gipfelte. Nun schüttelt er betroffen den Kopf.
»Aber meine Zahlen sind gut. Sie steigen. Sehen Sie? Langsam zwar, aber seit einem Jahr stabil.« Ich deute auf meine Unterlagen, die ich ihm in den letzten zehn Minuten vorgestellt habe. Meinen Plan, meine Jahresabrechnungen, meine optimistischen Prognosen.
»Wäre es meine Entscheidung, Nessa, ich würde dir jeden Kredit der Welt geben. Aber wenn das System Nein sagt, dann sind mir die Hände gebunden.«
»Okay, ja, das verstehe ich. Aber was, wenn wir die Raten erhöhen? Wenn ich …« Ich fühle, wie Hitze meinen Hals hinaufkriecht, wie sich langsam Panik breitmacht.
»Wie willst du denn noch höhere Raten zurückzahlen?«, fragt er.
»Ich finde eine Lösung?«, schlage ich vor. Auf einmal spüre ich den kratzigen Bezug des Stuhls, auf dem ich sitze, überdeutlich durch meine Bluse hindurch. Mir ist so warm. Ich diesen Kredit.
»Wir können noch einmal sprechen, wenn du sie gefunden hast.« Mr McGill tätschelt meinen Arm, und ich habe das Gefühl, als würde mir eine riesige Welle voll ins Gesicht klatschen, mich umwerfen, zurück an Land spülen, dorthin, wo ich angefangen habe. Zurück auf null.
»Und wie wäre es mit einem kleineren Kredit?«, frage ich wenig hoffnungsvoll. Im grellen Licht wirkt die hellgraue Farbe der Büromöbelgarnitur nur noch deprimierender. Alles an diesem Raum ist deprimierend. Die Raumtrenner, der Teppichboden, das Zerplatzen von Träumen.
»Ich kann dir höchstens anbieten, das Haus als Sicherheit anzugeben.«
»Unser Haus?«
Er nickt. »Ja.«
»Nein.«
»Das ist die einzige Chance, die ich sehe.«
»Danke, aber ich bleibe dabei. Das ist keine Option.«
»Dann, fürchte ich, kann ich heute nichts mehr für dich tun, Nessa.«
Ich erhebe mich. Gebe ihm die Hand. Denn es kommt nicht infrage. Das Haus, in dem wir wohnen, unser aller Zuhause, ist tabu. »Danke, Mr McGill, für Ihre Zeit.«
»Es tut mir wirklich leid, Nessa.«
»Ich weiß«, sage ich, aber weil ich kurz davor bin, die Nerven zu verlieren und loszuheulen, muss ich zusehen, dass ich hier herauskomme. Ich will nicht das nächste Stadtgespräch werden. Ich sehe Boyds Gesicht vor mir, wie er sagt: »Nessa Linklater, ich wusste, du würdest es nicht schaffen.«
Aber iches schaffen. Ich habe es schon so weit geschafft. Ich brauche nur noch ein halbes, maximal ein Jahr. Dann werfen wir genug ab. Dann … Aber ich habe kein Jahr. Nicht einmal ein halbes. Ich habe nur Jetzt.
Ich treffe Effie und Fiona im auf ein Feierabendpint, das ich heute dringend nötig habe. Henry hat mir zwar erneut versichert, dass ich eine Lösung finden werde, wie ich es immer tue, aber das Gefühl, einfach überrollt zu werden, bleibt.
Im ist viel los, es riecht nach Kaminfeuer und herb-urigem Bierdunst, lautes Männerlachen vermischt sich mit Stimmengewirr. Ein paar Satzfragmente übertönen die allgemeinen Unterhaltungen. »Jahrhundertfang, ich sag es euch!«, »Investoren vom Festland«, »Noch eine Runde!« Das Gedränge an der Bar ist so dicht, dass es ein paar Minuten dauert, bis ich bei Joseph Garrioch, dem Besitzer des Pubs und Lerwick-Urgestein mit schütterem rotem Haar, ein Shetland-Ale bestellen kann. Von allen Seiten begrüßen mich Leute, freuen sich, mich zu sehen, aber mir ist nicht nach Small Talk. Ich bin müde. Ausgelaugt. Und so bin ich erleichtert, als ich endlich an unserem Tisch direkt am Kamin ankomme.
»Wie war der Termin?«, fragt Fiona, nachdem ich mich mit einem etwas theatralischen Ächzen hingesetzt und einen Schluck Ale getrunken habe.
»Nicht gut.«
»Sind die Raten zu hoch? Vielleicht können wir was beisteuern«, schlägt Effie vor.
»Das ist so lieb von dir, Effie, aber erstens will ich euch da nicht mit reinziehen. Es ist mein Problem. Und zweitens geht es nicht um die Höhe der Raten.«
»Dein Problem ist unser Problem«, sagt Fiona.
Ich lächle sie müde an, weiß, dass sie es nur gut meint. Aber ich kann mich auf Fiona nicht verlassen. Diesen Fehler habe ich einmal gemacht, und sie ist einfach abgehauen. In dem Moment, da sie endlich so etwas wie eine Unterstützung hätte sein können. Ich kann mich nur auf mich selbst verlassen.
»Ich weiß, du denkst, du kannst dich nur auf dich verlassen«, fährt sie fort, als wäre sie in der Lage, meine Gedanken zu lesen. »Und ich weiß, dass es auch meine Schuld ist, aber wir sind hier, Nessa.«
»Ist schon gut.« Aber ich weiß, dass sie weiß, dass ich noch Zeit brauche.
»Also was hat er denn nun gesagt?«
»Ich kriege keinen Kredit.« Mein Tonfall ist so nüchtern, wie es mir in diesem Moment möglich ist.
»O nein.« Effies Stimme ist ganz leise geworden. Sie sieht mich bestürzt an.
»Nur wenn ich das Haus als Sicherheit angebe.«
»Dann mach das!« Sofort ist Effie wieder ihr lautes, fröhliches Selbst.
»Sicher nicht.« Ich schüttle vehement den Kopf.
»Warum nicht?«
»Weil es unser Zuhause ist. Weil ihr da wohnt. Weil ich das nicht riskieren will.«
»Aber wir glauben an dich«, sagt Fiona. »Es ist kein Risiko. Du wirst das Geld zurückzahlen.«
»Du kannst dir nicht sicher sein. Deswegen werde ich es nicht tun«, beharre ich.
»Doch, du musst.« Effie nickt, vollkommen überzeugt.
»Hört ihr mir nicht zu? Das wird nicht passieren.«
»Aber was willst du denn sonst machen?«, fragt Fiona besorgt.
»Eine andere Lösung finden.« So wie Henry es prophezeit hat.
»Aber wenn es eine andere Lösung gäbe, bräuchtest du doch gar keinen Kredit«, sagt Fiona, und obwohl ich genau diesen Gedanken auch schon hatte, versuche ich, es Henry gleichzutun und ebenfalls an mich zu glauben.
»Es ist Nessa.« Effie nimmt einen Schluck von ihrem Ale. »Nessa findet immer eine Lösung. Für uns hast du auch immer alle Probleme in den Griff gekriegt. Dann sind jetzt eben mal deine dran. Und wenn wir helfen können, sagst du Bescheid.«
Ich nicke müde und blicke an ihr vorbei in die tänzelnden Flammen des Kaminfeuers, von dem eigentlich eine so tröstliche Wärme ausgeht. Doch heute Abend fühle ich sie nicht. »Danke, Effie.«
»Ist auch einfach eine blöde Zeit gerade. Wenn der Frühling erst kommt, wird alles besser. Wirst schon sehen. Wenn es wieder heller wird und wärmer …«
Und vielleicht hat sie sogar recht damit. Vielleicht sieht die Welt anders aus, wenn die Tage länger werden und die Temperaturen zweistellig. Vielleicht eröffnen sich neue Möglichkeiten. Bislang habe ich es noch immer geschafft, da haben Effie und Henry jedenfalls recht.
Und so versuche ich in den nächsten Tagen, nach vorne zu blicken. Denn schließlich ist wenigstens die Whiskymesse eine Chance für Golden Plover. Sie wird Henry und mir neue Motivation geben. Vielleicht neuen Input und Ideen, die ohne Investitionen auskommen. Vielleicht kriegen wir den Boost, den wir für das nächste halbe Jahr brauchen. Vielleicht können wir uns auf diese Weise nach vorne hangeln, immer weiter. Schließlich unsere Zahlen eigentlich gut. Schließlich unser Umsatz. Schließlich ich noch für jedes Problem eine Lösung gefunden.