Vor einigen Jahren besuchte ich in Indien einen Ort namens Uruvela. Zweitausendsechshundert Jahre früher lebte in der Nähe dieses Ortes ein Mann namens Siddhartha. Siddhartha ist der Mann, der später als Buddha bekannt wurde.
Die Ortschaft Uruvela ist noch immer so, wie sie zu den Zeiten des Buddha war. Es gibt keine großen Gebäude, keine Supermärkte, keine breiten Straßen. Es ist sehr angenehm dort. Auch die Kinder haben sich nicht verändert. Als Siddhartha hier lebte, freundete er sich mit einigen Kindern aus dem Dorf an; sie brachten ihm Essen und kleine, einfache Geschenke.
Ein Fluss fließt ganz nahe am Dorf vorbei. Dort hat Siddhartha meist gebadet. Gras, das Kusha-Gras genannt wird, wächst immer noch an den Flussufern. Es ist dasselbe Gras, das der Buddha von einem der Kinder bekam, um sich daraus ein Kissen zum Sitzen machen zu können. Ich ging bei meinem Besuch dort an diesem Fluss entlang und schnitt etwas von dem Kusha-Gras ab und nahm es mit nach Hause.
Auf der anderen Flussseite ist ein Wald. In diesem Wald saß Siddharta unter einem Baum, genannt Bodhibaum, in Meditation. Unter diesem Baum wurde er zum Buddha.
Ein Buddha ist jemand, der wach ist, der erwacht ist – eine Person, die sich all dessen bewusst ist, was in ihr und um sie herum geschieht, und die tief versteht und liebt. Siddhartha wurde ein vollkommen erwachtes Wesen, ein Buddha. Diesen Buddha haben wir als unseren Lehrer angenommen. Er hat gesagt, dass wir alle Samen des Erwachens in uns tragen und wir alle werdende Buddhas sind.
Ein Schüler von mir hatte als Kind sehr mit der Frage »Wer ist der Buddha?« gerungen. Sein Name war Hu, und dies ist seine Geschichte.
Als Hu sechs oder sieben Jahre alt war, fragte er seinen Vater und seine Mutter, ob er Mönch werden dürfe. Er liebte es, in den buddhistischen Tempel zu gehen. Mit seinen Eltern ging er meist an Neumond-und Vollmondtagen dorthin, um dem Buddha Blumen, Bananen, Mangos und andere exotische Früchte darzubringen.
Hu fühlte sich im Tempel stets freundlich behandelt. Die Menschen, die den Tempel aufsuchten, schienen entspannter und freundlicher zu sein als die Menschen anderswo. Hu merkte auch, dass der leitende Mönch ihn mochte. Jedes Mal bekam Hu eine Banane oder eine Mango. Darum ging Hu so gern in den Tempel.
Eines Tages sagte er: »Mama, ich möchte Mönch werden und im Tempel leben.« Ich glaube, er wollte Mönch werden, weil er so gern Bananen aß. Das kann man ihm nicht übelnehmen. In Vietnam gibt es Bananensorten, die wirklich sehr köstlich schmecken. Obwohl er noch so jung war, entschieden seine Eltern, ihn als Novize im Tempel leben zu lassen. Der leitende Mönch gab Hu eine kleine braune Robe. In seiner hübschen neuen Robe muss er wie ein Baby-Mönch ausgesehen haben.
Hu glaubte als junger Mönch zunächst, dass der Buddha Bananen, Mangos und Mandarinen sehr mochte, denn die Menschen brachten bei jedem Tempelbesuch Bananen, Mangos, Mandarinen und andere Früchte mit und legten sie vor den Buddha. Für Hu konnte das nur Eines bedeuten: Der Buddha mochte diese Früchte sehr.
Eines Abends wartete er im Tempel, bis alle Besucher gegangen waren. Ganz still stand er neben dem Eingang zur Buddha-Halle. Er versicherte sich, dass niemand in seiner Nähe war. Dann schlich er hinein. Die Buddha-Statue war so groß wie ein Mensch. Für Hu war diese Statue der Buddha.
Hu stellte sich vor, dass der Buddha, der den ganzen Tag lang ganz still dasaß, sich, wenn die Halle leer war, eine Banane nehmen würde. Er wartete und wartete in der Hoffnung, beobachten zu können, wie der Buddha sich eine Banane von dem Stapel vor ihm nehmen würde. Lange Zeit wartete er, doch er sah den Buddha nicht nach einer Banane greifen. Er war verblüfft und konnte nicht verstehen, warum der Buddha keine der Bananen aß, die die Leute ihm brachten.
Hu wagte nicht, den leitenden Mönch zu fragen, denn er fürchtete, dieser würde ihn für dumm halten. Tatsächlich geht es uns auch oft so. Wir trauen uns nicht, Fragen zu stellen, aus Angst, dass man uns als dumm bezeichnet. So ging es auch Hu. Und weil er sich nicht zu fragen traute, war er verwirrt. Ich glaube, ich hätte jemanden gefragt. Doch Hu tat es nicht.
Als er älter wurde, erkannte er eines Tages, dass die Buddha-Statue nicht der Buddha ist. Welch wichtige Erkenntnis!
Diese Erkenntnis machte ihn glücklich. Doch sie führte zu einer neuen Frage: »Wenn der Buddha nicht hier ist, wo ist er dann? Wenn der Buddha nicht im Tempel ist, wo ist er?« Jeden Tag sah er, wie sich die Leute im Tempel vor der Statue des Buddha verbeugten. Doch wo war der Buddha?
In Vietnam glauben Menschen, die dem Reinen-Land-Buddhismus folgen, dass der Buddha im Reinen Land im Westen lebt. Eines Tages hörte Hu, wie jemand sagte, das Reine Land sei die Heimat der Buddhas. Das ließ ihn glauben, der Buddha sei im Reinen Land, und diese Vorstellung machte ihn sehr unglücklich. Warum, so überlegte er, hatte sich der Buddha entschieden, so weit von den Menschen entfernt zu leben? Aus dem Gehörten hatte sich für ihn eine neue Frage ergeben.
Ich traf Hu, als er vierzehn war, und er dachte immer noch darüber nach. Ich habe ihm erklärt, dass der Buddha nicht weit von uns entfernt ist. Ich sagte ihm, dass der Buddha in jedem von uns ist. Ein Buddha sein bedeutet, in jedem Moment zu wissen, was in uns und außerhalb von uns geschieht. Buddha ist Liebe und Verstehen und beides tragen wir in unserem Herzen. Das zu hören machte Hu sehr glücklich.
Als Erwachsener wurde Hu Direktor der Schule für Sozialarbeit in Vietnam. Er bildete junge Nonnen und Mönche, junge Männer und Frauen darin aus, die Dörfer wieder aufzubauen, die während des Vietnamkrieges bombardiert worden waren.
Überall, wo du Liebe und Verstehen am Werk siehst, da ist der Buddha. Jeder kann ein Buddha sein. Stell dir nicht vor, der Buddha sei eine Statue oder jemand mit einem kunstvollen Heiligenschein um den Kopf oder jemand, der eine Mönchsrobe trägt. Ein Buddha ist eine Person, der bewusst ist, was in ihr und um sie herum geschieht, und die großes Verständnis und viel Mitgefühl hat. Ob ein Buddha nun ein Mann oder eine Frau, jung oder nicht so jung ist: Ein Buddha ist immer sehr angenehm und sehr frisch.
Nach meiner Erfahrung sind Buddhas und Bodhisattvas hier bei uns, in unserer Mitte. Ein Bodhisattva (man spricht das Wort Bo-di-sat-wa aus) ist ein mitfühlender Mensch, jemand, der sich sehr darum kümmert, anderen Wesen zu helfen – jemand, der gelobt, ein Buddha zu werden.
Bodhisattvas werden als Statuen oder auf Bildern manchmal als Wesen mit vielen Armen gezeigt. Sie werden so dargestellt, weil Bodhisattvas tausend Dinge zur gleichen Zeit tun können. Die Arme eines Bodhisattvas können auch sehr, sehr lang sein, sehr weit reichen und Menschen in weit entfernten Ländern helfen. Mit nur zwei Armen können wir nur ein oder zwei Dinge auf einmal erledigen. Doch als Bodhisattva hast du viele Arme und kannst viele Dinge zur gleichen Zeit tun. Die meiste Zeit sehen wir nicht alle Arme eines Bodhisattva. Man muss sehr aufmerksam sein, um die vielen Arme eines Bodhisattva sehen zu können.
Vielleicht kennst du bereits einen Bodhisattva. Das ist durchaus möglich! Deine Mutter zum Beispiel könnte eine Bodhisattva sein. Sie tut viele Dinge zur gleichen Zeit. Sie braucht einen Arm zum Kochen, nicht wahr? Und zur selben Zeit passt sie auf dich und deine Brüder und Schwestern auf – sie braucht also einen zweiten Arm. Und gleichzeitig muss sie Besorgungen machen, einkaufen. Sie braucht also einen dritten Arm. Und die vielen anderen Dinge, die sie noch tut, erfordern weitere Arme – sie hat vielleicht einen Beruf oder arbeitet ehrenamtlich an deiner Schule. Deine Mutter könnte also eine Bodhisattva sein. Das Gleiche gilt für deinen Vater. Schau dir deine Mutter und deinen Vater genau an, und du wirst sehen, dass sie mehr als zwei Arme haben.
Glaube nicht, Buddhas und Bodhisattvas seien Wesen, die im Himmel existieren. Sie sind hier bei uns. Auch du kannst ein oder eine Bodhisattva sein, wenn du an andere denkst und Dinge tust, die sie glücklich machen.
Bist du wach, bist du ganz da im gegenwärtigen Moment, im Hier und Jetzt, bist auch du ein Buddha. Der einzige Unterschied zwischen dir und dem Buddha ist, dass er ein Vollzeit-Buddha ist und du nur ein Teilzeit-Buddha bist. Du solltest also so leben, dass der Baby-Buddha in dir die Chance hat, zu wachsen. Dann wird der Baby-Buddha Licht in alle Zellen deines Körpers senden, und du wirst beginnen, dieses Licht deinerseits auszustrahlen.