Als Ravensburger E-Book erschienen 2016
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH
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Lektorat: Iris Praël
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ISBN 978-3-473-47728-9
www.ravensburger.de
Teufelswetter
Von Blitz, Hagel und Sturm erlöse uns, Herr Jesus Christus. Erweise uns Deine Huld, oh Herr, und schenke uns Dein Heil. Herr, erhöre mein Gebet und mein Flehen um Hilfe.
WETTERGEBET DER KATHOLISCHEN KIRCHE
Schon den ganzen Tag über drückte sich das Gesinde besorgt an den Fenstern herum. Madda beobachtete, wie die Köchin sich beim Blick in den graugelben Gewitterhimmel jetzt schon zum zehnten Mal bekreuzigte, wieder zum Herdfeuer zurückschlich und zur Sicherheit auch noch in die Glut spuckte, bevor sie ihr Bittgebet vor sich hin murmelte. Aber nicht nur die alte Gret betete darum, dass die Stadt vor einem neuen Sturm verschont bleiben solle. Schon seit Wochen spielte das Herbstwetter verrückt. In den vergangenen Tagen hatte Nebel über Ravensburg gelegen, so dicht, dass man kaum seine Füße sah. Und noch weniger konnte man erkennen, wer einem in den Straßen und Gassen entgegenkam.
An manchen dieser Nebeltage hatte Madda sich mit einem Frösteln vorgestellt, dass die Geister Verstorbener die Stadt heimsuchten: verlorene Seelen, die eine Zeit lang das Fegefeuer verlassen durften, um die Lebenden zu ermahnen, nicht zu sündigen. Zwar war der seltsame Nebel über Nacht verschwunden, doch was sich nun über den Türmen Ravensburgs zusammenballte, war kaum weniger schlimm: Fratzen schälten sich aus den Wolken, die Sonnenscheibe zeichnete sich hinter der dunkelgrauen Wand nur noch als verschwommener Fleck ab.
Selbst mitten am Tag war es im Heim der Kaufmannsfamilie Humpis düster. Auch die Küche schien dunkler als sonst und das Haus ungewöhnlich ruhig. Der alte Hausherr, Onofrius Humpis, war ins Handelskontor gegangen. Seine Frau Barbara dagegen hatte sich seit dem Besuch des Arztes zurückgezogen und betete. Viel Ruhe schien sie dabei allerdings nicht zu finden. Die gespenstische Stille vor dem Sturm ließ jedes Geräusch im Haus, jedes Knarren der Dielen überlaut wirken. Vorhin, als Madda im herrschaftlichen Teil des Hauses Holz nachgelegt hatte, hatte sie die strenge Hausherrin rastlos hin und her wandern hören. Dabei sollte sie sich doch ausruhen und wieder zu Kräften kommen, dachte Madda bei sich.
„Sogar das Feuer duckt sich!“ Gret nahm den metallenen Haken, mit dem sie gewöhnlich den Suppenkessel über dem Feuer zu sich heranzog, und stocherte missmutig in der Glut herum. Im Lichtschein wirkten die Falten in ihrem Gesicht doppelt so tief. „Und du willst wirklich in die Unterstadt, Madda? Also mich würden bei diesem Teufelswetter heute keine zehn Pferde vor die Tür bringen.“
„Sprich nicht so, das hört die Herrin nicht gern“, gab Madda zurück. „Es wird schon genug getratscht in der Stadt.“
„Ist es ein Wunder?“, knurrte Gret. „Diese dauernden Unwetter und der Nebel, kein richtiger Sommer, halb verfaulte Ernten – wer soll denn noch glauben, dass das alles mit rechten Dingen zugeht? Wir haben ja noch Glück. Wir sitzen hier bei den Herrschaften wie die Maden im Speck, aber draußen verhungern die Bauern. Und schlimm trifft es auch die Tagelöhner, die keine Arbeit mehr bekommen, weil es nichts zu ernten gibt. Sieh dir den Himmel an! Wenn du Pech hast, bricht wieder so ein fürchterlicher Sturm los und erwischt dich mitten auf dem Weg.“
„Ich glaube, das Wetter zieht vorbei. Und wenn nicht, muss ich schneller sein als Blitz und Regen. Ich muss unbedingt zu meinen Leuten.“
Und ich verzichte ganz bestimmt nicht auf meinen freien Nachmittag, fügte sie in Gedanken hinzu. Diese Stunden waren ein unverhofftes Geschenk. Um nichts in der Welt würde sie es sich nehmen lassen, ihre Schwestern und ihren Vater zu besuchen. Sie durfte nicht länger warten. Ob es schon zu spät ist? Sofort flatterte wieder die Angst in ihr hoch. Plötzlich konnte sie ihr Haar, das sich aus dem Zopf gelöst hatte, nicht schnell genug zusammenbinden.
„Glaubst du etwa, dass du dem Blitz entkommen kannst? Für wen hältst du dich?“, wetterte Gret. „Hüte deine hochmütige Zunge. Sonst erschlägt dich noch der Hagel mitten auf der Straße wie den lahmen Hans. Weißt du nicht mehr, wie der arme Kerl aussah, als sie ihn mit dem Schinderkarren aufgesammelt hatten? Die Nase hat ihm das Unwetter zerschmettert und jeden Zahn, den er noch im Mund hatte.“
„Der Sturm hat einen Ast von der Linde gerissen. Der hat ihn erschlagen, nicht der Hagel, Gret. Und die Nase hat ihm der Kerl aus dem Wirtshaus gebrochen, weil Hans ihn um Geld geprellt hat. Wäre der alte Betrüger nicht so betrunken gewesen, wäre er nach der Schlägerei auch nicht schnarchend auf der Gasse liegen geblieben. Dann hätte er sich vor dem Hagel ins Spital retten können.“
Gret war alt, aber immer noch flink. Als sie herumfuhr und mit dem Holzlöffel nach Madda schnippte, konnte diese gerade noch ausweichen. „Ich sag’s dir, irgendwann wird dir jemand für dein freches Maul Saures geben, Magdalene“, schimpfte die Köchin.
Madda brachte sich lachend neben dem Regal mit den Gewürztiegeln in Sicherheit. „Ich sage doch nur die Wahrheit. Jeder weiß, dass Hans an diesem Tag alles, was er erbettelt hatte, zu Schnaps gemacht hat. Und als er kein Geld mehr hatte, wollte er die Leute im Wirtshaus mit seinen gezinkten Karten übers Ohr hauen. Dabei ist er halt an die Falschen geraten.“
„Was man weiß und was man sagt, sind aber zwei unterschiedliche Dinge“, grummelte Gret und wandte sich wieder dem Feuer zu. „Und über die Toten sagt man nichts Schlechtes.“ Sie seufzte tief und rührte die Fischsuppe um, die im Kupferkessel vor sich hin simmerte. „Schau dir das an! Was für eine Verschwendung. Die jungen Hausleute haben so viel Appetit wie Spatzen. Beno isst fast nur Brot und Elisabeth scheint vergessen zu haben, dass ein Mädchen auf Bräutigamsuche kein dürrer Stecken sein darf.“ Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Die Herrin Barbara soll laut dem Herrn Medicus keinen Fisch mehr essen und ihr Gemahl schließt sich diesem unsinnigen Fastengebot gleich an. Aber wer sagt es der Köchin, bevor sie den Kessel aufsetzt? Niemand!“
„Du weißt doch, was gestern und heute im Haus los war.“
Gret machte ein bekümmertes Gesicht und schlug wieder ein Kreuz. „Das brauchst du mir nicht zu sagen. Gott erbarme sich der armen Seele.“
Auch Madda wurde es schwer ums Herz, wenn sie an ihre arme Hausherrin dachte, die seit zwei Tagen blass und mit versteinertem Gesicht wie ein Geist durchs Haus schlich. Seltsam, dass gerade das schreckliche Unglück Madda einen freien Nachmittag beschert hatte. Deshalb hatte sie sich vorgenommen, für die Herrin zu beten. Aber erst muss ich nach Hause, dachte sie und holte den kleinen Weidenkorb.
„Ich sage dir eins“, fuhr Gret betont barsch fort. „Dieser ach so studierte Medicus mag ja Ahnung davon haben, wie man Armbeugen für den Aderlass aufsticht, aber aus meiner Küche soll er sich raushalten. Was ist das für ein Unsinn, der Frau Barbara sogar Räucheraal zu verbieten? Jeder Idiot weiß doch, dass Aalfett Fieber und Schwäche aus dem Körper zieht. Ich habe es ihr gesagt, aber sie zuckte nur mit den Schultern und sagte, sie schenke mir den Aal. Solle er mir Gesundheit geben. ‚Wird Euch nur nichts nützen, Herrin‘, hab ich geantwortet. ‚Ihr müsst gesund werden, nicht ich. Bei der alten Gret zwackt nur das Knie – und manchmal das Gewissen.‘ Da hat sie wenigstens gelächelt. Doch dann hat sie sich gleich wieder zu ihrem Gebetbuch zurückgeschleppt, statt sich ins Bett zu legen. Aber auch die Mutter eines toten Kindes ist eine Wöchnerin, sag ich da nur. Doch auf mich hört ja keiner.“
Sie rührte die Suppe so heftig, dass Brühe über den Rand schwappte und fettige Tropfen auf dem heißen Kupfer zischten. Es duftete verführerisch nach Kerbel und Lorbeer.
„Mach dir keine Sorgen um das Essen“, sagte Madda tröstend. „In diesem Haus ist noch nie etwas verkommen. Vielleicht bringt Herr Onofrius ja Geschäftspartner zum Abendessen mit. Oder der Handelszug aus Italien kommt heute an. Dann wird ein Kessel Suppe allerdings kaum reichen.“
Sie legte sich das Wolltuch um die Schultern und packte sorgfältig ihre Äpfel in den Korb. Sie freute sich schon darauf, sie ihren Geschwistern zu geben. In Zeiten wie diesen waren Äpfel für jemanden wie sie eine Kostbarkeit, selbst wenn die Früchte schon seit Wochen im Keller lagerten und runzlig geworden waren. Seit dem verheerendsten Hagelsturm seit Menschengedenken gab es nur noch wenig zu ernten, der Sturm hatte das Schussental auf Jahre hin verwüstet. Obstbäume und Weinstöcke waren von faustgroßen Hagelkörnern entlaubt worden. Seitdem wuchs kaum noch ein Apfel am Baum und keine Rebe am Stock. Und ja, natürlich fürchtete auch Madda ein neues Unwetter. Aber sie musste nur an ein kleines, blasses Gesicht denken und eine viel stärkere Angst flammte in ihr auf. Was, wenn ich zu spät komme?
„Ich bin vor Sonnenuntergang wieder da“, sagte sie und wollte schon gehen, aber Gret rief sie barsch zurück.
„Warte gefälligst!“ Sie legte den Kochlöffel beiseite und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Dann ging sie ächzend und behäbig zu dem Eichentisch, auf dem noch das Messer lag, mit dem sie den frischen Fisch zerteilt hatte. Fischschuppen glänzten wie Silberstücke am Messergriff. Gret zog ein Tuch von einer Holzschüssel. Das Aroma von Räucherfisch ließ Madda das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ein vertrocknetes, schwarzes Fischgesicht starrte sie an. Das Maul des Aals war weit aufgerissen, als würde er sich gegen die Menschenhände wehren, die ihn jetzt in das Tuch wickelten.
„Da, nimm du ihn“, sagte Gret und steckte den kleinen Aal kurzerhand zu den Äpfeln in Maddas Korb.
„Du schenkst mir den ganzen Fisch?“, rief Madda fassungslos.
„Nicht dir, du Gierschlund. Der ist für eure Kranke. Damit sie bald wieder auf den Beinen ist.“
Jetzt musste Madda schwer schlucken. Nicht nur, weil das Geschenk der Köchin so großzügig war. Sondern vor allem, weil die Alte über Marie so sprach, als könnte sie tatsächlich wieder gesund werden.
„Danke, Gret!“, sagte Madda aus vollem Herzen. „Du bist wirklich eine gute Seele!“ Die Köchin winkte unwillig ab. „Ja, ja“, knurrte sie in ihrer barschen Art. „Verschwinde schon, bevor die Herrin es sich anders überlegt und dich zum Arbeiten zurückruft. Verdient hättest du es ja, du Wechselbalg. Und lass dich unterwegs nicht von den Burschen ansprechen!“
Die Marktstraße wirkte heute wie ausgestorben. Die wenigen Menschen, die unterwegs waren, hatten es eilig. Offenbar traute niemand diesem Himmel. In der Ferne quietschte ein Wirtshausschild, das zu lose aufgehängt war, an seinen Ketten. Der Wind spielte sogar mit dem Armesünderglöckchen, das in dem kleinen Erker am Stadtturm hing, der Wachturm und oberes Stadttor zugleich war. Dieses leise, unregelmäßige Klingeln war besonders unheimlich. Normalerweise schlug die helle Glocke am Obertor nur, wenn ein Verurteilter zu seiner Hinrichtung geführt wurde. Madda schaute besorgt in den Oktoberhimmel. Wolken jagten über den Dächern dahin.
Sie rannte bergab über das bucklige Pflaster. In diesem Teil der feinen Oberstadt, wo die Patrizier und reichen Bürger lebten, türmte sich der Unrat nicht bis unter die Fenster. Regen wusch den Dreck regelmäßig stadtabwärts und viele der Katzenkopfsteine waren von den Sohlen teurer Schuhe blank gescheuert – und an einigen Stellen rutschig. In der Nähe des Wirtshauses wäre Madda fast auf ein paar verfaulten Kohlblättern ausgerutscht, die wohl noch vom Markt dort lagen. Im letzten Moment fing sie sich – und schnappte nach Luft, als ihr wie aus dem Nichts ein scharfer Windstoß ins Gesicht fegte. Er war erstaunlich kalt und riss ihr das Tuch von einer Schulter. Sie drückte sich in den Schutz eines Türstocks und wartete mit klopfendem Herzen auf Blitz und Donner. Aber sie hörte nur das Echo von Hufschlag und das Quieken eines mageren Schweins, das ein Mann mit dem Stock die Straße entlangtrieb. Keine Spur von Regen. Und Wind allein macht noch keinen Sturm. Dennoch war Madda mulmig zumute. Zurückgehen? Nein, sie war schon beim Rathaus, und von dort war es nur noch ein Katzensprung bis zur Unterstadt.
Ein Rumpeln und Klappern näherte sich. Gerade bog ein älterer Mönch aus einer Seitengasse in die Straße ein. Am Strick führte er einen angeschirrten Esel. Sein Karren polterte über das Kopfsteinpflaster und die Reisetruhe darauf ruckelte hin und her. Der hagere Mönch gehörte dem Dominikanerorden an, das zeigte seine weiße Kutte, die im Wind unter dem offenen schwarzen Reisemantel hervorblitzte. Offenbar hatte der Mann einen langen Weg hinter sich, der Saum seiner Kleidung war von Schlamm verschmutzt, und er stützte sich auf einen Wanderstock. Sein Anblick ließ den Sturm für Madda in weite Ferne rücken. Der Alte hob seine Augen nämlich nicht ängstlich zum Himmel, und er trieb auch den Esel nicht zur Eile an, sondern schritt in aller Ruhe bergauf in Richtung Obertor. Als er Madda entdeckte und sie ihm ein höfliches „Gott zum Gruß“ zurief, nickte er bedächtig und ging weiter, als gäbe es keinen Sturm zu fürchten. Das war beruhigend.
Madda sprang auf die Straße und rannte gegen die nächste Bö an, die aus einer Seitenstraße heranfegte. Ein Schatten ließ sie zurückzucken, etwas Riesiges, Dunkles sprang sie an. Dann wurde sie von einem Schlag gegen die Schulter zur Seite geschleudert. Drahtiges Haar streifte ihren Mund, der Geruch von Pferdeschweiß fing sich stechend in ihrer Nase. Noch im Sturz nahm sie wahr, wie der Korb ihr vom Arm rutschte. Äpfel tanzten davon – und im letzten Moment wich sie einem Huf aus, der um ein Haar ihre Hand am Boden festgenagelt hätte. „He!“, brüllte sie. „Pass doch auf!“ Mit einem Satz war sie auf den Beinen und brachte sich in Sicherheit. Der Reiter, dem sie in den Weg gelaufen war, hatte alle Hände voll damit zu tun, sein Pferd zu bändigen. Es scheute vor Madda und warf den Kopf hoch, als wollte es auf die Hinterbeine steigen. Doch schließlich kam es zum Stehen, zitternd wie von einem langen Lauf, mit dampfendem, schweißbedecktem Fell. Es war ein Rotfuchs von einer Rasse, die Madda noch nie gesehen hatte: riesengroß, mit einem gebogenen Schwanenhals, einem zierlichen Kopf und dichtem Behang an Kinn und Fesseln. Und der Reiter war eindeutig ein junger Patrizier. Schon sein langer Mantel deutete darauf hin. Es war eine Schaube, deren breiter Pelzkragen dem Mann bis über die Schultern fiel. Eine teure Silberspange hielt den Mantel zusammen. Außerdem trug der Fremde fein gearbeitete Handschuhe aus gelb gefärbtem Leder.
„Madonna mia!“, rief er und lachte. „Che brutto tempo, ha?“
Madda zitterte immer noch vor Schreck. Sie verstand zwar kein Wort, aber sie erkannte die Sprache der italienischen Geschäftspartner, die im Sommer im Haus Humpis zu Gast gewesen waren. Ich habe sein Pferd aufgescheucht und ihn auch noch angeschrien. Und als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre, war das Schwein seinem Treiber ausgebüxt und machte sich mit einem gierigen Grunzen über die verirrten Äpfel her. Natürlich konnte sie jetzt unmöglich losrennen und die Äpfel retten – zumal ihr das Pferd den Weg versperrte.
„Verzeiht, Herr, ich wollte Euer Pferd nicht erschrecken“, brachte sie hervor und machte einen hastigen, zittrigen Knicks. Dabei hob sie verstohlen den Aal auf, der ebenfalls auf die Straße gefallen war.
Der Mann sprang vom Pferd. Bisher hatte sie sein Gesicht nur als Schattenriss gegen den gleißenden Himmel wahrgenommen. Jetzt war Madda überrascht, wie jung er war – vielleicht zwei oder drei Jahre älter als sie, höchstens zwanzig. Ein junger Patrizier mit blonden Locken, die unter einer gelben Kappe hervorquollen und ihm bis über die Schultern fielen. Er sah auffallend gut aus, hatte dichte, geschwungene Brauen und einen Mund, den ihre Schwestern sicher als Engelsmund bezeichnet hätten.
Sein Pferd zog am Zügel, aber diesmal brachte er es mit einem entschiedenen Ruck zur Ruhe. Er musterte sie unverschämt direkt. Sein Blick verharrte entschieden zu lange auf der Höhe ihres Busens. Sie wollte sich besser bedecken, doch erst jetzt bemerkte sie, dass der Knoten aufgegangen und ihr das Tuch von den Schultern gerutscht war. Das zu hastig gebundene Haar hatte sich gelöst, die langen dunkelbraunen Strähnen flatterten im Wind und entblößten ihren Hals. Und prompt grinste der feine Herr und hob vielsagend eine Augenbraue. Madda schoss vor Ärger und Scham das Blut in die Wangen.
Hastig hangelte sie nach dem Tuch, von dem ein Ende bereits im Straßendreck hing, und raffte eilig mit einer Hand ihre Haare zu einem Nackenknoten, den sie unter das Tuch stopfte. Aber nun wirbelte der Wind ihren Rock hoch und entblößte die Beine bis zu den Knien.
„Schau an, eine Windsbraut!“ Jemand pfiff, Lachen ertönte hinter ihr. Madda blickte über die Schulter. Offenbar waren nicht nur zwei junge Männer, die gerade aus dem Gasthaus gekommen waren, stehen geblieben. In den Nachbarhäusern hatten sich auch die Fenster geöffnet. Gaffer steckten die Köpfe heraus. So ein Schauspiel ließ sich natürlich keiner entgehen: ein ausländischer Edelmann, ein scheuendes Pferd, ein Schwein, das Äpfeln nachjagte – und ein Mädchen, das versuchte, Tuch und Rock im Wind zu bändigen. Zu allem Überfluss war auch der Mönch auf der anderen Straßenseite stehen geblieben und beobachtete mit strenger Miene das Geschehen.
„Hört ihr wohl auf, anständigen Mädchen unter den Rock zu glotzen!“ Liese, die Frau des Apothekers, steckte ihren Kopf noch weiter aus dem Fenster im ersten Stock und fuchtelte mit einem Besenstiel nach den beiden feixenden Wirthausbrüdern, die direkt hinter Madda standen. „Helft ihr lieber, die Äpfel aufzusammeln, ihr Maulaffen!“
„Das macht schon ein anderer“, erwiderte einer der Kerle und deutete grinsend auf das Schwein, das gerade mit wippenden Ohren zum nächsten Apfel trabte.
„Halt dein Schwein von meinen Äpfeln weg!“, fuhr Madda den Treiber an.
Aber der spuckte nur aus. „Dann schmeiß sie meiner Sau nicht vors Maul.“
„Dein diebisches Vieh soll sich den Magen daran verrenken“, stieß Madda verärgert hervor. Der Mann schnaubte, aber er machte nun wenigstens einen halbherzigen Versuch, sein Tier wieder einzufangen.
„Ja, leg dich nicht mit einer wilden Stute an, wenn du keine Sporen trägst, Tölpel!“, rief einer der zwei Kerle hämisch dem Treiber zu. Sein Kamerad lachte, als wäre er betrunken. Liese schimpfte los, dass sie sich trollen sollten, der Treiber ließ den Spruch des Großmauls auch nicht auf sich sitzen, brüllte und fuchtelte mit seinem Stock. Nur der Ausländer kümmerte sich keinen Deut um den Tumult, er musterte Madda von Kopf bis Fuß.
„Sei una Eva, hm?“, sagte er.
„Ich … verstehe nicht, Herr.“
Die Augen der Schaulustigen wurden noch größer, als der Italiener sich bückte, als wollte er tatsächlich Maddas Korb aufheben, der neben dem Vorderhuf seines Pferdes lag. Aber er nahm nur den einzigen Apfel, der noch im Korb lag, heraus, und richtete sich wieder auf. Madda musste zähneknirschend mit ansehen, wie er genüsslich ein Stück von der Frucht abbiss.
„Ich sagte: Du bist eine Eva“, wiederholte nun der Fremde. Er betonte die Wörter seltsam falsch, aber immerhin hatte er das Deutsche so gut gelernt, dass man ihn verstand. Mit dem angebissenen Apfel deutete er auf den Aal, den sie in ihrer Armbeuge barg. Das Einschlagtuch war verrutscht, der Kopf des Fisches ragte hervor, und das weit aufgesperrte Maul schien den Italiener anzufauchen. „Das ist die Schlange“, erklärte der Fremde. „Und in meiner Hand halte ich la mela di Eva – den Apfel der Eva. Aber wenn sie so schön war wie du, dann lasse ich mich heute gerne wie Adam in Versuchung führen.“
Madda biss die Zähne zusammen. Kannte er keinen Anstand? Wenn er irgendein dahergelaufener Kerl gewesen wäre, dann hätte sie ihm jetzt mit aller Schärfe die Meinung gesagt. Aber einen Patrizier zurechtweisen? Dennoch konnte sie sich eine Antwort nicht ganz verkneifen. „Dieser Apfel stammt nicht aus dem Paradiesgarten“, erwiderte sie höflich, aber bestimmt. „Sondern aus dem Obstgarten eines Bauern am See. Und diese Schlange hat Fischgräten und hätte Adam und Eva wohl höchstens dazu verführen können, die Brunnenkresse zu kosten, edler Herr.“
Der Fremde hob überrascht die Augenbrauen. Er musste wohl erst einmal Maddas Ravensburgerisch für sich übersetzen – dann lachte er. Aber seine Augen wurden schmal und er musterte sie noch eindringlicher als zuvor. Vielleicht lag es an dem kühlen Wind, aber Madda fröstelte vor Unbehagen. Die Augen dieses Fremden waren hellbraun, fast golden. Doch in dem schwefelfarbenen Wolkenlicht wirkten sie gelb.
In aller Ruhe nahm er noch einen Bissen von dem Apfel – und schob dann den Rest seinem Pferd ins Maul. Maddas Hand krampfte sich noch fester um ihr Tuch. Meine guten Äpfel!
Der Ausländer blickte zu Liese hoch. „Wo lebt Onofrius Humpis?“
Arme schwenkten aus den Fenstern, alle Zeigefinger deuteten bergauf in Richtung Obertor. Jetzt fand sich für Madda endgültig alles zu einem Bild. Er ist ein Gast von Herrn Onofrius! Der Handelszug aus Genua ist also angekommen. Dieser Mann gehörte dazu, sicher war er einer der italienischen Geschäftspartner ihres Dienstherrn. Aber warum ist er ohne Eskorte unterwegs?
„Folgt einfach der Jungfer Madda, Herr“, rief Liese. „Sie bringt Euch hin. Sie gehört dort zum Gesinde.“
Der Gast dankte mit einem Nicken und wollte wieder aufsitzen. Doch sein Pferd begann zu tänzeln und zur Seite auszuweichen. Madda rettete ihren Weidenkorb, bevor er zertrampelt werden konnte. Dann brachte sie sich ein paar Schritte weiter in Sicherheit.
Offenbar war die Vorstellung damit vorbei. Fenster klappten zu, der Schweinetreiber machte seinem Tier mit Stockhieben und Zungenschnalzen Beine. Nur der Dominikanermönch auf der anderen Straßenseite rührte sich nicht. Für den Italiener hatte er keine Augen, nur für Madda. Sie zuckte zusammen, so streng und finster war die Miene des Mönchs. Er hatte graue, ungewöhnlich buschige Augenbrauen und eine tiefe Zornesfalte auf der Stirn. Sein Mund war zusammengekniffen, eine Grimasse des Misstrauens. Was habe ich getan?, dachte Madda verwundert. Sie blickte an sich herab und konnte nichts Ungehöriges entdecken.
„Worauf wartest du denn, Mädchen?“, rief Liese. „Mach, dass du nach Hause kommst!“
Madda schluckte. Genau da wollte ich ja hin. Nach Hause. Aber es half nichts. Der Italiener hangelte schon mit einem Fuß nach dem Steigbügel. Die freien Stunden waren verwirkt. Und ausländische Gäste mit ihren fremden Gewohnheiten und Sonderwünschen bedeuteten stets besonders viel Arbeit.
Madda versuchte die Tränen zu unterdrücken. Das fehlte noch, dass dieser eingebildete Herr sie heulen sah! Sie bettete den Aal in den Korb und rettete rasch noch ein paar Äpfel. Viele waren es nicht, die Schaulustigen hatten wohl auch einige Früchte eingesteckt. Eine Frucht war auf der anderen Straßenseite zum Liegen gekommen – genau vor dem Eselskarren. Der Esel hatte den Leckerbissen natürlich entdeckt und machte schon einen langen Hals. Aber Madda zögerte, zu dem Mönch hinüberzugehen, so feindselig starrte er sie an. Dann fiel sein Blick auf den Apfel. Er hätte ihn aufheben können, aber Madda sah voller Bestürzung, wie er den Esel grob am Strick zurückriss und der Frucht mit angewiderter Miene einen Stoß mit dem Wanderstock versetzte: als wollte er den Apfel um keinen Preis berühren. Dann versetzte er dem Esel einen rüden Hieb, das Tier machte einen Satz und der Karren rumpelte bergauf. Madda hechtete sofort zu dem rollenden Apfel, bevor sie zu dem Edelmann zurückeilte. Der schien es jedoch keineswegs eilig zu haben.
„Madda heißt du also“, bemerkte er von seinem Ross herab.
„Magdalene, edler Herr“, antwortete sie. „So lautet mein Taufname. Magdalene Weißhaar.“
„Bene“, sagte er freundlich, aber mit der lässigen Überheblichkeit eines Patriziers, der das Befehlen gewohnt war. „Ist es noch weit zum Haus?“
„Nein. Nur ein Stück die Straße hoch.“
Der Dominikaner war ihnen mit dem Eselskarren schon ein ganzes Stück voraus. Als er das Hufgeklapper des Rotfuchses hinter sich hörte, zog er die knochigen Schultern fast bis zu den Ohren hoch und trieb den Esel noch mehr an, als wollte er so schnell wie möglich einen Abstand zwischen sich und Madda bringen.
*
Zumindest Gret wird sich über hungrige Gäste freuen, dachte Madda niedergeschlagen. Immer noch musste sie Tränen der Enttäuschung herunterwürgen. Aber sobald sie an Marie dachte, war es mit der Beherrschung vorbei. „Das ist das Haus“, murmelte sie und wischte sich verstohlen über die Wangen.
„Ah, die berühmten Hunde.“ Der Italiener brachte das Pferd zum Stehen und betrachtete das Wappen über dem Blendbogen der Tür. Drei edle Hunde waren da in den Stein gehauen, schlanke Windspiele mit offenen Mäulern und langen Zungen. Auch der ringförmige Türklopfer aus Eisen wurde von einem Hundekopf gekrönt. Gret hatte Madda erzählt, dass der Herr diesen besonderen Türklopfer vor Jahrzehnten von seiner allerersten Handelsreise nach Italien mitgebracht hatte. Madda wollte gerade nach dem Ring greifen, als die Tür plötzlich mit Schwung aufgerissen wurde. Und heraus stürzte … der junge Herr Beno.
Madda sprang erschrocken zurück. Noch nie zuvor hatte sie den Enkel ihres Hausherrn ohne Buch in den Händen gesehen – und noch nie hatte sie ihn so ungestüm erlebt. Er kam abrupt zum Stehen, aber fast wären sie dennoch zusammengestoßen. Es scheint ja heute mein Los zu sein, von einem hohen Herrn nach dem anderen umgerannt zu werden, dachte sie.
Herr Beno runzelte die Stirn. „Magdalene“, sagte er verwundert. „So früh zurück?“
Er spähte über ihren Kopf hinweg straßauf, dorthin, wo der Karren des Mönchs vor sich hin rumpelte. Hat er etwa nach dem Mönch Ausschau gehalten? Es sah aus, als wollte Beno an ihr vorbei, aber das Schnauben des Pferdes ließ ihn innehalten. Er wandte sich um und entdeckte den Italiener. Der war schon aus dem Sattel gesprungen und hielt ihm nun allen Ernstes mit herrischer Geste die Zügel hin.
„Mein Pferd muss sofort versorgt werden und der Reisesack soll auf mein Zimmer“, befahl er. „Signor Onofrius erwartet mich. Meldet ihm Lucio Malaspani di Genova.“
Madda hielt den Atem an. Der Italiener verwechselte den jungen Herrn tatsächlich mit einem Diener! Beno hob nur die linke Augenbraue.
„Hab ich mich nicht klar ausgedrückt?“, sagte der Italiener verärgert.
Madda wich unwillkürlich einen kleinen Schritt zurück. Aber der junge Herr überraschte sie ein zweites Mal, indem er nun tatsächlich die Zügel nahm und mit einem Kopfnicken eine kleine Verbeugung andeutete.
„Sehr klar, Signor Malaspani“, sagte er langsam. „Euer Pferd wird – wie das eines jeden höflichen Gastes – gut versorgt. Tretet ein, der Hausherr wird Euch gleich empfangen.“
Offenbar war der Genueser taub für den spöttischen Unterton, er nickte nur knapp und schenkte Madda ein Lächeln.
„Danke, dass du mir den Weg gezeigt hast, Bellissima“, sagte er und trat, ohne Beno eines Blickes zu würdigen, über die Schwelle.
Spar dir deine schönen Worte, dachte Madda grimmig. Deine Sorte kenne ich.
Beide schauten sie dem Gast nach. Wie immer blieb Beno kühl und beherrscht. Keine Regung zeigte sich in seinem schmalen Gesicht, nur seine graublauen Augen funkelten vor Missbilligung.
Dieser Malaspani sollte sich warm anziehen, dachte Madda.
Als hätte er ihren schadenfrohen Gedanken gehört, wandte sich Herr Beno ihr zu. „Geh in die Küche, Magdalene. Sag Gret Bescheid. Sie soll sofort ein Mahl richten und dabei nicht mit dem grünen Pfeffer sparen.“
Madda nickte. „Ja, Herr.“ Ich werde Marie nicht wiedersehen. Hastig senkte sie den Kopf. Einen Moment lang hatte sie ihren Kummer vergessen, aber jetzt kehrte er umso heftiger zurück.
Beno runzelte die Stirn. „Warum weinst du denn?“
„Ich weine doch gar nicht. Es ist nur der Wind.“
„Du bist keine gute Lügnerin, Magdalene.“
Sie sah ertappt zu ihm hoch. Aber er wirkte nicht verärgert, da war nur dieser unendliche Ernst. Er musterte sie prüfend, während er dem Pferd mit freundlicher Geste die Stirnfransen glatt strich. Seine Augen waren wie Seen, ruhig und klar, aber mit Untiefen, die sicher mehr bargen, als mancher vermutete. Gret behauptete immer, der junge Herr sei wie ein Adler, er blicke stets weiter als jeder andere im Haus. „Aalfett gegen Gliederschwäche und Lähmungen?“ Er deutete auf ihren Korb.
Sie nickte zaghaft. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass er wusste, für wen das Heilmittel gedacht war. Aber dann überraschte er sie ein drittes Mal.
„Wird Marie es überstehen?“
Seine Direktheit und sein Mitgefühl berührten sie. Er weiß es? Aber von wem? Gret? Und warum kümmerte er sich um so etwas?
„Ich … hoffe es, Herr Beno. Und ich bete jeden Tag für ein Wunder. Aber niemand weiß, ob sie jemals wieder gesund wird.“
Beno blickte besorgt in den Himmel. Der Wind war etwas abgeflaut, doch die Luft schmeckte nach Regen.
„Beeil dich. Dann schaffst du es vielleicht noch, ohne nass zu werden.“
Madda blieb der Mund offen stehen. „Aber … das geht nicht, ich muss hierbleiben. Der Gast … und Frau Barbara. Und Elisabeth braucht mich doch für …“
„Mach dir keine Sorgen, ich regle das. Geh schon! Und falls es Regen oder Sturm gibt, bleibst du über Nacht bei deinen Leuten, hörst du? Eine Magd, die vom Blitz erschlagen wird oder am Husten stirbt, nützt keinem etwas. Sieh nur zu, dass du morgen zur Messe wieder da bist.“