Havanna, die Liebe und der Tod – die traumwandlerische Reise einer außergewöhnlichen Frau
Mit einem Flug ins sommerliche Kuba beginnt für Clare eine flirrende Reise in die Vergangenheit. Erst wenige Wochen zuvor hat sie ihren Mann Richard bei einem Unfall verloren. Nun besucht sie auf seinen Spuren ein Filmfestival in Havanna, als Richard plötzlich überraschend vor ihr steht. Kann sie ihren Sinnen trauen, oder will jemand sie täuschen? Clare folgt der geheimnisvollen Gestalt durch die Gassen der Stadt und gedanklich bis in die Grauzonen ihrer Ehe und Kindheit. Van den Bergs traumwandlerischer Roman spielt mit den Grenzen unserer Wahrnehmung, lässt Fantasie und Wirklichkeit auf wunderbare Weise verschmelzen. Eine poetische Geschichte über das Reisen und das Trauern, erzählt von einer originellen, starken Frauenstimme.
Laura van den Berg, 1983 geboren, ist in Florida aufgewachsen und lebt heute in der Nähe von Boston. Sie hat bisher zwei Erzählsammlungen veröffentlicht, die u. a. mit dem Rosenthal Award for Fiction ausgezeichnet wurden. Ihr Debütroman Find Me (2015) war für den renommierten International Dylan Thomas Prize nominiert. Das dritte Hotel wurde hymnisch besprochen und 2019 für den NYPL Young Lions Fiction Award nominiert.
Sabine Schwenk, 1964 geboren, studierte Romanistik und Philosophie und übersetzt zeitgenössische Literatur aus dem Englischen und dem Französischen, darunter Bücher von Céline Curiol, Elizabeth Gilbert, Anne Tyler und Jeanette Winterson.
»Es gibt Borges und Bolaño, Kafka und Cortázar, Modiano und Murakami – und jetzt Laura van den Berg. Jedes ihrer bisherigen Bücher war gut, aber Das dritte Hotel ist fantastisch – ein makelloser Roman!« The Washington Post
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LAURA VAN DEN BERG
DAS
DRITTE
HOTEL
Roman
Aus dem Englischen
von Sabine Schwenk
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Die Originalausgabe erschien 2018
unter dem Titel The Third Hotel
bei Farrar, Straus and Giroux, New York.
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hier unter Lizenz benutzt.
Copyright © der Originalausgabe Laura van den Berg 2018
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020
Penguin Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Buch wurde vermittelt durch Farrar, Straus and Giroux, New York
Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln
Umschlagabbildung und Schmuckmotiv im Innenteil:
© plainpicture/Cavan Images/Jose Azel
Umsetzung eBook: Greiner und Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-24132-2
V001
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Für Paul,
immer
Ich hob die Kamera, tat so, als prüfte ich einen Einstellungswinkel, der die beiden nicht mit einbezog, und hielt mich auf der Lauer, sicher, dass ich schließlich die enthüllende Gebärde einfangen würde, den alles resümierenden Ausdruck, das Leben, dem die Bewegung erst den Rhythmus gibt, doch das ein starres Bild, indem es die Zeit zerstückelt, vernichtet, wenn wir nicht das wesentliche, kaum wahrzunehmende Bruchstück wählen.
Julio Cortázar
Ich möchte, dass man auf meinem Grabstein als Epitaph eingraviert: »Bis bald.«
Édouard Levé
TEIL 1
DER FINGERNAGEL
Havanna, 2015
Was machte sie in Havana?
Was machte sie in Havanna?
Eine einfache Frage, auf die es dennoch keine einfache Antwort gab. Sie stellte sich vor, wie sie einem Bekannten aus ihrem früheren Leben in Upstate New York über den Weg lief. Auf der Plaza de la Catedral oder dem Paseo del Prado, wo dieser Mensch gerade Fotos schoss. Er würde von seiner Kamera aufblicken, ihren Namen rufen und winken. Sie würden etwas über Zufälle sagen, wie klein die Welt doch sei, und wenn schließlich die unvermeidliche Frage kam: Was machte sie in Havanna?, hätte sie keine Ahnung, was sie als Erklärung vorbringen sollte.
Sie könnte sagen: Ich bin nicht die, für die du mich hältst.
Sie könnte sagen: Ich erlebe gerade eine Realitätsverschiebung.
Sie war zum alljährlichen Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films nach Havanna gekommen. Sie war gekommen, um den Regisseur des ersten Horrorfilms zu treffen, der jemals in Kuba gedreht worden war. Sie war gekommen, um all das zu tun, was ihr Mann tun wollte, aber nicht mehr tun konnte. Stolz erhob sich das offizielle Festivalhotel über dem Stadtteil Vedado. Eine ovale, von Königspalmen gesäumte Zufahrt führte die Besucher zum Eingang; an der Rückseite thronte eine große Terrasse über dem Meer. Auf einem Hügel gelegen, war dieses Hotel mit seinen weithin sichtbaren Türmen ein Wahrzeichen der Stadt. Ihr eigenes Hotel befand sich an einer abschüssigen Straße in der Nähe der Universität. Sie nannte es das dritte Hotel, weil sie im Flughafentaxi die Adresse falsch angegeben hatte, im verkehrten Stadtteil abgesetzt worden war und in zwei Hotels nacheinander die Portiers beknien musste, ihr den Weg zu ihrem eigentlichen Ziel zu beschreiben.
In der Lobby des Festivalhotels erstreckte sich das Gemälde eines Waldes über eine ganze Wand. Während eines Empfangs an ihrem ersten Abend stand sie plötzlich vor diesem Wald. Sie spähte in die Dunkelheit und stellte sich vor, welche Geheimnisse er wohl barg. Sie rieb über die grünen Blätter. Die Farbe war glatt, die Baumspitzen schimmerten golden. Sie leckte an einem der Bäume und schmeckte Kreide, ein wildes Gefühl.
Wie viele Drinks?, fragte der Festivalvertreter, der sie aus der Lobby in die Nacht hinausführte, auf Spanisch, in scharfem, geringschätzigem Tonfall. Es war ein junger Mann in einem sandfarbenen, an den Schultern etwas zu weiten Blazer und einem weißen T-Shirt mit aufgedrucktem Festivallogo; ein laminiertes Namensschild schlug leise gegen seine Brust. Sie registrierte die Härchen auf seiner Oberlippe und die sanfte Rundung seiner Ohrläppchen.
Siete. Sieben.
In den Straßen war es dunkel, die Luft heiß und satt.
Und wie heißt du?, fragte er. In welchem Hotel wohnst du?
Während sie noch wie angewurzelt auf dem Bürgersteig stand, schlenderte ihr Geist bereits durch die meeresdunklen Straßen, vorbei am WLAN-Hotspot, einem Halbrund aus Beton, wo über Handys gebeugte Menschen in der Dunkelheit saßen, und dann weiter, zurück ins dritte Hotel und dort die steile Treppe hinauf. Die Rezeption unterstand Isa, einer Frau in den Zwanzigern. Beim Einchecken hatte Isa ihren Namen und ihre Passnummer mit makelloser Handschrift in ein schwarzes Buch eingetragen; die Buchstaben erinnerten an winzige Häuschen. Isa hatte ihr dringend davon abgeraten, den Aufzug zu benutzen – beim letzten Versuch eines Hotelgasts hätten sich die Türen so verklemmt, dass sie mit Fleischerhaken aufgestemmt werden mussten. Das Zimmer lag im fünften Stock, wo die Räume in einem Oval um die zum Dach führende Wendeltreppe aus Metall angeordnet waren. Am Fuß der Treppe standen Topfpflanzen, die grünen Gesichter nach oben gewandt, wie Menschen, die eine Segnung erwarten. Nach einem prüfenden Blick auf den Aufzug war sie zu dem Schluss gekommen, dass vermutlich die Türriegel erneuert werden mussten. Solche Details zu erkennen war seit Jahren ihr Job, und nun flogen ihr hier in Havanna die Urlaubstage wie Vögel aus den Händen.
Sieben, antwortete sie wieder, diesmal allerdings auf Englisch: Seven. Ihre Hände waren schweißnass. Die Zähne taten ihr weh.
Bisher hatte sie jedem, der sie nach ihrem Namen fragte, etwas anderes gesagt. Laurie. Ripley. Sidney. Sie hatte sich als Filmkritikerin einer Zeitung ausgegeben. Als Hochstaplerin herumspazieren, das konnte sie hier, denn wer sollte ihr widersprechen? Unbegleitet zu reisen hatte durchaus seinen Reiz. Nach ihrem Alter hatte noch niemand gefragt, aber wenn, dann hätte sie die Wahrheit gesagt, siebenunddreißig. Vermutlich machten es manche Frauen eher umgekehrt: richtiger Name, falsches Alter.
Ich heiße Arlo, sagte der junge Mann. Ich bin Dokumentarfilmer, und du kannst von Glück sagen, dass du gerade nicht gefilmt wirst.
Ihr richtiger Name war Clare. Sie war noch nie in Havanna gewesen, und als sie aus dem Flugzeug stieg und das Rollfeld betrat – es war der zweite Dezember, und sie befand sich in einem Delirium, in dem jede Fläche aussah, als würde sie gerade zu schmelzen beginnen –, hätte sie ein heißer Windstoß fast umgeworfen.
Aber das alles war nicht das, was so schwer zu erklären war.
Nach Havanna musste man einmal umsteigen, für den Anschlussflug in einer sehr kleinen Maschine. Beim Landeanflug hatte sie unter sich das brandende Meer erwartet, stattdessen grüne Felder, so weit das Auge reichte, wellige Nebelschwaden über dem Gras. Zwei Minuten und dreizehn Sekunden lang ging sie fest davon aus, dass der Pilot aus einem unerklärlichen Grund das Flugzeug auf dem Boden aufprallen lassen und sie alle töten würde. Sie wusste die exakte Zeitspanne dieses Gefühls, weil sie es mit der Uhr gestoppt hatte.
In Havanna sah sie dann kaputte Straßenlaternen und prachtvolle Boulevards, Bäume, die sich so weit zueinander neigten, dass sie einen schattigen Parcours bildeten, einen Mann, der auf dem rosafarbenen Granitpflaster des Prado zwei silbergraue Huskys im Hundegeschirr spazieren führte, und Inlineskater, die mit nacktem Oberkörper an den Hunden vorbeischossen. Sie sah Überwachungskameras, deren Befestigungsstangen sie an die Hälse weißer Kraniche erinnerten, eine Stadtteilbibliothek, an der ein Schild mit der Aufschrift Muerte al Invasor angebracht war, und einen Dackel in olivfarbener Revolutionärsuniform, der an einen Stuhl gekettet war. Tagsüber war die Stadt ein völlig anderer Ort als bei Nacht. Sie stieß auf Huldigungen an Künstler aller Nationen: das Kulturzentrum Bertolt Brecht, eine Mozart-Büste, einen Victor Hugo gewidmeten Park. Meilenweit sah sie kein einziges Lebensmittelgeschäft, dafür aber ein Dutzend Läden, wo man Pizza, Obst oder Eis kaufen konnte. Hoch aufragende brutalistische Bauten fraßen sich durch koloniale Häuserblocks voller Säulen, Bögen und Balkone. Vom Zerfall bedrohte Gebäude grenzten an Hotels mit Türstehern vor dem Eingangsportal. An der Plaza de San Francisco saßen sonnenverbrannte Familien auf Caféterrassen, Kleinkinder heulten in ihren Hochstühlen, und darüber kreiste unablässig ein Taubenschwarm. In Havanna sah sie zum ersten Mal seit fünfunddreißig Tagen ihren Mann wieder.
Sie sollte eine Woche hier verbringen. Eigentlich hatten sie die Reise gemeinsam geplant, und so war alles für zwei gebucht: zwei online erstandene Visa, im Flugzeug neben ihr ein leerer Sitz, zwei Stapel Eintrittskarten für die Filme. Was sie nicht brauchte, verwahrte sie in einer Schublade im Hotelzimmer. Beiseitegelegt für jemanden, der noch nicht da war, sagte sie sich.
Mit einem schlimmen Kater irrte sie an ihrem ersten Festivaltag durch Sitzungsräume, in denen Presseevents stattfanden, um sie herum Menschen mit laminierten Namensschildern, Menschen, die so aussahen, als wüssten sie, was sie taten. Der Regisseur, den sie suchte, hieß Yuniel Mata. Im Flugzeug hatte sie eine Liste von Fragen an ihn notiert und im Hotel vor dem Badezimmerspiegel die Begrüßung geübt. Hallo, hatte sie in ihrem besten Spanisch zu ihrem Spiegelbild gesagt, mein Mann war ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit. Yuniel Matas Film hieß Revolución Zombi. Er hatte ihn komplett digital und komplett in Havanna gedreht, und das alles für zwei Millionen Dollar – was ihr Mann, ein Professor der Filmwissenschaften, bemerkenswert fand. Sein Spezialgebiet war Horror. Ihr war das immer wie ein selbst ausgedachter Beruf vorgekommen, und wenn sie auf Partys zu viel getrunken hatte, ließ sie das die gemeinsamen Freunde auch wissen. Dieses Festival war die Welt ihres Mannes, und sie hatte nicht geahnt, dass es so schwer sein würde, sich darin zurechtzufinden.
An ihrem zweiten Tag nahm sie in einem mit Kronleuchtern und blutrotem Teppichboden ausgestatteten Sitzungsraum an einem Pressegespräch mit Yuniel Mata und zwei Produzenten teil. In einer Ecke stand ein künstlicher Weihnachtsbaum, in dessen Zweigen silberne Kugeln leuchteten. Sie musste sich extrem konzentrieren, um dem Gespräch folgen zu können; im hinteren Teil ihres Schädels baute sich ein unerträglicher Druck auf. Während des Studiums hatte sie ein Semester in Madrid verbracht, gefolgt von einem grässlichen Sommer in Salamanca als knapp gehaltenes Kindermädchen einer betuchten Familie. Ihr Spanisch war zwar noch brauchbar, aber immer wieder taten sich unerwartete Verständnislücken auf; Leerstellen, wo ein Wort, ein Gedanke hätte sein sollen.
Laut Programm sollte auch die Hauptdarstellerin, Agata Alonso, an der Runde teilnehmen. Ihre Kurzvita verriet, dass die gebürtige Kubanerin derzeit in Spanien lebte und durch eine Rolle in einer beliebten spanischen Soap bekannt geworden war. Revolución Zombi war ihr erster Spielfilm. Am Vorabend hatte Clare zufällig zwei Männer darüber reden hören, dass die Schauspielerin nicht zur Eröffnungsgala erschienen sei. Sie sei weder in ihrem Zimmer gewesen noch an ihr Handy gegangen. Zwar erklärte man sie nicht für vermisst, gleichwohl herrschte Unklarheit über ihren Verbleib. Nun fehlte sie auch bei diesem Pressetermin, und die Veranstalter gaben keine Erklärung dafür.
Stattdessen wurde über die eigens gegründete Zombie-Schule gesprochen, in der sie Statisten im Schminken und in korrektem Torkeln und Stöhnen ausbildeten. Ein Statist hatte über die Stränge geschlagen und angefangen, sich in Schultern zu verbeißen. Ein Podologe hatte ein blutverschmiertes Hemd im Rinnstein gefunden und das Komitee für die Verteidigung der Revolution angerufen.
Im Flugzeug hatte Clare neben einem Filmkritiker aus Rio gesessen, und ausgerechnet diesen Kritiker, Davi, entdeckte sie nun in einer der vorderen Reihen des Sitzungsraums neben Arlo. Beim Verlassen des Flugzeugs hatte Davi gesagt, in Havanna sei es sogar im Dezember ungeheuer heiß, und ihr empfohlen, sich vor dem Wetter in Acht zu nehmen. Er war von kompakter, athletischer Statur und trug eine modische Brille. Seine Augenbrauen waren zwei dunkle, perfekt geschwungene Bögen. Als sie erwiderte, in ihrer Kindheit in Florida habe sie alles gelernt, was sie über Hitze wissen müsse, hatte er mit der flachen Hand auf ihren Segeltuch-Rucksack geklopft, mit einem Ausdruck vagen Mitleids gelächelt und ihr einen schönen Aufenthalt gewünscht.
Eine junge Frau erhob sich, um eine Frage zu stellen; Clare merkte ihr an, dass sie nervös war. Sie hielt die Spitze ihres Bleistifts fest gegen den Notizblock gedrückt. Warum eigentlich Horrorfilme?, wollte sie wissen, und bei dem Warum stockte ihre Stimme leicht. Warum nicht Filme über Dinge, die wirklich passieren?
Die Produzenten schauten zu Yuniel Mata, der sich bereits auf dem Stuhl nach vorne gebeugt hatte und an seiner Antwort feilte. Er trug eine schwarze Hose, ein schwarzes T-Shirt, neongrüne Sneaker und geflochtene Armbändchen an beiden Handgelenken. Sportlich, aber trotzdem smart. Sein Haar war gerade lang genug für einen Pferdeschwanz, und er war groß und schlank, genau wie ihr Mann.
Mata sagte, wenn man den Zuschauer in einen Zustand des Grauens versetze, nehme man ihm damit seinen Kompass, das Navigationsinstrument in dieser Welt, und gebe ihm stattdessen einen anderen, der eine andere Art von Wahrheit zeige. Der Trick bestehe darin, die Zuschauer in ihrer Angst so sehr gefangen zu halten, dass sie von dieser Vertauschung nichts mitbekämen; es sei eine geheime Transaktion zwischen ihrer Fantasie und dem Film, und wenn die Leute das Kino verließen, nähmen sie diese neuen Wahrheiten mit – wie Aale, die unter der Haut wimmelten.
Im Übrigen, fügte er mit erhobenem Zeigefinger hinzu, beruhe der Horror auf einer Realitätsverschiebung, die dazu diene, eine andere Realität, die schon immer da gewesen sei, sichtbar zu machen, und solche Verschiebungen fänden andauernd statt.
Anschließend stellte sich Clare in die Schlange, um mit dem Regisseur zu sprechen. Als sich nur noch die nervöse junge Frau vor ihr befand, erschien eine Assistentin in einem marineblauen, damenhaften Kostüm und nahm Mata ohne Umschweife mit.
Am Abend folgte dann die Eröffnungsvorführung von Revolución Zombi im Cine Charlie Chaplin. Clare war über tausend Meilen weit gereist, um diesen Film zu sehen, doch als sie nun über dem Kinoeingang die Leuchtreklame mit dem Titel sah, geschah etwas Seltsames. Es war, als wäre zwischen ihr und dem Kino eine unsichtbare Mauer aus dem Boden gewachsen, sie konnte keinen Schritt weitergehen. Ihre Lider zuckten, ihr Inneres krampfte sich zusammen. Menschen strömten an ihr vorbei, stellten sich in die immer breiter werdende Warteschlange; sie war der Felsen im Fluss. Schritt für Schritt wich sie ins Dunkel zurück, bis die Leuchtreklame aus ihrem Blick entschwand.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie Angst, erneut vor der unsichtbaren Mauer zu stehen, Angst vor dem, was dann möglicherweise geschehen würde, und so ging sie bei Sonnenaufgang zum Malecón, denn so etwas wie Sonnenaufgänge hatte für ihren Mann eine besondere Bedeutung, und außerdem war dort eine zentrale Szene von Revolución Zombi gedreht worden. Vielleicht würde der Anblick des Malecón einen unsichtbaren Stein aus der unsichtbaren Mauer brechen.
Sie ging endlose, gewundene Straßen entlang, unter Balkonen, an deren Geländern Wäsche hing, unter Plastiktüten und Turnschuhen, die mit rosa Klammern an Leinen befestigt waren. Sie kam an einem türkisfarbenen Belle-Époque-Palais vorbei, dessen heruntergekommene Fassade von ehemals imposanten grünen Säulen gestützt wurde, die sich nun unter der Last krümmten. Sie spähte durch ein hohes Fenster in der Erwartung, Tapeten oder eine Zimmerdecke zu sehen; stattdessen fiel ihr Blick auf ein Stück Himmel. Die Hofmauern bröckelten. Der Rasen war verwildert. Ein paar Straßen weiter entdeckte sie ein blassgelbes Kolonialhaus mit einem leuchtend weißen, schmiedeeisernen Zaun. Der Vorgarten war ein gepflegtes Viereck aus Grün, umrahmt von Rotem Ingwer und Strelitzien. Über der Tür hing ein Schild mit einem Symbol, das wie ein umgedrehter Anker aussah und besagte, dass das Haus zu mieten war. Am Ende dieser Straße überzog eine Graffiti-Figur mit schwarzer Sturmhaube eine verwitterte Wand, die Signatur darunter lautete: 2 + 2 = 5.
Sie verlief sich und landete in einem Park vor einem leeren steinernen Springbrunnen unter Palmen, deren spitze Blätter in der Brise schwankten. Sie sah einen Pantomimen, der noch nicht im Dienst war; Haare, Haut und Kleider komplett mit goldener Farbe eingesprüht, saß er auf einer Bank und redete in ein kleines weißes Handy. Als sie vorbeikam, nickte ihr der vergoldete Mann zu. Ein Hauch von Nacht lag noch in der Luft.
Am Malecón wirkte die Stadt mit ihrer Ufermauer aus Kalkstein wie eine unbezwingbare, bedrohliche Festung. Sie begegnete einem gebeugten alten Mann, der einen mit Karamellbonbons gefüllten Einkaufswagen schob, einem einzelnen Jogger und zwei jüngeren Männern, die neben einem Schild angelten, auf dem No Pescar stand. Vor ihr die glänzende Fläche des Ozeans, so weit der Blick reichte. Je länger sie blieb, desto mehr schien die aufgehende Sonne das Wasser zu entflammen, und so stand sie dort schließlich in einer Feuersbrunst, die wohl jedem klargemacht hätte, wie schutzlos man als Mensch der Erde ausgeliefert war, stand dort und wartete darauf, zu verbrennen.
Zurück im älteren Teil der Stadt, sah Clare vor dem Revolutionsmuseum, einem ehemaligen Präsidentenpalast mit mächtigen weißen Säulen, vor dem ein bronzener Panzer aufgebaut war, unerklärlicherweise ihren Mann. Das Museum warf einen riesigen Schatten, und in diesem Schatten stand er. Sie erkannte ihn von hinten, schon aus gut hundert Metern Entfernung, und blieb abrupt auf dem Bürgersteig stehen, weil ihr schwindelig wurde und ihr Mund sich mit einem Mal anfühlte, als wäre er voller Steine. Sie ermahnte sich, dieses Erkennen sofort einzustellen, denn das, was sie da erkannte, konnte einfach nicht sein, doch dann näherte sie sich vorsichtig und sah, dass es eben doch sein konnte. Er trug einen weißen Leinenanzug, den sie noch nie gesehen hatte, und Slipper mit Lederquasten. Den Kopf in den Nacken gelegt, hielt er eine Hand an die Stirn, als verfolgte er etwas am Himmel.
Die Kondensstreifen eines Flugzeugs. Den Weg einer Wolke.
Vor dem Museum fragte sie sich, ob sie ihm die Arme um die Schultern legen und weinen sollte. Sollte sie Antworten oder besser gar nichts verlangen? In ein Taxi steigen und sich zum nächsten Krankenhaus fahren lassen? Die Polizei rufen? Oder einfach zurückweichen, genau so, wie sie vor dem Kino zurückgewichen war, weg von diesem krassen Bruch mit der Natur, diesem Verstoß gegen die Gesetze der Physik, und für den Rest ihres Lebens vergessen, was sie gesehen hatte?
Die Tatsache, dass es keine klare Antwort auf diese Fragen gab, zeigte, wie viel zwischen ihm und ihr offengeblieben war.
Er trat aus dem Schatten und verschwand im Museum. Sie sagte nichts. Sie folgte ihm durch den Eingang in ein Atrium, wo er vor einem großen, von Glasscheiben geschützten Boot stehen blieb. Nicht weit von ihm stand aufrecht ein Wächter in dunkelgrüner Uniform. Sie merkte zwar, dass er ihren Mann im Auge behielt, doch die schiere Unmöglichkeit dessen, was er da sah, blieb ihm natürlich verborgen – er wusste nicht, dass er Zeuge eines Albtraums oder eines Wunders war. Die Kluft zwischen ihrer inneren Realität und der Welt um sie herum wurde so gewaltig, dass sie Angst hatte, von ihr verschluckt zu werden.
Ihr Mann betrachtete das Boot aufmerksam, geradezu sehnsüchtig. Sie sah seine flatternden Lider, die zuckende Kinnpartie, die schrägen Wangenknochen und auch das leichte Zittern der Unterlippe, das niemand außer seiner Frau wahrgenommen hätte.
Sie fürchtete, dass er verschwinden könnte, sobald sie etwas sagte.
Wo sollten sie überhaupt anfangen?
Haben Sonnenaufgänge für dich immer noch eine besondere Bedeutung?
Seit wann haben Boote eine Bedeutung für dich?
Sind wir wirklich hier?
Richard, sagte sie, denn das war sein Name, Richard, der Name, den auch sein Großvater getragen hatte. Auf Spitznamen hatte er nie gehört. Er hasste es, wenn Leute den Fehler begingen, ihn Dick, Richie oder Rich zu nennen.
Mit dem kleinen Finger berührte sie sachte den Ärmel seines Leinenjacketts.
Richard, sagte sie noch einmal.
Er stieg eine geschwungene Marmortreppe hinauf. Sie folgte ihm mit klappernden Sandalen. Im ersten der fünf Stockwerke drehten sie eine Runde, vorbei an den lebensgroßen Wachsfiguren von zwei Revolutionären, die durch einen Wald schlichen. Sie trugen Arbeitsuniformen. Clare hatte Mühe, in ihren Gesichtern den Mund auszumachen. Die Räume des Museums lagen um einen Innenhof, in dem gerade die Mitglieder einer Brassband auf Klappstühlen Platz nahmen, um ihre glänzenden Instrumente zu stimmen. Als sie Richard erneut erblickte, befand er sich ein Stockwerk über ihr auf der anderen Seite des Innenhofs, ein weißer, von einem Fenster umrahmter Fleck, der kurz innehielt und dann weiterhuschte.
Sie verfolgte ihn bis ins oberste Stockwerk, in einen Ballsaal voller Touristen, die Stadtpläne auseinanderfalteten oder die schweren Kristalllüster und die goldverzierten Engelsfresken fotografierten. Ihr Mann verfiel in einen Laufschritt. Ein Paar mit australischem Akzent schob sich Hand in Hand vor Clare, eine atmende Barriere aus Fleisch. Sie drängelte sich an ihnen vorbei. Schleuderte seinen Namen in die Menge. Im Innenhof begann die Band zu spielen. Als Clare aus dem Ballsaal hastete, konnte sie Richard gerade noch die Marmortreppe hinunterlaufen sehen. Sie rannte ihm nach, durch den Hof, an den Musikern vorbei, die in goldene Hörner bliesen, dann weiter zum Hinterausgang und hinaus ins Freie, immer die wehenden Zipfel seines Jacketts vor Augen.
Von der Treppe aus beobachtete Clare, wie ihr Mann auf ein Motorrad sprang, sich in den Verkehr auf der Avenida Bélgica einfädelte und um einen kleinen Platz raste, vorbei an rumpelnden Reisebussen und Kindern, die auf dem Bürgersteig Fußball spielten, hinein in die grelle Hitze des Tages. Auf dem Platz hob eine Frau, die lesend auf einer Bank saß, den Blick von ihrem Buch, für einen Moment aufgeschreckt durch die Geschichte, die sich direkt vor ihren Augen abspielte. Clare hatte ihren Mann noch nie auf einem Motorrad gesehen, doch er saß darauf, als wäre er sein Leben lang Motorrad gefahren, sein Leben lang in Havanna gefahren, als wäre er nicht vor fünf Wochen in den Vereinigten Staaten von Amerika von einem Auto erfasst und getötet worden.