In Island, der Insel der Winde, treffen sie am Walfjord aufeinander: die deutsche Touristin Swea, deren Ehe gerade auf der gemeinsamen Reise zerbrochen ist, der ehemalige Lehrer Einar Pálsson und der scheue Jón Árnarsson. In Einars Haus am Meer versucht Swea noch einmal ganz neu anzufangen. Früher hat sie Kunst studiert, wollte malen, Liebhaber sammeln und auch sonst in jeder Hinsicht frei sein. Aber kann man wirklich alles auf Null setzen? Auf der Suche nach Antworten entdeckt Swea das Leben und das Lieben neu und wagt es schließlich, ihre eigenen Geister zurückzulassen und dem Weg des Windes zu folgen.
Roman
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Paperback
1. Auflage Oktober 2020
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, Büro für Gestaltung, München
Titelabbildung: Landschaft: plainpicture / elektrons 08,
Schiff: shutterstock / ShadowBird
Autorenfoto: © Holger Strehlow
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ISBN 978-3-8437-2363-3
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Es gehörte nicht zum Plan für unseren Hochzeitstag, Henrik auf einem isländischen Lavahügel zurückzulassen. Der Plan war, mit dieser Reise auf eine magische Insel den Neuanfang unserer Ehe zu besiegeln. Aber die Wahrheit ist: Nichts an diesem kahlen Land ist magisch. Und fünfzig Prozent meiner Ehe verschwinden gerade im Rückspiegel.
Henrik hat sich von den ersten Sekunden Fassungslosigkeit erholt und rennt dem Wagen hinterher. Obwohl seine offene Jeans an den Hüften rutscht, holt er schnell auf, während ich mit der Kupplung kämpfe. Sogar durch die geschlossenen Fenster höre ich ihn rufen, dass ich stehen bleiben soll. Im Seitenspiegel sehe ich sein empörtes Gesicht. Aufgerissener Mund mit weiß gebleichten Zähnen. Dieser aufgebrachte Henrik hat nichts mehr gemein mit den Zeitungsporträts, auf denen er seine sensibelste Künstlermiene zur Schau trägt, einen Zug von Weltschmerz um den Mund und dazu diesen intensiven Blick, den eine Journalistin einmal als Wolfsblick des Savants, des gnadenlos Wissenden umschrieben hat.
Tja, aber ein ›gnadenlos Wissender‹ wüsste, wann man sein Smartphone besser ausschaltet, denke ich. Vulkanschotter spritzt, als ich endlich den zweiten Gang finde und das Gaspedal durchtrete. Der Mietwagen röhrt in dem Moment auf, als Henrik versucht, die Fahrertür aufzureißen. Er springt zurück und reißt den Arm vor das Gesicht. Für einen Moment erschrecke ich vor mir selbst. Was mache ich hier? Doch als Henrik mit der flachen Hand hinten aufs Wagendach schlägt und mit zornrotem Kopf losbrüllt, erwacht in mir ein kleiner, beängstigend fremder Teil, der große Lust hätte, ihm gleich noch eine Schotterdusche zu verpassen. Stattdessen beschleunige ich nur, obwohl das Tempo für den steilen Pfad zwischen den Hügeln schon jetzt zu hoch ist. Noch bis zur Kurve am Fuß des nächsten Lavabuckels kann ich Henrik »Swea, verdammt!« brüllen hören. Und dazu einige Worte, die den Elfen in diesen Hügeln sicher zu denken geben werden. Ich bin also eine »eifersüchtige Irre« und »total krank im Kopf«?
In der Kurve kommt der Toyota ins Schlingern. Als ich ihn nach einer Ewigkeit wieder auf Kurs habe, zittere ich, während ich das Lenkrad umklammere. Das Beben setzt sich fort bis in den Rücken, die Beine. Ich muss die Zähne zusammenbeißen, um nicht loszuheulen.
Aber egal, wie krampfhaft ich schlucke, das Bild verschwindet nicht: das Foto einer apfelrunden Frauenbrust, mehr enthüllt als verborgen durch glattes, rotbraunes Haar und eine junge Hand mit metallicblau lackierten Nägeln. Am Daumen steckt ein Silberring in Form einer Schlange, und zwischen Mittel- und Zeigefinger drückt sich eine mädchenhaft rosige Brustwarze hervor.
Unter dem Sicherheitsgurt sticht es – dort, wo sich der Häkchenverschluss meines offenen BHs unter der Bluse in eine Rippe drückt. Ich glaube, Henriks Hand wieder auf der Haut zu spüren, seine Zunge an meinen Lippen und den Atemstoß seiner Worte. »Ach komm schon, Sexy! Niemand sieht uns hier. Und wie lange ist es her, dass wir mal im Auto gevögelt haben?« Die sachlich richtige Antwort würde lauten: Noch nie. Was auch für diese neue, aufgesetzte Art von Sextalk gilt. Aber für Henrik sind Erinnerungen und Fantasien oft nur fließende Konzepte. Wie unser Neuanfang offenbar auch.
Plötzlich schäme ich mich – dafür, diesem Kuss doch noch nachgegeben zu haben, und noch mehr dafür, dass ich Henrik überhaupt zugehört habe, nachdem er mir das Smartphone aus der Hand gerissen hatte. Pech für ihn, dass es in irgendeiner Kurve halb aus seiner Skizzenmappe gerutscht war. Über seine Schulter hinweg konnte ich es auf dem Rücksitz liegen sehen, während seine Hände unter meiner Bluse den BH aufhakten. Warum ist sein Handy in der Mappe? Das schoss mir durch den Kopf. Und hätte ich die Angewohnheit, beim Küssen die Augen zu schließen, das lautlose Leuchtsignal der Nachricht wäre mir entgangen. Aber so hatte ich freie Sicht auf fremde Brüste, während Henrik mich küsste.
Ich war so schnell von ihm runter, dass ich mit dem Knie schmerzhaft gegen die Kupplung stieß. Mit dem anderen Knie landete ich aus Versehen punktgenau in Henriks Schritt. Er keuchte überrascht auf und krümmte sich. Doch als ich sein Smartphone vom Rücksitz schnappte und es ihm vor die Nase hielt, fiel seine schmerzverzerrte Grimasse wie eine Maske. Was blieb, war nackte Ehe, so, wie wir sind – oder besser gesagt: wie wir nie sein wollten.
»Wer ist das, Henrik?«, brachte ich mit zitternder Stimme hervor. »Diese … neue Studentin, die im Atelier jobbt? Mia heißt sie doch?« Ich wünschte, ich hätte nicht so sehr wie die Parodie einer typischen Ehefrau aus einer Drama-Vorabendserie geklungen.
»Was?« Henrik nahm das Phone an sich. »Keine Ahnung, wer das ist. Herrgott, denkst du im Ernst, ich würde mit Mia …« Er schüttelte so verärgert den Kopf, als könnte diese Idee nur der Fantasie einer Wahnsinnigen entspringen. Die wäre dann wohl wieder mal ich.
»Das ist Arbeit, Swea! Ich sammle seit einem Jahr Originaltexte für meine Installation. Jeder meiner Mitarbeiter schickt mir gerade solches Zeug, wenn er es im Internet findet, das ist Fundus.«
Für einen Moment stellte ich mir vor, wie mein Abteilungsleiter Herr Schöttle seiner altehrwürdigen Gattin erklärt, dass die Nackte auf seinem Smartphone Fundus ist. Aber das ist das Verrückte an der Ehe mit einem Künstler: Manchmal bedeuten fremde, nackte Körper tatsächlich nichts. Sie können Material, Fragment und Projektionsfläche sein. Oder der Grund, warum ich vor einem Jahr meinen Ehering in einem Gulli in Hamburg-Altona versenkt habe.
Wie Gegner, die einander einschätzten, starrten wir einander nun an. Es war, als würden in unserem Schweigen alle Wahrheiten und Worte hallen, Sätze wie Wunden, die längst schon verheilt sein sollten. Zumindest hatte ich mir das eingeredet.
Henriks Augen haben immer noch dieses seltene, kristalline Blau, in dem ich mich vor achtzehn Jahren sofort verloren hatte. Die Farbe ist Teil seines Markenzeichens, sie schafft die Aura von Henriks hypnotischem, luzidem Blick, der früher zwischen rabenschwarz gefärbten Haarsträhnen hervorblitzte. Auf Porträts wirken starke Kontraste aggressiv, aber auch attraktiv, das war meine erste Lektion im Kunststudium gewesen. Doch erst als ich Henrik begegnete, verstand ich dieses Prinzip ganz. Inzwischen mischt sich in seinem Haar erstes Grau in zahmes Dunkelbraun. Und wenn Henrik sich unbeobachtet glaubt, erlischt sein Blick und wird wasserblass und hart. Ja, Henriks Leuchten verblasst, auch wenn er immer noch genug Sternenstaub aus dem Ärmel schütteln kann, um seine Gegner zu blenden.
»Du versteckst dein Smartphone also neuerdings in der Skizzenmappe, damit ich deine Arbeit nicht sehe?«, brach ich schließlich das Schweigen.
Henrik seufzte. »Meine Güte, ich wollte einfach nicht, dass du sauer bist, weil ich auch im Urlaub Arbeitsmails bekomme.« Er zog den linken Mundwinkel nach oben. »Tja, das hat ja toll funktioniert.«
Ich wünschte mir, ihm glauben zu können. Aber wir kennen uns lange genug, um zu wissen, dass die Wahrheit manchmal beschämend banal ist. Seit jeher gibt es ein ehernes Vertrauensgesetz zwischen uns. Niemals würde ich einen Blick in seine Mappe werfen. Unfertige Kunstwerke sind heilig und verletzlich. Das versteht niemand besser als ich.
Ein kurzes Aufleuchten am unteren Rand meines Blickwinkels gab mir einen kleinen heißen Stich. Noch eine Nachricht. Ich zwang mich dazu, nicht nach unten zu schauen, gab vor, nichts zu bemerken, wie ein Kind, das glaubt, etwas, das man nicht sieht, existiere nicht. Doch während Henrik meinem Blick standhielt, veränderte sich der Ausdruck seiner Augen. Ein Aufflackern von Angst. Und während er mir gewinnend zulächelte, drehte er beiläufig das Display nach unten. Mein Herz raste los, als hätte es einen Zeitsprung in die Vergangenheit gemacht. Und auch alles andere war wieder da: der Geschmack von Galle im Mund, das leere Stolpern zwischen Kehle und Bauch, als würde mein Herz in Erwartung des endlosen Falls schon jetzt den Takt verlieren.
»Swea, hör zu«, begann er mit dieser geduldigen Sanftheit, die mich noch jetzt zur Weißglut bringt. »Du verstehst das völlig falsch. Es gibt keinen Grund, wieder hysterisch zu werden. Du kennst doch das Konzept der Ausstellung.« Er strich mir mit den Knöcheln zärtlich über die Wange. »Hey, du bist mein Venus girl! Wir haben den ganzen Mist hinter uns gelassen. Sonst wären wir jetzt doch kaum auf unserer zweiten Hochzeitsreise, oder?« Er klang genau in der richtigen Dosis gekränkt, dass ich mir normalerweise wie ein Idiot vorgekommen wäre. Normalerweise. Als er sich vorbeugte, um mich zu küssen, erwischte ich sein rechtes Handgelenk, bevor er das Smartphone unauffällig ins Off schicken konnte. Bingo. Das Selfie war nur Teil eins der Nachricht gewesen. »Lügner!«, hörte ich mich sagen. Und ab da zerfällt meine Erinnerung in ein fließendes Konzept von Swea.
In den Märchen, die meine Tochter als Kind so liebte, war die Sieben eine magische Zahl. Sieben Brüder verwandelten sich in sieben Raben, sieben Zwerge halfen Schneewittchen, sieben isländische Riesinnen erstarrten bei Sonnenaufgang zu Stein. Und sieben Jahre ist es her, seit ich zum letzten Mal an dieser Straße am Walfjord stand. Es ist keine offizielle Haltestelle, nur eine Ausbuchtung neben der Fahrbahn, dort, wo das spärliche Gras von Rädern ausradiert wurde. Am Horizont verschwindet der Bus, der mich hier ausgespuckt hat, in Richtung Borgarnes. Seit ich vor zwei Stunden aus dem Flieger stieg, versuche ich zu begreifen, was aus meiner Insel geworden ist. Noch nie habe ich so viel Verkehr erlebt und am Busbahnhof in Reykjavík den Lärm so vieler Rollkoffer gehört. Schon nach der Landung in Keflavík kam es mir vor, als wäre ich in einem ganz anderen Island angekommen. Wo früher nur ein verschlafener Flughafen am Ende der Welt war, dehnt sich heute eine Baustelle aus. Offenbar strömen die Touristen neuerdings schneller ins Land, als man bauen kann. Noch jetzt klingt mir das aggressive Summen von Stimmen im Ohr, Japanisch, Norwegisch, Englisch und immer wieder Deutsch. Ich wurde mitgezogen von dieser Lawine aus Körpern und Koffern, die sich durch die Gänge über die Treppen wälzte und in den Hallen staute, wo es im Gegenstrom der Abreisenden längst kein Durchkommen mehr gab. Rufe, Ratlosigkeit, hektische Suche nach Gate-Nummern und Check-in-Schaltern. Die Flughafenangestellten schrien auf Englisch gegen den Lärm an, stoisch bemüht, das Chaos zu ordnen. Ich habe keine Ahnung, wie ich zum Bus kam, auch die Anzahl der Flughafenshuttles hat sich verzehnfacht. Bus um Bus verließ diesen berstenden Bienenstock und streut nun Fremde in mein Land. Mein Land.
Vergeblich suche ich nach dem Gefühl, nach Hause zu kommen, aber noch finde ich es nicht. Vielleicht ist es ja wirklich so, wie meine Tochter Kim sagt: dass die Seele nur zu Fuß gehen kann und deshalb in der heutigen Zeit stets langsamer reist als der Körper. Aber ich kann hier nicht auf meine Seele warten, also rücke ich die Brille zurecht, schultere den abgewetzten Reisesack und gehe ihr voraus. Dieses Stück neben der Straße fällt zum Hügelweg hin steil ab, der Graben ist gefüllt mit flechtenbewachsenen Felsen. Kindern erzählt man, dass in solchen Findlingen das Huldufólk lebt, mit dem man es sich besser nicht verscherzt. Ich kürze den Weg trotzdem ab und gehe querfeldein direkt über diese Elfenwohnstätten. Hinter dem Felsgürtel stoße ich auf die Zufahrt zu den höher gelegenen Häusern, ein schwarzer Ascheweg voller Reifenspuren, der bergauf zwischen die Hügel führt. Von hier aus kann ich in der Ferne schon das Tor sehen: zwei Einfassungen aus aufgestapelten Natursteinen und dazwischen ein verwittertes Gatter, breit genug für einen Geländewagen. Auf dem Weg versuche ich mich an dem federnden Schritt meines sieben Jahre jüngeren Ichs, aber längst bin ich atemlos und verfalle bald wieder in die müde Gangart meiner Gegenwart. Hinter mir gellen die Schreie der Küstenseeschwalben, durchsetzt von langgezogenen Schnarrlauten, die immer auch etwas Spöttisches haben. Heute höre ich nur eine Warnung. »Wirwissen, wirwissen«, scheinen sie mir nachzurufen. Ich vergrabe die Linke in meiner Manteltasche und umklammere die Haustürschlüssel so fest, dass es schmerzt.
Einige Radfahrer sind aus dem Nichts aufgetaucht und überholen mich. Ein Mädchen mit einer Mähne aus roten Korkenzieherlocken stellt sich in den Pedalen auf und kämpft mit dem Gegenwind, der vom Hügelkamm herunterfegt. Ich dagegen bleibe stehen und wende mich zum Fjord um. Am Horizont ballen sich schon die ersten schwarzen Wolken. Als der Wind abrupt dreht, schließe ich die Augen, schwanke wie das Gras im Lavakies, lasse mich beugen von diesem vertrauten Atem der Insel. Als wollte er mich daran erinnern, wer ich bin, faucht er mir den kalten Duft des Nordatlantiks ins Gesicht, das Knistern von schwarzem Sand, das Aroma von Salz und Stein und Tang. Ich halte dem Himmel mein Gesicht hin, gebe der Wucht einer kalten Bö willig nach, lasse mich von ihr ein paar taumelnde Schritte rückwärts schieben – und erschrecke, als mich jemand an der Schulter packt. Im ersten Moment sehe ich nur tanzendes Mähnenhaar, dann fängt das Mädchen ihre verwehten Locken mit der Faust und sieht mich besorgt an. »You’re okay?«
Ihre Freunde haben angehalten und warten mit den Fahrrädern ein Stück bergauf. Sie mustern mich neugierig, und für einen Moment sehe ich mich selbst mit ihren Augen: ein schütterhaariger, dünner Greis mit einer altmodischen Brille. Mit geschlossenen Augen steht er auf dem Weg und schwankt vor Schwäche, kurz davor, mitsamt seinem Reisesack umgeweht zu werden. Die Hand des Mädchens krallt sich immer noch in meine Schulter, als müsste sie verhindern, dass ich umkippe. Ich weiß nicht, wer irritierter ist: ich, weil sie mich auf Englisch angesprochen hat. Oder sie, weil ich auf Isländisch antworte. »Slepptu mér«, sage ich in meinem klarsten Lehrerton. Lass mich los.
Zu meiner Überraschung versteht sie offenbar kein Wort. Und dann wird mir klar, dass sie mich gar nicht mit einem Touristen verwechselt hat.
»Komm, lass ihn, Lara!«, ruft einer der Jungs auf Deutsch.
Doch die Rothaarige winkt ab. »Du siehst doch, dass er es mit dem schweren Gepäck nicht alleine den Berg hochschafft.« Sie wendet sich wieder an mich und deutet auf ihren Fahrrad-Gepäckträger. »Let me help you with your luggage«, erklärt sie betont langsam und deutlich. Und bevor ich ablehnen kann, packt sie einfach meinen Schulterriemen und will mir den Reisesack vom Rücken ziehen.
»Moment mal, Mädchen«, weise ich sie nun auf Deutsch zurecht. »Habe ich dir erlaubt, mein Gepäck zu nehmen?«
Sie zieht die Hand so erschrocken zurück, als hätte sie sich am Riemen verbrannt. »’tschuldigung«, stottert sie. »Ich wusste ja nicht, dass Sie … ich dachte … ich wollte nur helfen.«
»Das mag ja freundlich gemeint sein, aber ich habe nicht um Hilfe gebeten.«
Sie wird flammend rot, dann nimmt sie mit einem gekränkten Schulterzucken ihr Fahrrad und holt zu den anderen auf.
»Blöder Idiot«, höre ich einen ihrer Freunde sagen. Tja, das ist wohl die Wahl jenseits der siebzig, denke ich mir. Tatteriger Greis oder blöder Idiot. Ich ziehe Letzteres vor.
Die Gruppe trollt sich, verbissen versuchen sie den Wind zu schneiden, was nur dazu führt, dass die Räder ins Schlingern kommen und kippen.
Lerne den Wind zu lesen, Lara, denke ich. Lerne zu schwanken und nachzugeben, sonst macht der Sturm mit dir, was er will. Ich wundere mich, was diese Truppe ausgerechnet auf Fahrrädern hier draußen verloren hat, und das auch noch ohne Wetterkleidung so kurz vor dem Gewitter. Die jungen Leute kämpfen sich an der Weggabelung nach links, genau in die Richtung von Ingibjörgs Haus, das bergauf ein ganzes Stück hinter der Kuppe liegt. Hoffentlich hat Lara für heute genug davon, Samariter für die Siechen zu spielen. Vielleicht hätte ich sie warnen sollen. Das letzte Mal, als ich Ingibjörg sah, reinigte sie auf der Schwelle ihres Hauses hockend ihre Schrotflinte und fluchte auf die Küstenseeschwalben.
Von hier oben kann ich die Vögel am Fjord erkennen: weiße Pfeile, die auf der Jagd nach Fischen senkrecht ins Meer stürzen.
Mein Weg führt nach rechts durch das Tor, hinter eine Linie zerklüfteter Hügel, die sich wie ein steinerner Windschutz aufreihen. Und dahinter überrascht mich violettes Feuer. Alaska-Lupinen haben einen Teil des Hangs überwuchert, ein Feld von lila Flammen, in das eine Fallbö nun wüste Muster malt, ohne auch nur einen Halm knicken zu können. Ja, wir Einwanderer sind zäh, denke ich. Ich spreize die Finger und lasse im Gehen die Blüten dazwischen hervorzüngeln. Und dann bin ich endlich angekommen. Hinter dem Lupinenfeld liegt das Haus. Mein Haus!
Das Verrückte ist, dass es stets größer aussieht als in meiner Erinnerung. Als würde es sich nach jedem Abschied an meinem Heimweh mästen, dieser fast körperlichen Sehnsucht, die auch nach über vierzig Jahren noch aufblüht, zu den unmöglichsten Gelegenheiten und gleichgültig, in welchem Teil der Welt ich bin.
Das Haus ist eines der wenigen soliden Steingebäude in der Gegend, dunkelgrau vom Dach bis zur Schwelle. Aus der Ferne betrachtet, ist es vor dem dunklen Lavaberg so gut getarnt wie ein Polarfuchs im Schnee. Der anthrazitgraue Waschputz an der Fassade hält jeder Witterung stand, das Holzschild über der Tür hat in den vergangenen Jahren mehr abbekommen. Sumarhús ist darauf nur noch undeutlich zu lesen. Sommerhaus. Ein Stück links davon steht das Nebengebäude mit der Wellblechfassade, das heute nur noch als Lager und Garage dient. Mein alter grüner Pickup, den ich meinem Mieter damals mit dem Haus zusammen zur Nutzung überlassen habe, parkt schräg davor. »Hallo?«, rufe ich. »Jemand da?« Nichts rührt sich, aber er muss zu Hause sein, sonst stünde das Auto nicht da. Es gibt hier nichts, was sich zu Fuß erreichen lässt, und kein Isländer mit Verstand geht spazieren, wenn ein Sturm aufzieht.
Inzwischen fallen schon die ersten Regentropfen. Aus reiner Neugier zücke ich den Autoschlüssel, der nach wie vor an meinem Schlüsselbund hängt, und trete zum Wagen. »Jæja, karlinn minn«, murmle ich. »Na, alter Knabe?« Ich muss lächeln, während ich über den Kotflügel streiche, so fehl am Platz ist diese Geste aus den Tagen, als kein Autolack, sondern warmes Fell unter meinen Fingern entlangglitt. Der Mieter behandelt den Pickup gut, sogar die Rostflecken sind verschwunden; die Sitze und auch die offene Ladefläche sind blitzsauber. Auf dem Fahrersitz liegt eine braune Wetterjacke, isländische Marke, 66 Grad Nord. Komisch, dass ich mich an diesen Markennamen erinnere, während der Name meines Mieters immer noch wie ausradiert ist. Ich kann nicht einmal im Handy nachsehen. Zum ersten Mal bereue ich, es nicht mitgenommen zu haben. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als in meinen Erinnerungen zu kramen. Das Einzige, was mir von der hastigen Schlüsselübergabe vor sieben Jahren noch in Erinnerung geblieben ist: sein zu junges, glatt rasiertes Gesicht und ein mürrischer Blick unter dem Rand einer Wollmütze. Ach ja, und diese krumme Haltung, die ihn trotz seiner Größe weich und rückgratlos wirken ließ, so, als versuchte er, sich vor seinem Leben wegzuducken.
Inzwischen müsste er weit über dreißig sein, also immer noch jung, wenn man es von meiner Seite der Skala aus betrachtet.
Während ich zum Sumarhús hinübergehe, versuche ich zumindest zu rekonstruieren, wessen Cousin eines Schwagers oder Sohn eines angeheirateten Neffen er ist und welchem seiner Verwandten ich damals einen Gefallen tat, indem ich dem Jungen eine Bleibe gab. Im Ausland heißt es oft, wir Isländer seien alle miteinander verwandt und deshalb einander so eng verpflichtet. Aber Blut ist es nicht, was uns zusammenhält. Es ist das Inseldasein, die Natur, die uns zu Geschwistern macht, weil sie die Macht hat, uns jederzeit zu zermalmen und uns von einem Tag auf den anderen alles zu nehmen, was wir haben. Seit Jahrhunderten müssen wir uns zusammenrotten und aneinanderklammern – einfach, um nicht vom Sturm davongerissen zu werden, über die Klippen ins Meer, in den Strom reißender Flüsse oder den Schlund von Vulkanen.
Vor der Aufgangstreppe des schwarzgrauen Hauses stutze ich. Aus Treppenritzen und der Bodenfuge direkt vor der Türschwelle wuchern Gras und Lupinen. Wie kommt der Mieter ins Haus? Steigt er jedes Mal über die Pflanzen? Ich balanciere im wackligen Slalom die Treppe hoch, mache einen Storchenschritt über die Schwellenhecke und stehe fast Nase an Tür. Mein Reisesack rutscht von der Schulter und pendelt mich aus dem Gleichgewicht. Der Schlüsselkamm beißt in meine Handfläche, als ich reflexartig die Klinke ergreife. Mit der anderen Hand fange ich gerade noch den Sack und reiße ihn wieder hoch. Auf der Stelle wünsche ich, ich hätte nicht so fest zugepackt. Das Rascheln darin weckt den Schmerz. Wie ein Papierschnitt mitten durch mein Herz.
Vatersname Árnason, schießt es mir durch den Kopf. Und endlich fächert sich der Stammbaum meines damaligen Gefallens vor mir auf: Árni ist der Neffe meines ehemaligen Nachbarn Gunnar, der inzwischen einen kleinen Hof ein paar Kilometer landeinwärts besitzt. Mein Mieter ist Árnis Sohn und somit Gunnars Großneffe. Und dieser Großneffe heißt …
»Jón?«, rufe ich. Die Klingel funktioniert nicht, also klopfe ich an, bevor ich aufschließe. »Jón! Einar Pálsson ist hier. Ich komme jetzt rein.«
Die Tür schwingt so schnell und mühelos auf, als hätte mich jemand erwartet. Aber vor mir erstreckt sich nur der leere Flur. Vielleicht steht im Wohnzimmer ein Fenster offen und sorgt für Durchzug? Die Schiebetür am Ende des Flurs ist jedenfalls geöffnet und enthüllt den Blick auf meine Schränke und Bücherregale im Wohnzimmer. »Jón? Ich bin’s, Einar!«
Doch der Ruf verhallt in gespenstischer Leere. Es gibt keine Schuhe, die sich bei der Garderobe aufreihen, keine Jacken und Mäntel an den Haken. Der Eingangsflur sieht genauso aus, wie ich ihn vor Jahren hinterlassen habe: kahle Wände, von denen ich alle privaten Bilder abgenommen hatte. Nur die Nägel ragen noch heraus. Dafür bedeckt dort, wo die Schiebetür den Weg ins Wohnzimmer freigibt, eine Staubschicht den Parkettboden. Im ersten Moment kommt mir der bizarre Gedanke, dass ich wirklich auf einer anderen Insel gelandet bin, in einem Land, in dem niemand mehr Isländisch spricht und die Einheimischen auf rätselhafte Weise aus ihren Häusern verschwunden sind. Denn Jón Árnason hat das Wohnzimmer sicher schon seit Wochen nicht mehr betreten. Ist er ausgezogen? Aber das wäre ebenso absurd, die Miete geht nach wie vor auf Kims Konto ein.
Vorsichtig stelle ich mein Gepäck ab und schiebe es in den Flur. Dann blicke ich ratlos zurück. Kein Zweifel, der Pickup ist heute bewegt worden, ein paar abgeknickte Lupinen zieren die Reifenspuren. Erst jetzt wundere ich mich, warum der Wagen nicht in der Garage steht. Das Tor des Nebengebäudes ist verschlossen. Erst als mein Blick nach oben schweift, ahne ich endlich, was hier vor sich geht. Über der Garage befindet sich das Dachgeschoss mit zwei kleinen Räumen, die heute nur noch als Rumpelkammern dienen. In früheren Zeiten waren es die Ferienzimmer für die »Sommerkinder«, die aus Reykjavík hergeschickt wurden, um die hellen Monate bei ihren Verwandten fernab der Stadt zu verbringen. Eines der Dachfenster ist blickdicht mit schwarzer Folie abgeklebt, was bedeutet, dass jemand dort oben die hellen Sommernächte aussperren muss. Jón hat sich dort oben also ein Schlafzimmer eingerichtet. Jetzt kann ich nur noch den Kopf schütteln. Kein Isländer, der etwas auf sich hält, wohnt länger als nötig in einem Mietverhältnis, statt sich um etwas Eigenes zu bemühen. So gesehen ist Jón Árnason bereits ein Mann, der den Anschluss verloren hat. Aber welcher normale Mensch haust dann auch noch freiwillig im Nebengebäude, während er für das Haupthaus Miete zahlt?
Andererseits: Es geht mich nichts an. Jeder hat sein eigenes Gepäck zu tragen, und meines ist schwer genug.
»Dann muss ich wenigstens nicht im Wohnzimmer übernachten«, sage ich laut zum Sumarhús. Auf eine Art bin ich sogar erleichtert. Wird Zeit, dass ich endlich nach Hause komme. Ein allerletztes Mal schaue ich zurück, auf alles, was hinter mir liegt und was ich zurücklassen will. Dann drehe ich mich um, will über die Schwelle treten – und sehe gerade noch die Tür, die auf mich zurast. Im letzten Moment reiße ich den Arm hoch. Schmerz zuckt durch meinen Ellenbogen. Ich bin völlig perplex von der Wucht des Schlags. Ehe ich mich versehe, taumle ich wieder nach vorn, als die Tür zurück nach innen schwingt und donnernd gegen die Treppe rechts vom Eingang schlägt. Dann ist es ruhig, kein Zugwind und keine Regung mehr, doch die Stille kommt mir wie Dröhnen vor. Eine Weile stehe ich an den Türrahmen gestützt nur gekrümmt da und lausche meinem Atem. Ich müsste Staub am Mantel haben, aber die Schicht auf dem Boden ist seltsamerweise völlig unberührt von Wind. Und als ich endlich verstehe, stellen sich in meinem Nacken alle Haare auf.
Es gab keinen Wind.
Es fühlt sich an, als würde sich an der Wirbelsäule entlang die Haut plötzlich zusammenziehen und zu eng werden. Das Haus ist nicht leer. Denn jetzt spüre ich eine unsichtbare Gegenwart, so deutlich wie fremden Atem.
Als ich ein kleiner Junge war, erzählte mein Vater oft von den kalten Fingern der Toten, die gleichzeitig mit ihm in den Beutel mit Schnupftabak griffen. Mich weckten später, Jahre nach seinem Ableben, in manchen Winternächten seine schlurfenden Schritte. Und Kim schwört noch heute, als Kind im Sumarhús Klopfen gehört zu haben.
Doch das, was hinter dieser Schwelle auf mich wartet, ist etwas völlig anderes als die Gespenster, die mit uns Isländern seit jeher ganz selbstverständlich die Häuser teilen. Ich nehme kaum wahr, wie ich die Tür mit aller Kraft wieder zuziehe. Meine Fingerknöchel sind weiß, so fest umklammere ich den Türgriff. Ich starre meinen Handrücken an und fühle mich, als hätte es nie eine überstürzte Abreise gegeben, als stünde ich immer noch an einem ganz anderen Ort der Welt, den Blick wie in Trance auf dieselbe Hand gerichtet, die ein schmales Handgelenk umklammert. Jetzt bricht mir schlagartig der Schweiß aus, für einen schrecklichen Moment bilde ich mir sogar ein, wieder die Blutsprenkel auf meinem Handrücken zu sehen. Mit einem Keuchen lasse ich den Türknauf los und stolpere von der Tür weg und die Treppe hinunter, ohne Rücksicht darauf, dass ich nun die Lupinen zertrete.
Sieben Jahre wanderten Helden, bis sie ihre Bestimmung fanden oder erlöst wurden. Aber ich erkenne nun, dass es für mich keine Erlösung geben wird. Denn was Kim nicht weiß und hoffentlich nie erfahren muss: Die Schuld reist schneller als die Seele. Und diesmal war sie sogar schneller als der Wind, um mich dort zu erwarten, wo ich Narr mich bereits in Sicherheit wähnte.
Ein Fingernagel ist tief eingerissen und blutet. Das muss beim Handgemenge mit Henrik passiert sein, als er mich daran hindern wollte wegzufahren. Ich ersticke fast an der Aschewolke in meiner Brust, Lava glüht auf meinen Wangen; mein Seidenhalstuch fühlt sich an wie eine Schlinge, ich kann meinen Puls dort pochen fühlen, wo der eng geknüpfte Seitknoten sitzt. Betrüger! Ich hätte gute Lust, es laut herauszuschreien. Der Fahrersitz ist noch auf Henriks lange Beine eingestellt, ich liege halb, während das Auto Kilometer verschlingt, drei, vier auf dem holperigen Schotterpfad, bis endlich die Straße wieder in Sicht kommt und auch mein Zittern aufhört. Mit dem Heulen dauert es länger. Der Blick auf meinen neuen Ehering verschwimmt, ich blinzle Träne um Träne weg und gebe noch mehr Gas.
Links rasen Trümmerhügel vorbei, halb verschüttet von dunkelgrauem Lavasand. Blutleeres, fast weißes Gras duckt sich unter den jähen Windböen. Zusammen mit dem ausgewaschenen Regenhimmel und dem bleiernen Band der Straße wirkt das Draußen wie ein monochromes Gemälde. Horizonte der Hoffnungslosigkeit, denke ich. Das wäre ein passender Titel. Rechts erstreckt sich Wasser, eine Einöde aus Grau, gesäumt von kahlen Bergen. Das Einzige, was Wirklichkeit und Leben zu haben scheint, ist dieser verfluchte Wind. Er wirft sich von der Meerseite gegen den Wagen, als wollte er mich von der Straße drängen, während ich wie ein angeschossener Vogel schräg in diesem Sitz hänge.
Hinter mir hupt es, als ich scharf bremse und ohne Blinken rechts ranfahre. Ich hatte den Kleinwagen nicht gesehen, der Rückspiegel zeigt noch Henriks Horizont. Das Auto zieht vorbei, Gesichter wenden sich mir zu. Ein Jugendlicher starrt mich aus dem Rückfenster an. Bestimmt sehe ich aus wie eine verheulte Wetterhexe. Hastig stelle ich den Sitz ein und kippe den Rückspiegel. Fast schrecke ich vor mir selbst zurück. Ich schaue in ein kühles, perfekt geschminktes Gesicht, dank diverser Beauty-Behandlungen zu glatt für eine Frau von zweiundvierzig. Nicht einmal meine Frisur ist zerzaust, der rundgeföhnte dunkle Langbob sitzt; die wasserfeste Wimpertusche und der Long Lasting Lippenstift sind unberührt von Tränen und Küssen. Herzförmiger, akkurater Mund, der überhaupt nichts preisgibt. Und das ist vielleicht das Erschreckendste von allem.
Ich muss Anna anrufen, schießt es mir durch den Kopf. Doch als ich mein Smartphone aus der Handtasche vom Rücksitz hangle, spüre ich Luft an blanker Haut. Jetzt weiß ich, was es für den Teenager zu sehen gab. Die obersten zwei Knöpfe meiner Bluse sind abgerissen. Mein Push-up-BH sitzt völlig verrutscht auf halb acht und beult sich aus dem Marineblau des Kragens. Der BH leuchtet im exakt selben Rot wie mein Lippenstift und das seitlich gebundene Halstuch.
Sexy Hostessen-Look, den Henrik liebt. Doch halsabwärts sehe ich nun aus wie ein Experiment von Picasso – völlig defragmentiert. Eine gepolsterte Schale sitzt über meiner linken Brust, die ohne diese Stütze bis zum unteren Rippenbogen hängt. Es wirkt, als hätte ich drei Brüste, und Nummer drei ist ein höhnisches Zitat des Selfie-Bildes. Nur in Alt.
Wieder steigen mir die Tränen in die Augen, aber ich beiße die Zähne zusammen und setze mich wieder zu einer Frau zusammen, zupfe und hake, streiche den Rock glatt und ziehe auch meinen taillierten Blazer wieder an. Sobald ich den letzten Knopf geschlossen habe, bekomme ich zum ersten Mal wieder Luft. Das enge Kostüm ist eine schützende Hülle, die mich zusammenhält – zumindest äußerlich. Doch als mein Handy klingelt, hätte ich es vor Schreck fast weggeschleudert. Henrik?
Aber es ist nur meine Mutter.
»Swea, na endlich!« Auf der Stelle bereue ich es, rangegangen zu sein. Ihre Stimme klingt zu hoch und aufgesetzt munter. Was bedeutet, sie hat sich wieder wegen irgendetwas aufgeregt und kämpft gegen die Tränen.
»Hallo Mama. Was gibt’s?« Ich will nicht so kühl klingen. Und prompt höre ich, wie sie auf der anderen Seite des Meeres gekränkt nach Luft ringt.
»Störe ich etwa? Ich wollte doch nur wissen, wie es euch geht. Ihr meldet euch ja seit zwei Tagen nicht!«
Aus dieser Nummer komme ich jetzt nur auf eine Art wieder raus. Ich atme sehr tief durch und ziehe die Mundwinkel hoch. Lektion eins im Bank-Business: Man hört am Telefon, wenn der Berater lächelt. »Lieb, dass du anrufst, Mama. Es geht uns gut. Danke. Und bei euch auch alles in Ordnung?«
Fehler, Swea. Fragen sind Gesprächsangebote.
»Machst du Witze?«, startet prompt das Lamento. »Ich habe mich den ganzen Tag in der Küche abgerackert. Wir haben nämlich die Kleine zum Abendessen da. Papa will mit ihr die Bewerbung für ihren Praktiumsplatz durchsprechen. Und Insa sollte schon seit einer Stunde hier sein. Man sollte doch meinen, dass deine Schwester es schafft, wenigstens einmal im Leben pünktlich zu sein! Bestimmt macht sie das mit Absicht, nur um mich zu quälen und mir den Abend zu verderben. Sie geht nicht einmal an ihr Handy. So geht das nicht mehr weiter, ich werde hier noch krank! Du musst mit Insa reden. Auf mich hört sie ja nicht!«
Ich schließe die Augen. Als wäre meine jüngere Schwester jemals pünktlich gewesen! Und was meine siebzehnjährige Nichte davon hält, von Oma als Kleine bezeichnet zu werden, kann ich mir denken.
»Ist gut, Mama. Ich kümmere mich darum. Aber jetzt atme mal tief durch und beruhige d …«
»Wo seid ihr gerade?«
»Auf der Ringstraße hinter Borgarnes. Siebzig Kilometer vor Reykjavík.«
Vermutlich wollte sie keine Koordinaten hören, aber die Alternative, Ich habe deinen vergötterten Schwiegersohn im Nirgendwo aus dem Auto geworfen, klingt auch nicht viel besser. »Auf dem … Rückweg von den Lava-Wasserfällen«, setze ich hastig hinzu. »Wir haben eine Tagestour gemacht.« Immerhin ist das die Wahrheit.
»Ihr wart bei den Hraunfossar-Wasserfällen?« Tja, im Gegensatz zu mir hat meine Mutter die Reiseführer natürlich auswendig gelernt. Warum habe ich nur wieder dieses komische Gefühl, dass es eigentlich ihre Reise ist? »Du musst endlich Fotos schicken, hörst du?«, sagt sie vorwurfsvoll. »Und was macht ihr denn heute Abend zur Feier eures großen Tages?«
Die Scheidung einreichen? »Wissen wir noch nicht, Mama.«
Seltsamerweise scheint das eine gute Nachricht zu sein. »Ach, Gott sei Dank! Ich habe Papa nämlich gesagt, er muss euch erst fragen, ob ihr schon feste Pläne habt, aber er macht ja immer, was er will. Jedenfalls: In Reykjavík gibt es doch dieses schöne Konzerthaus am Hafen, und Papa hat heute für euch Karten reservieren lassen, Jazz, das hört Henrik doch so gerne. Die Karten warten an der Rezeption im Hotel auf euch. Das ist unser kleines Bonus-Geschenk zum Hochzeitstag. Na, was sagst du?«
Plötzlich wirkt der Himmel wie Blei, und ich spüre sein ganzes Gewicht auf meinem Nacken. »Danke, das ist … wirklich nett von euch.«
Sie lacht, und ihre Stimme bekommt diesen aufgekratzten, euphorischen Singsang, der nur die Kehrseite ihres Kummers ist. »Ach, ich beneide euch! Island ist so … besonders. Und dann diese weißen Sommernächte! Scheint bei euch wirklich noch um Mitternacht die Sonne?«
Wenn es hier Sonne gäbe. »Mhm«, antworte ich vage. Mein Lächeln ist längst erstarrt. Der Wind tobt, als wollte er mich packen und aus dem Auto zerren. Die ersten Tropfen zerplatzen auf der staubigen Windschutzscheibe.
»Gefällt euch das Hotel?«, sprudelt meine Mutter weiter. »Wir haben bei der Buchung extra darauf geachtet, dass es fünf Sterne hat, aber in Island sind die Hotels ja alle fast unbezahlbar, und man weiß ja nie, ob fünf Sterne im Ausland auch unseren Standards entsprechen. Ich hoffe, Henrik ist zufrieden damit?«
Es bricht mir fast das Herz, so hoffnungsvoll und zugleich ängstlich klingt sie. Und in der nun folgenden, erwartungsvollen Pause schwingt ihre eigentliche Frage mit: Ist die Welt für mich wieder ein sicherer Ort?
Die Wahrheit wäre, dass Henrik das Zimmer in seiner ironischen Art nur »Klaustrophobia Lounge« nennt, dass die Armaturen im Bad mit gelblichen Ablagerungen verkrustet sind und ich es kaum ertragen kann, wie stechend das Duschwasser nach Schwefel riecht.
Wenn ich ehrlich wäre, würde ich meiner Mutter außerdem sagen, dass diese Insel nicht die romantische Bühne aus Feuer und Eis ist, die sich Henrik für die Inszenierung unseres Neuanfangs vorgestellt hat. Ich würde ihr sagen, dass ich alleine im Auto sitze und heule, dass der Sommer hier windig und kalt ist und grellweiße Nächte nur noch deutlicher die Risse in den Fassaden zeigen.
Aber das könnte ich meiner Mutter niemals antun. Das vergangene Jahr war für sie vermutlich härter als für mich; die Wahrheit wäre der reinste Todesstoß. Und wie maßlos enttäuscht mein Vater wäre, will ich mir überhaupt nicht vorstellen. Schließlich hat er uns diese Reise geschenkt, inklusive der teuren Flüge in der Saga Class von Iceland Air. Ja, Papa Löwe sorgt für seinen Clan. Meine Familie setzt wirklich alles daran, dass unsere Ehe funktioniert, damit alle endlich wieder zur Ruhe kommen und weiterleben können. Und aus irgendeinem Grund fühle ich mich plötzlich so schuldig, als wäre ich diejenige, die es gerade vermasselt. Meine Mundwinkel zittern und verziehen sich nach unten, ohne dass ich etwas dagegen tun kann, und jetzt hilft auch kein Lippenbeißen mehr gegen das aufsteigende Schluchzen. Verdammt.
»Swea, hallo? Kind, bist du noch dran?«
Ich überlege, ob ich auflegen und später behaupten soll, die Verbindung sei abgebrochen, aber dann rettet mich mein Vater. »Herrgott noch mal, Gisela!«, höre ich ihn schimpfen. »Dachte ich es mir doch, dass du gar nicht mit Insa telefonierst. Lass doch die jungen Leute in Ruhe. Wenigstens im Urlaub.«
Selten war ich so dankbar, seine Stimme zu hören. Und auch heute berührt es mich, dass Henrik und ich für ihn immer noch die jungen Leute sind, obwohl Insa sich schon seit Jahren gnadenlos darüber lustig macht. »Jung im Verhältnis zu wem?«, ätzt sie dann. »Der Freiheitsstatue?«
Es raschelt, als meine Mutter das Telefon verteidigt, dumpf höre ich Protest und hitzige Streitworte, dann habe ich meinen Vater am Ohr. »Na, mein Mädchen? Sag nur ganz schnell: Hotel okay?«
»Ja«, bringe ich heraus.
Sein dröhnendes Lachen übertönt den Wind. »Freut mich. Gib mir mal den Joker!«
So nennt er Henrik, ein liebevoll brüsker Spitzname für den Sohn, den er nie hatte. »Henrik ist … gerade nicht da.«
»Wo ist er?«
Bei den Elfen verschollen. Vom Winde verweht. »Er … sieht sich die Gegend an.«
Zum Glück ist mein Vater völlig taub für Zwischentöne. »Na dann wünsch ihm von mir einen schönen Hochzeitstag. Macht endlich die Handys aus. Wir sehen uns nächste Woche, wenn ihr wieder da seid. Und Gruß auch von Bekka.«
»Lass es krachen, Tante Hätti!«, schreit meine Nichte im Hintergrund. Keine Ahnung, warum sie mich schon seit ihrer Kindheit so nennt. Noch bevor mein Vater auflegt, höre ich meine Mutter zetern, dass sie mich noch einmal sprechen will. Doch dann knackt es, und ich bin endlich erlöst. Erst jetzt fällt mir auf, dass der Motor im Leerlauf immer noch vor sich hin surrt. Ich bin wirklich völlig durch den Wind. Verständnislos starre ich auf das Profilbild von Anna auf meinem Smartphone. Ach ja, fällt mir ein. Ich wollte sie gerade anrufen. Anna, meine Zuflucht, mein Rettungsanker, mein sicherer Ort. Der einzige Mensch auf der Welt, bei dem ich mich nie verstellen muss und mich nicht wie eine Verliererin fühle, nicht einmal mit einer Wahrheit wie dieser. Doch plötzlich habe ich Angst. Denn wenn das vergangene Jahr mich eines gelehrt hat, dann das: Eine Wahrheit laut auszusprechen heißt auch immer, ihr Wirklichkeit zu geben, einen Ort, von dem sie sich nie wieder vertreiben lässt.
Ich schalte das Phone aus und lege den Gang ein. Der Scheibenwischer zieht einen rostbraunen Regenbogen über das Straßenpanorama. Du musst sofort zurückfahren, mahnt meine vernünftige Stimme. Es wird gleich in Strömen regnen, du kannst Henrik nicht mitten im Gewitter in der Kälte stehen lassen. Aber diesmal schaffe ich es nicht, das einzig Logische und Richtige zu tun. Vielleicht ist es das, was mich am meisten überrascht: dass Swea Schwarzenberg diesmal nicht vernünftig sein kann. »Siebzig Kilometer bis Reykjavík«, flüstere ich. Und fahre los.