EINLEITUNG
»Worin besteht der größte Unterschied zwischen chinesischen Millennials und ihren Altersgenossen aus den anderen Teilen der Welt?«
Mit dieser Frage werde ich am häufigsten konfrontiert, wenn ich vor Managern, Politikern und Wirtschaftsverbänden über Young China spreche. (Weitere oft gestellte Fragen sind: »Was halten die jungen Menschen vom chinesischen Unterdrückungsregime?«, »Wie haben Sie so schnell Chinesisch gelernt?«, »Wie kann mein Kind so schnell Chinesisch lernen?« – und wenn nach einem Abendessen Drinks serviert werden: »Wie ist das: Verabreden Sie sich jetzt nur noch mit Chinesinnen?«)
Als ich dieses Buch schrieb und mich dafür rechtfertigen musste, dass ich wie besessen an diesem »Projekt aus Leidenschaft« arbeitete, hatte ich keine wirklich gute Erklärung für mein Verhalten. Jedes erzählende Sachbuch ist 接地气的, »bodenständig«; es bewegt sich »auf solidem Grund«. Ich hingegen, so könnte man sagen, saß »auf dem Baum fest«. Und jeder weiß, dass es schwierig ist, den Wald zu sehen, wenn man auf einem Baum sitzt.
Ich habe fünf Jahre über die Frage nachgedacht, warum das Junge China einzigartig ist. Heute kenne ich die Antwort. Die junge chinesische Generation weist ein Merkmal auf, das sie grundlegend und beinahe schockierend deutlich von allen anderen Millennials unterscheidet, noch dazu, wenn man sich vor Augen hält, wie viele Mitglieder diese Generation in China hat:
Die chinesischen Millennials sind in einer Welt aufgewachsen, die sich um ein Vielfaches schneller verändert hat als unsere.
Meine Freunde in China wuchsen in chinesischer Geschwindigkeit auf – ihre ganze Umgebung veränderte sich um ein Vielfaches schneller als die ihrer Altersgenossen weltweit –, und das wirkt sich auf sämtliche Aspekte ihres Lebens aus: auf ihr Weltbild, ihre Vorstellung von einem geeigneten politischen System, von einem »guten« Produkt, von Schönheit, Bildung und Familie – auf ihr gesamtes Denken.
Dies ist kein makroökonomischer Kommentar zum chinesischen »Wirtschaftswunder« der letzten Jahrzehnte; für meine Freunde und Altersgenossen in China ist die Wachstumsexplosion eine sehr persönliche Erfahrung. Sie haben erlebt, wie sich ihr Dorf in eine Ortschaft und dann in eine Stadt verwandelte. Ihre Großeltern – oft Analphabeten, die auf dem Land aufwuchsen und irgendwann in Fabriken arbeiten gingen – sparen Geld, um sie beim Studium zu unterstützen; ihre Onkel waren stolz, eines Tages ein Fahrrad mit nach Hause zu bringen, und haben mittlerweile zwei Autos in der Garage stehen. Diese junge Generation von Chinesen hat erlebt, wie sich ihr Land vom »kranken Mann Asiens« in eine Weltmacht verwandelte, die den Vereinigten Staaten von Amerika, die so lange ein unerreichbares, mächtiges Vorbild waren, in einem Handelskrieg auf Augenhöhe gegenübersteht.
Lässt sich diese Entwicklung quantifizieren? Versuchen wir, sie einzuordnen: Ich kam im Jahr 1990 in Kalifornien zur Welt. In meiner bisherigen Lebenszeit ist das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt – eine sehr unpräzise, aber insbesondere im internationalen Vergleich immer noch nützliche Kennzahl zur Messung der Lebensqualität – der Amerikaner um etwa das Zweieinhalbfache gestiegen. Damit ist die Qualität der Bildung, die mir meine Eltern bieten konnten, im Lauf meines Lebens theoretisch um das Zweieinhalbfache gewachsen. Die Infrastruktur meiner Heimatstadt, die Straßen in meinem Viertel, sind vielleicht zweieinhalbmal so gut wie im Jahr 1990. Die Urlaubsreisen, die meine Familie unternimmt, könnten zweieinhalbmal länger oder schöner sein als damals.
Versuchen wir, uns eine Vorstellung von den Unterschieden zu machen: Meine Freunde in China, die im selben Jahr wie ich geboren wurden, haben im Lauf ihres bisherigen Lebens gesehen, wie das Pro-Kopf-BIP in ihrem Land um das 30-Fache gestiegen ist.
Halten wir einen Augenblick inne, um das zu verdauen: Die Lebensqualität eines chinesischen Millennial ist heute 30-mal höher als im Jahr 1990, während meine 2,6-mal höher ist als damals.
Liegt der Grund dafür vielleicht darin, dass Entwicklungsländer eben sehr viel schneller wachsen können? Was ist mit Indien? Die beiden asiatischen Riesen werden immer wieder miteinander verglichen. Sie sind die beiden Länder auf dem Planeten, die mehr als eine Milliarde Einwohner zählen. Sie haben offenbar ähnliche gesellschaftliche Werte – Familie, Bildung und Fleiß besitzen einen hohen Stellenwert, in der Bildung stehen Mathematik und Naturwissenschaften im Zentrum. Auch die modernen staatlichen Gebilde der beiden Länder entstanden etwa zur selben Zeit: Indien wurde im Jahr 1947 unabhängig und verwandelte sich in eine Demokratie, in China kam die Kommunistische Partei 1949 an die Macht.
Wie hat sich das Bruttoinlandsprodukt Indiens zwischen 1990 und 2018 entwickelt? Die junge indische Generation hat erlebt, wie das Pro-Kopf-BIP ihres Landes um etwas mehr als das 5-Fache gestiegen ist. Brasilien? Es gehört zu den BRICS-Ländern und entwickelt sich rasant. Sein Pro-Kopf-BIP ist in diesem Zeitraum um das 2,9-Fache gestiegen. Deutschland, die wirtschaftliche Lokomotive Europas, das eine beständige wirtschaftliche Führungsmacht ist, hat einen Anstieg auf das 2,1-Fache erlebt.etrachtet man die 60 leistungsstärksten Volkswirtschaften der Gegenwart und nimmt sie zum Maßstab bei der Frage danach, welches Wachstum die Millennials seit ihrer Geburt erlebt haben, so stellt man fest: Die ganze Welt bewegt sich mehr oder weniger mit derselben Geschwindigkeit. In fast allen großen Wirtschaftsnationen ist das Pro-Kopf-BIP in den letzten Jahrzehnten auf das 1,5-Fache bis 5,5-Fache gestiegen. In diesem Tempo scheint sich die Welt zu entwickeln.
Die einzige Ausnahme bildet China.
Doch die Grafik zeigt auch, dass es einen weiteren Sonderfall gibt: Vietnam. Wir sollten nicht nur den raschen wirtschaftlichen Aufstieg, sondern auch den soziokulturellen Wandel im Auge behalten, der sich in diesem Land an Chinas Südgrenze ereignet.
Wie viel Veränderung haben die Millennials verschiedener Länder in ihrer Lebenszeit gesehen? Wachstum des Pro-Kopf-BIP in den 60 heute führenden Volkswirtschaften, 1990–2018*
Wenn ich von chinesischer Geschwindigkeit spreche, meine ich nicht die Entwicklung des produzierenden Gewerbes. Dessen rasantes Wachstum ist verblüffend und sollte zur Kenntnis genommen werden. Doch mir geht es um etwas anderes. Ich spreche von dem zweifellos weltweit einzigartigen Ökosystem, in das mehr als 400 Millionen chinesische Millennials hineingeboren wurden – ein Ökosystem, das sich in einem eigenen Tempo entwickelt, und zwar mit Warp-Geschwindigkeit. Die nächste Frage lautet: Wie wirkt es sich auf das Weltverständnis der jungen Chinesen aus, mit diesem einzigartigen chinesischen Tempo aufzuwachsen?
Doch bevor wir uns damit beschäftigen, sollten wir uns fragen, warum die Identität der chinesischen Jugend für uns von Bedeutung ist.
Warum sollten wir uns überhaupt für das Junge China interessieren? Für uns alle und insbesondere für die Deutschen liegt die Antwort auf der Hand: wegen der Auswirkungen. In China leben mehr als 400 Millionen Millennials, fünfmal mehr als in den Vereinigten Staaten. China hat fünfmal so viele Millennials wie Deutschland Einwohner. Nach Angabe der UNDESA (Hauptabteilung Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten der Vereinten Nationen) leben in China mehr junge Menschen als in Nordamerika, Europa und dem Nahen Osten zusammen.
Aber wenn von China die Rede ist, geht es oft um die Vergangenheit: um alte Stereotypen, alte Politik, alte Traditionen und die älteren Generationen. Dabei wird in China gerade eine junge Generation erwachsen, die längst begonnen hat, die vielversprechende wirtschaftliche und politische Zukunft ihres Landes in die Hand zu nehmen. Das Junge China hat sich bereits darangemacht, jeden Markt, auf dem es aktiv wird, zu verändern und oft auch neu zu definieren, was sich nicht nur auf sein eigenes Land, sondern auch auf das Leben der Deutschen, Amerikaner, Afrikaner und der übrigen Welt auswirkt.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Zukunft der Automobilindustrie von den chinesischen Konsumenten abhängt. VW, Daimler und BMW werden auf die Bedürfnisse einer neuen Kundengruppe eingehen müssen. China will bis 2025 70 Prozent seiner Bevölkerung – rund 900 Millionen Menschen – in Städten unterbringen. Werden die jungen Leute in den überfüllten Metropolen überhaupt noch Autos haben wollen? Welche Erwartungen haben sie an »Mobilität«? Bedeuten Autos für sie noch »Freiheit« oder lediglich Stillstand in verstopften Straßen?
Und wie ist es um die Zukunft des Versicherungssektors bestellt? Kann ein Versicherungskonzern wie Allianz die Haltung einer Generation, die ihre finanziellen Angelegenheiten eher ihrem Mobiltelefon als einer Bank oder einem Berater anvertraut, zum Thema Schuldenmachen überhaupt noch einschätzen? Oder zur Geldanlage? Und, worum es bei all diesen Überlegungen im Grunde geht: Was ist mit ihrer Einstellung in Fragen der Sicherheit, Absicherung und Lebenschancen?
Siemens, Bosch, Deutsche Bank – sie alle müssen versuchen, die Jugend Chinas zu verstehen.
Und dann ist da natürlich die Politik. Welche Haltung wird Deutschland angesichts der Tatsache einnehmen, dass immer mehr Entwicklungsländer im chinesischen Gesellschaftssystem eine verlockende Alternative zum demokratischen Modell sehen? Und der Welthandel? Was wird geschehen, wenn China versucht, eine neue globale Rechtsinstitution aufzubauen, um sich gegen die in seinen Augen systematische antichinesische Voreingenommenheit der internationalen Gerichte zu wehren?
Es ist leicht, sich eine düstere Zukunft auszumalen. Doch es gibt auch vielfältige Möglichkeiten einer Zusammenarbeit.
Abgesehen von den geschilderten Auswirkungen, sind vier tiefgreifende Veränderungen zu beobachten, mit denen wir uns beschäftigen sollten. Die junge Generation Chinas weist vier Merkmale auf, die in diesem Zusammenhang von Interesse sind. Das fiel mir auf, als ich nach meinem Studium an der Columbia University nach China ging und vier Jahre dort verbrachte, um mir ein Bild von der Identität der jungen Generation dort zu machen.
Erstens sind die jungen Chinesen weltoffen. Die ältere Generation des Landes wuchs hinter einer kulturellen Mauer auf. Mein Freund Xiao Huan wurde im Jahr 1990 in der Provinz Sichuan geboren, gehört also demselben Jahrgang an wie ich. Seine Eltern erinnern sich daran, dass das Einzige, das sie von der Welt außerhalb Chinas zu sehen bekamen, die zwölf Bilder eines Kalenders mit dem Titel »Felder Europas« ihres Nachbarn waren, in dessen baufälliger Lehmhütte das ganze Dorf regelmäßig zusammenkam. Für die meisten von ihnen war der Westen auf die dumpfen Propagandaslogans beschränkt, die die Kommunistische Partei in der Kulturrevolution ausgab. Sie erhielten Anweisungen wie: »Großbritannien überholen und zu den Vereinigten Staaten aufschließen!«
Chinas junge Millennials hingegen sind mit der Außenwelt groß geworden. Sie sind Digital Natives. Xiao Huan und seine Altersgenossen haben alle zehn Jahre lang verpflichtenden Englischunterricht besucht, und obwohl das Internet in China zensiert wird, sind sie mit amerikanischen Filmen und Fernsehserien aufgewachsen, kennen die neueste westliche Mode und jüngste Trends und verfolgen die Politik des Westens. Viele meiner Freunde in China können Sätze von Barney aus How I Met Your Mother und Martin Luther King zitieren.
Und sie studieren die Welt nicht nur aus der Ferne. Die jungen Chinesen ziehen in die Welt hinaus – und krempeln damit die globale Tourismusindustrie um. Zwei Drittel aller Chinesen, die einen Reisepass besitzen, sind unter 36 Jahre alt. Obwohl nur rund 6 Prozent der chinesischen Bevölkerung einen Reisepass haben, stellt China mehr Auslandstouristen als jedes andere Land, und die meisten dieser Reisenden sind Millennials. Jedes Mal, wenn der Anteil der Chinesen mit Reisepass um 1 Prozent wächst, bedeutet das, dass sich weitere 14 Millionen Menschen der globalen Reiserevolution anschließen. Die Vereinigten Staaten sind längst nicht mehr der lukrativste Reisemarkt der Welt: Die Tourismusbranche muss sich China zuwenden.
Das zweite bestimmende Merkmal der chinesischen Millennials ist, dass sie den Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär geschafft haben. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die größte »kommunistische« Partei der Welt eine der beeindruckendsten kapitalistischen Erfolgsstorys geschrieben hat. Die Eltern meines Freundes, die aus der Provinz Guizhou stammen, haben mir erzählt, dass sie als Kinder während der Kulturrevolution Baumrinde aßen, um nicht zu verhungern. Im selben Jahr – 1969 – diskutierten meine Eltern darüber, ob sie nach Woodstock fahren sollten. Und während das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt der Vereinigten Staaten wie erwähnt seitdem um das 2,6-Fache gestiegen ist, hat Xiao Huan miterlebt, wie das BIP seines Landes pro Kopf im selben Zeitraum um das 30-Fache wuchs. Chinas Jugend hat diesen materiellen und auch persönlichen Aufstieg – vom ländlichen zum städtischen Leben, vom Fahrrad zum Auto, von der Lehmhütte zum Hochhaus – in diesem einen Lebensabschnitt mitangesehen, und diese Erfahrung hat ihr Selbstverständnis und ihr Weltbild geprägt.
Drittens ist die junge Generation mit 400 Millionen Mitgliedern relativ klein. Wie kann man eine solch gewaltige Anzahl von Menschen als kleine Gruppe bezeichnen? Im Jahr 1949, als die Kommunisten die Volksrepublik China gründeten, hatten chinesische Familien im Durchschnitt fünf bis sechs Kinder, und die durchschnittliche Lebenserwartung betrug 36 Jahre. Chinas Bevölkerungspyramide war tatsächlich eine Pyramide, mit einer breiten Basis von Kindern und einer schmalen Spitze aus alten Menschen. Das traditionelle chinesische Rentensystem sah vor, dass die Eltern im Alter von ihren Kindern versorgt wurden, und dieses System war relativ nachhaltig, da sich viele Geschwister an der Pflege der Alten beteiligen konnten. Dennoch gingen die meisten Leute nicht in den Ruhestand; sie starben.
Heute könnte die demografische Entwicklung Chinas die Zukunft der jungen Generation zerstören, denn die Pyramide wird auf den Kopf gestellt. Mit wachsendem Wohlstand ist auch die Lebenserwartung gestiegen; heute werden die Chinesen im Durchschnitt 76 Jahre alt. Aber die Ein-Kind-Politik, die 1979 eingeführt und 2015 formal wieder aufgegeben wurde, hatte zur Folge, dass es mittlerweile gemessen an der Zahl der Alten relativ wenig junge Leute gibt. So kommt es, dass es in China viele 4-2-1-Familien gibt: 4 Großeltern, 2 Eltern und 1 Kind.
Das chinesische Wirtschaftswunder beruhte im Wesentlichen darauf, dass viele Hände viel Arbeit für wenig Geld machten. Aber die junge Generation Chinas besteht aus Einzelkindern. Sie können und werden sich nicht länger darauf beschränken, die Hemden der Welt zu nähen. Dank der Innovation wird diese Generation verhindern, dass China in die Falle des mittleren Einkommens gerät, das heißt in jene Situation, in der sich das Wachstum von Entwicklungsländern deutlich verlangsamt, sobald sie ein mittleres Einkommensniveau erreicht haben. Die jungen Chinesen wissen, dass sie entweder Unternehmergeist beweisen und wertvollere Arbeitsplätze schaffen müssen – oder nicht in der Lage sein werden, die alternde Bevölkerung zu versorgen. Diese entschlossene Generation von Unternehmern wird mit den amerikanischen Innovatoren auf der Weltbühne konkurrieren. Apps wie WeChat von Tencent, das mittlerweile fast eine Milliarde Benutzer hat, sind bereits technologisch fortschrittlicher als entsprechende Dienste in den Vereinigten Staaten. Ohne WeChat zu verlassen, kann man auf Facebook, Instagram, Skype, WhatsApp, Yelp, Venmo, ApplePay, Groupon, Uber, Teile von Amazon und eine Vielzahl anderer Dienste zugreifen (kontrollieren, ob die Hemden aus der Reinigung abgeholt werden können, Bitcoins schicken, einen Karaoke-Raum buchen oder, wenn man zu viel getrunken hat, einen Fahrer rufen, der auf dem Motorroller kommt und den Kunden in seinem eigenen Auto sicher nach Hause bringt), die allesamt in einer einzigen Super-App untergebracht sind. Einige junge Unternehmer – darunter vor allem Programmierer – sorgen bereits für Aufsehen, wie der 22-jährige Guo Yingda, der eine Internetfirma gegründet hat, um Bauern mit Stadtbewohnern in Kontakt zu bringen. Letztere bestellen Bio-Lebensmittel direkt bei den Landwirten, sodass diese die Nachfrage nach ihren Produkten einschätzen und die Ernte optimieren können. Auf globaler Ebene könnte das Online-to-Offline-Modell das Agrargeschäft revolutionieren und die wachsende Kluft zwischen städtischem und ländlichem Raum verringern.
Die Unfähigkeit, die älteren Menschen zu versorgen, verwandelt nicht nur eine wirtschaftliche in eine politische Krise, sondern beschwört auch eine spirituelle Krise herauf. Die Fürsorge für die Eltern ist Teil von 孝顺 (xiàoshùn), einem Konzept, das nur unzureichend mit »Anstand der Nachkommen« übersetzt werden kann. Seinen Eltern ein guter Sohn oder eine gute Tochter zu sein, ist gleichbedeutend damit, ein guter Mensch zu sein. Die Angehörigen der heutigen jungen Generation leiden darunter, dass sie für ihre Eltern sorgen wollen, eigentlich jedoch nicht dazu in der Lage sind.
Diese Generation der Einzelkinder wird oft als Heer von »kleinen Kaisern« bezeichnet, faul und verdorben durch ein Übermaß an Fürsorge. Aber all diese Fürsorge bringt einen nur schwer vorstellbaren Druck mit sich: Die Kinder müssen an erstklassigen Schulen aufgenommen werden, sie müssen im Berufsleben erfolgreich sein, heiraten, Kinder haben und schließlich die ganze Familie ernähren. Manche junge Chinesen sind tatsächlich verwöhnt, aber viele fühlen sich von der übermäßigen Fürsorge und den hohen Erwartungen erdrückt. Die jungen Chinesen wenden viel Zeit für das Lernen und dafür auf, sich auf einem extrem umkämpften Bildungs- und Arbeitsmarkt einen kleinen Vorteil zu verschaffen. Mittlerweile kommt jeder dritte Auslandsstudent in den Vereinigten Staaten aus China, und die Mehrheit dieser Studenten zahlt die vollen Studiengebühren. Auf kurze Sicht verdienen die amerikanischen Universitäten viel Geld mit den chinesischen Millennials. Langfristig werden diese hochqualifizierten Chinesen in ihre Heimat zurückkehren, wo sie bessere berufliche Möglichkeiten vorfinden.
Das vierte Merkmal der jungen Generation Chinas ist ihr Stolz. Diese Millennials haben miterlebt, wie sich ihr Land mit einer in der Menschheitsgeschichte beispiellosen Geschwindigkeit aus der Armut befreit hat. Im Jahr 1990 wurde die Diskussion über Maos Errungenschaften in den chinesischen Schulen durch eine Auseinandersetzung mit den historischen Leistungen Chinas ersetzt. In Kombination mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Landes hat diese Neuausrichtung der Bildung den Nationalstolz der chinesischen Jugend gefestigt.
Ihr ausgeprägtes Selbstbewusstsein ist nicht mit der stillschweigenden Überzeugung vereinbar, »Modernisierung« sei gleichbedeutend mit »Verwestlichung«. Interessant ist, dass der intensivere Austausch mit dem Westen die Begeisterung vieler Angehöriger dieser Generation für die Funktionsweise der westlichen Gesellschaften abgekühlt hat.
Sie betrachten ihr eigenes Regierungssystem als effektiv, wenn auch fehlerbehaftet. Die Begegnung mit den Vereinigten Staaten durch Bildung und Unterhaltung hat bei vielen jungen Chinesen zu der Überzeugung geführt, dass nicht nur ihr eigenes, sondern alle Regierungssysteme fehlerbehaftet sind und dass das chinesische zumindest den Vorteil hat, den Fortschritt voranzutreiben. Dennoch haben sie die staatliche Zensur satt und sind besorgt über die neuen, anmaßenden Internetreformen und kulturellen Standards, die Parteichef Xi Jinping in den letzten Jahren durchgesetzt hat, darunter die Beschränkungen für Posts auf WeiBo und das beunruhigend harte Vorgehen gegen die populäre chinesische Rapszene.
Die junge Generation Chinas sehnt sich nach Freiheit. Die Millennials tätowieren sich das Wort auf den Bizeps und nehmen es in ihre Musiktexte auf. Aber die meisten von ihnen sehnen sich nicht nach Freiheit von einer Regierung, die sie unterdrückt und einschränkt, sondern nach Freiheit von der Unterdrückung und Einschränkung durch in der Tradition verwurzelte Erwartungen.
Junge Chinesinnen werden dazu angehalten, eine bessere Bildung anzustreben, um sich auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen zu können – aber sie werden als »übrig gebliebene Frauen« bezeichnet, wenn sie spät oder gar nicht heiraten. Von jungen Männern wird erwartet, dass sie sich um ihre Eltern kümmern und ihnen ein Enkelkind schenken – aber gleichzeitig müssen sie eine eigene Wohnung besitzen, bevor sie als »heiratstauglich« eingestuft werden können. Also müssen sie sich Geld von ihren Eltern und Großeltern leihen, anstatt diese finanziell zu unterstützen. Und wenn sie das tun, werden sie »Elternesser« genannt.
Diese junge Generation ist die erste in der modernen Geschichte Chinas, deren Angehörige sich mehrheitlich keine Gedanken über existenzielle Fragen wie jene machen müssen, ob ihre Familie genug zu essen haben wird. Stattdessen fragen sie sich: »Was will ich für mich selbst? Für meine Familie? Für mein Land?« Sie sind die Identitätsgeneration, die rastlose Generation – und die erste Generation, die in der Lage sein wird, eine Antwort auf die Frage zu geben, was es bedeutet, in der modernen Welt Chinese zu sein.
Und was ist mit den »Millennial-Werten« wie dem Klimawandel? »Liberale Werte« wie Klimaschutz oder LGBTQ-Rechte werden in China oft durch die Linse der unmittelbaren Erfordernisse betrachtet. Während der »Klimawandel« für die meisten jungen Chinesen kein drängendes Problem ist, macht die Luftverschmutzung in den chinesischen Städten vielen von ihnen durchaus zu schaffen. Warum? Sie wollen nicht, dass ihre Kinder vergiftete Luft einatmen.
Wie stehen junge Chinesen beispielsweise zu Greta Thunberg und den gesellschaftlichen Bewegungen, die in Westeuropa und den Vereinigten Staaten junge Aktivisten anlocken? Wird es in China eine Fridays-for-Future-Bewegung geben, werden Tausende junge Menschen für den Klimaschutz und andere wichtige Anliegen, die ihre Zukunft betreffen, auf die Straße gehen?
Die Antwort lautet sowohl aus persönlichen als auch aus politischen Gründen vorerst »Nein«. Meine Freunde in China bezeichnen solche Anliegen oft als Luxusfragen, die sich die Chinesen – die überwiegend auch heute noch hart arbeiten müssen, um in ihrer von rasanter Verstädterung und Modernisierung geprägten Welt über die Runden zu kommen – immer noch nicht leisten können.
Dazu fällt mir eine Geschichte ein. Während des Präsidentschaftswahlkampfs in den USA im Jahr 2016, als sich Donald Trump und Hillary Clinton gegenüberstanden, postete ich erstmals eine Stellungnahme auf Zhihu, einer chinesischen Site, die Ähnlichkeit mit der beliebten Wissensplattform Quora hat. Auf Zhihu wurden Fragen zu Liebe bis zu Politik gestellt: »Welche Vorteile hat die emotionale Intelligenz gegenüber der herkömmlichen Intelligenz?« Oder: »Wie kann ich das hübscheste Mädchen in der Klasse auf mich aufmerksam machen?« In Chinas bisweilen derber Internetkultur war Zhihu lange Zeit ein Refugium, in dem sich Leute versammelten, um bemerkenswert offene, leidenschaftliche Gespräche über die Fragen zu führen, die ihnen am Herzen lagen.
Ich verfolgte seit Jahren die Diskussionen auf Zhihu, und die Wahlkampfdebatten zwischen Donald Trump und Hillary Clinton bewegten mich zu meinem ersten Posting dort. Ich schrieb über meine Bedenken bezüglich der Interessenkonflikte Trumps, seines zweifelhaften Charakters und seiner Geringschätzung sozialer Fragen. Nachdem ein chinesischer Freund das Posting gegengelesen hatte, um sicherzustellen, dass ich mich klar ausgedrückt hatte, setzte ich die Meldung nervös ab und ging schlafen.
Am nächsten Morgen stellte ich fest, dass im Internet ein Sturm über mich hereingebrochen war. Man hatte mich auf Zhihu mit wütenden Reaktionen überhäuft. Dass ein Ausländer in Chinesisch postete und noch dazu mit einem derart polarisierenden Inhalt, schien einen Nerv getroffen zu haben, und die meisten Reaktionen waren kritisch zu Clinton und mir. Ein von vielen Lesern gelobter Kommentator fasste die Kritik in einer Frage zusammen: »何不食肉糜?«
Warum essen sie nicht einfach Fleisch?
Das war der hochgestochenste Kommentar, der im Internet je gegen mich gepostet wurde. Das Zitat stammt von Kaiser Hui, dem zweiten Herrscher der Jin-Dynastie. Im Jahr 259 litt die Bevölkerung seines Reiches nach einer schweren Missernte Hunger. In ihrer Verzweiflung aßen die Menschen Gras und Baumrinde. Nachdem ein Bericht über die Hungersnot den kaiserlichen Hof erreicht hatte, eilte einer der Reichskanzler zum Kaiser, um ihm die Nachrichten zu überbringen und um Anweisungen zur Bewältigung der Krise zu bitten.
Nach reiflicher Überlegung, so die Geschichte, sagte der gutherzige junge Kaiser, der nicht einen Tag seines Lebens außerhalb der Mauern seines Palastes verbracht hatte, ernsthaft: »Wenn die Menschen keinen Reis haben, warum essen sie dann nicht einfach Fleisch?«
Die Geschichte des Herrschers, dem die Bedürfnisse seines Volkes vollkommen fremd waren, veranschaulicht, dass die Sorgen der umfassend gebildeten, kosmopolitischen jungen Menschen wenig mit denen der großen Masse der Bevölkerung zu tun haben. Sofern die Fragen sie nicht unmittelbarer betreffen – wie die Verschmutzung von Luft, Lebensmitteln und Wasser –, gibt es einfach drängendere Probleme.
Hat die junge Generation Chinas ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein entwickelt? In jedem Fall. Wird sie Plastikstrohhalme verbieten, um Meerestiere zu schützen? Noch nicht.
Die Geschichte von Kaiser Hui veranschaulicht auch, dass politische Fragen in China vollkommen anders betrachtet werden als in der westlichen Welt. In meiner Heimat sehen wir die Politik als Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts, zwischen einer Partei und der anderen. In China findet die politische Auseinandersetzung zwischen Oben und Unten, zwischen den politischen Eliten, den Mächtigen an der Spitze der Partei und den 老百姓, lǎo bǎi xìng, den »alten hundert Namen«, also dem gemeinen Volk statt. Die größte Sorge besteht darin, dass die an der Spitze nur ihre eigenen Interessen verteidigen und aus den Augen verlieren werden, was für die gewöhnlichen Menschen wichtig ist.
In den letzten zehn Jahren, die ich in Asien verbrachte, hatte ich das Glück, Deutsche zu meinen Freunden zu zählen, die mir die deutschen Wurzeln meiner Familie in Erinnerung riefen. Meine Familie war zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Deutschland in die Vereinigten Staaten ausgewandert, um ein neues Leben zu beginnen. Seit fünf Jahren beobachte ich die Entwicklungen in Deutschland, in der Hoffnung, dass es die globale Führungsrolle übernimmt, die ich eigentlich von meinem eigenen Land erwarte. Ich bin dankbar für die Reife, die Deutschland auf der Weltbühne beweist.
Im Gespräch mit deutschen Freunden, Geschäftsleuten und Kennern des schwierigen Regierungshandwerks ist mir aufgefallen, dass es ihnen oft schwerfällt, die Welt mit den Augen der Chinesen zu betrachten. Das Interesse an China ist groß, aber wie in Großbritannien und den Vereinigten Staaten halten auch in Deutschland viele Leute an einem festgefahrenen Weltbild fest, das es ihnen erschwert, China zu verstehen.
In den Vereinigten Staaten herrschen besonders übertriebene Vorstellungen seit der Ära von America First. Wir leben in einer Zeit, in der wir unentwegt mit negativen Berichten über China gefüttert werden, und die Mentalität des »Wir gegen sie« scheint sich immer weiter zu verfestigen. Die Journalisten, mit denen ich spreche, haben das Gefühl, in einer Zwickmühle zu stecken: Da niemand positive Nachrichten über China liest, konzentrieren sie sich fast ausschließlich auf negative und politische Meldungen.
So schüren wir das Feuer des Nationalismus in China. Unsere Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft, die Welt – den Konflikt im Südchinesischen Meer, Hongkong oder den Handelskrieg – mit den Augen Chinas zu betrachten, hat auf die Jugend Chinas eine zusehends frustrierende Wirkung. Die jungen Chinesen sind sich der Tatsache bewusst, dass ihre Regierung alles andere als vollkommen ist, aber sie sind stolz auf die Leistungen ihres Landes in den vergangenen Jahrzehnten. Darüber hinaus wächst der Unmut über unsere mangelnde Bereitschaft, bei uns selbst ähnlich strenge Maßstäbe anzulegen wie bei ihrem Land. Wenn meine Freunde in China von einem Besuch in meiner Heimatstadt San Francisco zurückkehren, wo sie auf der Straße über schlafende Obdachlose steigen mussten, fragen sie mich, was wir mit Menschenrechten meinen. Wenn Politiker nach einem weiteren Massaker an einer Schule statt politischer Maßnahmen »Gebete« vorschlagen, fragen sie mich nach dem Unterschied zwischen »Lobbying« und Korruption. Es ist nicht so, dass sie ihr Regierungssystem für vollkommener halten als unseres; es stört sie einfach, dass wir bei der Selbstkritik anscheinend andere Maßstäbe anlegen als bei der Kritik an ihnen. Diese Tendenz, mit zweierlei Maß zu messen, und die anscheinend nicht enden wollende Kritik an China werden den nationalistischen Graben vertiefen, solange wir nicht bereit sind, mehr Empathie zu zeigen.
So abstrakt das Wort »Empathie« klingen mag, bin ich davon überzeugt, dass wir uns in der Auseinandersetzung mit China auf die Menschen konzentrieren müssen, um unsere Probleme mit dem Land zu bewältigen – sei es die Entwicklung einer Markenkampagne oder der Beginn von Friedensgesprächen. Es ist äußerst schwierig, Liebe zu einer Makroökonomie zu entwickeln. Es ist nicht leicht, ein Gefühl des Zusammenhalts mit einer politischen Landschaft zu entwickeln. Aber Verständnis auf zwischenmenschlicher Ebene kann sowohl wirtschaftlich als auch politisch positive Veränderungen bewirken. Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch zu diesem Verständnis beitragen kann.
Die folgende Redensart erfreute sich im chinesischen Internet eine Zeit lang großer Beliebtheit: 屁股决定脑袋, (pìgu juédìng nǎodai), wörtlich übersetzt: »Dein Hintern lenkt dein Gehirn.« Gemeint ist damit Folgendes: Wo auch immer wir uns auf der Welt befinden, welche Menschen uns täglich umgeben, was wir um uns herum sehen und erleben, worüber wir sprechen und wo wir aufwachsen – all das hat einen sehr viel größeren Einfluss auf unser Weltverständnis, als wir uns eingestehen möchten.
Mit Young China möchte ich meinen Leserinnen und Lesern helfen, besser zu verstehen, wie die Welt aussieht, wenn man sie von dem Platz aus betrachtet, an dem sich meine Altersgenossen in China befinden.
Anmerkungen zum Kapitel
* Die Angaben stammen von der Weltbank. Wegen fehlender Wirtschaftsdaten werden für Polen und Ungarn die Zahlen des Pro-Kopf-BIP aus den jeweils verfügbaren Jahren 1991 und 1995 herangezogen. Obwohl Hongkong rechtmäßig eine Sonderverwaltungszone der Volksrepublik China ist, ist es als eigener Posten in der Grafik aufgeführt, um die gewaltigen Unterschiede in der Entwicklungsgeschwindigkeit der Region aufzuzeigen. Hongkongs wirtschaftlicher Aufschwung vor der Wiedervereinigung mit China im Jahr 1997 hat große Auswirkungen auf die Kultur und Identität der jungen Generation in Hongkong.