Titel

Zoë Beck

Das falsche Leben

Thriller

Suhrkamp

Der vorliegende Text ist eine durchgesehene Version des 2008 unter dem Titel Wenn es dämmert bei Bastei Lübbe, Köln, erschienenen Romans.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5198.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlagabbildungen: Susanne Neumann/iStock/Getty Images (St. Andrews); FinePic(c), München (Wolken, Rastertexture)

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

eISBN 978-3-518-76999-7

www.suhrkamp.de

Das falsche Leben

1

»I incline to Cain’s heresy«, he used to say quaintly: »I let my brother go to the devil in his own way.«

»Ich verstehe Kains Ketzerei«, pflegte er mit seiner etwas gezierten Art zu sagen. »Ich lasse meinen Bruder auf seine Weise zum Teufel gehen.«

Mr Utterson in
»Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde«

Berlin, September 1948

»Dann lass ihn dafür bezahlen.«

»Wofür?«

»Du hast gesagt, er interessiert sich für dich. Lass ihn dafür bezahlen!«

»Was meinst du? Wofür bezahlen?«

»Das merkst du schon, wenn es so weit ist. Was weißt du über ihn?«

»Ich weiß nicht … Er ist Offizier. Bei den Fliegern.«

»Wie alt?«

»Ich weiß nicht …«

»Vierzig? Fünfzig?«

»Nein, nein, jünger …«

»Sieht er gut aus?«

»Ich weiß nicht …«

»Ichweißnichtichweißnicht! Kannst du auch etwas anderes sagen als immer nur Ichweißnicht? Ständig jammern! Sollen wir verhungern? Stell dich nicht so an. Mach, was er von dir will, und lass dich dafür bezahlen. Zigaretten, Schokolade, Strümpfe, alles, was du von ihm bekommen kannst.«

»Er denkt, ich bin schon viel älter.«

»Natürlich denkt er das. Du hast ja allen erzählt, du wärst älter. Sonst hättest du nicht im Kasino arbeiten können. Oder denkst du, sie hätten einer Vierzehnjährigen diese Arbeit gegeben?«

»Du hast mir gesagt, ich soll sagen, ich sei älter.«

»Und? Haben sie es dir geglaubt? Na also. Und ohne deine Zöpfe siehst du wirklich viel älter aus. Du hast doch gesagt, dir gefällt deine neue Frisur?«

Sie zuckte die Schultern.

»Du hast jetzt Locken wie eine erwachsene Frau, und du hast Arbeit wie eine erwachsene Frau. Also benimm dich auch wie eine erwachsene Frau. Ist sonst noch was?«

Sie schwieg. Malte mit dem Zeigefinger Figuren auf den leeren Küchentisch, ohne Spuren zu hinterlassen. Malte ein Herz auf den Tisch, das niemand sehen konnte. Wischte es schnell wieder weg.

Ihre Tante fragte wieder: »Ist sonst noch was?«

»Muss ich alles machen, was er von mir will?«

»Mach einfach mit, denk nicht darüber nach, denk nur daran, dass er dir immer etwas dafür gibt.«

»Und wie lange …«

Ihre Tante antwortete mit einem kurzen, trockenen Lachen. »Frag die Russen, wann sie die Blockade aufheben!«

»Machen das alle Frauen?«

»Ja, Schätzchen, das machen alle Frauen.«

Wieder schwieg sie, und als ihre Tante schon aus der Küche gehen wollte, fragte sie: »Glaubst du, er liebt mich?«

Ihre Tante blieb stehen, aber sie drehte sich nicht zu ihr um. »Egal, was er sagt, er wird dich nicht heiraten.«

»Wieso …«

»Verstehst du denn gar nichts? Wir sind immer noch der Feind.«

1

Die schwarze Wolke hob sich langsam und wurde zu einem Raben, der mit ausgebreiteten Schwingen in den Nebel flog. Sie hörte ihn rufen, selbst dann noch, als ihn der Nebel verschluckt hatte und sie ihn nicht mehr sehen konnte. In die Rufe des Raben mischte sich ein Knall, und jetzt lag der Rabe vor ihr auf dem Rasen, die Flügel gebrochen. Dickes Blut quoll über sein nachtschwarzes Gefieder, und er starrte sie mit toten Augen an. Sie hörte seine Rufe noch immer, und da begriff sie, dass etwas nicht stimmte. Mit ihr. Sie wand sich vor Schmerz, als sie zu sich kam.

Der Schmerz saß in ihrem Unterleib, stechend und krampfend. Sie fühlte, dass ihr Körper mit Schweiß bedeckt war, obwohl sie fror. Sie konnte den Schweiß riechen, es war nicht ihr Geruch. Als sie mit der linken Hand nach ihrem Bauch tastete, bemerkte sie etwas Klebriges, Feuchtes, das langsam an ihr herunterlief. Ihre Hand zuckte zurück, und sie drehte sich von der Seite auf den Rücken.

Das war besser. Die Schmerzen ließen etwas nach, aber sie fror noch immer. Der Boden, auf dem sie lag, fühlte sich wie Teppich an: etwas rau. Sie winkelte ihre Beine an und konzentrierte sich auf die Schmerzen, um herauszufinden, woher sie kamen.

Es kam ihr vor, als hätte sie ein Messer verschluckt. Aber der Schmerz in ihrem Unterleib war nicht der einzige.

Zwischen ihren Beinen war noch ein anderer. Viel dumpfer. Mit der rechten Hand tastete sie hinab zu ihren Schamlippen: Sie waren geschwollen und wund. Im selben Moment fiel ihr noch ein Geruch auf – erst jetzt, weil ihre Sinne sich entschieden hatten, sie nicht weiter zu betrügen. Erbrochenes. Das also war das feuchte Zeug auf ihrem Körper.

Sie öffnete vorsichtig die Augen. Ihre Lider waren so schwer wie der Samtvorhang einer alten Theaterbühne. Die Haut in ihrem Gesicht spannte. Sie sah sich um, konnte aber gerade mal erkennen, dass sie in einem Badezimmer war. Es war zu dunkel. Durch das Milchglasfenster drang kaum Licht. Sie war irgendwo zwischen Tag und Nacht. Oder Nacht und Tag.

Unsicher stemmte sie sich vom Boden hoch und setzte sich auf. Musste sich an den Badewannenrand lehnen und warten, bis das Summen in ihren Ohren nachließ und keine Heerscharen von Sternschnuppen mehr vor ihren Augen herunterfielen, bis die Dunkelheit in ihrem Kopf aufhörte, sich zu drehen, und die Badewanne keine Nussschale auf offener See mehr war.

Sie stellte sich hin, hielt sich aber noch fest, denn der Boden wankte hinterhältig. Eine Hand legte sie auf das Waschbecken, die andere auf den Wannenrand. Vor dem Milchglasfenster hing eine weiße Gardine, und hinter dem Fenster wurde es ein klein wenig heller. Hell genug, um zu erkennen, was sie schon die ganze Zeit wusste, aber nicht erklären konnte: Dies war nicht ihr Badezimmer.

Sie kletterte in die Wanne, ihre Knie knickten ein, und sie setzte sich hin. Sie duschte sich im Sitzen ab, drehte dabei das Wasser immer heißer, bis sie es nicht mehr aushielt. Noch ein bisschen mehr, und ihre Haut würde Blasen schlagen.

Goldene Wasserhähne, dachte sie, auch wenn sie sie nicht richtig sehen konnte. Dann dachte sie an das Erbrochene und überlegte, warum sie solche Schmerzen hatte, aber diese Gedanken wollten nicht den ganzen Weg gehen, nahmen eine Seitenstraße, verliefen sich in Sackgassen, kehrten wieder um und verschmolzen mit den goldenen Wasserhähnen.

Als sie den Duschvorhang wegschob, sah sie wieder den Nebel und bekam Angst vor dem toten Raben, bis sie begriff, dass es nur Wasserdampf war und alles andere ein Traum. Sie wischte den beschlagenen Spiegel nicht frei, wozu auch, es war zu dunkel. Sie wusste nicht, wo hier ein Lichtschalter war. Wo hier überhaupt irgendetwas war. Wo hier war.

Als Nächstes suchte sie Handtücher und fand keine. Vielleicht draußen. Langsam und leise öffnete sie die Tür. Sie wollte nicht, dass jemand sie hörte, obwohl sie nicht wusste, wer da sein könnte, um sie zu hören. Oder warum es nicht gut war, gehört zu werden.

Vor dem Badezimmer war es totenstill. In ihren Ohren rauschte es dumpf. Sie ging den Flur entlang, die Schmerzen ließen nur vorsichtige Schritte zu. Durch das Fenster am Ende des Gangs sah sie, wie ein dunkelblauer Himmel versuchte, sich von schwarzen, hohen Bäumen abzuheben. Die Äste bewegten sich ganz leicht, als würden sie dirigieren.

Alle Türen, die von dem Flur abgingen, waren geschlossen. Sie wusste nicht, was sich hinter ihnen befand, wusste nur, dass es schwere, dunkle Holztüren waren. An den Wänden hingen Ölgemälde, doch nur die vergoldeten Rahmen traten eitel aus dem Dämmerlicht hervor, die Leinwände wollten nicht gesehen werden und drückten sich in den Schatten.

Sie hinterließ kleine Wasserpfützen, während sie sich langsam vorarbeitete. Sie fror jetzt wieder. Verdunstungskälte, dachte sie und wunderte sich, während sie eine Treppe hinunterging, über diesen Gedanken. Auf der Hälfte blieb sie stehen, direkt vor einem der Ölbilder, und starrte es so lange an, bis sie etwas erkennen konnte. Ein blasser Mann mit dunklem Spitzbart starrte zurück, nein – knapp an ihr vorbei. Als gäbe es hinter ihr etwas Wichtiges zu sehen. Sie konnte nicht anders und drehte sich um, aber sie sah nichts.

Sie ging hinunter in eine Halle, fand einen Schalter, klickte ihn nach oben, dann wieder nach unten. Die Dunkelheit blieb.

Es roch komisch, aber sie konnte den Geruch nicht einordnen. Die Haustür war nur angelehnt. Vielleicht kam der Geruch von draußen. Sie versuchte, sich zu orientieren, ohne darauf zu achten, wo ihre Füße Halt fanden. Sie stolperte, fing sich, trat in etwas Klebriges, Feuchtes.

Nicht schon wieder, dachte sie, hab ich hier auch hingekotzt? Roch es deshalb so komisch? Nein, es roch anders. Sie wollte sich hinknien und nachsehen, worüber sie gestolpert war, als sie der Strahl einer Taschenlampe ins Gesicht traf.

Die Tür. Jemand musste die Tür leise aufgedrückt haben. Sie hatte nichts gehört. Sie stand nur da und bewegte sich nicht. Dachte daran, dass sie Schmerzen hatte. Fühlte sich so elend, dass sie sich wieder hinlegen wollte, gleich hier auf den Boden. Der Lichtstrahl wanderte an ihr herab. Sie folgte ihm mit den Augen, dachte: Ich bin immer noch nackt, ich wollte doch ein Handtuch holen. Bis der Lichtstrahl an ihren Füßen angelangt war und sie sah, was das Klebrige, Feuchte unter ihren Füßen war. Kein Erbrochenes, sondern Blut. Es sickerte aus dem, was vor ihr lag. Es war nicht der Rabe aus ihrem Traum. Das Rauschen in ihren Ohren wurde lauter, das Licht der Taschenlampe schien sich zu verdunkeln.

Der Mann hinter der Lampe kam in die Halle. Er trug eine Uniform und bewegte seinen Mund. Dabei sah er aus, als hätte er Angst vor ihr. Hinter ihm standen noch mehr Männer, auch sie bewegten ihre Münder, wie ein Chor, aber sie hörte nichts, immer noch nichts, außer dem Rauschen, das sie so wohlig umschloss, als käme es direkt von den Wellen der Nordsee. Ihr Blutdruck sank weiter ab, die Sternschnuppen fingen wieder an zu tanzen, und sie fiel zu Boden.

2

Es wurde gerade erst hell, und der Hafen von Rosyth war noch nicht aufgewacht, als der Mann seinen Range Rover bis zu dem Gebäude der Zollbehörde fuhr und davor anhielt. Er liebte den Anblick der schlafenden Kräne und lächelte, als er sein Autoradio andrehte. Nikolai Tokarew spielte »La Campanella« von Franz Liszt. Er ließ das Fenster einen Spaltbreit herunter und wartete darauf, dass sich die Beifahrertür öffnete.

Es dauerte nicht lange, bis der andere kam. Er drehte das Radio aus. »Setz dich«, forderte er ihn auf. »Schön, dich zu sehen.«

»Guten Morgen, Art, du bist früh dran.«

Art nickte. »Viel zu tun, Duncan. Bin gerade aus Newcastle hochgekommen. Aber ich wusste ja, dass ich dich hier treffe. Sag mal, mein Freund, wie war dein Kurzurlaub in Brighton?«

Duncans Grinsen war eine Meile breit. »Hervorragend. Hätte nicht besser sein können.«

Nun grinste auch Art. »Es hat die ganze Zeit geregnet, wenn man dem Wetterbericht für Südengland glauben darf! Ein Scheißwetter hattet ihr da unten an der Küste, mein Freund!«

»Keine Ahnung, ich war nicht ein einziges Mal vor der Tür.«

Beide Männer lachten.

»Dann war deine … Begleitung also ganz zu deiner Zufriedenheit?«

»Art, du weißt, was mich glücklich macht.«

Art nickte. »Nachher kommen drei LKW aus Deutschland. Holzmüller International Transports, schwarze Schrift auf Gelb. Die Kennzeichen beginnen mit F, für Frankfurt. Diese Deutschen mit ihren seltsamen Nummernschildern! Musst du sonst noch irgendetwas wissen?«

Duncan schüttelte den Kopf. »Geht alles klar. Wie viele sind drin?«

Art sah ihn tadelnd an. »Keine Details, mein Freund, daran hat sich nichts geändert.«

Der andere Mann war mit den Gedanken längst woanders. Er fuhr nervös mit dem Zeigefinger eine unsichtbare Linie auf dem Armaturenbrett nach. »Sag mal, Art, ich hätte am Dienstag frei, meinst du, ich könnte wieder …«

Duncan unterbrach sich, weil Arts Handy klingelte. Art nahm den Anruf entgegen, hörte zu, steckte das Handy wieder weg, ohne ein Wort gesagt zu haben. Dann sah er Duncan an und legte Trauer, tiefer als Loch Ness, in seinen Blick.

»Das wird heute das letzte Mal sein«, sagte er und erkannte, dass Duncans Überraschung echt war.

»Was ist passiert?«

»Mir scheint, jemand ist unruhig geworden und will, dass deine Leute ab sofort gründlicher vorgehen.«

»Da … davon weiß ich nichts«, stotterte Duncan, und von dem Grinsen, mit dem er Art begrüßt hatte, war nichts mehr übrig.

»Nein? Das hoffe ich für dich. Denn wenn heute einer von meinen Fahrern kontrolliert wird, sind wir keine Freunde mehr.«

»Was … willst du jetzt machen?«, fragte Duncan.

»Es gibt mehr als einen Weg auf diese Insel. Und immer dran denken, mein Freund: Neugier ist der Katze Tod!«

Duncan zögerte. »Also wird es nichts mit Dienstag.« Es klang kleinlaut und war mehr Feststellung als Frage.

»Wenn heute alles glattgeht …«, begann Art.

»Das wird es! Verlass dich auf mich! Ich … ganz ehrlich, von mir hat niemand was erfahren.«

Art bedeutete ihm auszusteigen. Duncan gehorchte und trabte zurück in Richtung seines Büros.

Er wusste, dass Duncan nichts verraten hatte, weil er sonst alles verlieren würde. Nicht nur seinen Job, seine Frau, seine Kinder. Vor allem würde er nie wieder so ein Rendezvous haben, wie Art sie ihm vermittelte. Stattdessen würde er wegen Unzucht ins Gefängnis kommen. Die Männer im Gefängnis würden nicht seinem Geschmack entsprechen. Sie würden alle um einiges zu alt für ihn sein.

Unzucht. Was für ein seltsames Wort, dachte Art, aber es passte zu Duncan, in dessen Keller sich die Leichen nur so stapelten. Nein, Duncan hatte nichts verraten.

Er sollte ruhig schwitzen, das schadete ihm nicht. Art würde herausfinden, wo das Leck war. Und keine Stelle war so undicht, dass er sie nicht flicken konnte. Außerdem hatte er bereits einen Verdacht. Er öffnete sein Handschuhfach und kontrollierte den Inhalt. Ein kurzer Schlagstock aus Eisen. Eine Pistole. Pfefferspray. Ein Schlagring. Ein Klappmesser. Für jede Gelegenheit das Richtige. Zufrieden schloss er es wieder, startete den Wagen und verließ das Hafengelände.

Die Küstenstraße, dachte er. Das ist der beste Weg nach Leven − und in diesem Licht auch die schönste Strecke. Er ließ Hillend und Aberdour hinter sich und war kurz vor Kirkcaldy, als er Polizeisirenen hörte. Art sah in den Rückspiegel: Ein Streifenwagen war hinter ihm. Er blinkte links und hielt an.

Die beiden Polizisten stiegen aus und kamen auf seinen Range Rover zu. Einer blieb im Hintergrund, ging um das Auto herum, notierte sich das Kennzeichen und kontrollierte die Beleuchtung. Der andere beugte sich zu ihm hinunter.

»Officer, was kann ich für Sie tun?«, fragte Art liebenswürdig.

»Ihre Papiere bitte.«

Er gab sie ihm und wartete mit einem Lächeln.

»Haben Sie etwas getrunken?«

»Ich trinke nie.«

»Dann wären Sie mit einem Test einverstanden?«

»Natürlich.« Art stieg aus und blies in das Testgerät. Null Komma null. Er trank wirklich nie.

»Vielen Dank, Sir. Sie sind ein wenig zu schnell in die Kurve gefahren, deshalb haben wir uns Sorgen gemacht. Es gab gestern Nacht auf dieser Strecke einen schlimmen Unfall. Zwei Jugendliche sind gestorben.«

»Schrecklich«, murmelte Art. »Es ist aber auch eine vertrackte Kurve.«

»Fahren Sie bitte vorsichtig, Sir.«

»Das werde ich. Danke, Officer. Einen schönen Tag noch.«

Art ließ sich seine Papiere zurückgeben und stieg ein. Er startete den Range Rover. Da er nicht wusste, ob ihn die Polizisten beobachteten, fuhr er zunächst weiter in Richtung Kirkcaldy. Von dort aus würde er eine Straße nehmen, die ihn auf die Autobahn brachte.

Da man ihn kontrolliert hatte, konnte er nicht mehr nach Leven fahren. Das musste er verschieben. Aber bei Art hatte noch jeder Verräter seine Strafe bekommen. Auf einen Tag kam es nicht an.

Eine Stunde später war er in seinem Haus in Corstorphine angekommen. In den klaren frühen Morgenstunden, wenn noch alles ruhig war, aber die ersten Sonnenstrahlen bereits über die Stadt krochen, konnte man die Tiere im Zoo besonders gut hören. Sie wachten gerade auf. Art liebte diese Geräusche.

Er fühlte sich wohl in dieser ruhigen Mittelklassegegend im Westen Edinburghs. Von hier aus war er schnell auf der Autobahn in Richtung Glasgow oder in die Highlands, schnell auf der Straße zur Forth Road Bridge, die ihn nach Fife brachte, schnell auf dem City Bypass, falls er nach England wollte. Und es gab keinen besseren Unterschlupf als zwischen Doppelverdienern – mit oder ohne Nachwuchs –, die in ihrem durchgeplanten Alltag keine Zeit hatten, sich um das Kommen und Gehen der Nachbarn zu kümmern.

Art schloss seine Haustür auf, ließ die Alarmanlage wissen, dass er wieder zurück war, und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen. Er schaltete das Radio ein und wartete auf die Fünf-Uhr-Nachrichten.

Die erste Meldung galt dem Tod des amerikanischen Spitzengolfers Matthew Barnes. Er war in dieser Nacht von einem oder mehreren unbekannten Tätern in seinem Haus in St Andrews ermordet worden. Verwundert schüttelte Art den Kopf: Matt? Warum Matt? Wer würde denn ausgerechnet Matt …?

Er schaltete das Radio aus und seufzte kopfschüttelnd.

Ein sehr guter Kunde weniger.

Armer Matt.

Nun, es würden neue kommen.

3

Als sie diesmal zu sich kam, waren die Schmerzen ganz weit weg. Sie waren hinter der Nebelwand verschwunden und trieben dort irgendwo herum. Jemand hatte sie auf ein Sofa gelegt und eine Decke über sie gebreitet. In ihrer Armbeuge sah sie ein Heftpflaster: Sie hatte eine Spritze bekommen. Sie blinzelte, sah einen Mann, der in dem Zimmer umherging, sich bückte und etwas aufhob. Sie versuchte, sich zu bewegen, gab einen Laut von sich, und sofort kam er zu ihr. Das, was er aufgehoben hatte, ließ er in einer schwarzen Arzttasche verschwinden. Sie deutete auf ihre Armbeuge.

»Bleiben Sie ruhig« sagte der Mann, nahm ihre Hand und fühlte den Puls. »Noch ein bisschen schwach. Wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus.«

»Nein, nicht …«. Es bereitete ihr Mühe zu sprechen, und ihre Stimme klang ungewohnt tief und rau. »Was ist passiert?«

»Der Krankenwagen steht bereits draußen. Es ist das Beste. Wären Sie zwei Minuten später zu sich gekommen, hätten wir Sie bereits …«

»Aber jetzt bin ich wach«, sagte sie und bemühte sich, resolut zu klingen.

Der Mann sah sie an, holte Luft, um etwas zu sagen, überlegte es sich anders, holte wieder Luft und sagte: »Gut. Also dann. Der Chief Inspector will mit Ihnen reden.«

Chief Inspector? »Sie sind …?«

»Dr. Ian McCallum. Und Sie?«

Ein Arzt. Er war noch jung, braunes Haar zu hellen, grünen Augen. Das Gesicht aus Eis.

»Was ist passiert?«, fragte sie noch einmal.

»Ich hole Chief Inspector Brady«, sagte er. »Brady? Kommen Sie? Sie ist wach.«

Der Mann, der nun in das Zimmer kam, war sehr groß und breitschultrig. Auch er wirkte stark unterkühlt. »Wie heißt sie?«, fragte er McCallum, während er sie ansah.

»Hat sie mir noch nicht verraten.«

»Mina Williams«, sagte sie.

»Waren Sie seine … Freundin?«

»Wessen Freundin?«

Brady und McCallum warfen sich Blicke zu, die sie nicht deuten konnte. McCallum nahm daraufhin seine Arzttasche und verließ das Zimmer.

Mina sah sich um: zerschlissene Polstermöbel, Chippendale, sehr alt, irgendwann einmal sehr teuer. Ölgemälde an den Wänden. Nichts Bekanntes, aber Originale. Stofftapeten. Auf dem Boden dicke, weiche Orientteppiche, die – wie die Möbel – schon bessere Tage gesehen hatten. Das Fenster gab den Blick in einen wunderbaren Garten frei: perfekter Rasen, gepflegte Blumenbeete, alte Bäume. Die frühe Sonne setzte postkartentaugliche Lichteffekte. Der Ruf des Raben war den Schreien von Möwen gewichen – auch wenn sie einen großen schwarzen Vogel durch das Gras hüpfen sah.

Eine Erinnerung lugte durch den Nebel, nur um gleich wieder den Kopf einzuziehen, als Mina nach ihr greifen wollte.

»Ms Williams«, sagte Brady. »Sie kennen Matthew Barnes?«

»Den Golfer«, sagte sie. »Natürlich.«

»Ich meine persönlich.«

Mina dachte darüber nach, was er mit »kennen« wohl meinte, und entschied sich zu nicken. »Was ist mit ihm?«

Brady zögerte. Ging zur Tür, aus der McCallum verschwunden war, und rief einen Namen. Eine Frau in Minas Alter kam herein. Die beiden setzten sich auf ein Sofa, das jenem gegenüberstand, auf dem sie lag.

»Das ist Detective Sergeant Hepburn.«

Die Frau lächelte Mina zu, und schon stieg die Raumtemperatur.

»Audrey oder Katherine?«, fragte Mina, und die Frau lachte.

»Isobel. Weder verwandt noch verschwägert. Wie geht es Ihnen?«

»Ich weiß es nicht. Eben war mir schlecht, daran erinnere ich mich. Jetzt fühle ich mich noch ziemlich benebelt, aber nicht mehr so mies. Was ist passiert? Wo bin ich?«

Diesmal war es Hepburn, die Brady einen seltsamen Blick zuwarf, jedoch ganz ohne Temperaturverlust. Hepburn glaubte ihr.

»Das ist das Haus von Mr Barnes. Wissen Sie noch, wie Sie hierhergekommen sind?«

Mina schüttelte langsam den Kopf. Wieder trat eine Erinnerung aus dem Nebelvorhang hervor. Diesmal blieb sie etwas länger, entwischte dann aber zurück in den Dunst, als wäre sie nie da gewesen.

»Woher kannten Sie ihn?«

»Ich habe ihn auf einer Party getroffen. Wo ist er?«, fragte sie und hob die Decke, unter der es ihr mittlerweile zu warm geworden war. Sie sah an sich herunter: Sie war immer noch nackt, die Beine voller Blut.

Sie ließ die Decke schnell wieder fallen und spürte Panik in sich aufsteigen. Voller Angst sah sie die beiden Detectives an. »Ich muss mich waschen«, sagte sie.

»Eine Minute noch, Ms Williams«, sagte Brady. »Sie müssen uns sagen, was heute Nacht passiert ist.«

»Ich kann mich an nichts erinnern!«

»Hören Sie, DS Hepburn bleibt bei Ihnen. Sie gibt Ihnen etwas zum Anziehen und fährt mit Ihnen nach Hause, und dann …«

»Wo sind meine Sachen?«

»Die müssen wir noch eine Weile behalten, für die forensische Untersuchung.«

»Kann ich ins Bad?«

»Das ist noch nicht freigegeben. Sie haben heute Nacht schon einmal geduscht? Sie waren ganz nass, als wir Sie gefunden haben.«

Mina nickte langsam und tastete mit einer Hand nach ihrem Kopf. Ihre Haare waren noch feucht.

»Wann und warum?«

»Ich weiß nicht. Ich war ohnmächtig und bin im Bad zu mir gekommen. Ich fürchte, ich hatte mich übergeben, und deshalb musste ich duschen.«

Brady sah sie an, und Mina wurde es wieder kalt. »Gut. Hepburn kümmert sich um Sie.«

Hepburn kümmerte sich. Sie ließ sich Minas Hände zeigen und erklärte, dass der Mann in dem seltsamen weißen Anzug einen Test auf Schmauchspuren machen musste. Sie sprach beruhigend auf Mina ein, erklärte ihr, was mit Matt passiert war, klang verständnisvoll, sagte, Mina solle sich Zeit lassen, es sei in Ordnung, wenn sie sich jetzt noch nicht erinnern konnte. Wollte Mina ins Krankenhaus? Oder erst nach Hause, ein paar Sachen holen? Oder zu Hause bleiben? Dr. McCallum könnte dort nach ihr sehen.

Die Polizistin hatte Kleidung für sie. Einen Trainingsanzug, den sie noch von ihrer letzten Joggingrunde im Auto hatte, erklärte sie, als Mina ihn anzog.

»Ich fahre Sie nach Hause. Wenn Sie ein bisschen schlafen, kommt Ihre Erinnerung sicher zurück. Wenn Sie wollen, bleibe ich so lange bei Ihnen. Bestimmt wird alles wieder gut«, sagte DS Hepburn.

Etwas tief in ihr wusste, dass nur dann alles wieder gut werden würde, wenn ihre Erinnerungen für immer im Nebel versteckt blieben.

»Ich kenne Sie«, sagte Hepburn, als Mina aus ihrem Bad kam, noch in Handtücher und Bademantel gewickelt.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Mina, während sie ihre Haare trockenrieb.

»Doch, wir können lesen bei der Polizei.« Hepburn lächelte. »Also, manche können es.«

»Und dann gleich so was Langweiliges.« Mina probierte ebenfalls ein Lächeln.

»Ich bin nicht die Einzige, die ihre Bücher liebt. Ich dachte, Sie seien mittlerweile in Hollywood und würden über große Verträge verhandeln.« Sie zwinkerte Mina zu.

»Tja. Ich fand es dann offensichtlich doch spannender, im Haus eines Weltranglistengolfers in St Andrews ohnmächtig zu werden, während dieser sich ermorden ließ.« Sie verzog das Gesicht. »Streichen Sie das.«

»Der Schock«, sagte Hepburn verständnisvoll. »Können Sie sich wirklich an nichts erinnern?«

Mina schloss die Augen, zuckte die Schultern.

»Hat er Sie …«, begann Hepburn leise, ohne den Satz zu beenden.

Mina setzte sich auf ihr Sofa. Auf ihr Sofa. Gut zu wissen, dass sie nicht alles vergessen hatte.

»Hören Sie, ich hab ihn gestern im Bertrand Hotel an der Bar getroffen, wir haben geredet und etwas zusammen getrunken. Dann sind wir zu ihm gegangen, haben weitergeredet, und ungefähr ab da verschwimmt so ziemlich alles bis zu dem Zeitpunkt, als Ihre Kollegen mit den Taschenlampen aufgetaucht sind.« Mina hob die Schultern, merkte, dass Tränen in ihr aufstiegen, und wusste, dass sie nicht länger die Starke spielen konnte. Also ließ sie den Tränen freien Lauf, das feuchte Handtuch, mit dem sie sich eben noch die Haare getrocknet hatte, vor dem Gesicht.

»Ich schicke Dr. McCallum noch mal zu Ihnen.«

Mina schüttelte den Kopf, das Gesicht noch immer in das Handtuch gepresst.

»Das dumme Gerede von wegen Hollywood … Es tut mir leid. Ich dachte nur, ich lenke Sie ein bisschen ab«, murmelte die Polizistin.

Mina nahm das Handtuch herunter. »Ich weiß schon. Danke. Ich würde jetzt gerne ein wenig schlafen. Das werde ich schon ohne McCallums Spritze hinbekommen.«

Hepburn stand unschlüssig auf. Blieb stehen, statt zur Tür zu gehen, und sah Mina an.

»Ich freue mich, Sie persönlich kennengelernt zu haben«, sagte sie und klang ein bisschen ehrfürchtig.

Mina musste lächeln, trotz allem.

Hepburn ging zur Haustür.

»Was hat mir Ihr Doktor eben eigentlich gespritzt?« Sie hatte es die ganze Zeit schon fragen wollen.

Hepburn drehte sich zu ihr um und sah sie mit zusammengezogenen Brauen an. »Gespritzt?«

Mina zeigte auf den Einstich in ihrer Armbeuge.

»Er hat Ihnen Blut abgenommen.«

Mina schluckte. »Darf er das? Ohne Einverständnis?«

Hepburn sah sie lange an, jetzt ganz Polizistin und gar nicht mehr Fan. »Gibt es etwas, worüber Sie mit mir reden möchten?«

»Er darf das gar nicht«, sagte Mina leise.

»Doch, Ms Williams. Doch.« Hepburn drehte sich um und ging zu ihrem Auto.