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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Lerer:innenhinweis

Triggerwarnung

Soundtrack

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

Nachwort & Danksagung

Glossar

Die Autorin

Die Romane von Ava Reed bei LYX

Impressum

Ava Reed

High Hopes

WHITESTONE HOSPITAL

Roman

Zu diesem Buch

Laura Collins hat es geschafft! Ihr größter Wunsch geht in Erfüllung, als sie eine Stelle an einer der angesehensten Kliniken des Landes ergattert. Für ihren Traumjob im Whitestone Hospital in Phoenix bricht sie alle Brücken hinter sich ab und zieht ins heiße Arizona. Als eine der neuen Assistenzärzte und -ärztinnen erkennt Laura schnell, dass sie für diesen Job alles geben muss. Die langen Arbeitszeiten, der Schlafmangel, die schweren Entscheidungen und bewegenden Schicksale verlangen ihr viel ab. Und als wäre das nicht Herausforderung genug, ist da noch ihr Betreuer: der junge Stationsarzt der Herzchirurgie Dr. Nash Brooks. Vom ersten Augenblick an ist Laura fasziniert von ihm, doch Nash hat klare Regeln: Nimm deine Arbeit nicht mit nach Hause und dein Privatleben nicht mit auf die Arbeit. Denn das bringt nichts als Ärger. Trotzdem kann er nicht leugnen, dass die neue Assistenzärztin ihm nicht aus dem Kopf geht und seine Grundsätze auf eine harte Probe stellt …

Für meine Leser:innen,
ohne die nichts hiervon möglich wäre.

Für meinen Mann,
ohne dessen Unterstützung diese Geschichte
nie fertig geworden wäre.

Liebe Leser:innen,

ich freue mich sehr, dass ihr zum ersten Band meiner neuen Reihe gegriffen habt, und hoffe, ihr werdet die Geschichte von Laura und Nash so sehr lieben wie ich.

Ich möchte vorab darauf aufmerksam machen, dass die Whitestone-Hospital-Reihe, im Gegensatz zu Truly, Madly und Deeply, nicht in falscher Reihenfolge oder unabhängig voneinander gelesen werden kann. Obwohl die Paare in jedem Band wechseln, zieht sich die Storyline kontinuierlich und chronologisch durch alle vier Bände.

Hinten im Buch findet ihr, nach der Danksagung, ein Glossar mit den wichtigsten medizinischen Begriffen.

Ich wünsche euch von Herzen viel Freude mit High Hopes und dem ganzen Team des Whitestone Hospitals.

Eure Ava

Triggerwarnung

In der gesamten Whitestone-Hospital-Reihe werden – auch aufgrund des Settings – verschiedenste Themen ihren Platz finden, die triggern können.

In High Hopes sind es unter anderem Leistungsdruck, Stress, häusliche Gewalt, Unfälle, körperliche Verletzungen jeglicher Art, diverse Körperflüssigkeiten, explizite Erwähnung und Beschreibung von Krankheiten und Operationen, Diskriminierung, Atemnot, Tod, Verlust und Trauer.

Diese Liste erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Bitte achtet auf euch und eure Gefühle.

Soundtrack

WHERE IT STAYS – CHARLOTTE OC

IF YOU KEEP LEAVING ME – ANDERSON EAST

IF I BE WRONG – WOLF LARSEN

I ONLY MISS YOU WHEN I’M BREATHING –
DAN ELLIOTT

NO RIGHT TO LOVE YOU (ACOUSTIC) –
RHYS LEWIS

PIECES (ACOUSTIC) – DECLAN J. DONOVAN

LOOKS LIKE ME (PIANO ACOUSTIC) – DEAN LEWIS

LIKE THE WATER – PATRICK DRONEY

I CAN’T BREATHE – BEA MILLER

FALLING LIKE THE STARS – JAMES ARTHUR

EASY ON ME – ADELE

OUT OF REACH – GABRIELLE

WILLOW – TAYLOR SWIFT

SILENCE (ACOUSTIC) – GRACE CARTER

BETTER THAN TODAY – RHYS LEWIS

YOURS IN THE MORNING – PATRICK DRONEY

COLOUR ME – JUKE ROSS

BETTE DAVIS EYES – BOY

SHIVERS – ED SHEERAN

DRIVERS LICENSE – OLIVIA RODRIGO

GLITTER – PATRICK DRONEY

HOLD ME WHILE YOU WAIT – LEWIS CAPALDI

HIGH HOPES – KODALINE

1. Kapitel

Laura

»Jetzt öffne endlich den dämlichen Brief. Zwing mich nicht, zum Flughafen zu fahren und in einen Flieger zu steigen, Laura Elizabeth Collins! Es ist fünf Uhr morgens, und in vier Stunden ist ein wichtiges Shooting.«

Ich verziehe das Gesicht, halb lachend, halb verzweifelt, während Jess mich abwartend aus dem geöffneten Skype-Videochat anstarrt. Es tut mir so leid, sie geweckt zu haben, aber ich musste sie sehen und mit ihr sprechen. Ich brauchte ein Stück dieser unbeschwerten Zuversicht, die Jess mir immer zu geben vermag.

»Komm schon. Wovor hast du Angst?«, fügt sie hinzu, und ich kann ihren leichten Schubs gegen den Arm – den sie mir geben würde, wäre sie hier – beinahe fühlen.

»Ehrlich gesagt … davor, dass du extra aus Berlin zurück nach Kalifornien kommst, um mir in den Arsch zu treten.«

Meine große Schwester grinst, reibt sich über die Augen und seufzt anschließend sehr laut. »Los. Tu es. Wie bei einem Pflaster: Zähl bis drei, und dann zack – schnell und schmerzlos aufreißen. Ich bin sicher, sie haben dich genommen.« Ich verkneife es mir, sie darauf hinzuweisen, dass man Pflaster ab- und nicht aufreißt. Stattdessen drehe ich den Brief hin und her, lasse ihn durch meine Finger gleiten und frage mich, ob ich die Antwort, die darin auf mich wartet, verkraften kann. Ein Stück meines Weges steht damit bereits fest, ich weiß nur noch nicht, in welche Richtung es gehen wird. Das ist ziemlich verrückt.

»Was, wenn nicht?«, frage ich geistesabwesend. Was, wenn sie mich nicht genommen haben? Wenn ich nicht an den Ort kann, an den ich seit Jahren möchte?

»Süße, du hast dein Studium als Drittbeste deines Jahrgangs abgeschlossen und Zusagen von zwei der besten Krankenhäuser des Landes. Da wartet so viel auf dich, für das du verdammt hart gearbeitet hast.«

Mein Blick fällt auf die Schreiben aus Philadelphia und Baltimore, die auf meinem Nachttisch liegen. Das Johns Hopkins Hospital hat mir eine Zusage geschickt. Allein beim Gedanken daran, dass ich mich kaum darüber freuen kann, fühle ich mich wie ein undankbares, verzogenes Gör. Dabei bin ich sehr dankbar. Ich habe alles dafür getan, die Stanford University School of Medicine mit Bestnoten zu verlassen und eine gute Ärztin zu werden. Ich habe über Jahre alle Hürden überwunden, nicht nur während des Studiums, sondern auch danach, habe diverse Motivationsschreiben verfasst, das Auswahlverfahren überstanden und mich richtig reingekniet. Jetzt ist es Ende März, die ersten Bescheide sind längst eingetrudelt, unter anderem der, auf den ich so lange gewartet habe und den ich mich seit Tagen nicht zu öffnen traue.

»Mom und Dad haben sich in Phoenix kennengelernt, auf einem Ärztekongress«, erzähle ich leise, was Jess längst weiß, und schlucke schwer. »Es ist nicht das Krankenhaus, es ist der Ort. Ich … ich komme nicht davon los, zu hoffen und zu glauben, ihnen dadurch etwas näher sein zu können – und zu fürchten, sie noch einmal zu verlieren, wenn ich es nicht dorthin schaffe.«

»Ich weiß.« Nicht nur ich habe einen Kloß im Hals, auch Jess. Ich kann es genau hören, und augenblicklich tut es mir leid, dass ich sie trotz neun Stunden Zeitverschiebung angerufen habe. Dass ich sie nicht nur geweckt habe, sondern von San Francisco aus weiterhin wach halte – und sie daran erinnere, was wir viel zu früh verloren haben. Wen wir verloren haben. »Deshalb hast du mich angerufen und nicht Logan.« Ich nicke nur ganz leicht, aber ich bin sicher, dass sie es trotzdem sehen kann.

Logan liebt uns, und wir lieben ihn, aber unser kleiner Bruder versucht, die Sache mit Mom und Dad so weit hinter sich zu lassen wie nur möglich. So weit, dass er sie vergessen will, weil es zu sehr schmerzt. Auch wenn er nur unserer Eltern wegen Polizist geworden ist, um gegen das Geschwür der Ungerechtigkeit und des Hasses wenigstens ein wenig ausrichten zu können, würde er mich nicht verstehen. Oder verstehen wollen. Noch weniger würde er zugeben, dass er mir verdammt ähnlich ist.

»Laura, du bist so weit gekommen. Und ich habe akzeptiert, dass du wie sie bist. Dass du Medizin studiert hast, dir den ganzen Scheiß antun willst und sogar mit dem Gedanken spielst, auch nach Afghanistan, Syrien und in andere Länder zu reisen, um Menschen zu helfen. Wie unsere Eltern es getan haben. Ja, ich habe mich damit abgefunden. Du sollst glücklich werden, und … ich bin stolz auf dich. Egal, was in diesem Brief steht.« Nachdem Jess tief ein- und ausgeatmet hat, fährt sie leise mit brüchiger Stimme fort: »Mom und Dad wären es auch.«

Ich schaue auf und sehe, wie sie sich schnell eine Träne aus dem Augenwinkel wischt, bevor sie mich anlächelt. »Und ich bin sicher, sie würden mich verfluchen, weil ich dich nicht davon abgehalten habe.« Ich lache mit ihr, spüre das Brennen in meinen Augen – und das erste Mal, seit das Schreiben in meinem Briefkasten gelandet ist, habe ich keine Angst mehr.

Jess gähnt hinter vorgehaltener Hand, und mein schlechtes Gewissen wächst.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken und …«

»Hör auf. Es ist alles okay«, unterbricht sie mich und fasst sich ans Herz. »Ich wünschte, ich wäre bei dir. Nur noch knapp acht Monate, dann bin ich zurück.«

»Danke, Jess.«

»Immer.« Sie zeigt auf den Umschlag. »Was ist? Machst du den jetzt auf?«

»Ich denke schon. Aber ich fahre dafür rüber zu Josh.«

»Was? Tu mir das nicht an. Das ist nicht fair.«

»Ich schreib dir sofort, sobald ich das Ergebnis kenne.« Mit einer Mischung aus Neugierde und Ungläubigkeit starrt sie mich an. Bis sie seufzt und sich durch ihr langes blondes Haar fährt. Ihr ist klar, dass ich sie nicht nur angerufen habe, weil sie mich versteht, sondern weil ich Sehnsucht hatte. Weil sie mir fehlt. Weil mir unsere Eltern fehlen. Ich habe sie aus verdammt vielen Gründen angerufen, aber nicht, weil ich sie brauche, um diesen Brief zu öffnen. Nicht wirklich.

»Fein. Aber wehe, du vergisst mich.«

»Niemals!«

»Du meinst, wie letztes Jahr, als du aus der WG ausgezogen bist und dir plötzlich eine eigene Wohnung in San Francisco gemietet hast? Als du deine Examensergebnisse hattest? Du deinen Nebenjob begonnen und Erste-Hilfe-Seminare geleitet hast? Oder als Eddie gestorben ist?«, zählt sie nach und nach jedes Ereignis, das ich ihr zu spät mitgeteilt habe, an den Fingern ab.

»Du weißt, dass ich nicht lange in dieser Stadt bleibe. Es ist wegen Josh. Und bei allen anderen Sachen hab ich dir jedes Mal Bescheid gegeben!«

»Ja, ein halbes Jahrhundert später. Den Job hast du schon mehrere Wochen gemacht, und unsere Schildkröte war bereits drei Monate tot. Du hast es erst erwähnt, als ich kurz vor Weihnachten nach Eddie gefragt habe.«

Ich verziehe das Gesicht. »Schon gut, ich habs kapiert. Ich mache mir eine Notiz im Handy. Zufrieden?«

Jess grinst frech und gähnt abermals lautstark. »Sehr sogar.«

So, Notiz gespeichert. Mein Handy erinnert mich morgen früh daran. »Schlaf gut, Schwesterchen. Und viel Erfolg beim Shooting.«

»Ich bete, dass ich noch eine Stunde Schlaf kriege und meine Kamera nachher nicht vergesse. Hoffentlich sind wenigstens die Models ausgeruht.« Während sie mir die Zunge rausstreckt, schüttele ich amüsiert den Kopf und beende das Gespräch. Ich vermisse sie so sehr und kann es nicht erwarten, sie wiederzusehen. In echt, direkt vor mir und nicht auf einem Display.

Das Klicken des Laptops, als ich ihn zuklappe, tönt viel zu laut in meinem Zimmer, und danach ist da nichts weiter als Stille. Manchmal mag ich sie, manchmal wird sie mir zu viel. Zu viel, zu laut, zu erdrückend. So wie jetzt. Dann, wenn mir nichts anderes übrig bleibt, als Gedanken zu lauschen, denen ich nicht lauschen möchte.

Es ist erst zwanzig Uhr, ich sitze hier in meiner kleinen Wohnung und trage bereits mein Schlafzeug. An einem Freitagabend. Normalerweise ist das kein Ding für mich, aber heute fühlt es sich nicht gut an. Dabei mag ich es gemütlich und hatte während des Studiums nicht annähernd genug Zeit zum Schlafen, Entspannen, Essen und leider auch nicht zum Fotografieren und Lesen. Und damit meine ich belletristische Werke oder Gedichte und keine dicken Wälzer gefüllt mit all den wichtigen Informationen über den menschlichen Körper. Generell hat das Medizinstudium so ziemlich mein gesamtes Privatleben gefressen, und es wundert mich, dass Josh und ich unsere Beziehung trotzdem aufrechterhalten konnten.

Ich habe Josh im ersten Semester in Stanford kennengelernt, und im zweiten sind wir ein Paar geworden. Keine Ahnung, ob es einfacher gewesen wäre, hätte er nicht das Studienfach gewechselt. Die Medizin hat ihn nicht so erfüllt wie mich. Auch wenn er ganz gute Noten hatte und dachte, er würde genau das tun wollen, hat es einfach nicht gepasst. Arzt zu werden hat wenig damit zu tun, pünktlich Feierabend zu machen, und noch weniger damit, nur irgendeinen Job zu erledigen, denn dafür sind die Verantwortung und der Aufwand zu groß.

Josh fing daher nach dem zweiten Semester mit Jura an, aber auch das hielt er nicht lange durch. Zu anstrengend. Es zog ihn in die Stadt, weg von Stanford, direkt an die San Francisco State, an der er bis jetzt Wirtschaftswissenschaften studiert und in wenigen Monaten sogar seinen Abschluss machen wird. Er ist der Grund, warum ich direkt nach meinen wichtigsten Prüfungen vom Campus hierhergezogen bin. So kann ich wenigstens ein paar Monate in Joshs Nähe sein, bevor ich meinen Job als Assistenzärztin antreten werde.

Denn ich werde nicht hierbleiben. Kalifornien war immer nur eine Zwischenstation für mich und nie dafür gedacht, dass ich auf ewig bleibe. Josh ist das bewusst. Es war eines der ersten Dinge, die ich ihm sagte, und er meinte stets, dass wir das schon hinbekommen und sich alles fügen wird. Ich bin sicher, er hat sich bis heute nicht richtig damit auseinandergesetzt.

Joshs Pläne enden nämlich immer genau am letzten Tag der jeweiligen Woche. Zwar hat er einmal angedeutet, er würde mir folgen, wohin auch immer ich gehe, aber ich weiß nicht, ob er das ernst gemeint hat und falls ja, ob ich das von ihm verlangen könnte. Er liebt diese Stadt.

Und genauso wenig weiß ich, ob eine Fernbeziehung Bestand hätte. Ob ich überhaupt eine führen könnte oder wollte.

Da Josh jedoch keinerlei Anzeichen von Sorge zeigt, habe ich mich entschieden, mir ebenfalls vorerst keine Gedanken darum zu machen. Auch wenn es mir verdammt schwerfällt – und ich mich ständig frage, ob Josh wirklich derjenige ist, den ich in meinem Leben brauche. Dabei ist er schon so lange ein Teil davon, dass es mir seltsam vorkommt, mir eines ohne ihn vorzustellen.

Heute Abend muss Josh wieder für eine der kommenden Prüfungen lernen, und ich habe ihm gesagt, es sei in Ordnung für mich, obwohl wir uns seit Wochen nicht gesehen haben. Es war nicht nur wegen seines Lernpensums, sondern auch, weil ich in letzter Zeit etwas neben mir stand. Etwas viel und etwas oft.

Erneut wandert mein Blick zu dem Umschlag in meiner Hand, den ich mittlerweile mit kalt verschwitzten Fingern umklammere. Dann schnappe ich mir mein Handy, das neben dem Laptop auf meiner sonnengelben Bettdecke liegt, und schreibe Josh.

Hey. Ich hoffe, du kommst gut voran? Ich weiß, wir sind für heute nicht verabredet, aber ich dachte, du könntest vielleicht eine kleine Pause gebrauchen? Und etwas Sushi. Ich bleibe nicht lange, nur … der Brief kam an. Bereits vor ein paar Tagen. Ich würde ihn gern mit dir öffnen.

Ziemlich spontan. Ich lache über mich selbst. Spontaneität ist etwas, das bisher nicht zwingend zu meinen Stärken zählt, aber ab und an überkommt es mich, ohne dass ich es erklären kann. An manchen Tagen fühle ich mich wie ein Widerspruch auf zwei Beinen. Ich bin wie eine Gleichung, die nicht aufgeht, aber trotzdem Sinn ergibt. Ich bin nicht perfekt. Und das ist okay.

Während ich auf Antwort warte, krieche ich aus dem Bett und lege den Brief und das Handy auf der Kommode im Flur ab. Ich bin sicher, dass Josh nichts gegen einen Besuch hat. Er wohnt nicht allzu weit von mir entfernt, und auf dem Weg kann ich ohne Probleme das angekündigte Essen besorgen. In der Grant Ave gibt es einen der besten Sushiläden, den ich kenne.

Also verschwinde ich im Bad, löse meinen Zopf und bürste mein Haar.

Ich betrachte mich in dem runden Spiegel über dem alten Keramikwaschbecken und wiege den Kopf langsam von links nach rechts. Meine blaugrauen Augen wirken durch das Badezimmerlicht dunkler, als sie in Wirklichkeit sind, und mein blondes Haar fällt in Wellen über meine Schultern bis über mein Schlüsselbein. Ein ungewohnter Anblick, weil ich sie glatt etwas lieber mag, aber heute habe ich sie den ganzen Tag geflochten getragen. Das Bild, das mir deshalb jetzt entgegenspringt, erinnert mich an Mom. Viel zu sehr. Und so sehr ich sie geliebt habe, so sehr ich sie vermisse, ertrage ich das noch immer nicht. Jedenfalls nicht allzu oft. Auch nicht nach all den Jahren.

Ich schlucke schwer, dann forme ich mein Haar zu einem ordentlichen Dutt und kühle schnell mein Gesicht mit kaltem Wasser. Bevor ich mein Pyjamaoberteil gegen etwas tausche, in dem ich das Haus verlassen kann, werfe ich einen kurzen Blick auf mein Handy. Mein Akku ist gleich leer.

»Verdammt«, murmle ich und suche nach dem dämlichen Ladekabel. Ich hab es gestern noch gesehen, irgendwo hier auf der Kommode. Das Chaos auf diesem Ding sucht seinesgleichen, und ich sollte es dringend beseitigen. Es ist dieser Kleinkram, der sich über eine gewisse Zeit ansammelt, den man irgendwo ablegt und von dem man denkt: Das erledige ich später. Und aus diesem Später werden Wochen, danach schließlich ein: Oh, das liegt ja immer noch hier. Und irgendwann ein: Jetzt ist es auch egal.

Ich stöhne auf und schaue auf dem Bett nach, dem Nachttischschrank und in meinem Regal mit den Kameras, den Büchern und den alten Familienfotos. Aber diesen Bereich halte ich stets so ordentlich, dass ein Blick genügt, um zu erkennen, dass ich das Kabel hier nicht finden werde. Für einen Augenblick bleibe ich mitten im Schlafzimmer, das nur durch einen kleinen Bambus-Paravent vom Wohnzimmer abgetrennt ist, stehen und stemme die Hände in die Hüften. Während ich mich um die eigene Achse drehe, scannt mein Blick jeden Winkel des Zimmers. Das gemachte Bett, dessen Bettwäsche trotzdem komplett zerknittert ist, das kleine Tischchen, den flauschigen Teppich davor, das Sideboard. Verdammt, ich schaue sogar unters Bett, obwohl ich dort wirklich noch nie etwas gefunden habe außer Staubflusen und Haarklammern. Im Wohnzimmer ist auch nichts, in der Küche stapelt sich nur mein Geschirr, weil die Spülmaschine letzte Woche den Geist aufgegeben hat.

Ich kann dieses Kabel nicht den ganzen Abend lang suchen …

Noch sechs Prozent; und keine Nachricht von Josh. Ich werde warten, bis das Handy ausgeht, danach gehe ich los, besorge mir ein neues Kabel, Sushi und besuche meinen Freund. Wenn er keine Zeit hat oder es gerade ungünstig ist, wird er mir das bestimmt sagen, und ich hatte dann wenigstens einen schönen Abendspaziergang.

Also nehme ich das Telefon mit ins Bad, lege es auf dem Spülkasten ab, weil dieser Raum ungefähr die Größe eines Schuhkartons hat, und trage etwas von meiner Gesichtscreme auf. Ein bisschen Mascara, ein Spritzer Parfum und schon fühle ich mich besser.

Das Display leuchtet auf, ich sehe es aus dem Augenwinkel, und sofort strecke ich die Hand danach aus. Zu schnell, zu ungenau. Das Handy gerät ins Rutschen, weil ich es nicht direkt zu greifen bekomme, und mein heftiges Gefuchtel, das seinen Sturz abfangen soll, macht es am Ende nicht besser. Ganz im Gegenteil.

Es fällt.

Ins Klo.

Das laute Plumpsgeräusch, gefolgt von leisem Gluckern, lässt mich mit offenem Mund erstarren und vollkommen entgeistert in den Schlund meiner Toilette glotzen. »Nein, nein, nein«, beginne ich zu flüstern, und mit jedem Buchstaben werde ich verzweifelter. Bis ich richtig begreife, was da gerade passiert ist, und panisch meine Hand ins Wasser stecke, um mein Handy zu retten. Dabei fühle ich mich, als würde ich eine Rektaluntersuchung bei einer Kuh durchführen. Keine Ahnung, wie sich das tatsächlich anfühlt, womöglich wärmer und enger, aber mit Sicherheit genauso glitschig und nass wie das hier. Es macht keinen Unterschied. Als Ärztin habe ich gelernt, gewisse Befindlichkeiten schnell abzulegen. Toilettenwasser in einem uralten Klo hält mich nicht davon ab, Leben zu retten. In diesem Fall das meines Smartphones, dessen Display genau in der Sekunde ausgeht, als ich es umfasse. Fast so, als wolle es mir sagen, dass ich zu spät komme und versagt habe.

Toll. Richtig toll.

»Scheiße!«, fluche ich und bin mir der Doppeldeutigkeit bewusst, als ich das komplett durchnässte, tropfende Ding in meinen Händen halte. Panisch renne ich in die Küche, schnappe mir Küchenpapier und lege es darauf ab, bevor ich mir in Rekordgeschwindigkeit die Hände wasche.

»Reis. Ich weiß, dass ich welchen habe. Aber wo …« Ich esse ihn viel zu selten, aber ich habe immer welchen im Haus, weil ich manchmal richtig Lust auf Reisgerichte bekomme. »Komm schon!« Ich reiße den Schrank auf, in dem ich ihn normalerweise bunkere, schiebe die Nudeln und den Zucker beiseite, ein paar einzelne Konserven und – da! Erleichtert schnappe ich mir die letzte Packung, schütte den Inhalt in eine der wenigen noch sauberen Schüsseln und lege mein Handy rein. Aus ist es bereits, jetzt kann ich nur hoffen, dass der Reis die Feuchtigkeit rauszieht und es morgen wieder funktioniert.

Ich nehme mir ein paar Sekunden, um tief durchatmend die Augen zu schließen und meinen Kopf in meine Hände sinken zu lassen.

Was für ein Tag.

Vielleicht ist das ein Zeichen. Vielleicht sollte ich wieder meinen Pyjama anziehen und einfach zu Hause bleiben.

Einzelne Strähnen hängen mir ins Gesicht, ich bin sicher, der Dutt ist inzwischen Geschichte und die Mascara überall, nur nicht mehr an meinen Wimpern, weil ich mir unbewusst über die Augen gefahren bin. Ja, vielleicht sollte ich hierbleiben. Andererseits brauche ich jetzt wirklich etwas Gutes zu essen …

2. Kapitel

Laura

Der Frühling in San Francisco ist wunderschön. Wie eine lebensbejahende Umarmung oder ein lebendiges Kunstwerk.

Eine kühle Brise weht mir ins Gesicht, und ich schlinge den Mantel mit einer Hand enger um mich, während ich mit der anderen die Tüte mit unserem Sushi trage.

Ich mag diese frischen und gleichzeitig relativ milden Temperaturen, die hier meist herrschen. Nicht zu kalt, nicht zu heiß. Keine Extreme. Als ich das Jess damals offenbart habe, hat sie mich lauthals ausgelacht. Ihre Worte klingen mir noch heute in den Ohren: »Und dann willst du ausgerechnet nach Phoenix? Bist du verrückt?«

Möglich, dass ich das bin. Ich war noch nie dort. Auch nicht in L. A. oder anderen Städten mit ähnlichem Klima, aber ich bilde mir ein, dass es unmöglich so schlimm werden kann. Etwas Hitze hat noch niemandem geschadet. Außerdem möchte ich nicht des Wetters wegen dorthin oder von hier fort. Ich möchte meine Zukunft nicht von irgendwelchen Temperaturen abhängig machen. Das Wetter ist mir egal. Der Rest wird gut gehen. Vorausgesetzt, ich wurde dort überhaupt genommen, schießt es mir durch den Kopf, und der Brief in meiner Manteltasche wiegt erneut unendlich schwer.

Ja … Alles wird gut gehen. Das muss es einfach.

Ich versuche mich abzulenken, atme den Trubel um mich herum ein, sauge den Anblick all der Menschen und der leuchtenden Laternen in mich auf, als würde ich das letzte Mal durch Chinatown laufen. Ich schlendere an den kleinen Bars und Restaurants vorbei, an den leuchtenden Reklamen, den großen chinesischen Schriftzeichen und genieße diesen Spaziergang, diesen Abend und diesen Moment sehr.

Als ich in die Clay Street abbiege und ihr in den Financial District folge, werden die fast verträumten und doch bunten Straßen, die ihren ganz eigenen Herzschlag, ihre eigene Art von Hektik besitzen, von Dutzenden Hochhäusern und einer anderen Form von Ordnung und Schönheit abgelöst.

Kurze Zeit später bin ich bereits da und fahre mit dem Fahrstuhl nach oben in den fünften Stock. Ohne zu zögern, stecke ich den Schlüssel ins Schloss und schließe die Tür zu Joshs Apartment auf, das sich in einem dieser schicken Hochhäuser befindet. Die kleine Lampe in seinem schmalen Flur spendet warmes Licht, als ich eintrete, meinen Mantel ablege und die Sneakers abstreife. Ich kann nichts hören, allerdings ist die Tür zum Wohnzimmer und somit zur Küche geschlossen.

Ich klopfe leise an, öffne sie und stecke zunächst den Kopf hindurch, um einen Blick in den großen Raum zu erhaschen.

»Josh?« Sein Esstisch quillt über. Papiere und Bücher stapeln sich kreuz und quer, Dutzende Gläser stehen herum, der Rest ist wie immer fein säuberlich aufgeräumt – was bei dieser Einrichtung nicht allzu schwer ist. Seine Wohnung ist schlicht, vollkommen ohne Farbe, ohne besonders auffällige oder private Dinge. Keine Fotos, keine Pflanzen, keine Romane. Sie ist nicht nur minimalistisch, sondern hochmodern gehalten. Eine Mischung, die mir nicht zusagt, weil alles so … perfekt wirkt. So kühl und fast schon steril. Wie in einem Krankenhaus. Ich weiß auch nicht. Mir fehlt irgendetwas, das diese Wohnung zu einem Zuhause macht.

Doch Josh ist nicht der Typ für so was. Wahrscheinlich braucht er dieses Gefühl des Ankommens und Wohlfühlens nicht auf dieselbe Art wie ich, oder er mag all das Nichtssagende und Austauschbare in seinen vier Wänden. Als ich ihn vor einigen Monaten darauf angesprochen habe, wusste er nicht, was ich ihm damit sagen wollte, und meinte, es wäre nur eine Wohnung. Nicht mehr. Ein Grund, warum ich nicht bei Josh eingezogen bin, es nicht mal in Erwägung gezogen habe. Okay, und weil keiner von uns es je zur Sprache gebracht hat. Durch den Nebenjob, aber vor allem durch das Erbe, das meine Eltern meinen Geschwistern und mir hinterlassen haben, kann ich mir eine eigene Wohnung leisten und musste nicht derart horrende Summen als Kredit aufnehmen, um mein Studium zu finanzieren. Meine Schulden sind absolut überschaubar, doch wenn ich die Wahl hätte, würde ich mir lieber einen gigantischen Berg an Schulden wünschen. Denn das würde bedeuten, dass meine Eltern noch leben.

»Hallo?«, rufe ich, dieses Mal etwas lauter, und durchquere das Wohnzimmer auf dem Weg in die offene Küche auf der anderen Seite des Raumes.

Keine Reaktion. Vielleicht macht er eine Pause und schläft. Trotzdem versuche ich es noch einmal.

»Josh?« Plötzlich gibt es einen lauten Knall. Aus dem Bad oder Schlafzimmer, links von mir. Genau kann ich es nicht ausmachen. Ich stelle die Tüte mit dem Sushi ab und will nachschauen, ob bei ihm alles in Ordnung ist, als Joshs Schlafzimmertür aufgeht und er mich schockiert, womöglich sogar etwas gehetzt ansieht.

»Laura, was machst du denn hier? Du hättest anrufen können.« Boxershorts. Zerzaustes Haar. Er räuspert sich und zieht schnell die Tür hinter sich zu.

Wieso zieht er die Tür zu? Ist ja nicht so, als würde ich sein Schlafzimmer nicht kennen und er ist allein, also … Er ist doch allein – oder nicht?

Josh und ich starren uns an, seine grünen Augen verraten mir nicht, ob ich recht habe, seine Miene verzieht sich kein Stück. »Ich hab dir geschrieben, danach war der Akku leer, und mein Handy ist ins Klo gefallen«, rattere ich alles monoton runter, dabei sind meine Gedanken längst ganz woanders.

Josh fährt sich mit seinen Fingern über das fein säuberlich rasierte Kinn, und da erkenne ich es. Er trägt Spuren eines Lippenstifts daran und auch auf seinem Mund.

»Bitte, sag mir, dass es nicht das ist, was ich denke oder wonach es aussieht.« Ich deute auf sein Gesicht, und als wüsste er, was ich gesehen habe, wischt er sich jetzt energisch über die Partien, die mit der rosa Farbe verschmiert sind. Mir wird schlecht. Er ist also wirklich nicht allein.

»Das kann ich nicht«, sagt er mit fester Stimme und lässt die Hand sinken, weil er das mit dem Wegwischen anscheinend aufgegeben hat. Ich hätte gern einen passenden Konter parat. Zu gern würde ich ihn beschimpfen oder anschreien. Aber ich stehe nur da und bleibe stumm.

Schlimmer als die Tatsache, dass in diesem Raum hinter Josh eine andere Frau liegt, ist, dass es mich weniger verletzt, als es sollte. Dass es mich weniger traurig macht, als es müsste. Aber eben noch genug, damit es wehtut. In mir sammeln sich Leere, Akzeptanz und Schmerz. Vielleicht ist da auch Wut. Ja, da ist jede Menge Wut. Nicht, weil er eine andere mir vorzieht, sondern weil er es auf so eine feige und beschissene Art tut. Er hätte mit mir Schluss machen können und kein Arschloch sein müssen, das innerhalb einer festen Beziehung eine andere vögelt. Fremdgehen ist schlimmer als Schlussmachen, denn es ist, als wolle man jemanden absichtlich verletzen. Dabei ist es kein Geheimnis: Liebe kann vergehen, und Beziehungen können zerbrechen. Aber doch bitte nicht so. Das verdient niemand. Das ist so … erniedrigend. Dass er mir das antut, ja, das macht mich wütend. Und diese Wut bahnt sich ihren Weg wie Lava durch meine Venen.

Wenigstens hat er eben nicht gelogen. Über den Gedanken lache ich beinahe auf. Hätte er auch nicht tun können, ich habe ihn ja quasi erwischt. Würde das Ganze auch nicht schlimmer machen, wenn er das auch noch getan hätte. Oder?

»Wie lange schon?«

»Ich glaube nicht, dass …«

»Was du glaubst, interessiert mich seit ungefähr zwei Minuten nicht mehr, Josh«, unterbreche ich ihn harscher, als ich es von mir kenne. Ich schlucke schwer und warte ab.

Mit zusammengepressten Lippen mustert er mein Gesicht, bevor er nachgibt und mir zögernd antwortet: »Silvester.«

Zuerst bin ich sicher, mich verhört zu haben. Bin sicher, dass er sich korrigiert, dass er einen Fehler gemacht hat – abgesehen von dem Offensichtlichen. Bis ich begreife, dass er seit knapp drei Monaten eine andere hat.

»Wow«, flüstere ich und kann nicht verhindern, dass mir meine Gesichtszüge entgleisen. Vollkommen neben mir stehend starre ich ihn mit offenem Mund an. Das erste Silvester, das wir getrennt verbracht haben, seit wir uns kennen, weil ich es mit Jess in Berlin gefeiert habe, und er hat nichts Besseres zu tun, als fremdzugehen.

»Hör zu, ich wollte …« Ich hebe die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, dann schlinge ich die Arme um mich und atme tief durch. Gott, ich bin so wütend.

»Du wolltest was? Es mir sagen? Komm schon, Josh. Ich dachte, nach fast vier Jahren Beziehung wären wir weiter. Ich dachte allerdings auch, du wärst ein guter Kerl und hättest etwas mehr Rückgrat. Ich wünschte, du hättest diese Scheiße schon früher gebaut und nicht erst nach all den Jahren.« Ich schüttle den Kopf. »Eine Affäre? Seit Silvester? Das ist so armselig.« Meine Stimme bricht. In der Wohnung könnte man eine Stecknadel fallen hören, weil ein paar Sekunden lang keiner von uns etwas sagt.

»Schläft sie? Kenne ich sie?« Doch ich überlege es mir auf der Stelle anders. »Weißt du was, ich will es gar nicht wissen. Gibt es … gibt es noch irgendwas, das du mir sagen möchtest?«

Joshs Blick hält den meinen fest, ich sehe, wie seine Lippen sich teilen, nur um sich im nächsten Moment wieder zu schließen. Er sieht ein wenig verloren, fast reuevoll aus, doch er sagt nichts. Kein einziges verdammtes Wort. Er hat mir nach all dieser Zeit, nach dem, was er mir angetan hat, nichts zu sagen.

Und jetzt kommen sie, die Trauer und die Enttäuschung. Jetzt ist es da, das Verletztsein.

»Ihr zwei verdient euch bestimmt«, wispere ich, bevor ich mit kräftigerer Stimme hinterherschicke: »Und willst du noch was wissen? Das Sushi, das ich mitgebracht habe, nehme ich wieder mit.« Ich zeige ihm den Mittelfinger, schnappe mir erhobenen Hauptes das Essen und ziehe mir eilig meine Sachen an. Den Ersatzschlüssel für sein Apartment pfeffere ich auf die Ablage an der Garderobe und den zu meiner Wohnung fummele ich entschlossen von seinem Schlüsselbund ab.

Erst dachte ich, er würde mir nacheilen, um wenigstens den Anschein eines schlechten Gewissens zu erwecken oder weil er eben doch noch Gefühle für mich hat. Weil er vielleicht jetzt die Worte findet, die ihm eben ausgegangen sind. Aber das passiert nicht, und ich muss mir wohl oder übel eingestehen, dass dieser Abend nicht der Moment ist, in dem unsere Beziehung gescheitert ist. Nicht wirklich …

Mit verquollenen Augen und Kopfschmerzen wache ich irgendwann mittags auf meiner durchgelegenen und viel zu kleinen Couch auf, nachdem ich gestern Abend, nach diesem Schockmoment bei Josh, gedankenverloren durch die Straßen gelaufen bin. Dieses Mal kam mir allerdings nichts an dieser Stadt schön oder gar magisch vor.

Mit dem Sushi, dem Brief aus Phoenix und einer gehörigen Portion Empörung geisterte ich durch die Viertel, verdrückte das Essen auf einer Bank am Ferry Plaza mit Blick auf die Bay Bridge und kam erst sehr spät heim, wo nichts weiter als mein toilettenverseuchtes Handy in einem Reisbad auf mich wartete.

Ich werde fortgehen, so oder so. So schön San Francisco ist, jetzt hält mich nichts mehr in dieser Stadt. Gar nichts.

Noch heute werde ich den Mietvertrag kündigen. Bislang habe ich es nicht getan, weil ich mit dem Gedanken gespielt habe, so lange wie möglich hierzubleiben. Um Josh bei seinen Prüfungen zu unterstützen und damit wir gemeinsam schauen können, wie es weitergeht. Ich wollte für diese Beziehung kämpfen. Denn irgendwann einmal war ich sehr verliebt in Josh. Doch wenn ich jetzt in mich hineinhorche, dann … bin ich es nicht mehr. Und zwar schon sehr lange nicht mehr.

Ich mochte ihn, ich war gern mit ihm zusammen. Es war schön und unkompliziert, aber wenn ich ehrlich zu mir bin, waren da keine tiefe Liebe, keine Leidenschaft und sehr früh auch keine Sehnsucht mehr. Aber es existierten Freundschaft und Vertrauen und Zuneigung, und mir war das mindestens genauso viel wert und deshalb hat mich das gestern derart verletzt. Josh anscheinend nicht, denn er hat das, was wir hatten, die letzten Monate über mehr als ein Mal mit Füßen getreten.

Es ist nicht nur diese Affäre, sondern dass er von mir mehr Flexibilität und Kompromisse verlangt hat, selbst aber nicht flexibel oder kompromissbereit war. Zumindest, was mich anging. Er wollte zu jeder Zeit spontan sein, nur ausgehen und etwas erleben und hatte immer weniger Verständnis, wenn ich dazu keine Lust oder Kraft hatte. Oder wenn ich planen wollte, wenn ich über etwas reden wollte, das weiter in der Zukunft lag als die kommende Woche. Es war okay, wenn er nicht das Bedürfnis verspürte, mich in den Arm zu nehmen, ich es aber wollte. Aber es war weniger in Ordnung, wenn ich keine Lust auf Sex hatte.

Es ging nicht mehr um mich, meine Wünsche, Ängste oder Träume. Es ging nicht mehr um uns. Wir haben uns einander nicht mehr richtig zugehört – und lange nichts mehr zu sagen gehabt.

Seit ich bei ihm war, frage ich mich, wie ich nichts davon habe merken können. Wie es mir nicht sofort hatte bewusst sein können. Oder ob es, in Bezug auf die andere Frau in seinem Leben, etwas gab, das mir hätte auffallen müssen. Hatte sich die Art, wie er mich ansah oder wie er sich gab, verändert? Hatte sich unser Sex verändert? Er war weniger geworden, aber auch anders?

All diese Überlegungen bringen mich nicht weiter, und mir ist klar, dass ich nie Antworten bekommen werde. Also muss ich es irgendwie hinter mir lassen, muss damit abschließen. Auch wenn das leichter gesagt als getan ist. Diese ganzen Fragen nützen mir ohnehin nichts. Ich bin nicht diejenige, die fremdgegangen ist, und es ist egal, ob mir da etwas hätte auffallen müssen. Ich habe ihn nicht verletzt. Er mich schon. Und er hätte zu mir kommen können … Er hätte mir sagen können, was ihm fehlt oder dass er das mit uns nicht mehr möchte. Nein, er hätte es sogar tun müssen! Stattdessen hat er sich entschieden, bei mir zu bleiben, mich anzulügen und irgendwie auch sich, und wenn ich daran denke, wie oft ich nach Silvester in seinem Bett und seinen Armen gelegen habe, obwohl es sie bereits gab, dreht sich mir der Magen um. Dieser miese Scheißkerl.

Während ich mich aufrichte und mir die Haare aus dem Gesicht streiche, kommt mir der Gedanke, dass ich einen neuen HIV-Test machen lassen sollte. Zu Beginn unserer Beziehung habe ich Josh dazu gebracht, auch einen zu machen. Ich habe ihm gesagt, dass ich trotz Pille erst ohne Kondom mit ihm schlafe, wenn er diesen Test gemacht hat. Die Ärztin in mir lässt sich nicht leugnen, und ich war damals froh, dass er ohne Zögern eingewilligt hat. Trotzdem hat er es sich vorher nicht verkneifen können, zu betonen, dass er immer mit Kondom verhütet hat und er unmöglich HIV haben könnte, aber ich wollte nicht nachgeben. Er hätte es trotz Kondom bekommen können. Die Wahrscheinlichkeit ist zwar allgemein gering, aber sie ist da. Damals wollte er wie ich Arzt werden, er wusste das. Außerdem hätte er, was das Thema angeht, lügen können. Und das war, wie mir jetzt klar wird, mehr als nur möglich. Am besten, ich lasse die Tage zusätzlich einen Test machen, der andere gängige Geschlechtskrankheiten abdeckt. Wer weiß, ob Josh sich mit seiner neuen Bettgespielin oder Freundin, oder was auch immer sie ist, richtig geschützt hat.

Vielleicht bin ich paranoid, aber Krankheiten dieser Art sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Auch wenn HIV gut behandelbar ist, unheilbar bleibt es weiterhin. Das hat auch nichts mit Vertrauen oder Überempfindlichkeit zu tun. Oder damit, dass ich mich gerade beschissen fühle.

»Mist«, fluche ich leise, reibe mir die Augen und stöhne auf. Mein Körper fühlt sich an, als hätte man mich mit Anlauf von der Brücke geworfen, dabei habe ich sie nur Sushi mampfend aus sicherer Entfernung angestarrt.

Erschöpft und ausgelaugt fahre ich mir mit den Fingerspitzen über die Schläfen und kann noch immer nicht ganz glauben, dass das gestern passiert ist. Dass es so geendet hat. Wir haben nicht geredet, wir haben nichts geklärt. Josh ist von einer Sekunde auf die andere aus meinem Leben verschwunden, und schlimmer als das ist, dass ich mir jetzt eingestehen muss, dass es in Ordnung ist. Dass das Leben manchmal aus der Bahn gerät, egal, wie verzweifelt man die Spur halten will.

Trotzdem fühle ich mich nicht gut, und ich würde lügen, würde ich etwas anderes behaupten. Und doch vermisse ich ihn, auch wenn ich das nicht will. Denn er war lange ein fester Bestandteil meines Lebens. Zu lange.

Und bei dem Gedanken an all diese Dinge – an den Anfang, das Ende, an das, was wir miteinander hatten, aber verloren haben, auch wenn es nicht perfekt war, oder an die große Liebe, obwohl es vermutlich von Beginn an nicht für ein Für Immer gereicht hätte – kommen mir die Tränen. Ich hasse einfach alles an dieser Situation und hätte nie gedacht, dass mir so was mal passiert.

Ein Teil von mir möchte aufstehen und den Tag anpacken, ein anderer will sich noch weiter in Erinnerungen, Gedanken und seltsamen Fragen suhlen. Es ist okay.

Okay, okay, okay!

Auch der Schmerz.

Also lege ich mich wieder hin, ziehe die Decke hoch, wickle mich ein und schalte den Fernseher an. Es läuft irgendeine Doku, die mich kein Stück interessiert.

Ich starre auf das Bild, drifte irgendwann weg und merke kaum, wie die Zeit an mir vorüberzieht. Die Stunden, dieser Tag, die ganze Welt …

3. Kapitel

Laura

»Was zur Hölle …?« Ich kneife die Augen zusammen und betrachte das verschwommene Ding in meiner Hand. Erst nach mehrmaligem Blinzeln wird meine Sicht klarer, und ich verziehe das Gesicht, als ich einen der Cheetos Crunchy Cheese erkenne. Ich schaue an mir herunter, und mir wird klar, dass er nicht der einzige Cheeto in meinem Leben ist: Sowohl ich als auch Teile der Decke und Couch sind unter dem Zeug begraben, während die leere Tüte ihr einsames Dasein auf dem Wohnzimmerboden fristet.

Verdammt. Ich bin eingeschlafen, mit einem dämlichen Cheeto in der Hand.

Okay, das reicht. Ich sollte dringend aufstehen. Oder mal duschen. Mein Leben wieder in den Griff kriegen wäre noch besser. Ich habe Josh bereits Jahre meines Lebens geschenkt, da muss ich nicht auch noch was dranhängen. Zwei Tage voller Selbstmitleid und schlechtem Kabelfernsehen müssen reichen. Vielleicht waren es auch drei … Mein Zeitgefühl ist vollkommen im Eimer.

Etwas angeekelt schüttle ich die Essensreste von mir und suche auf der Couch nach meinem Handy. Bis mir einfällt, dass das vermutlich noch halb tot im Reisbad liegt, weil ich absolut kein Interesse verspürt habe, mit irgendjemandem zu reden. Ich wollte nur Stille. Nur Ruhe. Ich wollte …

Ich habe keine Ahnung, was ich wollte. Aber ich weiß, was ich jetzt will, und das ist, nach vorne zu schauen.

Ich atme tief durch, schiebe mir ein paar verknotete Strähnen aus dem Gesicht und gehe, so würdevoll, wie es mir mein Zustand erlaubt, ins Bad auf die Toilette, weil meine Blase sich lautstark meldet. Da putze ich auch direkt die Zähne und danke dem Universum für Zahnseide und Mundwasser. Dabei vermeide ich es, einen Blick in den Spiegel zu werfen. Dafür bin ich noch nicht bereit.

Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer springt mir mein Mantel ins Auge, den ich achtlos auf den Boden geworfen habe, statt ihn ordentlich aufzuhängen. Also bücke ich mich, um ihn aufzuheben, und dabei fällt ein Briefumschlag aus der Tasche, den ich total vergessen habe.

Wie konnte ich nur den Brief aus Phoenix vergessen? Und damit die Antwort auf die Frage, wie es weitergeht?

Ich halte den Umschlag fest und mein Kinn hoch, als ich in die Küche gehe und mein Smartphone aus dem Reisbad befreie. Auf den ersten Blick sieht es gut aus, keine Kratzer auf dem Display, keine Feuchtigkeit mehr. Jetzt muss es nur noch funktionieren, doch was das angeht, bin ich eher weniger zuversichtlich.

Mit dem Handy watschele ich auf mein Bett zu, weil ich noch keine Kraft habe, das Chaos im Wohnbereich zu beseitigen.

Meine Gedanken sind widersprüchlich, fast wankelmütig, als ich seufzend auf die weiche Matratze sinke. Sie sind klar und chaotisch, logisch und verwirrend – und sie sind mir keine große Hilfe. Weil sie genauso rastlos sind wie der Rest von mir. Und mein Herz? Das pocht. Laut und schwer und kräftig. Und hat sich noch nicht entschieden, wie weh ihm getan wurde. Ob es nur eine kleine Schramme ist, kaum der Rede wert, ein Riss, der mehr Zeit braucht, oder ein ganzer Krater, der genäht werden muss. Es ist verletzt, aber es ist nicht gebrochen. Vielleicht ist das die eine Sache, für die ich heute dankbar sein kann. Man soll schließlich jeden Tag für etwas dankbar sein, und ich denke, das hier wird meine Sache.

Denn für meinen arschigen Ex und mein kaputtes Smartphone bin ich es nicht. Shit. Seit zwei Jahren will ich mir ein neues holen, und vielleicht will mir das Universum damit mitteilen, dass es nun endgültig an der Zeit ist. Der Akku geht immer wieder viel zu schnell leer, die Apps stürzen ab, und generell ist es eher ein Gerät mit Charakter, wenn man das so sagen kann.

Ja, es wird Zeit für ein neues.

Ich lege den Brief neben mich, weil ich mich zuerst um ein neues Handy kümmern will. Das kostet mich hoffentlich nicht allzu viele Nerven. Dann ziehe ich murrend den Laptop vom Nachttisch auf meinen Schoß, öffne ihn, und nach einem kurzen Tippen auf eine der Tasten geht das Display an.

Ich habe keinen Telefonvertrag, mag mein Prepaid – weil es flexibler ist und ich kein Geld für Dinge bezahle, die ich nicht in Anspruch nehme – und suche mir deshalb ein günstiges, aber relativ neues Handy raus, das hoffentlich genauso lange halten wird wie mein altes. Es wird in zwei Tagen geliefert. Zahlung per PayPal. Perfekt. Und schnell erledigt. Fühlt sich gut an. Ich lächle, weil ich einen Punkt auf der nicht vorhandenen To-do-Liste für einen Neustart erfüllt habe. Fühlt sich ebenfalls nicht übel an …

Bis der Skype-Button aufblinkt und mir ungelesene Nachrichten und verpasste Anrufe anzeigt. Als ich draufklicke, werde ich beinahe davon erschlagen. Unzählige Nachrichten meiner Schwester ploppen auf, und ich kann Jess förmlich vor mir sehen, wie sie jede einzelne davon schreibt. Zuerst fröhlich, danach voller Sorge und am Ende so wütend, dass sie hofft, niemand hätte mir etwas angetan, damit sie das selbst erledigen kann. In der letzten Mitteilung wird sie sehr konkret, was das angeht.

Ich lege den Kopf etwas zur Seite und kneife die Augen zusammen. Sie würde mich echt verprügeln, mir die Haare ausreißen und mir danach sämtliche Knochen brechen? Hat sie eine Ahnung, wie schwer das ist? Das sind mehr als zweihundert Stück und – ah, da steht’s.

Wehe, du machst einen auf Klugscheißer, ich weiß, dass das viele sind.

Wahrscheinlich war das nicht ihre Absicht, aber ihre Nachrichten zu lesen heitert mich mehr auf als alles andere, was ich seit Freitagabend getan habe. Nicht dass das viel gewesen wäre.

Breit grinsend rufe ich sie an, und es dauert keine fünf Sekunden, bis sie abnimmt.

»Bist du wahnsinnig?«, schreit sie mich an, während ihr Blick immer wieder mein Gesicht scannt, um zu schauen, ob alles okay ist. In Wahrheit ist Jess ziemlich fürsorglich, sie weiß es nur noch nicht.

»Es geht mir gut.«

»Wenn wir uns wiedersehen, nicht mehr«, zischt sie.

»Das hast du in deinen gefühlt einhundertzwölf Nachrichten sehr deutlich gemacht.«

»Werd nicht frech!« Sie deutet streng mit dem Finger auf mich. »Ich hab mir Sorgen gemacht. Richtige Sorgen, Laura.« Und das sind die Worte, die mein Grinsen von jetzt auf gleich wegwischen. Die Worte, ihr Ausdruck in den Augen und das leichte Zittern in ihrer Stimme.

»Es tut mir so leid.«

»Was zur Hölle ist passiert? Du wolltest dich längst gemeldet haben.«

»Meine Toilette hat mein Handy gekillt, und mein Ex steckt seine Liebe jetzt in eine andere.«

»Warte. Was?« Sie stutzt und blinzelt irritiert.

»Nimm es wörtlich.«

Sie reißt die Augen auf. »Josh … vögelt eine andere?«

Ich lasse das einen Moment auf mich wirken. »Ich mag meine Version davon lieber, wenn ich ehrlich bin.«

»Ihr seid also nicht mehr zusammen?« Jess sieht aus, als wäre ihr Kopf vollkommen leer gefegt – bis sie mich ohne Vorwarnung angrinst.

»Was an all diesen grauenvollen Dingen macht dich bitte derart glücklich?« Ich verschränke die Arme vor dem Körper und starre sie ungläubig an.

»Ihr seid nicht mehr zusammen.«

»Mimst du jetzt eine hängende Schallplatte?«

»Sorry. Ich sollte feinfühliger sein und zuerst so tun, als würde es mir leidtun.« Sie räuspert sich und macht große Augen, ihr trauriger Blick fixiert mich. »Es tut mir so leid, dass du diesen minderbemittelten und flatterhaften Kerl los bist und endlich zu der starken Frau werden kannst, die schon immer in dir steckt.« Unschuldig klimpert sie mit den Wimpern, während ich sie sprachlos mit offenem Mund anstarre. »Ach, bitte. Ich hab dich noch nie angelogen, Laura, und zu sagen, dass ich Josh mochte oder dachte, er wäre perfekt für dich, wäre nun mal eine Lüge.«