Patricia Koelle
Ein Engel vor dem Fenster
Wintergeschichten
FISCHER digiBook
Patricia Koelle ist eine Berliner Autorin mit Leidenschaft fürs Meer – und fürs Schreiben, in dem sie ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften, unwahrscheinlichen Planeten zum Ausdruck bringt.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Sie sind noch nie einem echten Engel begegnet? Auch nicht vor Ihrem eigenen Fenster? Vermutlich haben Sie ihn nur nicht erkannt. Engel kommen nicht immer in weißem Gewand und mit Flügeln daher. Manche Engel sind sogar schmutzig. Andere haben gar keine Flügel. Wenn Sie tatsächlich noch keinen getroffen haben, wird es spätestens beim Lesen dieser Geschichten passieren. Sie werden sich wundern.
Wo und wie auch immer jemand auf der Suche nach seiner Weihnachtsstimmung ist, die Chancen stehen gut, dass er sie in diesem Buch findet.
Manche dieser Geschichten eignen sich zum Vorlesen, andere zum Nachdenken und Träumen. In ihnen weht etwas von dem alten Weihnachtszauber, den wir uns gelegentlich zurückwünschen.
Ein Buch, mit dem man es sich an kalten Vorweihnachtsabenden gemütlich machen kann, wenn der Wind um die Häuser unterwegs ist und an den Fensterläden erzählt.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: bürosüd, München
Coverabbildung: www.livingformedia.de (Fenster, Kerzen) und Getty Images (Sterne)
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490160-2
Julius Puskeppelies konnte nicht mehr schlafen, dabei war es erst halb sieben, und ihm fiel keinerlei Grund ein aufzustehen. Es war die Woche zwischen dem dritten und dem vierten Advent, kurz vor Sonnenwende. Er zweifelte daran, dass die Tage wirklich wieder länger werden sollten, so dunkel war es. Himmel und Erde, Garten und Straße wurden von dem allgegenwärtigen Schwarz verschluckt. Tatsächlich konnte er zurzeit kaum glauben, dass es überhaupt jeden Tag einen Morgen geben würde. Selbst wenn es endlich heller wurde, blieb draußen ein gewichtiges Grau. »Morgen-Grauen!«, sagte Julius laut. Was für ein scheußlicher Ausdruck, dachte er. Seine Stimme schob die Stille nicht beiseite. Das Wort fiel in das Schweigen und zerbarst wie eine Glaskugel auf dem Boden.
Nicht nur die langen Nächte, auch die Kälte hatte das Land schon seit Wochen im Griff, ein trockener Frost ohne Schnee, der mit tonlosem Knirschen in seine Knochen kroch und in den Beeten auch die letzte Rose in eine trostlose braune Mumie verwandelt hatte.
Julius versuchte, sich daran zu erinnern, wie es war, als er noch zur Arbeit ging an solchen frühen Dezembermorgen und auf dem Bahnsteig mit den Kollegen gewartet hatte, bis der Zug kam. Sogar Nachtschicht hatte er geschoben; es hatte ihm nichts ausgemacht. Wann war er so alt geworden? Seit Jenny gestorben war? Das war nun auch schon drei Jahre her.
Ihm selbst unerklärlich, wachte er neuerdings mit dem Eindruck auf, in der Nacht etwas Schreckliches erlebt zu haben. Dazu kam das Gefühl bodenloser Einsamkeit, so als sei er in der Finsternis der einzige Mensch in dem winterlichen Land.
Mit leisem Stöhnen kämpfte er sich aus den Decken, zog sich an. Oben drüber noch seinen ausgeleierten Lieblingspullover, den ihm Jenny vor einer Ewigkeit gestrickt hatte; er spürte immer noch ein wenig Trost darin. Er schlurfte zum Fenster und zog den Vorhang einen Spalt weit auf. Gnadenlose Schwärze, wie immer. Wenigstens hatte Frau Zisselmeyer ihren violettblinkenden Leuchteengel ausgeschaltet, der den Abenden jeden Frieden nahm. Überhaupt, Engel! Julius konnte mit Engeln nichts anfangen. Sie gingen ihm auf die Nerven. Vor allem violette, blinkende. Aber auch die ewig blonden, belockten, federgeflügelten im weißen Wallegewand, die mit aufgerissenen Puppenaugen von Einkaufstüten und Baumspitzen aus Schaufenstern und Weihnachtskarten spähten.
Seine Jenny mit ihrem schwarzen glatten Pagenschnitt, ihren moordunklen Augen und ihrer damals gar nicht zeitgemäßen Vorliebe für kurze Hosen: Das war ein Engel gewesen! Aber davon hatte es nur einen gegeben.
Julius schaltete den Fernseher ein, um die Stille zu verjagen. »Streichkäse, leicht und luftig wie Engelsflaum. Himmlisch!«, juchzte eine grelle Frauenstimme scharf durch den Raum, während sich vor einem postkartenblauen Himmel langbeinige, halbnackte, beflügelte Blondinen lasziv und mit vollem Mund kauend auf watteweichen Wolken räkelten, als wäre der richtige Frischkäse der Schlüssel zum Glück. Hastig drückte Julius den Knopf erneut und setzte Teewasser auf. Das Gluckern des Kessels lockerte das wiedergekehrte Schweigen ein wenig.
Der Spalt in der Gardine war offen geblieben. Draußen lag der Rasen leer im müden Schein der einen Gaslaterne. Wo waren sie denn, die trostbringenden himmlischen Heerscharen?
Alle mit Käseessen im Werbestudio beschäftigt? Jenny hatte Kitschengel auch nicht gemocht. Sie schmückte das Haus mit Tannenzweigen, Beeren und Blättern. »Engel kommen vom Himmel, nicht aus der Fabrik«, hatte sie gesagt. Aber eines hatten sie immer gemacht, bis Jenny mit siebzig nicht mehr gut laufen konnte: Schneeengelsilhouetten. Denn der Schnee kam ja vom Himmel.
Sie waren als Nachbarskinder aufgewachsen. Wenn es schneite, war Jenny im Garten, schmiss sich rücklings hin und tat, was alle Kinder damals taten: Sie bewegte die Beine und die Arme auseinander und zusammen und stand dann ganz vorsichtig auf. So blieb der deutliche Umriss eines Engels im Schnee zurück, und Jenny wiederholte das, bis die ganze Wiese voller Engel war. Sie verlangte von Julius, dass er ihr half. Nur: Jenny konnte nie warten, bis genug Schnee lag. Schon bei der ersten dünnen Schicht auf dem Boden war sie nicht zu halten. Und wenn sie dann aufstand, waren ihre Jacke und ihre Hosen hinten voll schwarzer Erde, und auch die Engelsilhouetten waren nicht gerade engelhaft weiß. »Engel sind nicht immer weiß«, sagte Jenny zufrieden. »Hauptsache, es sind Engel, und sie kommen von oben.«
Aber es hatte seit Jahren keine weißen Weihnachten mehr gegeben, und die Wiese kannte Jennys Schritte schon lange nicht mehr.
Nicht einmal Sterne waren zu sehen; die Wolken hingen tief. Julius hatte plötzlich das Gefühl, das Schweigen verdichte sich zu Watte, die ihn erstickte. Er öffnete das Fenster, atmete tief. Plötzlich zuckte er zusammen. Irgendetwas Dunkles segelte steil von oben herab. Er dachte zunächst, der eisige Nordwind habe einen Fetzen Dachpappe heruntergeweht.
Doch dann sah er eine Bewegung, einen Flügelschlag in der trockenen Brombeere an der Hauswand, genau in seiner Augenhöhe. Im schwachen Lichtecho der Gaslaterne glänzte etwas: Ein Blick traf seinen, aus moordunklen Augen.
Die Amsel begann zu singen. Klare, süße Flötentöne tröpfelten erst leise, dann leidenschaftlich aus dem toten Gestrüpp, schlichen in Julius’ Ohren und trafen von dort pfeilgerade seine Seele. Sie stahlen das Dunkel aus der Nacht und die Angst aus Julius und stiegen weiter in den Himmel, wo sich, wie von ihnen gerufen, das erste goldene Schimmern über den Horizont hob.
Wann hatte er zum letzten Mal einen Vogel singen gehört? Im Mai, die Blaumeisen? Nein, im Juni war es, die Nachtigall im Birnbaum. Danach gab es nur hin und wieder ein empörtes Tschilpen, wenn sich die Spatzen um Abfall balgten.
Und nun, mitten im Dezember, in der dunkelsten Zeit, in Dauerfrost und Nordwind, sang ihm eine Amsel.
Er wagte nicht, sich zu rühren, verharrte beglückt in der Kälte und sah den kurzen Tag aus einem Leuchten geboren werden. Fast zehn Minuten dauerte das schlichte und doch zauberhaft verschlungene Lied, schwebte fast sichtbar zwischen ihm und dem unverhofften Besuch, ehe der Vogel verstummte, eine schwarze Feder glättend durch den Schnabel zog und in die Dämmerung aufflog.
Julius schloss das Fenster und schenkte Tee ein. Wie der dampfte und duftete – jederzeit Grund genug aufzustehen, dachte er und atmete tief ein. Der Geruch vermischte sich heiter und wärmend mit den Tönen, die tief in ihm noch zärtlich umhertrieben.
»Engel sind nicht immer weiß«, fiel ihm ein. »Aber sie kommen von oben.«
In den nächsten Tagen konnte er sich darauf verlassen, dass die Amsel ihn mit den Morgen nicht allein ließ. Sie saß mal in der Brombeere, mal in der alten Weide, mal oben auf der Kiefer und schreckte auch vor der Mülltonne nicht zurück. Immer rief sie das Licht hervor, das Versprechen eines Tages, und am Samstag vor dem dritten Advent brachte sie zwei Gefährten mit. Aus drei Richtungen sangen sie im Chor. Julius war froh, dass die Dunkelheit zögerte, als wolle auch sie lauschen, denn Frau Zisselmeyer von der anderen Straßenseite sollte seine Tränen nicht sehen.
Als sich am vierten Advent der Zeitungsbote pünktlich um sieben dick vermummt auf seinem Fahrrad gegen das erste zögernde Schneetreiben des Jahres die Straße entlangkämpfte, sah er etwas, das ihn aus seinem Rhythmus brachte. Herr Puskeppelies aus Nummer neun saß bei minus fünf Grad im Stockdunkeln, in eine Decke gewickelt und mit einer Mütze über die Ohren gezogen, auf der Treppe seiner Veranda, eine dampfende Teetasse und ein Brötchen in der Hand.
»Guten Morgen, Herr Puskeppelies!«, rief der Bote. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Was machen Sie da?«
»Guten Morgen!«, tönte es zurück. »Es ist alles gut. Ich frühstücke mit den Engeln!«
In der Stimme lag ein Schmunzeln, also war wohl nichts Schlimmes, dachte der Postbote, schade nur, dass alte Leute so wunderlich werden.
Wäre er dieselbe Strecke zurückgefahren, hätte er etwas gesehen, das ihn noch mehr in Erstaunen versetzt hätte.
Im verhaltenen Glanz der Winterdämmerung legte der alte Herr Puskeppelies sich unter den Birnbaum, bewegte die Arme und Beine, stand mühsam wieder auf und wiederholte den Vorgang an einer anderen Stelle, während oben in den kahlen knorrigen Ästen eine Amsel sang, als sei es Frühling.
Als der Morgen ganz angekommen war, umringte den Baum ein Kranz aus Engelsilhouetten in der dünnen Schneedecke. Sie waren nicht ganz weiß, genau wie Herr Puskeppelies von hinten. Er verschwand zufrieden im Haus, um den Tag zu beginnen, der heute zum ersten Mal wieder ein wenig länger sein würde.
Die Frau starrte seit vierzig Minuten die Weihnachtskrippe auf der Kuchentheke an, während das Stück Sahnetorte auf ihrem Teller langsam trocknete. Gelegentlich zog sie graue Luft aus einer Zigarette. Egal, wie geduldig er zu ihr hinübersah, er konnte ihren Blick nicht auffangen.
Das Einkaufszentrum war eine gleißende Insel mitten im Rauschen des Berufsverkehrs. Paul Kiewitz saß in der Eingangshalle im Café Bali und staunte. Seit er nur noch Teilzeit arbeitete, entdeckte er ganz neue Dinge in seiner Welt.
Bisher waren seine Tage im Büro gefangen gewesen, und die knappen Feierabende hatte er dankbar mit seiner Frau auf dem Sofa oder im Garten verbracht. Sicher, sie waren auch mal bummeln gegangen, waren Hand in Hand durch weiche Sommernächte geschlendert und hatten in erleuchtete Schaufensterscheiben geblickt, ohne ernst zu nehmen, was dahinter lag. Jetzt, da seine Rente immer näher rückte, hatte er zum ersten Mal Zeit, nur mittendrin zu sitzen und zu beobachten, was der Alltag durch die Stadt spülte.
Genau genommen war es nicht der Alltag. In dreieinhalb Wochen war Weihnachten, darum huschte die doppelte Menge Menschen durch die Läden. Schwere goldfarbene Kugelketten und erschreckend riesige rote Samtschleifen schmückten Deckengewölbe und Eingangstüren. Wer nicht aufpasste, stieß gegen einen der Weihnachtsbäume, die so zahlreich herumstanden. Doch die Stimmung war erwartungsvoll. Die Kinder zeigten lachend und aufgeregt auf den Teddy, der in einer liebevoll dekorierten künstlichen Schneelandschaft schlief. Die Erwachsenen zeterten nicht wie sonst, wenn sie sich im Gedränge anrempelten, sondern lächelten sich entschuldigend zu. Mit ihren schweren Tüten gingen sie sorgfältig um, da sie darin die Freude trugen, die sie jemandem machen würden.
Völlig anders, stellte Paul fest, war es im Café Bali, obwohl keine Wände es von den fröhlichen Einkäufern trennten. Deren geschäftiger Strom floss zu beiden Seiten an den sauber gedeckten Tischen vorbei, die mitten in der Halle unter drei riesigen Palmen standen. Die geschwungenen Stämme der Palmen waren eng mit zarten Lichterketten umwickelt. Darüber spannte sich ein Glasdach, auf dem die Abenddämmerung lag. Ein schöner Anblick, fand Paul, und auch einige Vorübereilende hielten einen Augenblick inne und blickten andächtig nach oben.
Nicht aber die weißhaarige Frau mit dem angetrockneten Tortenstück. Und auch die meisten anderen Gäste nicht, die an den Tischen saßen wie gefroren. Sie wirkten, als rührten sie ratlose Zeit und klebrige Einsamkeit in ihren Kaffee in der Hoffnung, sie würden darin verschwinden. Viele saßen allein am Tisch, Männer und Frauen jeden Alters. Manche waren auch mit Bekannten da, doch die Männer warfen sich ihr Schweigen gegenseitig zu, während das Kichern der Frauen sich über ihre Traurigkeit legte wie Parfüm über Schweißgeruch. Ein Weihnachtsglänzen war in keinem Auge zu entdecken.
Paul schüttelte den Kopf; es berührte ihn gespenstisch. Dabei war die Zimt-Quark-Torte ausgesprochen lecker. Ebenso der alkoholfreie Cocktail mit der pfiffigen Sterndekoration aus Früchten.
Auf die engelsgleiche Verkäuferin mit der glitzernden Weihnachtszipfelmütze schien die Stimmung ihrer Gäste abgefärbt zu haben. Vielleicht war sie auch nur erschöpft. Der mürrische Ausdruck, mit dem sie Espresso servierte, widersprach ihrer Verkleidung. Das Namensschild auf ihrer Bluse erzählte, dass sie Christina hieß. »Immerhin«, dachte Paul, »passt doch!«
»Bringen Sie mir bitte die Rechnung«, bat er und schenkte ihr sein bestes Lächeln. »Und schreiben Sie bitte den Kaffee und die Torte mit darauf, die die weißhaarige Frau an dem Tisch neben der Kuchentheke hatte. Aber sagen Sie ihr keinesfalls, wer das bezahlt hat.«
»Wieso?« In Christinas Augen wachte zum ersten Mal Interesse an etwas auf. »Kennen Sie sie?«
»Nein. Es soll nur eine kleine Überraschung sein. Ich finde, sie kann etwas Aufheiterung gebrauchen.«
Christina musterte die Frau, als hätte die sich eben erst hingesetzt. »Kann schon sein.«
»Ach, und servieren Sie ihr bitte auch noch so einen wunderbaren Bali Wintertraum Spezial«, sagte Paul und wies auf sein leeres Glas.
»Auch auf Ihre Rechnung?«
»Ja, wenn Sie so lieb wären.«
Verwundert huschte Christina davon und kam kurz darauf mit der Rechnung und einem Karamellbonbon wieder.
»Die wird sich aber ganz schön wundern«, sagte sie noch, als sie das Trinkgeld einsteckte.
»Ich hoffe, sie wird sich auch freuen«, sagte Paul und schlüpfte in seinen Mantel. Er freute sich auf seine Frau und sein Sofa.
»Sie möchten schon gehen? Wollen Sie denn nicht …«
»Was?«
Christina wurde rot. »Ich dachte, Sie wollen noch sehen, ob ich ihr den Drink wirklich bringe und nicht noch mal abkassiere. Ich meine, das wissen Sie doch sonst gar nicht.«
»Sie heißen Christina und tragen eine Weihnachtsmannmütze«, sagte Paul. »Ich vertraue Ihnen.« Er lächelte sie an und ging, ohne sich umzudrehen.
»Donnerwetter!«, sagte Christina zu dem leeren Kuchenteller. Dann ging sie den Cocktail mixen.
Paul war zwei Tage später wieder im Einkaufszentrum. Ohne dass er es wollte, blieb er erneut im Café Bali hängen. Warum sollte er sich nicht so einen guten Espresso gönnen oder einen Cappuccino? Er brauchte doch kein schlechtes Gewissen zu haben. Seine Frau war noch nicht zu Hause, und er musste sich daran gewöhnen, Zeit zu haben.
Ehe er sich einen Stuhl zurechtgerückt hatte, kam schon Christina auf ihn zugeeilt. »Stellen Sie sich vor«, berichtete sie atemlos, »sie hat geweint!«
»Geweint?«, fragte er erschrocken.
»Ja, die Frau für die Sie bezahlt haben. Vor Freude. Sie sagte, sie kann sich nicht erinnern, wann ihr das letzte Mal jemand was geschenkt hat. Und dann auch noch ein völlig Fremder. Sie sah plötzlich ganz anders aus. Voller Lachfalten.« Christina gestikulierte um ihr junges Gesicht, als könne sie die Falten, die sie so beeindruckt hatten, darauf legen. »Und den Cocktail hat sie ganz ausgetrunken.«
Paul sagte nicht, dass er auch Christina kaum wiedererkannte, so lebendig war sie jetzt. »Das ist schön. Bringen Sie mir bitte einen Cappuccino?«
»Klar. Und ich soll Sie grüßen. Von der Frau. Sie sagte, sie wird so was auch mal machen. Übrigens, an dem Tag hat mir der Job auch endlich mal wieder Spaß gemacht.«
Paul sah gedankenverloren an den Palmen hinauf, an welchen sich die kleinen Lichter in den Himmel schraubten. Statt Kokosnüssen hingen große goldene Schneeflocken in den Wipfeln, und irgendwo darüber blinzelten die echten Sterne zwischen den Blättern durch das Glasdach. Er hatte nicht gedacht, dass seine kleine Geste einen solchen Effekt haben würde.
»Können wir das nicht noch mal machen?«, fragte Christina verschwörerisch leise, als sie ihm den Cappuccino hinstellte. »Da sitzt nämlich so ein junger Mann. Neben dem Plastiknikolaus. Er sieht genauso aus wie die Frau von neulich.«
Paul bezweifelte das, aber als er sich unauffällig umdrehte, stellte er fest, dass sie recht hatte. Dem Mann war derselbe einsame und traurige Ausdruck eigen, so als hätte er sich hoffnungslos in seinen Gedanken verlaufen und als wiege die Stunde mehr, als er tragen konnte.
»Er sitzt da schon ewig und hat bloß einen Kaffee bestellt«, sagte Christina sorgenvoll.
»Na gut«, sagte Paul zögernd. Der Gedanke, unter den vielen Gästen des Cafés eine vielleicht ungerechte Auswahl zu treffen, bedrückte ihn auf einmal.
Doch Christinas Augen leuchteten. »Einmal Bali Wintertraum Spezial? Ich habe auch das Rezept verbessert.«
»In Ordnung«, sagte er. »Schon weil Sie heute strahlen wie das Christkind.«
Diesmal blieb Paul sitzen. Er drehte sich nicht mehr zu dem Mann um, aber er beobachtete dessen helle Verblüffung in der gegenüberliegenden Schaufensterscheibe, in der sich alles gleich doppelt spiegelte. Nachdem Christina ihm den Drink serviert hatte, sah er sich ungläubig und suchend um. Dann setzte er sich ganz gerade hin, als sei die Schwere um ihn verflogen, und ein Lächeln schlich auf sein Gesicht. Andächtig trank er Schluck für Schluck das bunt geschmückte Glas aus.
Von da an wurde das zur lieben Gewohnheit für Paul. Sein täglicher Spaziergang führte ihn nicht mehr quer durch den Park, sondern direkt ins Café Bali, wo Christina wartete. Meist hatte sie schon jemanden ausgeguckt, von dem sie fand, dieser Mensch hätte eine Überraschung nötig. Einmal konnte sie sich zwischen zweien nicht entscheiden, und Paul auch nicht, so dass Christina selbst eine der beiden Rechnungen übernahm.
Es war wie ein Adventskalender, der die Vorweihnachtszeit bunter und spannender machte.
Einmal stellte Christina ihr Tablett hin und setzte sich zu Paul an den Tisch. »Jetzt bekommen Sie auch mal einen Cappuccino umsonst«, sagte sie. »Was ich schon lange mal fragen wollte: Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, für jemand völlig Unbekannten heimlich die Rechnung zu übernehmen?«
»Das ist … warten Sie … vierundvierzig Jahre her.« Paul nahm einen tiefen Schluck und lächelte über das Bild, das ihm die alte Erinnerung brachte. »Ich war siebzehn und mit einem Freund unterwegs. Wir hatten beide Liebeskummer, blieben spätabends in irgendeinem zweifelhaften Café hängen, obwohl wir längst hätten zu Hause sein sollen, und philosophierten schwermütig über Beziehungen und die Unverständlichkeit des Lebens im Allgemeinen. Dabei aßen wir Spaghetti, tranken Bier und verdrückten noch zwei Eisbecher, die wir uns überhaupt nicht leisten konnten.«
Paul drehte gedankenverloren die Blumenvase auf dem Tisch hin und her.
»Als wir etwas bang um die Rechnung baten, sagte uns die Kellnerin, dass die schon bezahlt sei. ›Von wem denn?‹, fragten wir entgeistert. ›Von dem älteren Mann, der die ganze Zeit an der Theke gesessen hat‹, sagte sie und zeigte mit dem Daumen über ihre Schulter. Doch da saß niemand mehr, nur der Barhocker schien sich noch ein wenig zu drehen.«
»Haben Sie je herausgefunden, wer das war?«
»Nein. Aber es ging uns an jenem Abend plötzlich viel besser. Die Welt konnte doch nicht so verständnislos und verwirrend sein, wenn ein völlig Unbekannter uns ohne jeden Grund eine Freude machte. Es war, als hätte er uns zu verstehen gegeben: ›Macht euch keine Sorgen, Jungs, ihr seid schon ganz in Ordnung, so wie ihr seid.‹«
»Und das haben Sie bis heute nicht vergessen!«, sagte Christina beeindruckt. »Das bedeutet doch, dass vielleicht einige, die Sie in den letzten Tagen überrascht haben, da auch in vierzig Jahren noch dran denken werden. Das ist nur bei wenigen Geschenken so. Das ist was Besonderes.«
So hatte er es noch nicht gesehen. Aber es machte ihn zufrieden.
Am Tag vor Weihnachten fragte sie ihn: »Können wir das nicht im Januar weiter so machen?«
»Nein. Irgendwann spricht es sich herum. Dann kommen die Leute her in der Erwartung, dass sie nicht bezahlen müssen, und sind ärgerlich und enttäuscht, dass es nicht so ist. Es muss eine Ausnahme bleiben. Ein Adventskalender ist auch an Weihnachten zu Ende.«
»Verstehe«, sagte Christina traurig. Doch dann kam ihr Lächeln zurück. »Vielleicht nächstes Jahr wieder?«
»Ja«, sagte Paul, »vielleicht nächstes Jahr wieder.«
Überrascht blieb Fips stehen. Was für ein merkwürdiger Anblick! Oder träumte er?
Er spazierte glücklich, einsam und ungestört am Fluss entlang, hüpfte dabei über den einen oder anderen Baumschatten, den die Gaslaternen auf den frischen Pulverschnee warfen, obwohl sein Rucksack schwer wog. Eine Flasche Brombeerwein war darin, von seinem Großvater persönlich zusammengebraut, Plätzchen von der Oma und eine dicke Kerze für Lisa, die Gastgeberin. Die Stadt schwieg, denn es war Heiligabend. Nur das Wasser gluckerte dunkel unter dem Eis. Wie Puzzlestücke waren die Schollen zusammengefroren. Fips hatte es nicht eilig, zu Lisas Weihnachtsparty zu kommen. Es würde sein, wie Treffen von Studenten immer waren: unverbindlich lustig. Man kannte sich kaum und würde sich nicht besser kennen, wenn man wieder auseinanderging. Sicher, ein paar engere Freunde waren wohl auch dort. Und Enno machte diesen wunderbaren feurigen Hackbraten. Auf Conny freute er sich auch. Vielleicht trug sie zur Feier des Tages das blaue Samtkleid. Aber ob es einen Weihnachtsbaum geben würde, war nicht sicher. Fips formte einen Schneeball, warf ihn an den Stamm einer Kiefer und malte mit dem Finger ein Gesicht hinein. Die Weihnachtsbäume seiner Kindheit würde ohnehin niemand hinbekommen. Nur zarte Strohsterne und Kugeln, durchsichtig wie Seifenblasen, ein klein wenig Lametta und ein paar geschnitzte Holzfiguren. Echte Äpfel. Und der Duft, der in den Zweigen hing, fast als könnte man ihn sehen, wie Spinnweben.
Als er weiterging, entdeckte er den Mann. Gebeugt saß er im Schnee auf der Böschung, in einen langen Mantel gehüllt, und starrte auf den Fluss. Neben ihm steckte eine Angel in einem Schneehaufen. Fips wusste, dass es Angler gab, die ein Loch ins Eis bohrten und im Winter die besten Fische herausholten. Doch die saßen für gewöhnlich nicht an Heiligabend spätabends um einundzwanzig Uhr am Wasser. Und vor allem nicht, wenn gar kein Loch im Eis war. Die helle Fläche war undurchbrochen, und der Haken baumelte wurmlos wenige Zentimeter darüber. Fips blieb stehen.
»Frohe Weihnachten! Kann ich Ihnen helfen?«
Der Mann zuckte zusammen und schüttelte stumm den Kopf, ohne aufzublicken.
Doch Fips’ Neugier war geweckt. So war er schon als Junge gewesen. »Der steckt seine Nase aber auch überall rein, wo’s ihn nix angeht«, hatte seine Oma gesagt. »Hat er von mir«, meinte Fips’ Vater dann stolz. Das mochte stimmen. Deswegen waren seine Eltern jetzt auch mal wieder auf Forschungsreise in Argentinien, und er musste sich dieses Jahr mit einer Studentenparty begnügen, wenn er nicht allein sein wollte. Der große, dürre Mann im Mantel erinnerte Fips ein wenig an seinen Vater. Nur hätte der niemals so stillgesessen.
»Was angeln Sie denn?«
»Offenbar nichts.«
Fips konnte nicht anders, er setzte sich neben den Fremden, auf die andere Seite der Angel. Er streckte die Hand aus. »Ich bin Fips.«
Zum ersten Mal wandte der Mann den Kopf. Fips schätzte ihn auf etwa sechzig. Vielleicht nicht ganz. Er hatte freundliche Augen, in denen ein schwerer Ernst lag. Zögernd erwiderte er den Händedruck. »Franz Oversiek.«
Fips blieb sitzen. Eine Weile schwiegen sie gemeinsam. In der Ferne klangen Glocken, dann senkte sich wieder Stille auf sie herab. Schön friedlich war es hier, nur kalt von unten. Am anderen Ufer schlief ein Hausboot unter einer Weide, die Scheiben blind vom Frost. Fips stellte sich vor, wie im Frühling, wenn die hängenden Zweige hellgrüne Zukunft trieben, ein Künstler oder Dichter das Boot wieder zum Leben erwecken und darauf den Sommer verbringen würde.
»Ich bin nicht verrückt«, sagte Franz Oversiek plötzlich. Von der Weide fielen kleine Schneeklumpen und plumpsten auf den Fluss, als wären es seine Worte gewesen. »Ich bin Arzt. Chirurg. Im Sommer angle ich zur Entspannung. Fische natürlich.«
Fips wartete.
Franz lachte leise auf. »Heute hatte ich das Gefühl, die Angel würde mir beim Denken helfen. Ich bin auf der Suche nach weihnachtlichen Gedanken. Aber es beißen keine an. Am Nachmittag ist mir ein junger Mann auf dem Tisch geblieben. Ungefähr so alt wie Sie. Motorradunfall. Wir waren fast mit der Operation fertig. Dann Herzstillstand. Hilflosigkeit. Ende.« Franz fuhr sich durch die grauen Haare. »Nicht das erste Mal. Auch nicht das letzte. Aber es ist Heiligabend. Das ist anders.« Er starrte weiter auf die Angel, die bewegungslos in der Frostnacht hing. »Und zu Hause wartet auch niemand«, fügte er hinzu. »Meine Frau ist nicht mit meinem Schichtdienst zurechtgekommen. Mit den Überstunden. Wir haben uns nebeneinander vergessen. Dann ging sie. Ist lange her.«
»Hmmm.« Fips kramte in seinem Rucksack. »Ohne Köder werden Sie wohl auch nichts fangen.«
»Wie bitte?«
»Haben Sie schon einmal mit einem nackten Haken einen Fisch gefangen? Was soll daran einen weihnachtlichen Gedanken anlocken?« Er öffnete die Tüte mit den Plätzchen, die dabei vergnügt knisterte, und nahm einen Stern heraus, der nach Zimt duftete und mit goldgelbem Guss bestrichen war. Er hatte Augen aus Schokoladenstückchen und einen lachenden Mund aus bunten Zuckerperlen. Mit dem Draht, der die Tüte verschlossen hatte, befestigte Fips den Stern an der Angel. »So«, sagte er zufrieden. »Nun wollen wir mal sehen, was wir fangen.«
»Haben Sie nichts Besseres zu tun?«