Helmut Kohl
Erinnerungen
1930 – 1980
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Dr. Helmut Kohl, geboren am 3. April 1930 in Ludwigshafen am Rhein. Seit 1947 Mitglied der CDU. Von 1959 bis 1976 Mitglied des Landtags von Rheinland-Pfalz. Von 1969 bis 1976 Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz. Von 1973 bis 1998 Bundesvorsitzender der CDU. Von 1976 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages. Vom 1. Oktober 1982 bis 27. Oktober 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Seit Dezember 1998 Ehrenbürger Europas. Helmut Kohl ist mit 16 Jahren Regierungszeit bis heute der am längsten amtierende deutsche Bundeskanzler. Er war der sechste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und der erste Bundeskanzler des wiedervereinten Deutschland. Helmut Kohl lebt mit seiner Frau Dr. Maike Kohl-Richter in seiner Heimatstadt Ludwigshafen.
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Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Originalausgabe März 2004
© 2004 bei Droemer Verlag
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ISBN 978-3-426-42974-7
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Für Hannelore
Wie häufig wurde ich aufgefordert, meine Memoiren zu schreiben! Viele Freunde bedrängten mich, zu schildern, was ich im Lauf meines Lebens erlebt und erfahren habe, und Bilanz zu ziehen. Lange zögerte ich. Es gilt schon fast als selbstverständlich, dass Politiker ihre Autobiographie vorlegen, aber nicht alles, was auf diese Weise entsteht, lohnt das oft quälende Erinnern. Sollte ich dieser Memoiren-Literatur wirklich ein weiteres Werk hinzufügen?
Andererseits: Wieviel Unsinn wurde in der Vergangenheit zu Papier gebracht, wenn es um mein Leben ging, um mein politisches Tun und Lassen, meinen Arbeits- und Regierungsstil und die Arbeit meiner langjährigen Freunde und politischen Weggefährten. Es sind so viele politische Klischees über meinen Werdegang und meine Regierungszeit in die Welt gesetzt worden, dass die Legenden über die historischen Zusammenhänge bereits zu verdrängen drohen, wie es wirklich war. Deshalb habe ich nun selbst zur Feder gegriffen.
Für die Arbeit an dem vorliegenden Band meiner Erinnerungen haben meine Mitarbeiter und ich zahlreiche Quellen jener Zeit herangezogen und ausgewertet. So konnten erstmals die Protokolle der CDU-Fraktion im Mainzer Landtag von 1959 bis 1976 eingesehen werden, ebenso die Ministerratsdokumente aus meiner Amtszeit als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz 1969 bis 1976. Hilfreich waren auch die Protokolle des CDU-Präsidiums und des CDU-Bundesvorstands während meiner Zeit als Bundesvorsitzender und die Dokumente, die in den Jahren entstanden, als ich Oppositionsführer in Bonn und Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion war. In diesem Zusammenhang bedanke ich mich für tatkräftige Unterstützung beim Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Danken möchte ich auch einigen Freunden und nahen Weggefährten, die mir manche gute Ratschläge gaben und bestimmte Erinnerungen wieder wachriefen. Mein besonderer Dank gilt einigen Wissenschaftlern und Publizisten, die meine Arbeit kritisch begleiteten und mit dazu beitrugen, das Buch zu dem zu machen, was es, wie ich hoffe, geworden ist: die Beschreibung eines Stücks deutscher Zeitgeschichte.
Ich danke meinen Söhnen Walter und Peter, die mir auch bei diesem Buch, wie in vielen Jahren unseres gemeinsamen Lebens, ganz selbstverständlich geholfen haben.
Der größte Dank gilt Hannelore, meiner verstorbenen Frau. Sie war es, die mich bis zu ihrem Tod anhielt, nur ja meine Memoiren zu Ende zu schreiben. Hannelore hätte mir noch viele Anregungen geben können, und sie hätte sicherlich gerne am Text mitgearbeitet. Ihr widme ich in Dankbarkeit dieses Buch über mein Leben, das ich ohne ihre Unterstützung so nie hätte leben können.
Ludwigshafen, im Januar 2004
(1930 – 1959)
Ich bin ein klassisches Beispiel dafür, welchen Einfluss das Elternhaus hat. Mein Großvater Josef Schnur, der 1930 kurz vor meiner Geburt in Ludwigshafen starb, entstammte einer Bauern- und Lehrerfamilie aus dem Hunsrück. Zu Beginn der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts studierte er in Trier an der Präparandenanstalt, wie man damals eine Pädagogische Akademie nannte. Nach dem Ende seiner Ausbildung fand er aber im Gefolge des Kulturkampfs keine Anstellung im preußischen Trier. Er bewarb sich dann mit Erfolg in der liberalen bayerischen Pfalz um eine Stelle an der Volksschule von Friesenheim. Das Dorf am westlichen Rheinufer, das mein Heimatort werden sollte, wurde wenige Jahre später, 1892, von der Stadt Ludwigshafen eingemeindet, die durch den Aufstieg der Badischen Anilin- und Sodafabrik (BASF) eine ungeheuer dynamische Entwicklung nahm.
Mein Großvater heiratete 1889 eine Bauerntochter aus Friesenheim und gründete eine Familie. Bis zu seinem Lebensende blieb er Lehrer und leitete die Volksschule in Friesenheim. Das Haus, das er 1890/91 baute und das später mein Elternhaus wurde, lag damals am Stadtrand. Mein Großvater hatte es auf Zuwachs berechnet. Es verfügte über sieben Zimmer, Küche und Keller, kleine Nebenräume, einen großen Speicher und vor allem über einen großen, weit über hundert Meter langen Garten, in dem er neben Hühnern und anderen Haustieren auch Bienen hielt. Es war, wie damals üblich, ein Nutzgarten, in dem alles angebaut wurde, was man im eigenen Haushalt benötigte. Besonders stolz war der Großvater auf seine vielen Obstbäume, über vierzig an der Zahl. Er selbst war ein Meister im Okulieren, im Veredeln von Obstbäumen.
Mein Großvater liebte die Musik. Er spielte die Orgel in der katholischen Kirche und dirigierte viele Jahre lang den Kirchenchor von Friesenheim. Er war eine allgemein anerkannte, angesehene Respektsperson, was ich als Enkel noch oft erfahren durfte. Er galt als gewissenhaft, ernst, fleißig und fromm, war aber als Lehrer auch ein Mann von großer Autorität.
Mein Vater, Hans Kohl, stammte aus Unterfranken in Bayern, aus einer bäuerlichen Familie mit elf Kindern. Er wurde 1887 in Greußenheim bei Würzburg geboren. Mein Vater drückte in Greußenheim die Schulbank, nur wenige Jahre nach Adam Stegerwald, dem bedeutenden Sozialpolitiker der Weimarer Republik, der aus einem Nachbarhaus stammte und es bis zum preußischen Ministerpräsidenten und zum Reichsarbeitsminister bringen sollte. 1906, im Alter von neunzehn Jahren, rückte mein Vater bei der bayerischen Armee ein. Er kam in ein Regiment nach Landau in der Pfalz, wurde Berufssoldat, sammelte im Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918 mehr als genug Fronterfahrung und kehrte als Oberleutnant zurück.
Für meinen Vater, wie für viele seiner Kameraden, war der Erste Weltkrieg eine wichtige und tief prägende Erfahrung. An verschiedenen Abschnitten der Westfront hat er den Krieg in seiner ganzen Brutalität erfahren. Es gehört zu unserer Familientradition, dass meine Mutter, als beide schon in hohem Alter waren, wiederholt davon berichtete, wie mein Vater nachts noch immer aus dem Schlaf aufschreckte und »Angriff!« befahl. Das Trauma eines Soldaten blieb bei ihm zeitlebens präsent.
Bei Kriegsende 1918 war mein Vater Kompaniechef in einer Transporttruppe. Da die Armee abgerüstet wurde, wechselte er als Steuersekretär zur bayerischen Finanzverwaltung. 1920 heiratete er Cäcilie Schnur, meine Mutter, die er schon vor dem Krieg in der Pfalz kennengelernt hatte. Meine Eltern wohnten mehrere Jahre in Gerolshofen in Unterfranken. Nach dem Tod meines Großvaters Josef Schnur zogen sie nach Ludwigshafen, in die Heimatstadt meiner Mutter. Die Ehe war mit drei Kindern gesegnet. Den Anfang machte 1922 meine Schwester Hildegard. Ihr folgte vier Jahre später mein Bruder Walter. 1930 wurde ich als das jüngste der Kinder in Ludwigshafen geboren – zu einer Zeit, als unsere Familie bereits im Friesenheimer Haus des Großvaters heimisch geworden war.
In diesem Haus an der Hohenzollernstraße – heute eine der wichtigsten Straßen Ludwigshafens, zu Großvaters Zeiten nur ein Feldweg – fanden wir ausreichend Raum und Bewegungsmöglichkeiten. Der weitläufige Garten grenzte ans freie Feld. Hier hatten wir drei Geschwister eine gute Zeit. Wir wuchsen gemeinsam auf, obwohl der Altersunterschied nicht gering war. In diesen Jahren sind zwischen uns Bindungen gewachsen, die das ganze Leben anhielten.
Das Gehalt eines Finanzbeamten schuf eine ausreichende materielle Basis – mehr aber auch nicht. Entsprechend lautete ein Prinzip meiner Eltern: Man muss nichts vererben, aber wichtig ist für die Kinder eine bestmögliche Ausbildung. Wir hatten keine Sorge um das tägliche Brot, es reichte auch zum Sonntagsbraten, aber wir lebten gezwungenermaßen sparsam und bescheiden, immer in dem Bewusstsein, dass das Geld nicht auf der Straße liegt, sondern hart erarbeitet werden muss. Es war ein typischer kleiner Beamtenhaushalt wie Millionen andere. Was man hatte, schien verhältnismäßig sicher, das Gesetz des Maßhaltens, des Einschränkens, des Verzichtens war aber immer gegenwärtig. Es regulierte den Alltag von morgens bis abends. So musste ich natürlich die abgelegten Kleider und Schuhe meines älteren Bruders auftragen, bis meine Füße länger waren als seine und ich zum ersten Mal ganz neues Schuhwerk bekam. Mutter ging meistens erst dann zum Markt, wenn die Händler ihre Stände schon abbauten und die Preise für ihre Ware senkten.
Gegessen wurde, was auf den Tisch kam: werktags Mehl- und Eierspeisen, freitags Fisch, am Samstag Eintopf und nur zweimal die Woche Fleisch. Meine Mutter war eine ausgezeichnete Köchin, und unser Garten lieferte viel an frischem Gemüse, Kräutern und Salaten, an Rhabarber, Beeren und Obst. Der Garten diente schon seit Großvaters Tagen auch der Tierhaltung. Hühner und Puten gehörten gewissermaßen zum Haushalt, ebenso Kaninchen, die ich als Kind frühzeitig zu versorgen hatte. Täglich musste ich Futter für sie suchen. Ich wurde zeitweilig ein passionierter Kaninchenzüchter. Auch in der Seidenraupenzucht habe ich mich versucht, angelockt von den zwanzig Mark, die ein Kilo Kokons einbrachte.
Für große Festivitäten fehlte unserer Familie das Geld, Theater- und Konzertbesuche waren die Ausnahme. Ein Rundfunkapparat, der »Volksempfänger«, kam erst in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre ins Haus. Nur bei Schnee und Eis leistete Vater sich eine Straßenbahnkarte. Von einem Auto hätte er nicht einmal zu träumen gewagt. Den Urlaub verbrachte er zu Hause, meist im Garten arbeitend. Allenfalls fuhren wir einmal zu unseren bäuerlichen Verwandten in Unterfranken. Aber auch dort hieß es dann »zufassen und mithelfen« – ein Gebot, das auch für uns Kinder galt. Weil wir für Reisen kein Geld hatten, machten wir »Ferien auf dem Bauernhof«, wie man heute sagen würde. In einer Mühle kamen wir unter. Dort war ich von 1936 bis 1941 jeden Sommer in den Ferien, zunächst mit meinem Vater und meinem Bruder, später fuhr ich dann allein mit dem Bummelzug von Ludwigshafen nach Würzburg, übernachtete dort bei einem Onkel und verbrachte anschließend vier Wochen lang eine wunderschöne Zeit in der Mühle mit Bauernhof. Es gab alles: Pferde, Kühe, Schweine, Tauben, Gänse, Enten. Es war ein Paradies, und ich war sehr gerne dort. Überhaupt hatte ich eigentlich eine Kindheit, wie man sie sich nur wünschen kann.
Auch die Feste in meinem Elternhaus waren dem Gesetz des Maßhaltens unterworfen. Zwar bekam ich schon zu meinem fünften Geburtstag ein Fahrrad geschenkt, aber da handelte es sich um einen Gelegenheitskauf, es war gebraucht und kostete nur acht Mark; mein Vater hielt jede Art körperlicher Betätigung für sinnvoll und gesund. Das nächste größere Geschenk erhielt ich zur Erstkommunion – eine Uhr, die natürlich nicht getragen, sondern sorgfältig aufgehoben, »für später« geschont wurde. Was sonst auf den Gabentisch kam, sei es zum Geburtstag, sei es zu Weihnachten, waren meist »praktische Sachen«, die ohnehin gekauft werden mussten: Pullover, Hemden, Socken. Einmal, zu Weihnachten, erhielt ich allerdings eine mittelalterliche Ritterburg.
An meinen Geburtstagen hatten wir immer ein volles Haus. Alle meine Spielkameraden stellten sich dann pünktlich ein. Ich hatte viele Freunde, schon weil unser großer Garten und das angrenzende freie Feld an der damaligen Stadtgrenze zu ausgelassenen und lautstarken Spielen lockten. Mutter, die meine Geburtstagsgäste, wie das Ritual es vorsah, mit Unmengen von selbstgebackenem Kuchen und heißem Kakao versorgte, kannte sie fast alle, die meisten allerdings nur mit ihren Spitznamen. Später, als sie erwachsen waren, kombinierte sie diese Spitznamen mit der Anrede »Herr …«. So kamen Bezeichnungen wie »Herr Stalin« dabei heraus.
Am feierlichsten wurde natürlich das Weihnachtsfest begangen. Die Vorbereitungen begannen schon Wochen vorher und erzeugten jene merkwürdige Unruhe und Geschäftigkeit, die vor allem uns Kinder in Spannung und Vorfreude versetzte. Noch heute erinnere ich mich der Abende, an denen das unerlässliche Festgebäck entstand: Lebkuchen, Spritzgebackenes, Zimtwaffeln. Das ganze Haus duftete nach Mandeln und Vanillezucker, nach Zitronat und zerlassener Butter, und schon der frische Teig schmeckte köstlich. Er vor allem – und der Karamelpudding – ist es gewesen, der meine Neigung zu Süßspeisen geweckt hat.
Meine Erinnerung an die Weihnachtsabende in unserem Elternhaus ist frisch und lebendig. Sie begannen traditionell mit dem Besuch der Christmette. Zu Hause lasen Vater oder Mutter die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vor. Wir Kinder hörten jedesmal wieder mit gespannter Aufmerksamkeit zu, obwohl wir sie auswendig kannten. Dann sangen wir, von meiner Schwester am Klavier begleitet, die schönen alten Lieder. Das sind Bilder und Eindrücke, wie sie damals gewiss in Millionen Familien entstanden.
An den Weihnachtstagen genossen wir ein »gutes Leben«. Höhepunkt des Festmahls war die schön gebräunte Weihnachtsgans. Den Abschluss bildete eine Zitronenspeise oder aber der berühmte Karamelpudding, auf den sich meine Mutter so gut verstand. Ich habe seinen Geschmack noch heute auf der Zunge.
Auch später, in der düsteren Zeit des Zweiten Weltkriegs, der das harte Überlebenstraining in den Hungerjahren folgte, blieb mein Elternhaus intakt. Die geistige Orientierung ging nie verloren. Sie war auf ganz andere Werte ausgerichtet als der Nationalsozialismus, der zwischen 1933 und 1945 mit einem Ausschließlichkeitsanspruch sondergleichen verkündet wurde. Mein Elternhaus und das Milieu, aus dem ich kam, waren »stockschwarz«, das heißt christlich-katholisch geprägt, dabei zugleich liberal und patriotisch, ohne jemals der Gefahr zu erliegen, in ein nationalsozialistisches Fahrwasser zu geraten.
Beide, Vater und Mutter, nahmen ihren Glauben, ihre Religion ernst; sie gaben mir als praktizierende Christen ein echtes Vorbild. Die Gemeinschaft der römisch-katholischen Kirche stellte für meine Eltern die schützende und schöpferische Mitte dar, die Gottvertrauen und Lebenstüchtigkeit, Gelassenheit und Beharrlichkeit vermittelte. Vor allem für Mutter bildete der christliche Glaube den Mittelpunkt ihres Daseins. Sie kannte sich nicht nur in der Bibel aus, sondern auch im Leben der Heiligen, die sie je nach Bedarf und Zuständigkeit anrief. Bis ans Ende ihrer Tage – sie ist fast neunzig Jahre alt geworden – hat sie das Datum nicht nach dem normalen Kalender, sondern nach dem Heiligenkalender berechnet. Sie ging regelmäßig beichten und übte die vorgeschriebenen Riten sorgfältig und gewissenhaft aus. Aber sie tat es ohne Anmaßung, mit einer sachlichen Selbstverständlichkeit, ohne sich deshalb besser zu dünken als diejenigen, die es nicht taten.
Dem entsprach ihre religiöse Toleranz. Sie respektierte den Protestantismus, der in der Pfalz dominierte, wie die eigene Konfession und hielt viel von Juden, auch wenn kaum persönliche Kontakte bestanden. Im Rundfunk bevorzugte sie die evangelischen Gottesdienste, weil sie der Meinung war, dass die Predigten gründlicher, tiefer und besser seien. Auch für meinen Vater galt die Toleranz gegenüber anderen Religionen und Bekenntnissen als eine Pflicht, die keiner besonderen Erklärung bedurfte.
Mit meinen Eltern besuchte ich oft den Speyerer und den Wormser Dom. Als ich älter wurde und die historischen Zusammenhänge besser verstehen konnte, war für mich immer die unmittelbare Nachbarschaft des Domes zu Worms zum jüdischen Friedhof von großer Bedeutung.
An die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938, in der die Nationalsozialisten im ganzen Reich Exzesse gegen jüdische Mitbürger und ihre Einrichtungen verübten, habe ich nur eine vage Erinnerung. Ich entsinne mich noch, dass meine Eltern bedrückt darüber sprachen. Was aber wirklich passierte, konnte ich mit acht Jahren nicht erfassen, zumal niemand aus unserem Freundes- oder Bekanntenkreis unmittelbar betroffen war.
Rückschauend bin ich dankbar für die Mitgift, die ich durch ein christliches Elternhaus erhalten habe. Mein Vater und meine Mutter gaben ihre religiöse Überzeugung wie selbstverständlich an uns weiter, und Gott sei Dank entwickelte sich der Glaube meiner Kindheit frei von Bigotterie. Als Junge bin ich natürlich in den Gottesdienst geschickt worden, sonntags immer und unter der Woche ein- bis zweimal. Aber wenn um 19 Uhr die Maiandacht begann und wir Buben kickten gerade auf dem Sportplatz, der fünf Minuten von der Kirche entfernt lag, fuhr einer von uns mit dem Rad zur Kirche und schaute nach, welcher Kaplan die Andacht hielt. Und wenn wir zu Hause danach gefragt wurden, war unsere Antwort immer richtig …
Ich bin zeitlebens gern in die Kirche gegangen, weil ich oft das Bedürfnis danach hatte. Der Glaube ist für mich bei Lebensproblemen eine wichtige Kraftquelle geblieben, und ich empfinde es als ein Glück, wenn man in schwierigen Lebensphasen und in Zeiten großer seelischer Bedrängnis beten kann. Während des Krieges erlebte ich mit, wie die Menschen im Bunker laut beteten – ungeachtet der Kirchenfeindlichkeit des herrschenden Regimes. Von meiner Mutter bewahre ich auch bis zum heutigen Tag die Sitte, in Kirchen eine Kerze anzustecken oder das Kreuz aufs Brot zu schlagen, bevor ich einen Laib anschneide. Das sind kleine Beispiele dafür, wie das Elternhaus und das Herkunftsmilieu wirken können.
Die Werteskala meiner Eltern war also eindeutig christlich bestimmt. Dass sie gleichzeitig patriotisch dachten, verstand sich von selbst. Das zu Hause herrschende Nationalgefühl war aber frei von missionarischen Elementen. Meine Eltern fühlten sich dem Vaterland, in das sie hineingeboren waren, einfach verbunden. Sie hatten viele Daten der deutschen Geschichte im Kopf, sie waren stolz auf die kulturellen Leistungen unseres Volkes, sie liebten ihre Heimat und deren Bräuche, Traditionen, Sprache, und sie gebrauchten das Wort »Vaterland« ganz selbstverständlich.
Der Nationalsozialismus konnte keinen Eingang in mein Elternhaus finden. Hier gab es keinen Nährboden für totalitäre Ideologien. Mein Vater trat nach 1933, obwohl er damit seinem beruflichen Fortkommen sicher geschadet hat, aus dem »Stahlhelm« aus, dem deutschnationalen Bund der Frontsoldaten, in dem er sich bis dahin auch als engagierter Wähler der katholischen Zentrumspartei wohl gefühlt hatte. Er sah mit Hitlers Machtergreifung einen Zweiten Weltkrieg kommen, und er fürchtete ihn.
Das Elternhaus hat mir auch seine Liberalität vermacht: die Fähigkeit, den Standpunkt anderer, auch den von Gegnern, zu verstehen, sich selbstkritisch zu sehen und aus Fehlern zu lernen; das Vermögen, auf andere zuzugehen, die Offenheit für Ideen, die Gesprächsbereitschaft.
Noch etwas war in meinem Elternhaus zu lernen: die Bereitschaft zuzufassen, seine Pflicht ohne große Worte zu erfüllen. Wie so vieles für meine Eltern natürlich und selbstverständlich war, so auch dies: Man war füreinander da, man stand zu seinen Freunden, man half einander, der Mutter in der Küche, dem Vater im Garten, man hatte seine Aufgaben, und man stellte sich ihnen, man erledigte sie. Meine Eltern haben mir vorgelebt, wie sich Pflichtbewusstsein und Fröhlichkeit des Herzens vereinbaren lassen, wie der Einsatz für andere das eigene Leben reicher macht. Dafür bleibe ich ihnen immer dankbar.
Alle diese Erinnerungen beziehen sich mehr oder weniger auf meine sehr frühe Jugend. Diese endete über Nacht mit dem Kriegsausbruch 1939. Gewiss, die Schule ging weiter, Arbeiten wurden geschrieben, Zeugnisse schufen Unruhe und Ungemach. Ich war ein eher widerwilliger und schlechter Schüler: Mich interessierte nicht die Schule, sondern das Leben. Freunde kamen zum Spielen, meine Abende gehörten wie zuvor der Lektüre von Büchern; aber ich spürte doch bald den bisher nicht gekannten Ernst des Lebens.
Welche Winde im Lauf der Zeit doch an einem Menschen vorbeirauschen, besonders in einer Übergangsperiode, wie ich sie erlebt habe. Als ich am 3. April 1930, einem Donnerstag, im Städtischen Krankenhaus von Ludwigshafen zur Welt kam, amtierten der alte Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg als Reichspräsident und Heinrich Brüning als Reichskanzler der Weimarer Republik. Meine Heimat, die Pfalz, war seit Ende des Ersten Weltkriegs von den Franzosen besetzt. Erst in jenem Sommer 1930 zog die Besatzungsmacht aus dem linksrheinischen Gebiet ab.
Die Pfälzer sind ein besonderer Menschenschlag. Das hängt mit ihrer Geschichte zusammen. Sie wissen zu feiern und Freude zu haben. Wein und Sonne hat der liebe Gott der Pfalz in reichem Maße geschenkt. Wie der Weinstock, der sich in die Erde eingräbt, sind die Menschen tief verwurzelt in ihrer Heimat und vertraut mit deren Geschichte und Geschichten um die Römer, die den Weinbau brachten, um den Dom zu Speyer, in dem deutsche Könige und Kaiser des Mittelalters zur ewigen Ruhe gebettet wurden, um die Reichstage zu Speyer und Worms.
Geographisch und vor allem geopolitisch ist meine Heimat ein europäisches Kernland. Davon künden das Heidelberger Schloss oder der Trifels über Annweiler, jene Burg, auf der die Salier die Reichskleinodien, die Insignien der kaiserlichen Macht, aufbewahren ließen. Besonders der Dom zu Speyer, im elften Jahrhundert als größte Kirche des Abendlands erbaut, ist für mich ein Symbol der Einheit der deutschen und europäischen Geschichte. Während meiner Kanzlerschaft habe ich viele Staatsgäste aus der ganzen Welt in den Dom geführt und erlebt, wie er wirkt in seiner Einfachheit, in seiner Klarheit, wenn die Sonne durch die Fenster dringt und die warmen Farben des Pfälzer Buntsandsteins zum Leben erweckt, so dass er förmlich zu uns spricht.
Die römisch-deutschen Kaiser herrschten nicht über einen Nationalstaat, sondern über ein frühes Haus Europa, das von Sizilien bis zur Nordsee reichte. Sie trugen das Bewusstsein der abendländischen Welt in sich, dieses antik und christlich geprägten Kulturkreises. Die Pfalz galt in ihrer Glanzzeit als Mittelpunkt des Heiligen Römischen Reichs, wurde aber später Spielball der Mächteinteressen. Der Dreißigjährige Krieg und der Pfälzische Erbfolgekrieg ließen ein geschundenes, entvölkertes Land zurück. Vor allem im neunzehnten Jahrhundert zwangen Missernten, materielle Not und der Kampf für die Freiheit viele Menschen zur Auswanderung.
Zwischen den historischen Daten muss man die Gesichter der Menschen sehen, die in diesen Zeiten bitteren Elends gelebt haben. Wir hatten unter der Grenzlage und Frankreichs Zug zum Rhein zu leiden. Jede Generation errichtete neue Kriegerdenkmale und Soldatenfriedhöfe. Die Menschen haben daraus ein besonderes Lebensgefühl entwickelt. Sie sind den Freuden des Daseins nicht ab- und dogmatischem Denken nicht zugeneigt. Wir Pfälzer haben unseren Freiheitssinn, haben ein gesundes Misstrauen gegen Ideologen und Ideologien – der Mensch ist wichtiger als alle Ideologie. Leben und leben lassen, lautet das pfälzische Toleranzprinzip, und Offenheit und Lebensart der Pfalz hängen sicher auch zusammen mit dem mediterranen Klima und französischen Einflüssen.
Das Hambacher Fest vom Mai 1832 steht bis heute für den Aufbruch der deutschen Demokraten. Damals kamen auf der Maxburg oberhalb von Hambach bei Neustadt in der Pfalz rund dreißigtausend Menschen zusammen, darunter auch Polen und Franzosen, und forderten ein freies, geeintes Deutschland und einen Bund der europäischen Nationen. Die Redner ließen das gemeinsame und freiheitliche Europa begeistert hochleben. Die wenigsten Deutschen wissen heute, dass damals auf dem Hambacher Schloss unsere schwarzrotgoldene Nationalfahne zum ersten Mal als Symbol für Demokratie und Vaterland flatterte. Während meiner Zeit als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz habe ich später eine Originalfahne von 1832 über dem Plenarsaal des Landtags in Mainz aufhängen lassen.
Ich bin am Rhein aufgewachsen. Mein Friesenheim, eine alte Gemeinde mit vielen Schiffern, war unmittelbar am großen Strom gegenüber der Neckarmündung entstanden. Der Fluss bot uns Kindern alle Möglichkeiten. Hier konnte man alles treiben, was verboten war.
1936 kam ich in Friesenheim in die Volksschule, nur dreihundert Meter von meinem Elternhaus entfernt. Die ersten drei Klassen hatten wir nacheinander zwei Lehrerinnen, die wir Kinder heiß und innig liebten. In der vierten Klasse jedoch war der Lehrer äußerst streng und hat mit seinem Rohrstock teilweise mit einer richtigen Lust geprügelt. Ich bin oft genug missmutig in die Schule gegangen.
Später auf dem Gymnasium, das auch nur etwa fünfhundert Meter entfernt lag, waren mir die Fächer Mathematik und Naturwissenschaften ein Greuel, während Geschichte, Deutsch und Geographie mein Interesse fanden. Vor dem Hintergrund der Zeit mit ihren dramatischen politischen Ereignissen hatten wir eine ungewöhnliche Schulzeit mit kriegsbedingten Unterbrechungen. Meine Volksschuljahre allerdings waren noch eine recht beschauliche und freundliche Zeit.
Ich las als Schüler übrigens mit wachsender Begeisterung die Abenteuer- und Reiseromane von Karl May. Die Handlungen zogen mich ebenso in den Bann wie die originellen Helden: Winnetou ist mir wohl deshalb so lebhaft in Erinnerung geblieben, weil mich seine Freundschaft mit dem weißen Jäger Old Shatterhand beeindruckte. Ähnlich verhält es sich mit Karl Mays Roman Ardistan und Dschinnistan, in dem Kara Ben Nemsi und sein Begleiter Hadschi Halef Omar die Verlässlichkeit ihrer Freundschaft unter Beweis stellen. »Die Erde sehnt sich nach Ruhe«, heißt es da, »die Menschheit nach Frieden, und die Geschichte will nicht mehr Taten der Gewalt und des Hasses, sondern Taten der Liebe verzeichnen.« Das entsprach meinen Wunschvorstellungen, mit denen ich während des Dritten Reichs und im Zweiten Weltkrieg Karl May gelesen habe.
Wichtig war für mich vor allem, geistig auf dem Boden der Heimat zu stehen. In Ludwigshafen bin ich aufgewachsen, in der Pfalz habe ich meine ersten Schritte getan und meine elementaren Erfahrungen gesammelt; dort wird immer mein Zuhause sein, dort werde ich begraben liegen. Aus dieser Liebe zur Heimat habe ich viel von meiner Kraft geschöpft. Die Verbundenheit mit den Wurzeln, beispielsweise auch bei Konrad Adenauer mit dem Rheinischen oder bei Theodor Heuss mit dem Schwäbischen, wirkt elementar. Regionales Bewusstsein ist nicht provinziell. Johann Wolfgang von Goethe wurde wegen seines Frankfurter Dialekts in Weimar kaum verstanden. Heimat und Vaterland gehören zusammen. Darum sagte ich später oft: Die Pfalz ist meine Heimat, Deutschland ist mein Vaterland, und Europa ist unsere Zukunft.
Es hat mich geprägt, in der Pfalz aufgewachsen zu sein, »in diesem Land, in welchem der Pflug des Bauern immer wieder römische Münzen emporwirft«, wie die Dichterin Elisabeth Langgässer einmal geschrieben hat. Sie stammte aus dem nahen Rheinhessen, ebenso wie Carl Zuckmayer, der den schönsten Text über meine Heimatregion geschrieben hat. Besonders bemerkenswert ist, dass Zuckmayer diese Hymne während seiner Emigration verfasst hat: 1943/44 in den Wäldern von Vermont in den Vereinigten Staaten. Zuckmayer bringt darin die wechselhafte Geschichte der Landschaft am Rhein auf den Punkt. Ich denke an jene Szene in dem berühmten Drama Des Teufels General, das während der Zeit des nationalsozialistischen Rassenwahns und der Ariernachweise spielt. Mit hängendem Kopf beklagt der Oberleutnant Hartmann, dass seine Verlobte, ein Fräulein von Mohrungen, die Verbindung gelöst hat – wegen jüdischer Vorfahren seiner Familie, die vom Rhein kam. Darüber treibt dann der General Harras seinen Spott in einem Monolog, den ich gern zitiere:
»Vom Rhein. Von der großen Völkermühle. Von der Kelter Europas! Und jetzt stellen Sie sich doch mal diese Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. – Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündener Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsass, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das alles hat am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt –, und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven, und der Gutenberg, und der Matthias Grünewald, ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt – und warum? Weil sich die Völker dort vermischt haben. Vermischt wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammenrinnen. Vom Rhein – das heißt: vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse. Seien Sie stolz darauf, Hartmann!«
Carl Zuckmayer hat mich von frühen Jahren an fasziniert. Er ist einer meiner Lieblingsschriftsteller geblieben. Was mir an seinen Werken gefiel, fand ich später in seinen Lebenserinnerungen Als wär’s ein Stück von mir bestätigt. In diesen »Horen der Freundschaft« erscheint sein Leben im Spiegel menschlicher Begegnungen, die ihn nachhaltig geprägt haben. Es macht den Reiz dieser Geschichtsschreibung aus, dass der Autor den Lesern die Vergangenheit in menschlichen Geschicken vergegenwärtigt und verständlich macht. Diese Art der Darstellung erklärt, warum Zuckmayers Dramen mit ihren plastischen Gestalten, mit der Fülle und Vielschichtigkeit ihrer Handlungen und mit der Farbigkeit des geschichtlichen Milieus die Leser und Zuschauer immer wieder in den Bann ziehen. Das gilt für den Schinderhannes, den Fröhlichen Weinberg, ein Stück, das die lebensfrohe Liberalität der Menschen am Rhein prägnant ausdrückt, und nicht zuletzt für den Hauptmann von Köpenick.
Die ernste Komödie Hauptmann von Köpenick ist ein Buch, mit dem ich von Jugend an gelebt habe und dessen Lektüre mich seither immer wieder stark beschäftigt hat. Für mich ist der Schuster Wilhelm Voigt als tragische Gestalt imponierend: ein gesellschaftlicher Außenseiter, der einem auf Perfektion versessenen, vom militärischen Drill geprägten Staat und einer selbstherrlichen Gesellschaft, dem Wilhelminischen Kaiserreich, zum Opfer fällt. Voigt verlangt vergeblich vom Staat eine »Ordnung«, die ein menschenwürdiges Leben gewährleistet und sich nicht so verhält, dass der einzelne nur noch »mit de Füße in de Luft baumeln« darf. Was Zuckmayer gelegentlich als »das Menschliche und Überzeitliche an dem Stück« bezeichnet hat, ist für mich politisch immer auch Orientierung gewesen: für ein Recht einzutreten, das nicht über Menschen hinweggeht, sondern sie berücksichtigt – wie Schuster Voigt sagt – »mit Leib und Seele«.
Wenn Politiker eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht herbeiführen wollen, können und dürfen sie sich nicht den Klagen und Anklagen des »kleinen Mannes« verschließen, den Voigt repräsentiert. Er stellte für mich eine fordernde Gestalt dar, an die ich später im Politikalltag oft dachte.
Als am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen begann, war ich neun Jahre alt. Mit diesem Datum endete abrupt meine bis dahin ungetrübte Kindheit in Ludwigshafen.
Den Tag des Kriegsausbruchs habe ich noch konkret in Erinnerung: In der Nacht zuvor wurde mein Vater, obwohl er die Fünfzig bereits erreicht hatte, als erfahrener Frontoffizier des Ersten Weltkriegs eingezogen, um am Polenfeldzug teilzunehmen. Es herrschte große Aufregung. Ich stand mit meiner Mutter und meinem vier Jahre älteren Bruder an der Auffahrtsrampe zur Rheinbrücke von Ludwigshafen nach Mannheim. Die Erwachsenen waren sehr ernst. Viele Frauen weinten. Auf der Rheinbrücke zogen die ersten Flüchtlinge des Zweiten Weltkriegs vorbei: Bauern aus südpfälzischen Dörfern, die aus der »roten Zone« am Westwall, dem bedrohten Gebiet hinter den vielgerühmten Festungswerken Hitlers entlang der deutsch-französischen Grenze, evakuiert wurden und nun mitsamt der spärlichen Habe, die sie mitführen durften, zu Sammelstellen fuhren. Kühe zogen die ärmlichen Fuhrwerke …
Was Krieg bedeutet, davon hatten wir Kinder noch keine Ahnung. Für uns war es beinahe noch eine friedensmäßige Weihnacht 1939. Die Nachrichten von den vielen gefallenen Soldaten kamen erst später. Aber mein Vater fehlte, als ich mit meiner Mutter und beiden Geschwistern durch die eiskalte Winternacht zur Christmette in die St. Josefskirche von Friesenheim ging. Der Kompanieführer Hans Kohl hatte an diesem Heiligen Abend des Jahres 1939 Wachdienst in der Eifel.
Mein Vater verabscheute die Verbrechen, die im Zeichen des Rassismus verübt wurden. Deutlich erinnere ich mich, wie er einmal, während eines Heimaturlaubs, mit ungewöhnlichem Ernst einem guten Bekannten über seine Beobachtungen in Polen berichtete. Bei dem Gespräch wurden mein Bruder und ich aus dem Zimmer geschickt. Wir lauschten dann an der Tür, verstanden aber nicht, was sie sagten. Wir hörten von Vater nur einen Satz, mit dem wir Kinder damals nichts anfangen konnten: »Gnade uns Gott, wenn wir das einmal büßen müssen.«
Meine Mutter wurde wegen der Abwesenheit des Vaters nun für uns Kinder die zentrale Bezugsperson. Sie stellte sich dieser Aufgabe, ohne jemals zu murren, mit all der Kraft, die sie aufzubringen vermochte. Sie sorgte für das große Haus, sie bestellte mit uns den Garten, der jetzt, mehr noch als früher, zur täglichen Ernährung beisteuern musste. Wie es ihr gelang, mit den völlig veränderten Bedingungen fertig zu werden, dafür bewundere ich sie noch heute. Sie hat weder geklagt noch ihren Glauben an eine bessere Zukunft verloren. Gerade in jenen Jahren konnte man beobachten, auch wenn ich das erst viel später begriffen habe, wie sehr ihre tiefe Religiosität ihr und uns Kindern durch diese schlimme Zeit geholfen hat.
Der Krieg bestimmte ab 1939 zunehmend das tägliche Leben, und ich habe hautnah spüren müssen, was Krieg bedeutet. Bereits im Jahr zuvor, als vor dem Münchner Abkommen schon einmal die Zeichen auf Waffengewalt gestanden hatten, war auch mein Vater für ein paar Tage eingezogen worden. Obwohl der Kriegsausbruch während der Sudetenkrise im Herbst 1938 verhindert wurde, fand mein Vater seine Meinung über Hitler und dessen Politik endgültig bestätigt. »Der macht Krieg«, sagte er, als er heimkam. Vater tat daraufhin etwas, was uns angesichts seiner streng sparsamen Haushaltsführung verblüffte. Erst später sollte ich begreifen, wie klug und vorausschauend sein Handeln war: Zum einen kaufte er für die gesamte Familie komplett neue Fahrräder samt Ersatzreifen, zum anderen ließ er in unseren Garten hinter dem Haus, obwohl wir ans öffentliche Wassernetz angeschlossen waren, eine Pumpe schlagen. Zunächst war unsere Verwunderung über die neuen Fahrräder und die Wasserpumpe groß. Doch als es im Lauf des Krieges nach den unvorstellbar schweren Bombenangriffen auf Ludwigshafen oft tagelang kein Wasser gab, wurde diese Pumpe zum begehrtesten Objekt der ganzen Gegend, zumal das Wasser besonders gut und erfrischend kühl war.
Während des Krieges wurde Ludwigshafen immer öfter Ziel alliierter Bombardements, und die Bevölkerung litt furchtbar unter den über hundert schweren Luftangriffen, die vor allem gegen die BASF geflogen wurden. Schon am 9. Mai 1940, noch vor dem tags darauf beginnenden Frankreichfeldzug, bombardierte die französische Luftwaffe Ludwigshafen. Bei diesem Angriff wurde mein Elternhaus getroffen, allerdings nur von einem Blindgänger, der bei uns im Vorgarten landete.
Als der Frankreichfeldzug bereits sechs Wochen später, im Juni 1940, überraschend schnell zu Ende war, glaubten die meisten, der Krieg sei so gut wie gewonnen und werde nun bald vorüber sein. Auch viele französische Soldaten, die in Friesenheim als Kriegsgefangene von einem alten Landser bewacht wurden und in Handwerksbetrieben der Umgebung arbeiteten, waren der Meinung, bald gäbe es Verhandlungen und sie könnten wieder nach Hause fahren. Aber all diese Hoffnungen auf Frieden sollten sich nicht erfüllen, ganz im Gegenteil.
Der Krieg weitete sich aus; im Sommer 1941 begann der Angriff auf die Sowjetunion, im Winter 1941 erklärte das Deutsche Reich den Vereinigten Staaten den Krieg. Für meinen Vater war damit nach seinen Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg, als der Eintritt der US-Amerikaner in den Krieg die Niederlage Deutschlands gebracht hatte, die Sache entschieden. Verstärkt nahmen die englischen und amerikanischen Bomberverbände Kurs auf den Raum Ludwigshafen und Mannheim.
In der Zwischenzeit kam ich zwar noch kurze Zeit auf das Gymnasium, aber wegen der anhaltenden Luftangriffe wurde der Schulbetrieb in Ludwigshafen Anfang 1944 eingestellt. Ein Großteil der Kinder aus den Eingangsklassen war schon vorher an weniger gefährdete Orte in Deutschland verschickt worden. Die Siebzehnjährigen waren zum Arbeitsdienst oder zur Wehrmacht eingezogen worden, und die Fünfzehn- bis Siebzehnjährigen mussten zur Heimatflak. Deshalb wurde unser Ludwigshafener Gymnasium mit dem Dom-Gymnasium in Speyer zusammengelegt. Wir fuhren täglich mit dem Zug in die Nachbarstadt.
Ein normaler Unterricht war unter diesen Bedingungen kaum noch möglich, zumal wir auch beim Schülerlöschtrupp eingesetzt wurden. Da die Feuerwehr angesichts der verheerenden Bombardements auf meine Heimatstadt völlig überfordert war, mussten wir Jugendlichen beim Löschen mithelfen. Wir bekämpften nicht nur Feuer und holten Möbel aus brennenden Wohnungen, sondern wir versuchten den betroffenen Menschen beizustehen und erlebten dabei ihre tiefe Verstörtheit.
Wir waren auch dabei, wenn Leichen aus den Ruinen geborgen wurden. Noch heute erinnere ich mich sehr genau an den Ort, wo ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Toten aus der Nähe gesehen habe. Dieses unmittelbare Erleben von Krieg, Tod und Zerstörung hat uns Kinder geprägt. Von Kindheit im üblichen Sinn des Wortes konnte bei uns keine Rede mehr sein. Selbst in der Schule war der Tod für uns sehr präsent, denn immer häufiger hörten wir jetzt von gefallenen Vätern oder Brüdern. Dazu kam die ständige Sorge um den eigenen Vater, später auch um Walter, meinen Bruder, der 1943 zur Wehrmacht einrückte. Der Krieg hatte meine bis dahin ungetrübte Kindheit gnadenlos beendet. Der Alltag veränderte sich, er wurde dunkler, schmerzlicher, beklemmender.
An allen Fronten war die Wehrmacht mittlerweile auf dem Rückzug. Die Verluste unter den deutschen Soldaten wuchsen schrecklich. Auch Walter mit seinen gerade mal neunzehn Jahren fiel. Kurz nach der alliierten Landung in der Normandie im Juni 1944 war er schwer verwundet worden und noch einmal auf Heimaturlaub nach Hause gekommen. Er hatte die Invasion in Frankreich miterlebt, hatte dort die Übermacht der alliierten Truppen erfahren und erzählte mir von dem gewaltigen Material, mit dem die Amerikaner, Kanadier, Briten, Franzosen und ihre Verbündeten gelandet waren. Nach kurzer Frist musste er als Fallschirmjäger zurück an die Front, wenige Wochen später war er tot. In Haltern nahe Münster in Westfalen kam er Ende November 1944 bei einem Tieffliegerangriff ums Leben.
Der Moment, als wir die furchtbare Nachricht erhielten, ist fest in meinem Gedächtnis geblieben. Ich saß gerade auf dem Dach unseres Hauses, das nach einem Fliegerangriff wieder einmal ziemlich beschädigt war. Zusammen mit zwei Freunden reparierte ich den Schaden, als der Postbote den Brief mit der Todesnachricht brachte. Meine Tante rief durchs ganze Haus: »Walter ist gefallen!«
Mein Bruder war vier Jahre älter als ich; wir hatten ein sehr gutes Verhältnis. Der Moment, als ich zum letzten Mal von ihm Abschied nahm, gehört ebenfalls zu den prägenden Bildern meines Lebens. Ich hatte ihn sehr früh am Morgen noch zur Straßenbahnhaltestelle begleitet, die zirka fünfzig Meter von unserem Haus entfernt war. Beim Einsteigen drehte er sich um und sagte plötzlich und ohne jede Vorwarnung: »Pass auf dich auf, ich komme nicht wieder. Und kümmere dich vor allem um Mama.«
Der Tod meines Bruders verursachte bei mir einen tiefen Schock, obwohl damals viele Menschen täglich dieselbe Erfahrung machen mussten und die Traueranzeigen »Gefallen für Führer, Volk und Vaterland« die Zeitungen füllten. Mein Vater war für eine Weile überhaupt nicht ansprechbar. Hinzu kam für unsere Familie, dass der Bräutigam meiner Schwester, ihr späterer Ehemann, in dieser Zeit als Student von der Gestapo, der Geheimen Staatspolizei, wegen NS-feindlicher Aussagen verhaftet und verhört worden war.
In Ludwigshafen wurde die Lage immer schlimmer und bedrükkender. Mein Vater war zwar 1943 wegen seines Alters und seiner angeschlagenen Gesundheit aus der Wehrmacht entlassen worden und nun wieder daheim, aber wegen der permanenten Luftangriffe lebten wir ständig in Gefahr.
Wir Jungen sind noch häufig mit dem Rad zum Zelten hinaus aufs Land gefahren – einer unserer bevorzugten Plätze lag im Neckartal. Als wir im Sommer 1944 wieder einmal dort zelteten, hörten wir abends im »Volksempfänger« bei einer Bäuerin, von der wir uns Milch und Kartoffeln geholt hatten, von dem gescheiterten Attentat des Grafen Stauffenberg auf Adolf Hitler. Von den wirklichen Zielen und Ausmaßen des deutschen Widerstands gegen Hitler erfuhren und verstanden wir nichts. Erst später, in meiner Studienzeit, als ich mich intensiv mit der Bewegung des 20. Juli 1944 beschäftigt habe, ist mir klar geworden, dass wir damals auf dem Bauernhof in Neckarhausen von einem tapferen und opfermutigen Aufstand des Gewissens gegen das Terrorregime erfahren hatten.
Im Spätherbst 1944 führten die regelmäßigen Fliegerangriffe auf Ludwigshafen dazu, dass meine Schulkameraden und ich mit der sogenannten Kinderlandverschickung aus der Stadt verfrachtet wurden. Für kurze Zeit kamen wir nach Erbach im Odenwald. Dort wurden die Kinder aber nur gesammelt, um dann nach Berchtesgaden gebracht zu werden. Besser oder gar sicherer als in Ludwigshafen sollte es dort nicht werden. Wir erhielten zwar Schulunterricht, waren aber einer vormilitärischen Ausbildung unterworfen und standen kurz vor dem Einsatz bei der Heimatflak. Nur dank des Kriegsendes sollte es nicht mehr soweit kommen.
Man hatte meine Mitschüler und mich in Berchtesgaden im Hotel Vierjahreszeiten untergebracht; die Verpflegung dort spottete jeder Beschreibung. Anders als in Ludwigshafen, wo die Versorgung der Bevölkerung nicht schlecht war – ebenso wie in den anderen besonders im Visier alliierter Angriffe stehenden Industriezentren –, mussten wir nun hungern. Am 20. April 1945 – Hitlers letztem Geburtstag, zehn Tage vor seinem Selbstmord und achtzehn Tage vor der Kapitulation – hatten wir zum Appell im Stadion von Berchtesgaden anzutreten. Es marschierten zahlreiche Jugendliche auf. Entkräftet fielen viele von uns einfach um.
Ich weiß nicht mehr genau, wer damals die wilde Durchhalterede hielt. Ich erinnere mich nur noch, dass in Berchtesgaden ein völliges Chaos herrschte. Viele Soldaten aus allen Ecken des untergehenden Hitler-Reichs strömten in diesem südlichen Zipfel des Landes zusammen. Hauptquartiere einzelner SS-Einheiten wurden ebenfalls hier zusammengezogen. Gerüchte liefen um, die Alpenfestung solle gegen die Alliierten verteidigt werden. Es machte sich viel Angst unter den Menschen breit, nicht zuletzt bei uns Jugendlichen.