Westend

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Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Erstveröffentlichung: 1992 bei Hoffmann und Campe, Hamburg

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Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Cina F. Sommerfeld

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN 978-3-644-00285-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00285-2

Der Main

«Vorn oder hinten», antwortete der Neffe bei aller Lakonie mit einer gewissen Wärme, als danke er ihr für die Teilnahme an den Eigenheiten seines Bootes.

Als er die Haustür öffnete, fegte ein feuchtwarmer Windstoß einige abgefallene Kastanienblüten auf das Terrazzomosaik des Entrées, auf dem SALVE geschrieben stand und auf dem jetzt die hochgeschnürten Schuhe seiner Tanten und die Gesundheitssandalen von

Wenn die Wirklichkeit ihn allzu schwer bedrückte, lag immer schon die Geschichte bereit, die einem Menschen, den er hätte beeindrucken wollen, das Rätsel seiner Verheiratung erklärt hätte. Die Szenerie: das Haus in der Schubertstraße, das er soeben verlassen hatte, und sein Eingangstor mit den schweren farbüberkrusteten Blattranken und den spitzen Dornen und Lanzen, die dem Zaun das Ansehen puppenhafter Wehrhaftigkeit verliehen.

Es war Nacht und es war kalt, als er nach Hause kam. Er hatte sich mit dem Mädchen gestritten, so wie er sich in Aufwallungen von Eifersucht und Haß nach kürzester Zeit mit jedem Mädchen überwarf, und hatte dann mit fremden Leuten, die Lokalrunden bestellten, viel getrunken. Als er das Tor öffnete, sah er, wie sich im Dunkeln an der Haustür etwas bewegte. Da hockte sie ohne Mantel seit Stunden schon. Sie war ihm nachgelaufen wie ein ausgesetztes Haustier. Am nächsten Morgen stellte er sie seinen Tanten, um die Beleidigung, die sie darin erblickten, daß er jemanden mit in ihr Haus genommen hatte, noch zu überbieten, als seine zukünftige Frau vor, ohne das Mädchen zu fragen, wie er sich genau erinnerte. Er hatte ihr keinen Heiratsantrag gemacht, weil er keine Minute daran gedacht hatte, sie zu heiraten. Sie nahm diese Vorstellung aber einfach wörtlich, blieb im Haus und störte auch niemanden, außer ihn selbst, denn sie verließ sein Zimmer nur selten.

Es hatte in Wahrheit aber einen Augenblick gegeben, in dem er

In manchem schien sie ihm voraus zu sein. Sie hatte jede Fessel eines hergebrachten Familienlebens abgestreift, aber ohne dabei die bürgerlichen Sitten aus Überzeugung zu bekämpfen. Erziehung und Kindheit in ihrem Elternhaus in Aussig hatte sie einfach vergessen. Sie wußte nicht mehr, daß man zu bestimmten Tageszeiten aß und daß man sich dabei verschiedener Bestecke bediente. Sie schlief gerne in einem warmen weichen Bett, aber sie war auch imstande, sich in einem Kohlenkeller zusammenzurollen und mit der eigenen Körperwärme am Leben zu erhalten. Er erschrak zunächst, als er sie nachts

Was die Tanten anging, so unterschätzte er bei all ihrem Widerwillen gegen das mährische Mädchen doch ihre Nüchternheit, die sie das Sichere bei ihrem Neffen dem Unsicheren vorziehen ließ und ihnen möglich machte, sich mit der neuen Lage abzufinden, nachdem das gerupfte und schweigsame Wesen erst einmal lang genug im Haus war. Was sie fürchteten, waren nicht Alfreds schlechte Manieren und seine Unfähigkeit zu anhaltender Arbeit, sondern seine Unruhe und sein brütendes Plänemachen. Wenn diese Eigenschaften auch nach seiner Heirat nicht verschwunden waren, so verteilte

Zugleich wurde ihr Bauch dicker. Es war jetzt unbequem geworden, im gleichen schmalen Bett zu schlafen, aber als Alfred seine Kleider zusammenraffte und in die benachbarte Mansarde trug, in der früher einmal das zweite Hausmädchen gewohnt hatte, tat er das mit einem wilden Gesichtsausdruck, als sei er mit Gewalt vertrieben worden. Sie fragte ihn nicht einmal, wo er jetzt schlief, und war verwundert, daß sein Bett gleich nebenan stand, als habe sich dieser Umzug eigentlich gar nicht gelohnt.

Die Tanten bemerkten, daß die beruhigende Wirkung der Ehe schon wieder aufgezehrt war. Seitdem Alfred, in der Sprache der Scheidungsanwälte gesprochen, «die eheliche Wohnung verlassen» hatte, war kein Zimmer im Haus mehr vor ihm sicher. Einmal betrat Tante Tildchen im Abenddämmern den Raum, der auch nach dem Tod ihres Vaters das «Herrenzimmer» hieß, und tastete in ihrer Zerstreutheit lange an der Wand herum, um den Lichtschalter zu finden. Als der Kronleuchter aufflammte, sah sie sich zu ihrem Entsetzen Alfred gegenüber, der in einem Sessel saß und ihr hilfloses Tasten die ganze Zeit beobachtet hatte. An einem anderen Tag, als die Tanten gemeinsam mit Fräulein Emig im Wintergarten, wo aus den Blättern einer brasilianischen Urwaldpflanze die zierlichen Gliedmaßen des Gianbolognaschen Merkurs hervorsahen, den Nachmittagskaffee tranken und dabei in dem ihnen eigenen unaufgeregten, ein wenig nachlässigen Tonfall ein belangloses Gespräch mit behaglichen Schweigepausen führten, während Alfred im Salon mit Schuhen auf dem Sofa liegend die Zeitung las, war er plötzlich, als Tante Mi etwas aus seiner Entfernung kaum mehr Verständliches

Seitdem diese bedrückt, aber tapfer ausgesprochenen Worte gefallen waren, und zwar während Mi hinter der Gardine beobachtete, daß Alfred das Haus auch wirklich verließ, änderten die Tanten ihr Verhalten. Alfred bekam nie mehr Widerspruch zu hören. Jegliche Ermahnung verstummte. Die Tanten vermieden es, ihm in die Augen zu sehen, und suchten sich sofort mit ihren Blicken, wenn er nur die kleinste Bemerkung machte. Alfred entging diese Veränderung nicht. Oben lag ächzend und aufgeschwemmt seine Frau,

Die kleinen Häuser der Schubertstraße, denen in ihrer Verschiedenheit doch anzusehen war, daß sie aus demselben Baukasten stammten, hatten seit dem Kriegsende einen dunklen Akzent erhalten, weil die protestantische Christuskirche ausgebombt und ausgebrannt in ihrer Mitte stand und nur den gotischen Fensterbogen, der vorher durch eine Glasmalerei geschlossen worden war, wie ein geöffnetes Tor in den Himmel reckte. In diesem Bogen erschien der Himmelsausschnitt mit seinen vom Wetter beständig veränderten Farben wie ein gerahmtes Bild, vor allem, wenn abends die Sonne darin unterging. Als Alfred aus dem Gartentor herauskam, sah er unwillkürlich zu dem Bogen hinüber, während ein Wassertropfen gegen seine Wange flog und einzelne schwarze Punkte auf dem blauen Basaltpflaster erschienen. In dem Bogen ruhte die graue Wolkenmauer auf einem schmalen Fundament von leuchtendem Blau. Das machte ihm Mut, obwohl sein Weg in die entgegengesetzte Richtung führte.

Kaum aber fühlte er nach einigen Schritten, wie die Sogkräfte seines Hauses, die ihn festhalten wollten, schwächer wurden, als sich ein neues Hindernis auf seinen Weg legte. Auf der Mitte des Bürgersteiges kam ihm ein Mensch entgegen, der ihm derart zuwider war, daß schon der flüchtige Anblick seinen Schritt hemmte. Es kostete ihn Überwindung, nicht auf dem Absatz umzukehren, und er hätte es vielleicht dennoch getan, denn es kam ihm nicht mehr darauf an, den Schein zu wahren, wenn er nicht bei Rückkehr und erneuter Öffnung des Gartentores um den Erfolg eines Vorhabens gefürchtet hätte, das nur im ersten Anlauf gelingen konnte. Und schon stand der andere Mann vor ihm, mit jenem leicht anzüglichen Lächeln, das Alfred noch mehr reizte und doch zugleich auch wehrlos machte. Der Mann war etwa in Alfreds Jahren, sah aber erheblich älter aus.

Es gab nichts im Leben von Eduard Has und Alfred Labonté, was

Von Eduards Eltern wurde im Hause Labonté mit jener höchsten Achtung gesprochen, die nur Kunden zukam. Die Mutter entstammte einer Brauerei und war außerordentlich vermögend, hatte aber das Entstehen ihrer Wohlhabenheit noch in derart frischer Erinnerung, daß es ihr unmöglich war, die Hände schon wieder in den Schoß zu legen und die Früchte der elterlichen Anstrengung zu genießen. Sie verwaltete ihr Vermögen selbst und war auf Gebieten tätig, die mit dem Brauereiwesen längst nichts mehr zu tun hatten. Eduards Vater, ein Notar, der aus Mainz stammte und sich in der Frankfurter Umgebung seiner Frau wie ein Auswanderer in einer abgeschlossenen neuen Welt wiederfand, vergreiste früh, wurde vergeßlich und menschenscheu, und deshalb begann sich seine Frau bei ihren Unternehmungen mehr und mehr auf einen Vetter ihres Sohnes zu stützen, der aber auf Grund einer Generationsverschiebung ihrem Alter näherstand. Mit diesem Friedrich Olenschläger, der Fred genannt wurde und in seinem Geist auf seltene Weise eine idealistische Intellektualität mit praktischem Geschäftssinn verband, wuchsen ihren Geschäften bald schon beachtliche Erfolge zu, und wenn auch der Krieg in den listig zusammengetragenen Ameisenhaufen mit grobem Stiefel hineinstampfte, so ließ er den Boden doch unversehrt, den weitverstreuten Immobilienbesitz, den Eduards Mutter gemeinsam mit dem Vetter Fred in eine neugegründete «Olenschlägersche Haus- und Grundstücksverwaltung» einbrachte, ein Unternehmen, das mit ehrgeizigem Blick auf die Zukunft des Wiederaufbaus der zerstörten Städte gegründet wurde.

Von dieser Geschäftspolitik wußte Alfred nichts und wollte auch nichts davon wissen. Familienfirmen rührten vertraute

Wann seine Abneigung gegen Eduard Has entstanden war, wußte er nicht mehr, wohl aber erinnerte er sich der ersten handgreiflichen Feindseligkeit zwischen ihnen, zu der es schon in Volksschuljahren gekommen war. In diesem Alter zählt der Unterschied von wenigen Jahren noch viel, und Eduard Has hätte mit seinem Vorsprung von zwei Jahren Alfred eigentlich gar nicht mehr in die Quere kommen können. Er war aber schon damals dicklich und unsportlich und fand keine rechte Verbindung zu seinen Altersgenossen. Wenn Alfred mit seinen Freunden, von denen er damals noch viele besaß, in den Gebüschen um die Christuskirche herum auf die Taxusbäume kletterte und mit Pfeil und Bogen schoß, Waffen, die sich die Buben unter seiner Anleitung selbst gemacht hatten, stand Eduard, immer viel zu warm angezogen, häufig in der Nähe und sah den Spielen in der Hoffnung zu, endlich zum Mitmachen aufgefordert zu werden. Aber Alfred tat, als bemerke er ihn überhaupt nicht, bis sich einmal die Stimmung der anderen gegen ihn kehrte und Alfred fühlte, daß nun etwas Überraschendes, Außerordentliches geschehen mußte. Er schlenderte also unversehens auf Eduard Has zu, der ihm erwartungsvoll entgegensah, und riß ihm, nachdem er

Die Spannung zwischen ihm und Alfred aber verlor sich nicht wieder. In späteren Jahren sperrte die Schule sie für eine Weile in dieselbe Klasse, weil Eduard Has wegen langer Kränklichkeit ein Jahr verlor, nachdem er schon ein Jahr zu spät mit der Schule begonnen hatte. Da hatte sich seine Stellung unter den Altersgenossen allerdings bereits verändert.

Eduard Has war im Gymnasium ausgesprochen beliebt. Er mußte nicht mehr lauernd in der Ecke stehen. Dort hätte jetzt Alfred gestanden, wenn es ihm weiterhin um die Anerkennung der Mehrheit zu tun gewesen wäre. Darum ging es ihm aber nicht mehr. Statt dessen hielt er sich nur an die zwei oder drei Mitschüler, die von den Lehrern als «rettungslos verkommene Subjekte» bezeichnet wurden. Nur selten kam es noch zu Feindseligkeiten, so zum Beispiel beim Verkauf von «Wwe. Labonté», als Eduard Has, der unablässig Witzzeichnungen herstellte, auf der Wandtafel im Stil der Wilhelm-Busch-Illustrationen eine triefnasige Alte mit Nachthaube skizzierte, die auf Säcken mit Kaffeebohnen und gebündelten Zigarren einem Wolkenhimmel entgegenfuhr. Verletzend fand Alfred daran nur die Vorstellung, er hänge irgendwie an dem Laden seiner Voreltern, und rächte sich schmerzhaft und böse.

Eduard Has mußte sich eingestehen, daß auch er begierig nach Genüssen war, wie Alfred Labonté sie sich offenbar dreist verschaffte, aber daß es ihm an Mut fehlte, ein Leben zu führen, in dem Ausschweifungen an der Tagesordnung waren. Keinesfalls besaß er die Bereitschaft, sich zu den bewußten «verkommenen Subjekten» zählen zu lassen. Er wünschte, daß ihm die Lehrer mit Respekt entgegenkamen. Er fürchtete aber auch die Härte seiner Mutter, die er zu Recht für fähig hielt, Lizenzen, wie Alfred sie sich gestattete, empfindlich zu bestrafen. Ebenso fest, wie sie ihren Geschäften vorstand, regierte die geborene Olenschläger ihren Haushalt. Ihr war gelungen, die Illusionen, denen sich die meisten Mütter über ihre Söhne hingeben, abzustreifen. Unzählige kleine Beobachtungen hatten sie zu der Überzeugung gelangen lassen, daß es sich bei Eduard um einen geltungssüchtigen, faulen, verschwenderischen, sinnlichen und feigen Knaben handelte, wobei sie, was die letzte Eigenschaft anging, die eigene Fähigkeit unterschätzte, einen noch unfertigen Menschen

Zugleich faßte ihn eine kaum zu beherrschende Eifersucht auf Alfred Labonté. Eduard Has hatte eine beweglichere Phantasie als Alfred, weil er viel las und sich überhaupt gern in fremdartige Lebenslagen hineindachte. Er fühlte, daß er, so toll er sich, wenn er erst Erbe war, auch betragen würde, gegenüber Alfred dennoch stets im Nachteil befinden werde, weil er gerade die Früchte, die es nur im zartesten Alter zu pflücken galt, hatte am Lebensast verfaulen lassen. Die Art von Lust, die Alfred bei seinen nächtlichen Ausflügen fand, würde aufgebraucht sein, wenn Eduard aus seinem Turm entlassen war. Wenn Eduard an die pflichtbewußten Mitschüler dachte, dann kamen sie ihm alle wie kastriert vor, von einer Harmlosigkeit, die um so peinigender war, als sie den Spiegel seiner eigenen Erscheinung bildete. Er empfand Alfreds Wildheit als abstoßend und zugleich verführerisch und anziehend. Er fühlte in seiner Begabung für den Genuß, daß an ihm selbst nichts verlockend und bezaubernd war. Die vorsichtige Vernunft, der er sein Leben unterordnete, kostete einen hohen Preis, und es war noch nicht einmal sicher, ob sich das Geschäft lohnen werde.

Eduard vermutete manchmal, daß es den «verkommenen Subjekten» um ihr Vergnügen im engeren Sinn gar nicht ging. Vergnügen war etwas für Muttersöhnchen, die unfähig waren, es sich zu verschaffen. Alfreds Vergnügungen aber bildeten bei seinen Raubzügen gewiß nicht das Ziel, sie waren vielmehr zufällige Früchte, die angebissen und wieder weggeworfen wurden. Eduard Has würde als

Solche Eindrücke werden unversehens zum Motor eines ganzen Lebens. Dort, wo Eduard Has seinen jüngeren Mitschüler und Nachbarn am heftigsten beneidete, hielt ihn das Gefühl eines Mangels lange Zeit von eigenen Erfahrungen ab. Has behandelte die Frauen, denen er begegnete, skeptisch und manchmal sogar unerklärlich schroff, weil er fürchtete, daß ihm in ihren Augen etwas fehle, das durch Liebenswürdigkeit nicht aufzuwiegen war. Als er sich schließlich ein Herz faßte, bewies er aber sogleich die sich später glanzvoll entfaltende Neigung zu großen Lösungen. Das Abitur lag schon hinter ihm, die Mutter hatte sein Taschengeld erheblich aufgestockt, und von Alfred Labonté war nichts mehr zu hören und zu sehen, als im Frankfurter Opernhaus eine aus Wien stammende Altistin mit Bizets «Carmen» gastierte. Das Publikum, vor allem aber der solide Kreis der Abonnenten war sich einig: Niemals habe man die männerverderbende Carmen derart glaubwürdig verkörpert gesehen. Und auch Eduard Has mußte sich eingestehen, daß ihm noch keine Frau so gut gefallen hatte wie die Wiener Altistin mit dem ungarischen Vornamen Etelka. Sie besaß eine selten tiefe Stimmlage, ein gelegentlich kehlig dunkles Gurren und eine Rauheit, die den Gesang an manchen Stellen inmitten philharmonischer Klangfülle in ein geradezu schockierendes Parlando verwandelte. Sie schien alle anderen

Die verstohlenen und offenen Kämpfe mit seiner Mutter, die ihm nichts Gutes zutraute und deshalb in ihrer liebenden Vorsorge stets über den Anlaß hinaus alarmiert war, hatten ihn ein äußerst schmerzhaftes Instrument kennenlernen lassen, an dem er sich, wenn er sich allzu widerspenstig zeigte, schließlich führen lassen mußte, wohin die Mutter ihn haben wollte. Eduard Has befand sich durch den grundsätzlichen Vorbehalt, den er allen Anordnungen

Eduard gehörte zu den heiteren Temperamenten, die nicht unablässig über ihre Schwächen und Ängste nachdenken. Die Verbindung mit Etelka hatte dazu noch einem bisher peinlich empfundenen Mangel abgeholfen. Aber in jener Tiefe, die nur selten von einem Strahl des Bewußtseins erhellt wird, war ihm der Draht, an dem ihn seine Mutter bergauf und bergab zu führen verstand, eine schmerzliche Gewißheit, die einen Ingrimm erzeugte, wie ihn nur die Sklaven entwickeln. Zugleich wohnte dort unten auch die Furcht, eine andere Frau könne sich, wenn sie ihm nur ein wenig nähergekommen sei, gleichfalls dieses Ringes bedienen. Nun, Etelka war ihm nahegekommen. Sie besaß – das war wichtig! – keinen guten Charakter und hatte dennoch den mütterlichen Hexendraht nicht erspürt, denn sonst hätte sie auch daran gedreht, das stand bei ihrer Wesensart wohl fest. Diese Blindheit ihres Instinkts war wohl das schönste Geschenk, das ihm die Sängerin beschert hatte, der eigentliche Grund, warum er ihr ein freundliches Andenken bewahrte. Dann sank Etelka in Vergessenheit und wurde fast eine historische Figur für ihn, denn sie waren sich vor dem Krieg und also in einem anderen Zeitalter begegnet.

Eduard Has brauchte in keinen Spiegel zu sehen, denn schon Alfreds Befangenheit zeigte ihm, daß er gegen seinen Willen schief,

Als er den Blick abwandte, sah er aus der Entfernung die weiße Gestalt von Alfreds Frau, die immer noch am Fenster stand, und das brachte ihn auf einen neuen Gedanken. «Bei uns ist es auch bald soweit», sagte er und fühlte, wie ihn die Erwähnung der Schwangerschaft seiner Frau natürlich machte, «man sagt, im August – und bei euch?» – «Ach, das sind Sachen, die interessieren mich nicht», sagte Alfred, indem er seine Hemmung überwand und seinen Trotz sehen ließ. Eduard Has lachte dankbar, denn wenn er auch der Geburt seines ersten Kindes mit hoher Erwartung entgegensah, so kam ihm doch der Abscheu vor Ammen- und Milchstubengraus unbedingt herrenhaft vor. Aber Alfred traute dieser Zustimmung nicht. Er spürte deutlich, daß Has sich sein zustimmendes Gelächter als

Nein, es war unmöglich, daß Alfred und Eduard unbefangen miteinander umgingen. In den Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten, war der trennende Riß sogar noch gewachsen. Eduard Has schämte sich im geheimen vor Alfred für die Art, wie er den Krieg herumgebracht hatte. Die alte Olenschläger hatte auch hier Vorsorge getroffen, denn sie teilte seit langem die Erwartung vieler Menschen in Europa, daß ein neuer Krieg kommen werde. Unter anderem erwarb sie also Anteile einer Uhrenfabrik in der Schweiz, die, wie sich später herausstellte, der wichtigsten Schweizer Waffenfabrikation Zeitmesser lieferte. Eduard Has hatte mit gerade vierundzwanzig Jahren seinen Doktor der Volkswirtschaft erworben, als er seine Volontärsstelle in Genf antrat, und zwei Monate später befand sich das Deutsche Reich im Krieg mit Polen, Frankreich und England.

Alfred Labonté wurde damals Soldat, und er blieb es bis zur Niederlage und noch darüber hinaus, als es die Lagerhaft der Sieger auszuhalten galt. Er kehrte übrigens als Stabsgefreiter aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Darüber wurde allgemein der Kopf geschüttelt, denn der Krieg hatte die Erinnerung an den Napoleonischen Ausspruch vom Marschallstab im Tornister des einfachen Soldaten geweckt und vielfach bestätigt. «Wer nicht saudumm war oder ständig disziplinarische Schwierigkeiten hatte, der konnte der Beförderung überhaupt nicht entgehen», sagte Eduard Has, der von Genf aus «kriegswichtig», wie es hieß, gewaltet hatte. An der Intelligenz Alfred Labontés hegte niemand Zweifel, wenngleich man sah, wie wenig es ihm gelang, sie zu seinem Vorteil zu nutzen. Es waren vielmehr disziplinarische Verstöße ohne Zahl, die nicht nur jede Beförderung ausgeschlossen, sondern Alfred mehrfach in die Nähe eines Kriegsgerichtsverfahrens brachten. Seine Schmächtigkeit und die Uneigennützigkeit seiner Vergehen, außerdem eine nahezu geistesabwesende Verwegenheit, eine wahrhaft erschreckende Todesverachtung schufen ihm immer wieder Beschützer in seinen Vorgesetzten, die

Eduard Has, der damals beobachtet hatte, wie Alfred langsam durch die Schubertstraße ging und manchmal wie ein alter Mann stehenblieb, dachte dann an die Jahre in Genf, die glücklich und nützlich verlaufen waren. Er hatte kein Jahr versäumt, sondern war auf seiner Lebenspyramide – denn daß es immer bergauf ging, stand für ihn außer Zweifel – ein wichtiges Stück höher geklettert. Schon bei seiner Rückkehr merkte Fred Olenschläger, daß sein Vetter sich inzwischen beachtliche Kenntnisse, was die Geschäfte betraf, erworben hatte. Trotz der Katastrophe der Niederlage liefen immer noch einige Fäden aus dem zerstörten Europa in die heil gebliebenen Teile der Welt, und Eduard Has wußte, wo sie liefen und wie man daran zog. In Genf war das Leben weitergegangen, in Deutschland war es stehengeblieben, so befand Eduard, als er sich umsah, obwohl doch dort, wo das alte Frankfurt gestanden hatte, nun ein unabsehbares Ruinenfeld lag. Auch sein Elternhaus lag in Trümmern. Von dem prächtigen Gebäude mit seinen roten Rusticaquadern und girlandengeschmückten Pilastern stand nur noch die Haustür, die halb geöffnet zwischen Schuttbrocken festgeklemmt war und einen Teil des im Westend nahezu obligatorischen «Salve»-Mosaiks sehen ließ, und auch dieser Anblick erfüllte den wohlgenährten Heimgekehrten geradezu mit Mutwillen. Er war zufrieden mit dem Werk der feindlichen Flugzeuge und erklärte, das Haus ohnehin demnächst abgerissen zu haben. In der Schweiz hatte man alles anders gemacht als zu Hause. Man aß in Genf andere Speisen als in Frankfurt, tanzte zu anderer Musik, sammelte andere Kunst. Has war Skiläufer geworden

Alfred war indessen weit davon entfernt, sich als Opfer zu fühlen, und hätte bei der Vorstellung laut gelacht, daß er Eduard Has das Leben in Genf, während er selbst in den Schlammgräben lag, zum Vorwurf mache. Sich dreimal am Tag an einen mit zahlreichem Hotelsilber gedeckten Tisch zu setzen, um dort Coq au vin zu verzehren, erschien Alfred als eine Steigerung der Schrecken, die er zu Hause schon geflohen war. Er scherte sich nicht darum, ob man es gerecht nannte, daß er sechs Kriegsjahre lang, zum Teil auch durch seine eigene Schuld, fortwährend in Lebensgefahr geschwebt hatte, während Eduard Has in Genf das Wetter daraufhin prüfte, ob er am Wochenende Ski laufen könne. Gerechtigkeit war nicht das Prinzip, an dem er sich und Eduard Has gemessen hatte oder immer noch maß. Das wäre überhaupt das Allerpeinlichste gewesen, wenn er jetzt gekommen wäre, um sich über Eduard Has zu beschweren und ihn wegen Pflichtvergessenheit zu verklagen. Gerade eine Pflicht, welcher Art auch immer, wollte Alfred ja nicht anerkennen, wenn man von seiner eigenen, nur für ihn selbst geltenden Maßregel absah, sich gegen jedermann und um jeden Preis feindselig zu verhalten und jede aufkommende Gemütlichkeit augenblicklich zu zerstören. Viel schlimmer und peinigender als die Einsicht vieler verlorener Jahre quälte ihn der Verdacht, daß Has ihn bemitleide. Wie er sich bemühte, ein freundliches Gesicht zu machen und Alfred mit diesem Entgegenkommen anzustecken! Das war nicht das werbende Lächeln,

Keiner von beiden hatte sich jemals wirklich eingestanden, welchen Anteil die erotische Eifersucht an ihrer Feindschaft besessen hatte. Diese Eifersucht auf Alfred aber, die mit Eduards Bild von sich selbst, seinen Lustvorstellungen, seinen Ängsten und seinem Abscheu eng verbunden war, ja, die eigentlich ein Abbild dieser verschiedenen Empfindungen darstellte, war in nichts zerfallen, als sich herumsprach, daß Alfred Labonté geheiratet habe. Zu den Hilfskräften der Familie Has gehörte eine bucklige Zwergin, die aus Schlesien nach Frankfurt gekommen und dort vom Wohnungsamt noch während des Krieges in das Haus Olenschläger eingewiesen worden war. Nach dem Untergang des Wohnhauses fuhr sie fort, der Familie Dienste zu leisten, arbeitete aber auch für einige Nachbarn, bei denen sie meist die Einfahrt und den Hof fegte und die äußere Treppe putzte. Man ließ sie ungern ins Haus, weil sie als Friedensstörerin galt und ohne erkennbaren Anlaß grob werden konnte. Aber obwohl ihre Kenntnisse über jedes Haus, für das sie arbeitete, nur auf den Hinterhof und den Kohlenkeller beschränkt waren, wurde sie doch zu einem Bindeglied zwischen den einzelnen Häusern und unterlief so die undurchdringlichen Schutzmauern der Privatheit. Diese Frau, die auf den kriegerischen Namen Scharnhorst hörte und die, was Zähigkeit und Kampfbereitschaft anging, ihrem Namen auch alle Ehre machte, trug die Nachricht von Alfreds Heirat, so unaufwendig sie auch stattgefunden hatte, in die übrigen Häuser der Schubertstraße und auch zu Eduard Has, den sie damals bereits in voller Übereinstimmung mit den Akten der Frankfurter Universität mit «Herr Doktor» anredete. Die Fräulein Labonté seien dagegen gewesen, berichtete die

«Wie sieht sie denn aus?» fragte Has und konnte gerade noch vermeiden, daß allzuviel innere Beteiligung aus seiner Frage klang. «Eine Motte», sagte Frau Scharnhorst, die ihren Schrubberstiel, der sie überragte, wie eine Lanze festhielt, wenn sie gesprächsweise Rast machte. Diese Äußerung schenkte Eduard Has jedoch keinen Frieden. Er glaubte, darin ein Zeugnis jener Befangenheit sehen zu müssen, die die Frauen befällt, wenn sie einander beschreiben sollen, und wandte sich enttäuscht von der Scharnhorst ab.

Sie hatte indessen nicht schlecht beschrieben, wie er später feststellte. Der kraftlose Flug der Motten und ihr kleiner Körper, der wie ein Stückchen Stroh ganz ohne Saft zwischen den Fingern zerfiel, wenn man sie zerdrückte, konnten einem schon einfallen, wenn man an das bleiche kleine Gespenst dachte, das Alfred Labonté geheiratet hatte. Eduard Has konnte sich überhaupt nicht beruhigen, als Herr Herr, der die Messingschilder des Klingelbrettes mit einem schwarzen Lappen abrieb, über die Straße zeigte und sagte: «Da drüben läuft die neue Frau Labonté», übrigens ohne jeden bösartigen Unterton. Für ihn war die Familie Labonté eine Institution wie ein Apfelbaum, der dicke und kümmerliche Äpfel trägt und dabei doch immer er selber bleibt. Die neue Frau Labonté war für Herrn Herr die