Jonathan Bryan

Endlich kann ich sagen, dass ich euch liebe

Ich war in meinem Körper eingeschlossen, bis ich lernte, mit meinen Augen zu schreiben

Ulrike Strerath-Bolz

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Jonathan Bryan

Jonathan Bryan, Jahrgang 2006, leidet seit seiner Geburt an einer schweren Zerebralparese, die es ihm nicht ermöglicht, zu sprechen oder sich zu bewegen. Bis zu seinem achten Lebensjahr konnte Jonathan sich niemandem mitteilen – bis er lernte, mittels seiner Augenbewegungen zu schreiben. So erfährt seine Umwelt, dass Jonathan ein sprach- und literaturbegeisterter Mensch ist – Eigenschaften, die vorher völlig verborgen waren. Dieses Buch schrieb der heute 13-Jährige im Alter von zwölf Jahren.

Impressum

© 2019 der eBook-Ausgabe bene! eBook

© 2019 bene! Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Lektorat: Stefan Wiesner

Cover- und Gestaltung: Maike Michel unter Verwendung von Bildern von Shutterstock / sebos, Shutterstock / mart

ISBN 978-3-96340-055-1

Fußnoten

Die SUN ist das englische Pendant zur deutschen BILD, Anm. d. Übers.

Für meine Schwestern Susannah und Jemima.

Meine Geschichte wird erst durch eure Geschichte vollständig.

© Shutterstock/sebos

Das Lied der Stimme

Augen erkennen, Finger deuten, Aus Buchstaben werden Wörter.

Und meine schweigende Seele, sie erhebt sich,

So wie das Lied der Amsel

Die Dunkelheit durchbricht.

 

Musik, lange im Geist vergraben,

Melodien, göttlich klingend,

Erzählen uralte Geschichten,

Lassen uns staunen.

 

Wer hört meine Stimme,

So lange in der Dunkelheit verborgen?

Wie ein Adler, der seine Kreise zieht,

Fliege ich meinem Schicksal entgegen.

© Shutterstock/mart

Vorwort

Vor einigen Jahren schrieb ich eine Geschichte, der ich den Titel Cool gab. Darin versuchte ich mir vorzustellen, wie es sich anfühlt, ein Kind zu sein, das in seiner eigenen Welt eingeschlossen ist. Ein Kind, das das Drumherum zwar wahrnimmt, aber absolut unfähig ist, mit anderen zu kommunizieren. Ein Kind, das allein ist mit seinen Gedanken und Gefühlen, seiner Hoffnung, seiner Verzweiflung und der Sehnsucht, zu fliehen und auszubrechen.

Ich konnte zu dieser Zeit nicht ahnen, dass ich eines Tages tatsächlich ein solches Kind kennenlernen würde – ein Kind, das aber durch die Liebe und die Unterstützung der Menschen in seiner Umgebung eine Möglichkeit gefunden hat, seiner Isolationshaft zu entfliehen. Eine schweigende Seele, die aus ihrer Einsamkeit ausgebrochen ist. Einen Jungen, der Schriftsteller geworden ist.

Der Name dieses Jungen ist Jonathan Bryan. Er gibt uns durch sein Schreiben einen Einblick in seine Welt und sein Leben, lädt uns ein, ihn kennenzulernen, und streckt die Hand nach uns aus, damit wir entdecken, wer wir sind. Mühsam, Buchstabe für Buchstabe, nur mit seinen Augen, hat er jedes Wort geformt, seine Gedanken, Geschichten und Gedichte Gestalt annehmen lassen.

Wir sehen ein Kind, aber auch einen Schriftsteller von großer emotionaler und intellektueller Tiefe. Beim Lesen spüren wir seine intensive Leidenschaft fürs Leben, staunen über seinen hintergründigen Humor, mit dem er uns an seinen Hoffnungen und Ängsten teilhaben lässt. Seine Worte zeigen uns viel über die Widerstandsfähigkeit des Menschen, darüber, wie wichtig es ist, dass wir einander verstehen, und über unsere Sehnsucht nach Kommunikation.

Jonathan hat uns eine Tür zu seiner Welt geöffnet und uns die Hand hingestreckt. Wenn wir sie ergreifen, indem wir seine Worte lesen, ist er nicht länger eingesperrt. Und wir sind es auch nicht. Wir haben teil an seiner Reise und er an der unseren.

 

Du bist nicht mehr allein, Jonathan.

 

Michael Morpurgo,

britischer Kinder- und Jugendbuchautor

Wie alles begann

Chantal Bryan, Jonathans Mutter

Schon einige Zeit vor Jonathans Geburt hatten Christopher und ich eine Ahnung, dass etwas nicht stimmte. Wann genau sie zum ersten Mal in uns aufkam, weiß ich nicht mehr, aber sie war da, tief in uns. Und auch nachdem der eine sie dem anderen zugeflüstert hatte, blieb sie. Ging nicht mehr weg. Im Gegenteil, sie wurde stärker, wie der Kern in einer Frucht: Vergraben ganz tief innen, wuchs sie mit und wurde größer und größer. Diese Vorahnung war immer da, vernebelte unsere Erwartungen und überschattete unsere Hoffnungen auf das, was kommen würde. Sie war so real, dass wir sie in unsere Planungen einbezogen, ohne zu wissen, wo sie eigentlich herkam.

Während meiner Schwangerschaft war Jonathan absolut gesund. Die Hebamme tat unsere dunklen Vorahnungen als eine Folge der vielen Unglücksgeschichten ab, die Christopher als Pfarrer regelmäßig zu hören bekam. Und während die Wochen verstrichen, mein Bauch größer wurde und wir den Termin überschritten hatten, von dem an Jonathan auch außerhalb meines Körpers lebensfähig wäre, hoffte ich, die Hebamme möge einfach recht haben. Wir wagten sogar, uns etwas konkreter auf die Zeit vorzubereiten, wenn Jonathan da wäre. Aber das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, blieb.

Drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin luden uns meine Eltern zum Essen ein. Allmählich fingen wir an, unsere Befürchtungen als Hirngespinste abzutun, und begannen, uns einfach auf unser erstes Kind zu freuen. Der Tag, an dem wir zu ihnen fuhren, war ein kalter, nasser Januartag, der sich nicht zwischen Nieselregen und vereinzelten Schneeflocken, die auf dem durchweichten Boden sofort wieder schmolzen, entscheiden konnte. Christopher saß am Steuer, und ich träumte auf dem Beifahrersitz vor mich hin und schaute aus dem Fenster. Meine Schwester war ebenfalls mitgekommen und hatte auf dem Rücksitz Platz genommen. Ich freute mich auf das Essen mit meinen Eltern, aber auch auf die Zeit, wenn wir zu dritt sein und einen Babysitz im Auto haben würden, um unsere kostbare Fracht zu transportieren. Wenn wir nicht mehr nur meine Eltern, sondern auch die Großeltern meines Babys besuchen würden.

In diesem Moment wechselte ein Wagen vor uns die Spur. Christopher blieb keine Zeit zum Bremsen, da war nur diese Millisekunde, und schon war es passiert. Wir fuhren frontal in die Seite des Autos, das vor uns rübergezogen war. Es fühlte sich an, als würden wir in eine Mauer krachen. Lärm, Knirschen, Krachen, Schreie. All diese Geräusche verschmolzen miteinander, während mein Sicherheitsgurt sich über Brust und Beinen straffte. Als ich nach dem Türgriff tastete, um frische Luft hereinzulassen, flutete mich die Panik, und ich schrie: »Ich kann nicht atmen! Ich kann nicht atmen!« Eingeklemmt, panisch und voller Angst um mein Kind saß ich regungslos da, während Christopher und meine Schwester versuchten, mir zu helfen. Sie hatten große Angst. Als das Adrenalin nachließ und ich mich beruhigt hatte, brachte man sie in eine direkt an der Unfallstelle liegende Werkstatt, wo sie sich hinlegen konnten, bis Hilfe kam. Ich beschloss, im Auto zu bleiben. Ein Mann von der Werkstatt blieb bei mir, um mit mir gemeinsam auf den Notarzt zu warten.

Als ich endlich im Notarztwagen saß und zum Krankenhaus fuhr, legte ich die Hand auf meinen Bauch und wünschte mir sehnlichst, eine Bewegung des Babys zu spüren. Als ich nichts fühlte, versuchte ich mir einzureden, dass es das Beste für mein ungeborenes Kind sei, wenn ich jetzt einfach ruhig bliebe. Tatsächlich hatte ich mich von dem anfänglichen Schock inzwischen etwas erholt.

War das der Grund für unsere Vorahnungen gewesen? Dieser Unfall? Ging es dem Baby gut?

Im Krankenhaus angekommen, wurde ich an ein Überwachungsgerät angeschlossen. Nach einigen Momenten bangen Wartens fand die Krankenschwester endlich die Herztöne des Kindes. War es doch nicht so schlimm? Würden sie das Baby jetzt holen, um auf Nummer sicher zu gehen, und alles wäre geschafft? Wären es am Ende nur etwas unglückliche Umstände, unter denen das Kind zur Welt kommen würde? Ein kleiner Schock? Eine etwas andere »Meine-Geburt-Geschichte«? Daher die Vorahnungen?

Nachdem ich bei unserer Ankunft im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden hatte, wurde jetzt Christopher von einem Notarzt untersucht, während ich, an ein Überwachungsgerät angeschlossen, in einem Nebenzimmer lag.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte ich die Schwester. »Wahrscheinlich warten sie bis zum errechneten Termin«, lautete ihre Antwort, fügte aber vorsichtshalber hinzu: »Vielleicht leiten sie aber auch die Geburt ein, um sicherzugehen.«

Ihre Worte klangen sehr beruhigend. Doch als sie ein paar Minuten später wieder auf den Monitor des Überwachungsgerätes blickte, sah die Lage schon anders aus. So ruhig wie möglich erklärte sie mir: »Ich hole mal ein paar Ärzte, damit sie sich das anschauen.«

Kurze Zeit später betraten zwei Ärzte das Zimmer und studierten den Papierstreifen, auf dem von einem Gürtel um meinen Bauch die Herztöne meines Babys aufgezeichnet worden waren. Die Ärzte waren sich nicht einig, wie sie diese interpretieren sollten, und diskutierten – halb im Zimmer, halb auf dem Flur – hitzig miteinander. Von meinem Bett aus versuchte ich etwas von dem, was sie sagten, zu verstehen und so zu erfahren, was eigentlich los war. Schließlich sprachen sie über mein Baby. Während sie noch sprachen, wurde ich bereits auf eine Operation vorbereitet. Ich bekam OP-Strümpfe angezogen und musste etwas unterschreiben, dann brachten die beiden Ärzte ein Ultraschallgerät herein, und ihr Disput war beendet. Sie zeigten mir einen schwarzen Fleck auf dem Bildschirm, und bevor mir jemand erklären konnte, was genau »Plazentaabriss« eigentlich bedeutet, war ich auch schon auf dem Weg in den OP. Sie fingen an zu operieren, bevor Christopher sich auch nur die Hände gewaschen hatte. Er wurde während des Eingriffs hereingebracht, das Gesicht zur Wand gerichtet, und so zum Kopfende meines Bettes geführt. Es war ziemlich absurd.

Vielleicht hatte das seltsame Gefühl, das wir während der gesamten Schwangerschaft gehabt hatten, mit diesem Notkaiserschnitt zu tun?

 

»Herzlichen Glückwunsch, Sie haben einen Sohn«, sagte der Arzt zu Christopher. Dann sah ich ihn. Blau, mit Schleim bedeckt, schlaff, leblos. Und still. Die Schwestern, die gerade noch mit den Ärzten über irgendeine Fernsehsendung geplaudert hatten, waren plötzlich ruhig. Der ganze Raum schien die Luft anzuhalten und zu warten. Auf eine Reaktion. Auf den Schrei des Lebens. Ich sah den stillen kleinen Körper an, der wie ein Stück Fleisch beim Metzger auf dem Metalltisch neben mir lag, und fühlte mich vollkommen abgetrennt von dem, was um mich herum passierte. Als würde ich von außen beobachten, wie ein Albtraum Wirklichkeit wird. »Na komm«, murmelte die Schwester meinem Baby zu. Schweigen. Dann ein Zucken. Endlich schrie es leise auf, aber es war nicht der Schrei, auf den wir gewartet hatten. Für mich klang es mehr nach einem Angstschrei als nach dem Beginn eines neuen Lebens.

Die Schwestern wickelten ihn in eine Decke und hielten ihn mir einmal kurz vor mein Gesicht, damit ich ihn küssen konnte; dann wurde das kleine Bündel auf die Intensivstation gebracht.

Während all dessen, was an diesem ersten Tag passierte, hoffte ich immer: War es das vielleicht schon? Die Ursache für unsere Befürchtungen? Ein Verkehrsunfall, eine Notgeburt, ein kurzer Aufenthalt auf der Intensivstation? Nach jeder genommenen Hürde hofften wir, dass der Sturm sich nun legen und die Sonne durch die Wolken brechen würde. Aber das Bild von Jonathans Gesundheitszustand sollte immer dunkler und schwerer werden.

 

»Das Kind braucht einen Namen.« Die Intensivschwester hatte recht. Es war schließlich mehr als einen Tag her, dass das Baby – Geschlecht: Junge, Nachname: Bryan, Gewicht: 3090 Gramm – nach einem Autounfall per Notkaiserschnitt das Licht der Welt erblickt hatte. Da es noch immer um sein Leben kämpfte, hatte die Namensgebung nicht unbedingt erste Priorität gehabt.

»Jonathan.« Wir waren ganz sicher, dass das der richtige Name war. »Wir nennen ihn Jonathan. Das bedeutet Gott hat gegeben

 

Gott hat gegeben. Die Worte stehen in der Bibel, in einem Vers im Buch Hiob. Als ich sie später über dem winzigen, hilflosen Baby aussprach, das zwischen den Klarsichtwänden seines Bettchens gefangen war, musste ich daran denken, wie der Satz weiterging. Christopher und ich hatten am Vortag zusammen vor dem Krankenhausbett gekniet und bis zur Erschöpfung für Jonathan gebetet, und dabei war mir der zweite Teil des Verses durch den Kopf gegangen: »Der Herr hat gegeben … der Herr hat genommen.« Wir wussten nicht, ob wir dieses Geschenk behalten würden.

Tagelang durfte ich mein Kind nicht anfassen. Sosehr ich mich danach sehnte, Jonathans warmen Körper an mich zu drücken, seinen Atem zu spüren, seine Wange zu streicheln, mich körperlich wieder mit ihm zu verbinden – ich konnte nichts anderes tun, als seine kleine Gestalt im Brutkasten zu beobachten, durch die Luftlöcher mit ihm zu sprechen und ihm Lieder zu singen. Und natürlich für ihn zu beten. Zu beten, dass die Tests günstig ausfielen, dass seine Nieren wieder arbeiteten und wir ihn nach Hause bringen könnten.

Weder Christopher noch mir fällt es besonders leicht, andere um Hilfe zu bitten. Wir ziehen es beide vor, selbstständig und unabhängig zu sein. Eines der ersten Geschenke, die wir durch Jonathan bekamen, war die Erkenntnis, dass es nicht bedeutet, gescheitert zu sein, wenn man andere um etwas bitten muss.

Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde – noch ohne Jonathan –, hatte ich so wenig Zeit, dass ich es nur gerade so schaffte, Fertiggerichte aus der Mikrowelle zu machen. Die Sachen dufteten wunderbar, machten auch kurz satt, aber nach zehn Minuten hat man schon wieder Hunger. Also fragten wir in unserer Kirchengemeinde, ob es Menschen gäbe, die mir Essen mitkochen würden, das ich dann in der Mikrowelle aufwärmen konnte.

Am Tag nach der Anfrage telefonierte ich gerade mit Christopher – lange Telefongespräche am frühen Abend waren unsere Art, miteinander in Kontakt zu bleiben, wenn er arbeitete –, als es, mit kurzen Abständen, immer wieder an der Tür klingelte und ich von draußen gedämpfte Stimmen hörte, die kamen und sich wieder entfernten. Weil ich telefonierte, konnte ich nicht an die Tür gehen und nachschauen, was eigentlich los war. Umso größer war anschließend die Überraschung: Während dieses halbstündigen Telefonats hatten so viele Leute aus der Gemeinde uns etwas zu essen gebracht, dass es für die nächsten zehn Tage reichen würde. Ich war zu einem unsichtbaren Gast an vielen Tischen geworden.

Weil Jonathans Reflexe (oder besser gesagt: ihr Fehlen) und seine mangelnde Körperspannung den Ärzten Sorge bereiteten, wurde er per Notarztwagen in die Neugeborenenstation nach Bristol verlegt. Während wir im Auto hinterherfuhren, sahen wir einen wunderschönen Sonnenuntergang – und trotz aller Ängste, die wir in dieser ersten Woche aushalten mussten, überkam mich bei diesem Anblick ein seltsames Gefühl des Friedens.

Wenige Tage später wurde dieser Frieden allerdings nachhaltig erschüttert: Die Ärzte teilten uns mit, dass Jonathans Gehirn einem MRT-Scan unterzogen werden müsse, um festzustellen, wie aktiv es überhaupt sei. Ich hatte nie daran gezweifelt, dass Jonathan geistig »da« war. Als ich jetzt durch die Löcher seines Brutkastens schaute, tat mir mein Kind unendlich leid. Dieses wissende, liebende Baby, das so einsam aussah.

Im Krankenhaus kann man an dem Zimmer, im dem eine Nachricht überbracht wird, ablesen, ob diese positiv oder negativ sein wird. Je schlimmer die Nachricht, desto schöner das Zimmer. Um die MRT-Ergebnisse von Jonathan zu besprechen, wurden wir in einen frisch gestrichenen hellen Raum mit einem weichen, bequemen Sofa gebracht. Ein Meeresbild hing an der Wand, eine echte Topfpflanze stand auf dem Tisch und daneben eine riesige Box mit Papiertaschentüchern. Ich ahnte: Es würde schlimm werden. Richtig schlimm.

»Sowohl seine weiße als auch seine graue Gehirnsubstanz ist geschädigt. Ihr Sohn wird vermutlich eine mittlere bis starke Zerebralparese haben.«

Nachdem der Arzt uns diese Diagnose überbracht hatte, saßen wir stumm und wie gelähmt da. Wir versuchten uns vorzustellen, was das bedeutete, wie das Leben unseres Sohnes, unseres Jonathan, aussehen würde.

So schlimm es war, blieben die Papiertaschentücher auf dem Tisch doch unbenutzt. Wir stellten auch keine Fragen über die körperlichen Auswirkungen der Schädigungen, sondern wollten von dem Arzt wissen, wie sicher diese Diagnose sei und wie er die Folgen für Jonathans geistigen Zustand einschätzte. Könnte der Rest seines Gehirns die Verluste wettmachen? Würden durch die Verletzungen auch seine geistigen Fähigkeiten eingeschränkt sein?

Später, nachdem wir in unserem Zimmer zusammen geweint, gebetet und noch ein bisschen geweint hatten, schickte man einen zweiten Arzt zu uns. Offenbar dachte man, dass diese Eltern nicht verstanden, was man ihnen gesagt hatte. Niemand hört sich eine solche Nachricht an, ohne in Tränen auszubrechen.

»Ihr Sohn wird vermutlich nicht gehen, hüpfen, springen, reden oder selbstständig essen können. Er wird Sie möglicherweise nicht einmal als seine Eltern erkennen.«

Doch auch diese erweiterte Liste von Schädigungen führte zu keiner Tränenflut unsererseits, jedenfalls nicht vor den Augen des Arztes. Eine leise Stimme in meinem Kopf ritt hartnäckig auf der Frage herum, warum man bei einem Kind, das nicht gehen konnte, überhaupt von hüpfen und springen sprechen musste. Außerdem fühlte ich eine so tiefe Verbindung mit Jonathan, dass der Gedanke, er könne uns nicht erkennen, mir jetzt schon vollkommen unmöglich erschien.

Vermutlich aus Verzweiflung über unsere Ignoranz hielt ein dritter Arzt Christopher kurze Zeit später auf dem kleinen Flur vor der Station auf und sagte Worte, die mich von da an verfolgen würden: »Dies ist das schlimmste MRT, das wir jemals bei einem Kind in diesem Alter gesehen haben. Wenn er nicht selbstständig atmen würde, hätten Sie wenigstens die Option, das Beatmungsgerät abzuschalten.«

Tatsächlich wurde Jonathan nicht künstlich beatmet, und wir wussten: Sollte das irgendwann notwendig sein – was sehr wahrscheinlich war –, wollten wir unser kleines, wissendes Kind vorher ganz bewusst in Gottes Hand legen. Also organisierten wir kurzerhand seine Taufe hier im Krankenhaus. Wir luden einen befreundeten Bischof und ein paar nahe Verwandte ein und beteten zusammen für Jonathans Gesundheit und um Hilfe bei der Entscheidung, wie weit wir bei seiner medizinischen Behandlung gehen sollten. In einem winzigen Krankenhauszimmer hielten wir eine kleine Zeremonie ab, bei der wir uns um Jonathans Bettchen stellten.

Eigentlich hatte ich mir seine Taufe ganz anders vorgestellt. Es gab keine Lieder, nur die leise gesprochenen liturgischen Worte, wenig Jubel, dafür viele Tränen. Dennoch berührte es mich, wie viel Mühe sich alle gaben – die Schwestern spendierten eine neue Decke, in die wir ihn wickelten, der Bischof brachte eine Kerze und ein kleines Taufbecken mit, ich trug eine neue Strickjacke, die meine Cousine mir geschickt hatte, und die Frau des Bischofs sorgte für Kaffee und Kuchen. Und Jonathan lag einfach nur da und schaute uns mit seinen großen braunen Augen an. Durchdringend, liebend und voller Vertrauen.