Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel «Conversaciones con mi gata» bei Ediciones B, S.A. para el sello Vergara.
Veröffentlicht im Rowohlt Tasachenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2016
Copyright © 2015 by Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, München und Wien
«Conversaciones con mi gata» Copyright © 2013 by Ediciones B, S.A. para el sello Vergara
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ISBN Printausgabe 978-3-499-27262-2 (1. Auflage 2016)
ISBN E-Book 978-3-644-57261-4
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-57261-4
Der Erinnerung an den sizilianischen Taoisten
Rino Bertoloni gewidmet.
»Nehmen wir uns die Tiere zum Vorbild:
essen, schlafen, spielen und lieben.«
Beim ersten Mal erschien sie völlig unerwartet – in etwa so wie der Geist aus Aladins Wunderlampe. Natürlich ohne Rauchschwaden oder Harfenklänge und auch ohne dass ich über irgendetwas hätte reiben müssen – höchstens über meine Stirn, weil ich es einfach nicht fassen konnte.
An jenem Morgen war ich – wie eigentlich fast immer in letzter Zeit – völlig gestresst, und mir war schon ganz schlecht wegen dieser Präsentation, die ich später vor den Leuten von Royal Petroleum halten sollte. Beim Frühstück brachte ich keinen Bissen herunter. Ich saß in der Küche und hackte die letzten Details der Präsentation in meinen Laptop, der in fröhlicher Unbekümmertheit zwischen einem Stück irischer Butter, dem Londoner Stadtplan, den Handschuhen, die Joaquín in der morgendlichen Eile vergessen hatte, einem Teller mit Toast und der Kaffeetasse mit dem Hochzeitsfoto von William und Kate, die wir wirklich nur benutzten, wenn absolut keine andere mehr sauber war, auf dem Tisch stand. Als ich dann mit dem Laptop in der einen und dem Frühstücksgeschirr in der anderen Hand in Richtung Spüle ging, wurde mir – wie so oft in der letzten Zeit – plötzlich schwarz vor Augen. Der Teller mit der Kaffeetasse, dem butterbeschmierten Messer und der unberührten Toastscheibe rutschte mir aus der Hand und fiel mit lautem Getöse auf die schmutzigen Teller, die Joaquín in der Spüle aufeinandergestapelt hatte. Leicht schwankend stützte ich mich gegen die Spüle, während ich mit der anderen Hand krampfhaft den Laptop an die Brust drückte und darauf wartete, dass die Welle der Übelkeit wieder ab ebbte, die stets mit einem leichten Kribbeln einherging – ein Gefühl, das mir in den letzten Wochen sehr vertraut geworden war. Ich atmete tief ein und aus und schluckte ein paar Mal.
«Ganz ruhig, Sara», sagte ich mir. «Es ist gleich wieder gut, es geht vorbei, wie sonst auch.»
Während ich diesen Satz wiederholte wie ein Mantra, starrte ich aus dem Fenster und versuchte mich an der Welt festzumachen, die es dahinter gab. Ich sah den üblichen grauen Himmel über London, hoch oben in den Wolken Flugzeuge auf dem Weg nach Heathrow, ich sah unseren traurigen vernachlässigten kleinen Garten, der handtuchbreit neben all den anderen lag, die roten Backsteinhäuser gegenüber. Es war kein wirklich schöner Ausblick, aber wenigstens engte er den Blick nicht ein, und das vertraute Bild gab mir eine Sicherheit, an der ich mich festhalten konnte, während die Übelkeit allmählich nachließ.
«Was ist eigentlich mit mir los?», fragte ich mich, und es war erstaunlicherweise das erste Mal, dass ich mir die Frage stellte, obwohl diese Anfälle von morgendlicher Übelkeit mich in letzter Zeit mit schöner Regelmäßigkeit überkamen.
Vor einigen Jahren noch wäre mein erster Gedanke der an eine mögliche Schwangerschaft gewesen, und ich wäre aufgeregt in die nächste Apotheke gestürzt, um mir einen Schwangerschaftstest zu besorgen. Inzwischen hätte ich mich darüber sogar gefreut, allerdings war es zu lange her, dass Joaquín und ich uns mit der nötigen Ruhe nahe genug gekommen waren, um derartige leidenschaftliche körperliche Ertüchtigungen zu absolvieren, denen wir uns früher an den unterschiedlichsten Orten so leicht und unbeschwert hingegeben hatten, als dass das Wunder der Fortpflanzung hätte stattfinden können. Es war eine Abstinenz, die ich aus mehreren Gründen beunruhigend fand – unter anderem wegen der Frage, die ich mir gerade zum wiederholten Mal stellte, während ich die Flugzeuge beobachtete, die an dem wolkenverhangenen Londoner Himmel entlangglitten: Was war eigentlich mit mir los?
Und genau in diesem Moment nahm mein Geist aus der Wunderlampe Gestalt an. Ich senkte für einen Moment den Blick, gerade lange genug, um festzustellen, dass weder der Teller noch die Tasse mit dem Prinzenpaar zerbrochen waren. Das Ganze hatte höchstens eine halbe Sekunde gedauert. Aber plötzlich war sie da, wie aus dem Nichts, direkt vor meinem Fenster, mit ihren grünen Augen, deren Raubtierblick sich tief in die meinen bohrte. Ich stieß einen erschreckten Schrei aus und trat unwillkürlich einen Schritt zurück, den Laptop schützend vor der Brust, um die «Bestie» abzuwehren.
Dann betrachtete ich sie genauer. Hinter der Fensterscheibe saß ganz friedlich eine Katze mit kurzem goldfarbenem Fell, erhobenem Schwanz und irgendwie vornehmer Ausstrahlung. Eine Katze, die sich trotz meines Aufschreis keinen Millimeter bewegt hatte und das sonderbare Verhalten des hysterischen Menschenkindes, das sie da vor sich hatte, interessiert beäugte.
Ich musste lachen. Doch das Lachen verging mir, als ich plötzlich eine Stimme hörte.
«Lässt du mich rein?», fragte die Katze.
Sie hatte eine sanfte, samtige Stimme, die man leicht mit einem Schnurren hätte verwechseln können. Es war eine eindeutig weibliche Stimme, die zu keinem Kater hätte gehören können. Eine dunkle und gleichzeitig weiche Stimme, die reif, aber nicht alt klang, wie ein Stradivari-Cello, jedoch mit einem Hauch von … Wildheit.
Ich stellte den Laptop auf die Anrichte und blickte nach links und nach rechts, wie um mich zu vergewissern, dass ich wirklich allein im Raum war und sich weder ein Bauchredner in der Spülmaschine verbarg, noch irgendwelche Kameras in den Schränken versteckt waren. Doch ich konnte nichts Außergewöhnliches entdecken. Die Uhr an der Wand zeigte die korrekte Zeit an – die zu höchster Eile mahnte, wenn ich nicht zu spät zu meiner Präsentation kommen wollte. Joaquíns Handschuhe auf dem Tisch erinnerten an seine nicht anwesenden Hände und sahen aus, als wollten sie nach dem Umschlag mit der Stromrechnung oder dem Werbeflyer eines Taxiunternehmens greifen. Und der Kühlschrank gab das übliche vibrierende Brummen von sich. Alles schien völlig normal.
Abgesehen von dieser Katze vor dem Fenster. Sie schien ungeduldig zu werden und lief unruhig auf der Fensterbank auf und ab. Dann setzte sie sich wieder und fing erneut an zu reden, diesmal in einem etwas nachdrücklicheren Tonfall: «Meine Liebe, lass mich doch rein, bitte.»
Das zumindest meinte ich zu verstehen, abgesehen davon, dass das Ganze natürlich völlig absurd war, hier, in meiner Küche, in der alles absolut normal zu sein schien. Vor allem, weil ich die Katze diesmal (ich hatte entschieden, dass sie eindeutig ein Weibchen war) eingehend gemustert hatte und mit Sicherheit sagen konnte, dass sie den Mund oder, besser gesagt, das Maul nicht bewegt hatte, während sie sprach. Was für ein Unfug! Warum sollte sie auch ihr Maul bewegt haben? Schließlich können Katzen nicht sprechen! Der Satz, den ich gehört hatte, konnte folglich nicht von ihr gesagt worden sein. Auch wenn er zweifelsohne weder aus dem Radio noch sonst woher gekommen war, sondern irgendwie von diesem Tier vor meinem Fenster.
«Ja, ich bin’s, ich, hier hinter der Scheibe», hörte ich nun wieder die samtige Stimme, die genauso deutlich und unnachgiebig klang wie das Ticken der Küchenuhr. «Lässt du mich jetzt rein, oder nicht?»
Sie klopfte zweimal mit der Pfote ans Fenster, offenbar um ihrer Forderung mehr Nachdruck zu verleihen. Ich zuckte zusammen, als fürchtete ich, dass das kleine Tier mit dem nächsten Pfotenhieb die Scheibe einschlagen könnte. Denn das Schlimme daran, wenn man eine Katze so selbstverständlich und gewandt reden hört, mit verführerischer, nachdrücklicher Stimme und dazu noch in perfektem Spanisch, obwohl man eigentlich in London ist – das wirklich Schlimme daran ist, dass plötzlich jedes andere Hirngespinst auch möglich scheint.
«Ich bilde mir das nur ein», beruhigte ich mich, während ich nach meinem Laptop griff, auch wenn die Kälte des harten Metalls, das sich in meine Brust drückte, eindeutig dagegensprach. Hatte ich schon Halluzinationen? Tatsache war, dass ich in letzter Zeit zu viel gearbeitet und zu wenig geschlafen hatte, sogar für meine Verhältnisse. Und natürlich war es nicht gerade gesund, wenn man morgens nur mit Hilfe eines starken Kaffees wach wurde und nachts ein Beruhigungsmittel zum Einschlafen brauchte. Das war mir durchaus bewusst. Meine Kopfschmerzen wurden immer schlimmer, und jetzt kamen noch diese seltsamen Schwindelanfälle dazu. Wahrscheinlich hätte mich dieser ganze verrückte Zwischenfall mit der Katze noch viel mehr beunruhigt, wenn ich die Zeit gehabt hätte, in Ruhe darüber nachzudenken. Doch in weniger als einer halben Stunde stand meine Präsentation vor den Leuten von Royal Petroleum an, und der Gedanke daran ließ mich alles andere vergessen. Wieder verspürte ich diesen leichten Schwindel, und so klappte ich eilig den Laptop zu, steckte ihn in meine schwarze Aktentasche und ging entschlossen zur Küchentür. Bevor ich den Raum verließ, hörte ich, wie die Katze erneut gegen das Fenster trommelte, doch ich wandte mich nicht noch einmal um.
Die Sitzung begann um neun Uhr. Um Punkt neun Uhr, denn in England beginnen Sitzungen o’clock. Als ich nach draußen in die Kälte trat, war es bereits 8.27 Uhr. Als ich die U-Bahn-Station West Hampstead erreichte, 8.36. Das war gar nicht gut, und ich sah schon, wie Grey den Kunden mit zynischen Scherzen über die spanische Kollegin und ihre «mediterrane Art», die Zeit zu interpretieren, hinhielt. Unterwegs achtete ich weder auf die winterlich kahlen Bäume noch auf die anderen ebenso gehetzt wirkenden Menschen, die durch das morgendliche London eilten, noch auf die Werbeplakate in der U-Bahn-Station. Während ich blindlings voranstürzte, wiederholte ich im Kopf meine Präsentation, die ich am Vortag auf den letzten Drücker im Zug von Glasgow nach London und später, zu mitternächtlicher Stunde, zu Hause vorbereitet hatte, mit Grey im Nacken, der mich alle zehn Minuten mit Anrufen traktierte.
«Come on, Penélope, gib mal ein bisschen Gas. Wenn das morgen nicht hinhaut, muss ich dich leider den Haien vorwerfen», war noch einer seiner ermutigenden Kommentare gewesen.
Grey fand es ausgesprochen originell, mich «Penélope» zu nennen, weil Penélope Cruz offensichtlich die einzige Spanierin war, die ihm etwas sagte. Obwohl wir bereits seit elf Jahren zusammenarbeiteten, fand er diesen Scherz immer noch witzig. Und seit die Schauspielerin im letzten Teil von Fluch der Karibik mitgespielt hatte, amüsierte er sich sogar noch mehr darüber, weil die Piratenfilme mit Johnny Depp für ihn neben dem Football und dem Bier den Höhepunkt der westlichen Kultur darstellten.
Als ich das Büro von Buccaneer Design zum ersten Mal betrat, hatte ich vorher bereits ein paar Artikel über diese kleine, aber erlesene Internet-Werbeagentur gelesen, die in einem ehemaligen Stallgebäude in Notting Hill residierte. Daher war ich nicht sonderlich überrascht, als ich die aufblasbaren Palmen, die Schaumgummischwerter und die mit Schokolade und Chipstüten gefüllten Schatztruhen sah. Worauf ich jedoch nicht vorbereitet war, war der Empfang, den «Captain Greybeard» in seinem Büro mir und jedem anderen Besucher bereitete. Dort hing in einem barocken alten Holzrahmen ein auffälliges – vermutlich aus dem siebzehnten Jahrhundert stammendes – Gemälde an der Wand, das einen korpulenten Herrn mit furchterregendem Aussehen in einem eleganten dunkelroten Anzug mit einer barocken Perücke auf dem Kopf und einem Degen in der Hand zeigte. Unterhalb des Bildes saß auf einer Art vergoldetem Bürothron in identischer Pose ein ebenso korpulenter Herr mit ähnlich furchterregendem Aussehen in einem dunkelroten Anzug moderner Machart, mit einer auffällig frisierten grauhaarigen Haarpracht und dazu passendem Bart. Der Mann hackte emsig in die Tastatur eines Computers, auf dem unter dem Apple-Logo zwei gekreuzte Knochen prangten.
Ohne Begrüßung oder sonstiger einführender Worte klärte Graham Jennings mich auf, dass es sich bei dem Herrn auf dem Bild um seinen great-great-great-great-great-great-grandfather, den berühmten Piraten Henry Jennings, handele. Das Gemälde sei über Generationen an den jeweils erstgeborenen Sohn der Familie weitervererbt worden, wobei von dem Schatz, den der gefürchtete Pirat angehäuft hatte, leider nur noch der Teil vorhanden war, der irgendwo auf dem Grund des Ozeans ruhte. Daher hatte der Ur-ur-ur-ur-ur-urenkel beschlossen, die Welt über das Internet zu erobern.
Natürlich glaubte ich kein Wort von dem, was dieser Angeber mir erzählte – offenbar hatte er zu viel Tim und Struppi gelesen –, aber ich muss zugeben, dass mich sein Auftritt durchaus beeindruckte. Greybeard versuchte mir Buccaneer Design als die coolste Agentur für Web-Design von ganz London zu verkaufen und sich selbst als ein Genie vom Kaliber eines Steve Jobs. Die Arbeiten, die ich bereits gesehen hatte, zeigten jedoch, dass zumindest Ersteres nicht der Wahrheit entsprach. Die Agentur hatte in der Tat ein paar gute Designer und den ein oder anderen cleveren Programmierer, aber von Usability hatten sie nicht besonders viel Ahnung. Die Benutzerfreundlichkeit ließ zu wünschen übrig. Auf diesem Gebiet konnte ich ihnen durchaus noch etwas beibringen und vielleicht sogar dazu beitragen, dieses unbedeutende kleine Unternehmen zu einem der Gewinner im virtuellen Goldrausch des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu machen. Das jedenfalls sagte ich dem Agenturchef selbstbewusst ins Gesicht, wobei mein tadelloser britischer Akzent ihn offensichtlich genauso überraschte wie die frischen Entwürfe, die ich für einige seiner Webseiten im vergilbten Schatzkarten-Stil gemacht hatte, was ihn nicht nur zum Lachen brachte, sondern ihn auch veranlasste, ein paar seiner Besatzungsmitglieder an Deck zu rufen. Was genau das war, was ich beabsichtigt hatte.
«Welcome aboard, darling», rief er eine halbe Stunde später: Willkommen an Bord.
Während des Vorstellungsgesprächs hatte ich Gelegenheit festzustellen, dass Grey absolut kein Steve Jobs war – aber er war ein geborener Verkäufer, der bisher mit Kanonen auf Spatzen geschossen hatte, weil es ihm an der Software fehlte, die wirklich ihr Geld wert war. Und ich behielt recht. Nach einem ersten Erfolg mit webweddings.com, einer Website, die sich mit der Planung von Hochzeiten befasste und die in kurzer Zeit Tausende von Nutzern vorweisen konnte, was ihr einen geschätzten Wert von über fünfzig Millionen Pfund einbrachte, wurden wir von einigen der erfolgreichsten britischen Webseitenbetreibern engagiert wie lastminute.com oder clickmango.com. Ich investierte unzählige Arbeitsstunden, hatte aber auch jede Menge Spaß dabei, und die lockere Atmosphäre im Büro erinnerte mich mehr an die Ferienfreizeiten meiner Jugend als an ein seriöses Unternehmen. Dabei war für mich das Wichtigste, dass wir die Möglichkeit hatten, an einigen kulturellen, sozialen und politischen Projekten teilzuhaben, die für die Zukunft auf eine partizipativere Gesellschaft, eine transparentere Demokratie und eine weisere, solidarischere und vereinte Menschheit hoffen ließen. Zu jener Zeit glaubte ich tatsächlich, dass die neuen Technologien uns in eine bessere Welt führen würden.
Als das neue Jahrtausend begann, geriet das Kartenhaus, das um die boomenden Webseiten herum aufgebaut worden war, jedoch ins Wanken, und nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001, das wir alle zusammen fassungslos auf dem riesigen Bildschirm im Konferenzsaal verfolgten, wurde uns klar, dass die fortschrittlichen Technologien auch für den Terrorismus benutzt wurden, dass die Menschheit noch sehr viel zu lernen hatte und dass zusammen mit den Twin Towers auch unser Haus eingestürzt war. Die Weltwirtschaft stagnierte, die Anleger verloren das Vertrauen in die Liquidität der Online-Unternehmen, es gab jede Menge Konkurse, und meine Stock-Options waren nicht mal mehr das Papier wert, auf dem sie gedruckt waren.
Grey musste sein Agentur-Schiffchen an eine größere Agentur mit eher traditioneller Firmenkundschaft verkaufen, und von da an gehörten wir zu Netscience Inc. und zogen in deren riesiges Firmengebäude in der City um, in dem es keine Palmen und keine Schatztruhen gab, und natürlich auch keine Gemälde irgendwelcher angeblicher Vorfahren von Grey. Das Arbeitsklima war seitdem genauso kühl wie die minimalistische Einrichtung unseres neuen Büros. Doch wie weit die Veränderungen wirklich gingen, verstand ich erst an dem Tag, als ich ein paar Croissants für meine neuen Kollegen mitbrachte, die diese sehr höflich und sehr bestimmt ablehnten. Offensichtlich hatten sie bereits gefrühstückt, und wie es aussah, wollten sie jede Beziehung, die über eine strikt berufliche hinausging, vermeiden. Am Ende nahm ich meine Croissants ungegessen wieder mit nach Hause.
Der alte Pirat kleidete sich nun wie jeder andere Marketingberater in einen grauen Anzug mit dezenter Krawatte und hatte sich sogar seine graue Mähne und den Bart stutzen lassen. Er sah aus wie ein Banker. Und tatsächlich arbeiteten wir viel für die Bankbranche. Ich entwickelte mich zu einer Expertin in Sachen Online-Banking, Sicherheitsverfahren, Hypothekenkalkulation und Wertpapiermärkte. Man könnte sogar sagen, dass ich ein bisschen dazu beitrug, die nächste große Blase zu bilden und zum Platzen zu bringen, nämlich die des Immobilienmarktes, welche die große Wirtschaftskrise in Gang setzte, die 2008 begann und von der man heute noch nicht weiß, wann genau sie enden wird. Außerdem war ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, auch an einigen Projekten der Online-Casinos beteiligt, die die großen Gewinner im Netz waren. Ich habe für die Tabakindustrie gearbeitet und für einen der weltweit größten Waffenhersteller. Was das anging, hatte Grey offenbar keine Skrupel. Das gehörte wohl zu seiner Piratenmentalität.
«Du willst am Ende des Monats dein Gehalt kassieren? Dann musst du auch die Drecksarbeit machen, Penélope, die verstehen hier nämlich keinen Spaß.»
Ich nickte, doch ich konnte nicht verhindern, dass es mir etwas ausmachte, für gewisse Kunden arbeiten zu müssen. Und dazu zählte auch Royal Petroleum. Meine Eltern, die in jungen Jahren während des Bürgerkriegs aus Spanien geflohen waren, hatten noch das London der Beatles kennengelernt und waren später als waschechte Hippies mit langen Haaren in einem angemalten VW-Bus und einem für die Zeit weit entwickelten Umweltbewusstsein wieder nach Madrid zurückgekehrt. Als ich zehn Jahre alt war, war der spanische Naturforscher Félix Rodríguez de la Fuente mein Idol, und ich war seiner Naturschutzorganisation «Club der Luchse» beigetreten, sobald ich von deren Existenz erfahren hatte. Tatsächlich hatte ich meine besten Freundinnen Patri und Susana auf einer von dieser Vereinigung organisierten Reise in die Sierra von Guadarrama kennengelernt. Später, als ich beschlossen hatte, Journalismus zu studieren, war es mein Ziel gewesen, mich auf den Bereich des Umweltschutzes zu spezialisieren, und ich hatte mich gleich im ersten Semester in der ökologischen Studentenvereinigung der Universität von Madrid engagiert. Letztendlich hatten die Umstände mich dazu gebracht, eine andere berufliche Richtung einzuschlagen, doch ökologische Themen interessierten mich noch immer. Und wenn ich mich jeden Tag in die Londoner U-Bahn quälte, die nicht umsonst The Tube – das Rohr – genannt wurde, dann hauptsächlich, um nicht auch noch zur Umweltverschmutzung der Stadt oder des Planeten beizutragen.
Daher belastete es mich ziemlich, nun den neuen Internet-Auftritt von Royal Petroleum mitgestalten zu müssen, der mit der neuen Imagekampagne des Konzerns einherging, welcher sich zukünftig einfach nur noch «RP» nennen würde. In der Tat hatte es das Unternehmen nach dem von der ganzen Welt mitverfolgten Unfall auf der Bohrplattform im Golf von Mexiko, bei dem mehr als eine halbe Million Kubikmeter Rohöl ausgetreten und ins Meer geflossen waren, bitter nötig, seinen angeschlagenen Ruf aufzupolieren. Immerhin hatte Royal Petroleum eine Umweltkatastrophe bisher ungekannten Ausmaßes verursacht. Und so war nicht nur das Wort «Petroleum» aus dem Firmennamen verschwunden, sondern außerdem ein neues Logo – eine grüne Sonne – entworfen und der Slogan «New Energy» erdacht worden, sodass man fast den Eindruck hatte, es mit einer Nichtregierungsorganisation aus dem Umweltschutzbereich zu tun zu haben. Um all das zu rechtfertigen, hatte der Ölriese ein paar kleine Firmen für erneuerbare Energien aufgekauft, die zwar nur einen winzigen Teil des Unternehmens ausmachten, jedoch einen großen Auftritt auf der Firmenwebsite bekamen.
Die Vorstellung, an einem Projekt zum Vorteil dieses heuchlerischen Ölkonzerns mitarbeiten zu müssen, machte mich so wütend, dass ich die Ausarbeitung der Präsentation, in der wir detailliert die Strategie von Netscience für den neuen Marktauftritt der Marke RP präsentieren sollten, gut eine Woche lang vor mir herschob. Das hatte Grey dermaßen beunruhigt, dass er mich mehrere Tage lang mit Anrufen und Nachrichten auf dem Handy bombardierte, in denen er ständig wissen wollte, wie ich vorankam. Es war nicht ungewöhnlich, dass eine derartige Präsentation mehr oder weniger mit der heißen Nadel gestrickt war, doch in diesem Fall sah es so aus, dass der in Aussicht gestellte Etat die Firma Netscience mit einem Schlag aus den roten Zahlen katapultieren würde. Natürlich nur, wenn es uns gelingen würde, den Auftrag an Land zu ziehen, der in der angespannten Marktlage ein wahrer Segen war. Von daher war mir klar, dass ich, wenn ich der U-Bahn entstiegen und wieder an die Oberfläche gelangt war, auf meinem Handy mindestens zwei weitere SMS-Nachrichten und fünf Mitteilungen über verpasste Anrufe von Grey vorfinden würde. Die Londoner U-Bahn war nämlich wie alles in dieser Stadt derart veraltet, dass es nicht möglich war, dort unten für einen funktionierenden Handy-Empfang zu sorgen, ohne eine beträchtlicher Summe Geldes zu investieren, über das derzeit niemand verfügte.
Bei dem Gedanken an den aufgeregten Grey schreckte ich auf und stellte fest, dass der Zug bereits in die Haltestelle Bond Street eingelaufen war, wo ich in die Central Line umsteigen musste. Ich hatte keine Ahnung, wie lange er schon dort stand, aber mir wurde schlagartig klar, dass sich die Türen jeden Moment wieder schließen konnten und dass mich dummerweise eine undurchdringliche Mauer aus zusammengepferchten Körpern vom Ausstieg trennte.
«Excuse me!», schrie ich und ruderte wie eine Irre mit den Armen, um mich durch die Menge zum Ausgang zu quetschen, wobei ich über einen Regenschirm stolperte und den Unmut der Leute erregte, die Platz machen mussten, um mich durchzulassen.
«Stand clear of the doors, please!», erschallte da die Durchsage des Fahrers, der vermeiden wollte, dass irgendeine Schlafmütze wie ich Gefahr lief, bei einem tollkühnen Hechtsprung nach draußen zwischen den sich schließenden Türen zerquetscht zu werden.
In letzter Sekunde gelang es mir, mich aus dem zähen Knäuel der Arme, Beine, Mäntel und Anoraks zu befreien, ich landete unsanft auf dem Bahnsteig und schaffte es gerade noch, den Gürtel meines Mantels aus den zuschnappenden Türen herauszuziehen. Ich seufzte erleichtert. Dann erst fiel mir auf, dass ich außer dem Gürtel nichts in den Händen hielt. Was bedeutete, dass sich die Aktentasche mit meinem Laptop und der wunderbaren Power-Point-Präsentation noch jenseits der zischenden Türen in dem vollgestopften Waggon befand. Die Leute starrten mit leerem Blick nach draußen, als der Zug sich jetzt in Bewegung setzte, und ich konnte nichts anderes tun, als fassungslos zuzusehen, wie die verglaste Konservendose mit den menschlichen Sardinen, ihren Mänteln, Regenschirmen und Zeitungen sowie dem herrenlosen Objekt, das ich so dringend gebraucht hätte, in dem dunklen Loch des Tunnels verschwand.
Es war neun Uhr morgens. O’clock.
Nachdem ich umgestiegen, sechs Stationen weitergefahren und die Rolltreppe hinaufgerannt war, teilte ich Grey per SMS mit, was geschehen war, bevor seine immer alarmierender klingenden Nachrichten mein Mobiltelefon beinah zur Explosion bringen würden. In dem Moment, als ich das Gebäude in der Wood Street erreichte, wo sich die Büros von Netscience befanden, erhielt ich seine letzte Meldung: OK. Sharks for you. Alles klar, die Haie warten schon auf dich.
Beim Betreten des Konferenzraums bemerkte ich, dass sich von unserer Seite neben sämtlichen Abteilungsleitern auch Anne Wolfson, die Vorsitzende der Geschäftsführung von Netscience, der Sitzung angeschlossen hatte, eine Frau, die mich immer an Margaret Thatcher erinnerte, allerdings in einer noch strengeren Version. Und tatsächlich hatte sie genau wie die Eiserne Lady in Oxford studiert, was sie täglich dadurch demonstrierte, dass sie stets die Anstecknadel des Somerville Colleges am Aufschlag ihrer Kostümjacke trug. Ich hatte sie auf der ersten Generalversammlung des Unternehmens erlebt, kurz nachdem unsere Firma von Netscience übernommen worden war, und ich hatte noch gut im Ohr, wie sie bei dieser Gelegenheit den etwa fünfhundert Anwesenden ausschließlich etwas über den Mut, den Einsatz und die Opfer, die der Markt von uns forderte, erzählt hatte. Diese «Opfer» schlossen, wie wir bald herausfinden sollten, das geheime, quälende und blutige Ritual der redundancies, der Redundanzen, mit anderen Worten: der Entlassungen mit ein, bei denen Anne Wolfson selbst die Rolle der Hohepriesterin innehatte. So rief sie uns nur wenige Wochen nach einem mysteriösen Hexensabbat der Chefetage erneut zusammen, um uns von einem geplanten Personalabbau zu berichten, der jeden vierten Angestellten betraf.
«Ah, da bist du ja!», sagte Grey mit einem gezwungenen, von seinem geschniegelten Bart umrahmten Lächeln, nachdem ich den Konferenzraum betreten hatte. «Manche Leute legen Wert auf Pünktlichkeit. Für uns jedoch zählt vor allem ein freundlicher Empfang: Buenos días, Sara!»
Das «Buenos días» sorgte für allgemeine Heiterkeit, nur bei Anne Wolfson nicht, die, soweit man wusste, niemals lachte. Um ein Lächeln bemüht, fragte ich mich, welchen Anblick ich wohl nach meinem Spurt durch das Londoner Untergrundsystem bot. Grey stellte mich den leitenden Angestellten der Marketing- und PR-Abteilung von Royal Petroleum vor sowie weiteren drei Herren des Unternehmens, die offenbar ebenfalls etwas zu sagen hatten. Fünf Männer. Man merkte ihnen an, dass sie bereits mehrere Präsentationen bei anderen Agenturen hinter sich hatten, denn sie wirkten eher gelangweilt als erwartungsvoll. Der Leiter der Abteilung Kommunikation, ein hochgewachsener Typ mit knochiger Nase und neongrünem Brillengestell, löste nur kurz die langen Finger von seinem Smartphone, um mir die Hand zu schütteln. Der Marketingchef, ein bereits etwas in die Jahre gekommener Herr mit beträchtlichem Bauchumfang, gähnte.
«Machen wir weiter», sagte Anne an mich gerichtet, wobei sie ihre Kostümjacke so ruckartig glattzog, dass der vergoldete Anstecker angriffslustig zitterte.
Ich wollte gerade mit vielen Entschuldigungen und zutiefst beschämt erklären, was in der U-Bahn passiert war, als Grey mich in bester Freibeutermanier à la Henry Jennings ins kalte Wasser stieß und sagte:
«Die Kampagne, die Netscience für das neue RP vorschlägt, basiert auf dem Prinzip der Schlichtheit. So wie sich der Name des Unternehmens zukünftig auf zwei Buchstaben – R und P – beschränkt, setzt auch das grafische Design auf wenige Farben: reines Weiß mit ein paar grünen und gelben Farbtupfern. Aber der Schlüssel für die effektive Schlichtheit liegt in der Gestaltung der Website, und was das angeht, ist Sara eine absolute Expertin. Daher hat sie beschlossen, von jeglicher elektronischer Form der Präsentation abzusehen und auf die ursprüngliche, die schlichteste Art der Präsentation zurückzugreifen: das Flip-Chart!»
Mit diesen Worten sorgte Grey erneut für allgemeines Gelächter, außer bei Anne natürlich, die von meiner angeblichen Strategie nicht wirklich überzeugt schien und sich darauf beschränkte, die Ellbogen auf den Tisch zu stützen und an dem vergoldeten Wappen des Somerville Colleges herumzuspielen. Die Abgesandten von Royal Petroleum dagegen erwachten aus ihrer Lethargie. Denn wer hatte heutzutage schon die Chuzpe, auf eine Power-Point-Präsentation zu verzichten? Der Kommunikationschef rückte seine neongrüne Brille gerade und steckte das Smartphone in die Tasche seines Jacketts.
Ja, Captain Grey war ein großartiger Verkäufer. Aber nur wenn es tatsächlich etwas zu verkaufen gab. Und das war in diesem Moment nicht der Fall.
«Ähm … Thank you, Graham», begann ich im Zustand akuten Katastrophenalarms. «For this website we tried to balance simplicity with functionality …»
Ich redete und gestikulierte wie in einem Traum, als befände ich mich außerhalb meines Körpers, und war verzweifelt bemüht, mich an irgendwelche Fragmente dessen zu erinnern, was ich in den letzten Stunden vorbereitet hatte: Menüführung, visuelle Hier archie, Buttons und Verknüpfungen, Maps, Microsites. Doch je mehr ich mich anstrengte, desto tiefer versanken die wichtigen Einzelheiten in einer öligen, aufschäumenden, Übelkeit erregenden Masse, die den ganzen Raum zu überfluten drohte. Mein Herz begann in meiner Brust zu rasen, und als mir der Stift aus den Händen fiel, wurde mir schmerzhaft bewusst, dass ich nicht in der Lage sein würde, ihn aufzuheben, ohne in Ohnmacht zu fallen.
«Ex… excuse me», stammelte ich und versuchte ein Lächeln in Richtung der verschwimmenden Gesichter, die ich in dem auf und ab wankenden Raum kaum noch erkennen konnte.
Das Blut rauschte mir mit einem derartigen Getöse in den Ohren, dass ich meine eigenen Worte nicht mehr verstand. Alles um mich herum schwankte wie beim heftigsten Seegang, und wie ein mit klebrigem Ölschlamm bedeckter Kormoran hatte ich nicht mehr die Kraft, mich dagegen zu wehren. Ich sah eine riesige, zähe schwarze Welle heranrollen, die alles in tiefe Dunkelheit tauchte, mich verschlang und auf den Grund des Meeres sinken ließ.
«Hola, mi amor.» Joaquín küsste meine Hand.
«Hallo», sagte ich mit kaum hörbarer Stimme. «Was machst du denn hier?»
Unwillkürlich hatte ich ihm meine Hand entzogen. Vielleicht war mir nicht wirklich klar, wer mich da küsste. Oder es war mir unangenehm, dass ich in einem Krankenhauszimmer im grellen Neonlicht und mit all den Menschen um mich herum geküsst wurde. Oder es war einfach zu lange her, dass Joaquín mich auf diese Art geküsst hatte, so zärtlich auf meinen Handrücken. Ich steckte beide Hände unter die Achseln. Doch sofort bereute ich es und wollte ihm erneut meine Hand geben, damit er sie küsste. Aber der Moment war vorbei.
«Graham hat mich angerufen und mir gesagt, dass du auf dem Weg ins Krankenhaus bist, und mich gefragt, ob ich herkommen kann.»
«Natürlich. Danke», sagte ich, immer noch leicht desorientiert. «Wie absurd das ist! Wir haben uns vier Tage nicht gesehen, und jetzt treffen wir uns hier.»
Im Prinzip stimmte das. Ich war seit Sonntag in Glasgow gewesen, und auch wenn ich in der letzten Nacht irgendwann seinen warmen Körper neben mir im Bett gespürt und am Morgen die Reste seines Frühstücks und seine vergessenen Handschuhe auf dem Küchentisch gesehen hatte, waren wir uns nicht wirklich begegnet. Meine Reise nach Schottland und die Zeiten, zu denen er nachts nach Hause kam, vermittelten mir eher den Eindruck, als hätten wir uns seit Wochen nicht mehr gesehen.
«Na, was für ein Glück, dass du ohnmächtig geworden bist», entgegnete Joaquín und grinste. «Mal sehen, ob es nächste Woche mich trifft, dann könnten wir uns wiedersehen.»
Ich konnte nicht darüber lachen. Joaquín machte immer Witze, bei jeder Gelegenheit. Irgendwie war es nicht möglich, ein ernsthaftes Gespräch mit ihm zu führen. Zum Beispiel über meine plötzliche Ohnmacht. Oder über unsere Beziehung. Was war eigentlich mit unserer Beziehung los? Wir liebten uns, natürlich, aber wir sahen uns kaum noch. Sogar wenn wir zufällig einmal beide zu Hause waren, gingen wir uns aus dem Weg. Er hing ständig vor seiner Xbox und lieferte sich mit irgendwelchen Freunden oder völlig Unbekannten virtuelle Schießereien auf dem riesigen Bildschirm im Wohnzimmer. Ich saß vor dem Fernseher oder telefonierte über Skype mit meinem Vater oder meinen Freundinnen. An den seltenen Wochenenden, an denen keiner von uns beiden arbeiten musste, stand immer ein Kurztrip nach Spanien an, oder wir hatten Gäste im Haus, oder es gab sonst irgendwelche Verpflichtungen oder unaufschiebbare Erledigungen, was letztendlich bedeutete, dass wir kein bisschen Zeit mehr für uns hatten.
Am Anfang lag es meistens an mir. Ich hatte ihn gebeten, mit mir nach England zu gehen, wo ich als Kind gelebt hatte und wo meine Eltern aufgewachsen waren, weil ich dieses Land, das irgendwie auch mein Land war, gern besser kennenlernen wollte, was mir nebenbei auch die Gelegenheit gab, bei den derzeit führenden Unternehmen der Branche zu arbeiten. Ich war die Webdesignerin mit den «flexiblen» Arbeitszeiten, was bedeutete, dass diese sich in alle Richtungen ausdehnten, auch auf die Nächte und die Wochenenden, wenn es nötig war. Ich war ständig mit dem Laptop unter dem Arm auf Dienstreise und verfügte über die Vielfliegerkarte von British Airways sowie über den kleinen Koffer in vorgeschriebener Größe, der es erlaubte, nur mit Handgepäck zu fliegen.
Joaquín war derjenige, der immer für alles Zeit hatte. Als wir nach London gingen, hatte seine wohlhabende Familie ein kleines Reihenhaus gekauft, in dem wir wohnen konnten. Da mein Gehalt für unseren Lebensunterhalt locker ausreichte, hatte Joaquín es nicht besonders eilig, sich eine Arbeit zu suchen, und widmete sich erst einmal in Ruhe dem Erlernen der englischen Sprache. Später, bei seiner ersten Stelle als Ingenieur in einem Unternehmen für Luft- und Raumfahrttechnik, hatte er geregelte Arbeitszeiten von neun bis fünf, sodass er immer noch über reichlich freie Zeit verfügte. Er kümmerte sich um das Haus und den Garten, ging mehrmals pro Woche ins Fitnessstudio und belegte alle möglichen Abendkurse: japanische Küche, Massage, Astronomie, Modellbau. Worum ich ihn am meisten beneidete, war, dass er Zeit hatte, zu lesen, wobei er sich nicht auf Romane stürzte, wie ich es getan hätte, sondern auf Sachbücher und Zeitschriften zu den Themen, für die er sich begeisterte. Das waren in der Regel solche, in denen die offiziellen Versionen von geschichtlichen Ereignissen infrage gestellt und die Religion, die Demokratie und der Neoliberalismus entmystifiziert wurden, was es ihm erlaubte, alles auf seine Art zu interpretieren.
Doch im Laufe der Jahre wurde er immer mehr von seiner Arbeit beansprucht, und seit er zum Projektleiter befördert worden war, war er beinah noch seltener zu Hause als ich. Außerdem hatte er sich der englischen Tradition angeschlossen, nach der Arbeit mit seinen Kollegen ein paar Bierchen trinken zu gehen, was er mir nie zugestanden hatte. So musste ich mich vor ein paar Jahren leider damit abfinden, dass die Zeiten, in denen mich mein Lebensgefährte zu Hause mit einem gedeckten Tisch, einem komplett erledigten Haushalt, einem reparierten Wasserhahn und einer ausgebreiteten Massagematte erwartete, endgültig vorbei waren. Und während vorher ich diejenige gewesen war, die die Möglichkeit, Kinder zu bekommen, immer weiter hinausgeschoben hatte, war es nun er, der dem Thema auswich.
Die Wartezeit und die Untersuchungen im Krankenhaus zogen sich ein paar Stunden hin, und Joaquín forderte mich immer wieder auf, endlich bei Grey anzurufen, wozu ich überhaupt keine Lust hatte. Ich wollte weder an meine missglückte Präsentation noch an Netscience, noch an meine Tasche mit dem Laptop, noch an das neue Logo von Royal Petroleum erinnerte werden. Doch Joaquín ließ nicht locker: Er habe dem äußerst besorgten Graham versprochen, dass ich mich bei ihm meldete, sobald es mir wieder besser ging. Ich nickte also, zögerte den Moment jedoch mit allen Mitteln hinaus.
Als ich mich endlich dazu aufraffte, war ich froh, dass ich es getan hatte. Der Pirat, der hinter seiner rauen Schale doch ein gutes Herz hatte, war am Boden zerstört und bat mich um Verzeihung. Er fühlte sich schuldig an meinem Zusammenbruch und versicherte mir, dass er mir mit seiner kleinen Ansprache über die «originelle» Art der Präsentation ohne Computer doch nur habe helfen wollen. Ich glaubte ihm. Er behauptete, dass sogar die Wolfson weich geworden war und mir wie einem kranken Hündchen über die Wange gestreichelt hätte, während er den Krankenwagen rief. Das allerdings nahm ich ihm nicht ab und wünschte ihn zum Teufel.
«Die Leute von Royal Petroleum waren wahrscheinlich völlig aus dem Häuschen», meinte ich und stellte mir beschämt die ganze Szene vor.
«Das kann man wohl sagen», entgegnete Grey lachend. «Es war unglaublich! Dein Auftritt hat sie echt beeindruckt. Diese Präsentation werden sie so schnell nicht vergessen. Und das ist schließlich eines der wichtigsten Ziele des Marketings, oder? Ich wette, wir kriegen den Auftrag, und das haben wir dann nur dir zu verdanken.»
«Aber wovon redest du da?»
«Na ja. Der Schreck hat uns irgendwie zusammengeschweißt. Der Marketingchef hat uns von seinem Herzinfarkt erzählt, den er während eines Spiels von Manchester United hatte. Er hat uns sogar gezeigt, wo sein Herzschrittmacher sitzt. Ein toller Tag!»
«Aber … und die Präsentation?»
«Ruhig Blut. Nach einer langen Kaffeepause habe ich ihnen deinen üblichen Vortrag über Usability gehalten, den ich inzwischen auswendig kann, und ihnen versprochen, dass wir ihnen das ganze Material per Mail schicken. Was bedeutet, dass du es, wenn du den Laptop nicht wiederkriegst, neu zusammenstellen musst.»
«Alles klar. Keine Sorge, ich gehe gleich morgen früh zum Fundbüro. Ich glaube zwar nicht, dass er da abgegeben wurde, aber ich werde es zumindest versuchen. Auf jeden Fall werde ich dir morgen etwas schicken.»
Ich bedankte mich bei Grey und versicherte ihm, dass es mir an nichts fehlte, dass er nicht zu mir nach Hause zu kommen brauchte und dass es keinen Grund zur Sorge gab. Er schlug vor, dass ich mir den Rest der Woche freinehmen sollte, da mir aus den letzten Jahren noch unzählige Tage Resturlaub zustanden. Das war der beste Vorschlag, den er mir je gemacht hatte.
Während der Untersuchung erkundigte sich die Ärztin nach den Symptomen, und ich erzählte ihr von der Übelkeit und den Kopfschmerzen. Dann bat sie Joaquín, draußen zu warten, und stellte mir eine Frage, mit der ich nicht gerechnet hatte:
«Und im emotionalen Bereich? Wie ist es damit? Sind Sie glücklich?»
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, aber die Frage löste bei mir eine neue Welle der Übelkeit aus.
Die Ärztin runzelte die Stirn. «Könnten Sie mir den Gefallen tun und diesen Fragebogen ausfüllen?», sagte sie dann.
Mir gefielen weder die Fragen auf dem Blatt, das sie mir reichte, noch meine Antworten. Nachdem ich es ihr zurückgegeben und sie es gelesen hatte, erklärte sie mir, dass mein Zusammenbruch möglicherweise keine körperliche Ursache habe. Mit höchster Wahrscheinlichkeit handele es sich schlichtweg um eine Depression.
«Das kommt häufig vor. Öfter, als man es sich vorstellen kann. Dewegen spricht man bei Depressionen auch von der ‹Grippe des einundzwanzigsten Jahrhunderts›. Ich werde Ihnen ein Antidepressivum verschreiben, was dafür sorgen wird, dass Sie sich besser fühlen. Und ich empfehle Ihnen, sich mehr zu bewegen. Nicht so viel zu arbeiten! Wenn es nötig ist, verordne ich Ihnen auch gern eine Therapie.»
Als ich auf den Flur hinaustrat und es Joaquín erzählte, brach ich in Tränen aus – vor all den betagten Engländern, die mich, hustend oder an Krücken gehend, entsetzt und voller Mitleid ansahen und wahrscheinlich dachten, dass ich gerade eine Krebsdiagnose gestellt bekommen hatte. Joaquín nahm mich in die Arme.
«Ganz ruhig, meine Liebe. Es gibt Schlimmeres. Die Ärztin hat recht. Das ist nichts Ungewöhnliches, jeder Fünfte leidet heute unter Depressionen. Das hat was mit den Neurotransmittern im Gehirn zu tun und betrifft Leute mit niedrigem Cholesterin. Bei dir liegt es sicher am Serotonin. Umso besser, dass die Psychologie sich immer mehr auf die Wissenschaft beruft und verstanden hat, dass es dabei nur um die Chemie geht. Es wurde auch höchste Zeit, endlich mal wirksame Medikamente zu entwickeln und mit diesem ganzen freudianischen Blödsinn über den Ödipuskomplex und den unendlichen Therapiestunden Schluss zu machen …»
Das Letzte, wonach mir jetzt der Sinn stand, war ein weiterer von Joaquíns Vorträgen über die Wissenschaft und die Pseudowissenschaften. In dieser Hinsicht war er immer ein wenig besserwisserisch und hatte zu jedem Thema eine unerschöpfliche Menge an Daten und Statistiken parat, vor allem, wenn es darum ging, allgemein akzeptierte Wahrheiten zu widerlegen. Er kannte alle fragwürdigen Stellen in der Bibel, sämtliche Experimente, die die Homöopathie infrage stellten, die Schwachpunkte von sowohl links- als auch rechtsorientierten Theoretikern und die geheime Geschichte der CIA. Er hatte schon fünf Jahre vor der Insolvenz von Lehman Brothers das Unheil kommen sehen und die Prophezeiungen der Wirtschaftsfachleute geteilt, die von der Immobilienblase gesprochen hatten. Und er nutzte jede Gelegenheit, um mit Klischees aufzuräumen, Mythen zu zerstören und Falschdarstellungen aufzuzeigen, die seiner Meinung nach die Wurzel allen Übels waren, auch wenn das immer wieder dazu führte, dass er andere verärgerte, gegen sich aufbrachte und sogar den ein oder anderen Freund verlor. Er behauptete, sich «der Wahrheit verpflichtet» zu haben.
Verständlicherweise war dies jedoch nicht das, was ich im Moment brauchte. Ich wollte einfach nur in den Arm genommen werden. Und hören, dass er mich liebte.
Joaquín brachte mich in seinem Audi zu einer Apotheke in der West End Lane und parkte den Wagen schließlich in der Nähe unseres Hauses, wo sich ein freier Parkplatz fand. Von dort aus gingen wir Hand in Hand nach Hause. Dabei fiel mir auf, wie lange wir selbst auf diese simple Geste verzichtet hatten. Ich hatte sogar das beunruhigende Gefühl, dass wir uns gerade selbst imitierten und es nicht mal besonders gut machten. Es war wie in jener Anekdote aus Joaquíns unerschöpflichem Repertoire, laut der Charlie Chaplin einmal an einem Wettbewerb für Chaplin-Imitatoren teilgenommen hatte und nur Zweiter wurde. War es schon so weit gekommen? Hatten wir unsere Originalität verloren?
An dem Abend, an dem ich Joaquín Cuervo kennenlernte, Ende der Neunzigerjahre in einer Silvesternacht in Madrid, hatten wir stundenlang diskutiert. Es war unser erstes Wortduell gewesen, in dem mein utopischer Idealismus und sein wissenschaftlicher Realismus aufeinandergeprallt waren. Ich hatte gerade mein Journalismusstudium beendet und eine Stelle bei einer Informatikzeitschrift ergattert, genau in dem Moment, als das World Wide Web und die E-Mails ihren Siegeszug um die Welt antraten. Damals sammelte ich erste Erfahrungen mit HTML, als ich die Website der Zeitschrift kreierte, und erlernte ganz nebenbei die Kunst der Usability. Den ganzen Abend über verteidigte ich die Vorteile, die das Internet bot, diese neue Technologie, die es ermöglichte, Wissen auszutauschen, festgefahrene soziale Strukturen aufzubrechen, die Kulturen anzunähern, den Papierverbrauch zu verringern, demokratische Prozesse zu beschleunigen. Während jener gut aussehende, zweifellos intelligente, wenn auch ziemlich arrogante Schnösel argumentierte, dass das Internet eines Tages zur ultimativen Waffe werden würde, um die Gesellschaft zu kontrollieren, zum perfekten Vehikel für Schwindler und Betrüger, zu einer Technologie, die mit Höchstgeschwindigkeit sämtliche Irrtümer, Grausamkeiten und Vorurteile der menschlichen Rasse verbreiten würde. Wir waren beinah in keinem Punkt einer Meinung, doch in diesen Stunden entwickelte sich zwischen uns eine kreative Spannung, eine ausgeglichene Gegnerschaft, eine respektvolle Rivalität, die uns beide faszinierte. Und noch bevor die Nacht zu Ende war, entzündete dieser Funke ein Feuer, das sich in heißen Küssen und ineinander verschlungenen Körpern entlud.
Einige Jahre lang konnten wir diese kreative Spannung am Leben erhalten. Ich lernte, meine Gewissheiten zu prüfen, Vorstellungen infrage zu stellen, kritischer und weniger theoretisch zu sein; ich verbesserte meine Kenntnisse in Astronomie, theoretischer Physik, Anthropologie und beinah allen Bereichen der Natur- und der Sozialwissenschaften. Und wenn es ihm auch nie gelang, mich von dem Glauben an die Existenz irgendeiner übernatürlichen Macht – nennen wir sie Gott oder Schicksal oder Tao –, die unser Leben in diesem Universum lenkt, abzubringen, ließ ich mich doch davon überzeugen, dass die dem New Age entsprungenen Vorstellungen meiner Mutter mindestens genauso viel Aberglaube enthielten wie der Katholizismus, den ich bereits seit meiner Jugend nicht mehr praktizierte.
Joaquín seinerseits mäßigte sein Verhalten, lernte mit dem Vorhandensein unterschiedlicher Meinungen zu leben, und räumte sogar ein, dass für die Menschheit vielleicht doch noch ein Fünkchen Hoffnung bestehe. Ich half ihm dabei, das Verhältnis zu seiner in politischen und religiösen Angelegenheiten recht konservativen Familie zu verbessern, mit der er sich bis dahin nur gestritten hatte. Vor allem aber ließ er die Liebe zu, die er sein Leben lang nur mit Zynismus bedacht hatte, und öffnete sich einem Gefühl der Romantik jenseits aller zerebraler chemischer Reaktionen. Und er zog sogar die Möglichkeit in Betracht, Kinder zu bekommen, auch wenn sie in einer Welt würden leben müssen, die er bisher für viel zu grausam für «so einen Unsinn» gehalten hatte. Jenes Feuer, das wir entfacht hatten, hatte uns letztendlich also tatsächlich dabei geholfen zu wachsen, uns zu verändern und bessere Menschen zu sein, als wir es waren, bevor wir uns kennenlernten.
Doch in letzter Zeit war dieses Feuer nahezu erloschen. Lag es an der Routine? Am Zeitmangel? Oder kannten wir uns inzwischen einfach zu gut? Jedenfalls fühlten wir uns aus irgendeinem Grund zusammen nicht mehr wohl. Wir lachten nicht mehr gemeinsam wie früher. Stritten uns nicht einmal mehr wie früher. Vielleicht hatten wir uns in den letzten Jahren in unterschiedliche Richtungen entwickelt, sodass wir im Grunde nicht einmal mehr wussten, wer wir waren. Daher flüchteten wir uns nun für einen Moment in die Illusion, das Paar zu sein, das wir gewesen waren, als wir vor zehn Jahren nach London kamen, das Hand in Hand durch die Straßen ging, mit Freude sein neues Zuhause einrichtete, am Samstagnachmittag im Regent’s Park ein Boot mietete und über die Zukunft der Menschheit debattierte, das lachend versuchte, die Speisekarte des exotischsten thailändischen Restaurants der Stadt zu entziffern, und das, wenn es sich liebte, zu einem Körper verschmolz, um anschließend darüber zu diskutieren, ob die gemeinsamen Kinder Melissa oder Paloma, Stuart oder Manuel heißen würden. Nun gingen wir durch die Straßen und wollten wieder jenes Paar sein, das von einem Leben in London träumte, welches in Wirklichkeit vielleicht nie so gewesen war, wie wir es uns erhofft hatten. Aber dieses Paar waren wir nicht mehr. Unsere ineinander verschlungenen Hände waren trotz der Kälte inzwischen unangenehm verschwitzt, und als wir in der Inglewood Road ankamen, waren wir fast erleichtert, uns loslassen zu können.
«Tut mir leid, mi amor. Ich würde gern bei dir bleiben, aber ich muss wieder zur Arbeit. Möchtest du, dass ich dir noch ein Sushi bei dem Japaner in der West End Lane hole?»