Kurt Lauber
Gipfelgeschichten gesammelt von Kurt Lauber
Knaur eBooks
Kurt Lauber, geboren 1961, ist Skilehrer, Bergführer und Rettungsspezialist mit Erfahrung aus mehr als tausend Rettungseinsätzen. Seit 1995 leitet er auch die Hörnlihütte am Matterhorn. In der hüttenfreien Zeit des Jahres von Oktober bis Mai lebt Kurt Lauber mit seiner Familie in Zermatt.
Copyright © 2015 der eBook Ausgabe by Droemer eBook.
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Copyright © 2015 by Droemer Verlag. Ein Unternehmen der Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literaturagentur + Textredaktion Swantje Steinbrink M. A.
Redaktion: Julia Krug
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: GettyImages/Katarina Stefanovic
ISBN 978-3-426-42867-2
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1 Oft benütztes Synonym der Walliser Bergführer für führerlose Kletterer, die oft schlecht ausgerüstet, schlecht vorbereitet und mit der Situation am Berg überfordert sind. Kann auch unter Bergführern gebraucht werden, wenn ein Kamerad nicht gerade brilliert in dem, was er tut.
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2 Aus dem Polizeibericht von Roman Henzen, Kantonspolizei Wallis
Auf der Hörnlihütte, am Fuße des Matterhorns, ist es Herbst geworden. Für mich als Hüttenwart ist es bereits die zwanzigste Saison, die zu Ende geht – und die Hütte, die 1911 erbaut wurde, hat bereits stolze 103 Jahre auf dem Buckel.
So war es an der Zeit – vor allem auch in Hinblick auf die 150-Jahr-Feier anlässlich der Erstbesteigung des Matterhorns am 14. Juli 1865 –, die Hütte den heutigen Ansprüchen und Bedürfnissen anzupassen.
Seit 2013 wird die Hörnlihütte daher umgebaut. Mein altbewährtes Hüttenteam und ich erleben also schon seit zwei Jahren von Anfang Mai bis Ende Oktober Tag für Tag all die vielen Veränderungen hier oben auf 3260 Metern Höhe mit. Für uns war es ein ungewohnter und zugleich langer Sommer, denn normalerweise öffnen wir die Hörnlihütte immer erst Ende Juni. Aufgrund der Bauarbeiten blieb die Hütte im Sommer 2014 für die Öffentlichkeit geschlossen, Gäste mussten somit zwar nicht betreut, aber täglich bis zu dreißig Bauarbeiter verpflegt, die verschiedensten Arbeiten auf der Baustelle begleitet sowie die Logistik der vielen hundert Versorgungsflüge koordiniert werden.
Es liegt eine sehr spannende, aber auch anstrengende Zeit hinter uns. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge nehmen wir Abschied von der alten, traditionsreichen Hütte mit ihren altbewährten Abläufen. Aber sehr bald wird der lang ersehnte Traum von einer neuen Hütte in Erfüllung gehen. Ende Juni 2015, gerade rechtzeitig zum 150-jährigen Jubiläum der Erstbesteigung des Matterhorns, wird die Hütte wieder eröffnet.
Ich bin stolz, an diesem schönen, geschichtsträchtigen und speziellen Ort leben und arbeiten zu dürfen.
Die Hörnlihütte war schon immer ein kraftvoller Ort, ein Platz mit so viel positiver Energie, wie es sie nur an wenigen Plätzen auf unserer Erde gibt.
In meinem Buch »Der Wächter des Matterhorns« habe ich meine ganz persönlichen Erlebnisse auf der Hörnlihütte und am Matterhorn niedergeschrieben, damit meine Geschichten nicht verlorengehen, wie jene, die sich vor meiner Zeit ereignet haben.
Inzwischen wurden die über hundert Jahre alten Mauern der Hörnlihütte renoviert und teilweise durch neue ersetzt. Somit möchte ich mit diesem Buch die Gelegenheit und wohl auch letzte Möglichkeit nutzen, eine Ära abzuschließen, und Menschen zu Wort kommen lassen, die eng mit diesem Berg verbunden sind: Einheimische Bergführer und eine Bergführerin werden uns erzählen, was sie am Matterhorn während der letzten fünfzig Jahre erlebt haben und wie das Horu uns alle prägt und beeinflusst.
Es gibt wohl keinen anderen Berg und auch keine andere Hütte, wo sich Bergführer länger am Stück aufhalten als hier, manchmal bis zu einer Woche. Diese Bergführer sind keine Stammgäste, sondern vielmehr Teil unserer großen Hüttenfamilie. Sie haben ihr eigenes Bett und gehen bei uns ein und aus wie in ihrem Zuhause.
Für all diese Bergführer hat das Matterhorn natürlich eine spezielle Bedeutung, es hat ihr eigenes Leben nachhaltig beeinflusst, sei es durch einen Heiratsantrag auf dem Gipfel oder durch Schutzengel, die es zum Glück zu geben scheint und die immer mal wieder zum Einsatz kommen … Ganz zu schweigen von den über Jahre gestählten Nerven, die durch die zahlreichen Gäste manchmal stark strapaziert werden.
Die Jahre vergehen, und so löst am Matterhorn eine Bergführergeneration die nächste ab. Von Sommer zu Sommer ändern sich die bekannten Gesichter. Alte Bekannte werden durch junge abgelöst. Das ist der Lauf des Lebens und sicher auch richtig. Was wirklich bleibt, ist nur der Berg und die Geschichten, die niedergeschrieben wurden, alles andere ist vergänglich.
Ältere Bergführer, die über vier, zum Teil sogar fünf Jahrzehnte lang Gäste auf diesen Berg geführt haben, sowie jüngere, die nach wie vor jeden Sommer Gäste begleiten, aber auch die ganz jungen Wilden, die ihre Hörner erst noch abstoßen müssen, sie alle haben ihre eigene Geschichte mit und rund um den Berg der Berge. An diesen Geschichten und Erlebnissen möchten sie uns teilhaben lassen.
Herzlich bedanken möchte ich mich bei den Bergführern, die durch dieses Buch ein Stück Geschichte bewahren und den Leser in ihre interessante und ungewöhnliche Arbeitswelt entführen.
Das ist nicht selbstverständlich, denn solch besondere Erlebnisse sind immer auch ein Spiegel der eigenen Persönlichkeit.
Mit besten Wünschen,
Kurt Lauber
November 2014
»Also mal gleich vorneweg: Ohne Führer hätten wir den (Matterhorn-)Gipfel nie geschafft. Der Weg ist wirklich superschwer zu finden. Sowohl im Aufstieg als auch im Abstieg. Ein Verhauer kostet meist gleich recht viel Zeit, und schon ist der Gipfel in weite Ferne gerückt.«
(Eintrag eines begeisterten Bergfreundes im Internetforum www.gipfeltreffen.at)
Längst nicht alle Alpinisten wissen die Qualitäten eines Bergführers zu schätzen. Möglicherweise liegt das aber auch daran, dass viele Menschen immer noch zu wenig über diesen Beruf wissen beziehungsweise ihn unterschätzen.
Schon bevor Menschen zum Sport und Spaß in die Berge fuhren, wurden die Dienste dieser mutigen Männer in Anspruch genommen. Im 12. Jahrhundert begleiteten ortskundige Bergler im Tal des Großen Sankt Bernhard Pilger und Händler bei deren Überquerung der Alpenpässe und bekamen dafür ein kleines Salär. Ohne sie hätte manch einer sein Ziel nicht erreicht. Im 18. Jahrhundert interessierten sich zunächst nur ein paar Abenteuerlustige und Wissenschaftler für die Alpen. Auch sie heuerten Einheimische an, meist Bergbauern oder Gamsjäger, die sich im unwegsamen Gelände auskannten und in der Regel über eine gute körperliche Konstitution verfügten.
Mit der Erstbesteigung des höchsten Berges der Alpen im Jahr 1786, des Mont Blanc (4810 Meter), eröffneten sich ungeahnte Möglichkeiten, eine alpine Begeisterungswelle wurde losgetreten. Nun kamen vornehme, begüterte Touristen, vor allem Engländer, und verpflichteten Führer und Träger, die sie bei ihren Touren begleiten sollten. Den Begriff »Bergführer« verwendete damals aber noch niemand. Bei der Erstbesteigung der Jungfrau (4158 Meter) 1811 waren es offiziell Walliser Gamsjäger, die den edlen Herren den Weg auf den Gipfel wiesen. Die einfachen Bauern verdienten nun für ihre bescheidenen Verhältnisse viel Geld, und das Interesse an diesem Beruf nahm zu.
1832 schlossen sich erstmals Führer im französischen Chamonix zusammen, um die Voraussetzungen zur Bergführerzulassung sowie gemeinsame Tarife zu regeln. In der Schweiz führte der Kanton Bern 1856 ebenfalls ein Regelwerk ein. Ein Jahr später folgte das Wallis, und 1863 wurde der Schweizer Alpen-Club gegründet, der Listen mit geeigneten Bergführern anlegte. Der erste Bergführerkurs fand 15 Jahre später in Interlaken statt. Die Anwärter lernten innerhalb einer Woche rudimentäre Grundzüge der Geographie, Naturgeschichte und Gletscherkunde sowie Kartenlesen, Erste Hilfe, alpine Techniken und das Führen einer Seilschaft. Vor allem aber lernten sie Verhaltensregeln im Umgang mit den »hohen« Gästen. Die praktische Bergerfahrung wurde mit den wichtigsten theoretischen Kenntnissen erweitert, und aus einem Bergler wurde in nur ein paar Tagen ein Berufsbergführer. In einfacher Kleidung, aber stets mit Schlips und Kragen – aus Respekt vor den vornehmen Gästen. Doch es blieb eine lukrative Nebenbeschäftigung, schließlich konnten sie nur zwei Monate im Sommer dieser Tätigkeit nachgehen.
Nach dem Ersten Weltkrieg kamen bald auch weniger betuchte Touristen in die Alpen. Aus Geldmangel unternahmen sie jedoch meist führerlose Besteigungen. Der Massentourismus begann. Leider bedeutete das auch schlecht ausgerüstete und mangelhaft ausgebildete Kletterer, die sich jetzt im Hochgebirge tummelten. Meist wurden Bergführer nur für einzelne Tage verpflichtet, und die Arbeitssuche gestaltete sich mühsam. In den dreißiger Jahren drangen immer mehr Städter in die Domäne der Bergler ein und begannen eine Bergführerausbildung. Leicht hatten sie es verständlicherweise nicht. Denn sie schnappten der Bergbevölkerung die begehrten Jobs weg, was ihnen die Aufnahme in deren Kreis erheblich erschwerte.
In den fünfziger Jahren nahm die Begeisterung für den Winteralpinismus zu, nun hatten die Bergführer neben der Sommertätigkeit eine zusätzliche Einnahmequelle, indem sie Skitouren führten. Als das Expeditionsbergsteigen in Mode kam und man einheimische Führer mit in die ausländischen Gebirge nahm, eröffneten sich ganz neue Perspektiven. Die Führer konnten ihre Fähigkeiten erweitern und wertvolle Erfahrungen mit zurück in die heimatlichen Berge bringen. Längst waren sie keine armen Bauern mehr, sondern angesehene Bergspezialisten. Die Kantone kümmerten sich um eine gute Ausbildung, klare Regeln und vernünftige Tarife.
Seit 1992 heißt die korrekte Berufsbezeichnung für alle »Bergführer/Bergführerin mit eidgenössischem Fachausweis«, denn seit 1986 werden auch Frauen zur Ausbildung zugelassen. Es gibt in der Schweiz jedoch nur rund dreißig diplomierte Bergführerinnen, bei den Männern sind es immerhin 1500. Daher beschränken wir uns der Einfachheit halber auf die männliche Schreibweise.
Früher reichte es aus, dass ein Führer den Weg von A nach B kannte und sich im ohnehin vertrauten Gelände sicher bewegen konnte. Dieses bescheidene Anforderungsprofil hat sich grundlegend geändert. Zu den Ausbildungsvoraussetzungen heute gehört unter anderen laut Schweizer Bergführerverband eine Reihe an »körperlichen und geistigen Anforderungen« sowie eine sehr gute Gesundheit und Konstitution, körperliche Belastbarkeit und Kondition. Ein Bergführer muss die Fähigkeit besitzen, mit unterschiedlichsten Menschen umgehen zu können, er hat Fremdsprachenkenntnisse, Begeisterungs- und Entscheidungsfähigkeit, schnelles Auffassungsvermögen, Flexibilität und Improvisationsgabe. Dazu kommen ein gutes Allgemeinwissen in Medizin, Geographie, Geologie, Meteorologie, Physik, Volkskunde, Fauna und Flora.
Es sind eine Menge Eigenschaften, die ein moderner Führer heute mitbringen muss, damit die Besteigung mit einem Gast nicht nur erfolgreich und unvergesslich, sondern auch sicher ist. Immer noch trifft man viele Bergsportfreunde führerlos am Matterhorn an. Blockiert und zitternd harren sie in steilen, eisbedeckten Passagen aus – unter ihnen der gähnende Abgrund. Oft sind sie ungesichert und nicht angeseilt. Einen Eispickel haben sie nicht dabei, und die Steigeisen wurden irgendwo vergessen. Mit einem Bergführer wäre das nicht passiert – und die kommen heute nicht mehr mit Nagelschuhen und Hanfseil daher. Bergführer sind hochprofessionelle Dienstleister mit Herz und Leidenschaft.
Bis sie ihr Diplom in der Hand halten, vergeht heute nicht nur eine Woche. Die Ausbildung dauert drei Jahre und beginnt mit einem Eintrittstest, bei dem geprüft wird, ob die technischen Grundvoraussetzungen der Bewerber genügen, um die Ausbildung überhaupt mit Erfolgsaussichten zu beginnen. Die Teilnahme ist für alle, die mit der Bergführerausbildung beginnen möchten, verpflichtend. Am Ende wird lediglich eine Empfehlung bezüglich der Eignung ausgesprochen. Der Anwärter muss mindestens 18 Jahre alt sein, und die Kurse kosten insgesamt rund 40 000 Schweizer Franken, die selbst getragen werden müssen. Keiner wird die Strapazen und Mühen auf sich nehmen und leichtfertig so viel Geld investieren, wenn seine Chancen auf einen erfolgreichen Abschluss gering sind. Doch Tatsache ist auch, dass von den zirka sechzig Anwärtern pro Jahr bei den Schlussprüfungen nur noch etwa die Hälfte übrig bleibt.
Im ersten Ausbildungsjahr findet der sechseinhalbwöchige Bergführeraspirantenkurs (auch Kandidatenkurs genannt) statt, der wohl anspruchsvollste Teil der Ausbildung. Nach Bestehen dieser Kurse (technische Anforderungen im Winter und Sommer) dürfen sie sich Bergführeraspiranten nennen. Nun beginnt die Führung unter Aufsicht, mindestens zwanzig Tourentage an der Zahl, bei der sie sich Erfahrungen in der Arbeit mit Gästen aneignen. Erst in der Praxis (Konfrontation mit unterschiedlichsten Gefahren und Problematiken, das Beurteilen der Risiken, die daraus zu ziehenden Schlüsse) zeigt sich, ob die Kandidaten dem Anforderungsprofil gerecht werden. Um im Anschluss an der weiteren Bergführerausbildung teilnehmen zu können, müssen die Aspiranten unter anderem folgende Nachweise erbringen:
Zehn Überschreitungen von verschiedenen Viertausendern
Fünf weitere Viertausender oder Überschreitungen von anspruchsvollen Dreitausendern
Fünf Eis- oder kombinierte Touren mit Wandcharakter und hohem Eisanteil
Fünfzehn Skitouren
Fünfzehn Klettertouren
Touren außerhalb der Alpen
Auch im zweiten und dritten Ausbildungsjahr werden Tourenführungen unter Aufsicht eines diplomierten Bergführers absolviert. Dazu kommen zahlreiche Kurse mit praktischen und theoretischen Prüfungen. (Nachfolgend nur ein grober Überblick, die ausführliche Beschreibung aller Ausbildungsinhalte würde den Rahmen sprengen und kann beim Schweizer Bergführerverband unter www.4000plus.ch nachgelesen werden).
Lawinen- und Rettungstechniken, Tourenvorbereitung und -führung, Skitechnik, Sicherheit und Technik im Steileis
Führungsqualitäten im Winter und Sommer, Seilhandhabung und Sicherungstechnik in Fels und Eis, Klettersteig- und Eistechnik, Verhalten bei winterlichen Verhältnissen, Sportklettern, Sturzmechanik
Medizinische Kenntnisse wie Höhenanpassung und -akklimatisation, Kälteeinwirkung, Trainings- und Ernährungslehre, Sportklettermedizin, Erste Hilfe im Gelände und Organisierte Rettung
Psychologie und Stressbewältigung, Bergsteigen mit Kindern und älteren Gästen, Zusammenhänge und Bedeutung der Kommunikation im Bergführerberuf, Fremdsprachenkenntnisse
Betriebsführung, Marketing, Tourismus, Methodik, Didaktik, Recht, Versicherung und Branchenorganisation
Natur- und Umweltkenntnisse (naturräumliche und Naturschutz-Umwelt-Themen)
Damit die Aspiranten zur Berufsprüfung zugelassen werden, müssen sie das 21. Lebensjahr vollendet haben und der Aspirantenkurs (von mindestens zwei, höchstens vier Jahren mit Nachweis über mindestens zwanzig absolvierte Tourentage unter Leitung eines Bergführers mit eidgenössischem Fachausweis) erfolgreich abgeschlossen worden sein.
Alle drei Jahre besuchen die diplomierten Führer einen Fortbildungs- oder Rettungskurs, denn die schnelle Entwicklung in der modernen Alpintechnik erfordert eine ständige Weiterbildung und einen hohen persönlichen Leistungsstand.
Doch der Beruf des Bergführers ist nicht nur durchweg ein Traumjob: Er ist verantwortlich für die Sicherheit der Menschen, sie vertrauen sich ihm auch in Extremsituationen an. Darüber müssen sich die Führer stets bewusst sein und mit der Verantwortung umgehen können. Das kann sehr belastend sein. Sie erleben ihre Gäste oft in physischen und psychischen Ausnahmezuständen. Der Seilpartner ist fremd, und dennoch müssen sie eine Nähe zu ihm herstellen, auch in den Hütten gibt es kaum Ausweichmöglichkeiten. Eine Bergtour fordert von allen Beteiligten extreme körperliche Anstrengung, technisches Können, Durchhaltevermögen und eine stabile Psyche. Führer und Kunde sind eine Schicksalsgemeinschaft und Seilpartner, aber von Gleichberechtigung kann keine Rede sein, der Gast sollte die Anweisungen seines Führers strikt befolgen. Und der darf die Zügel im wahrsten Sinne des Wortes nicht aus der Hand geben.
Der Bergführer bewegt sich permanent in einem Spannungsfeld, er muss kompetente Entscheidungen treffen und respektvoll mit dem Gast umgehen. Und das Unfallrisiko, die (Lebens-)Gefahr ist auf Schritt und Tritt dabei: Lawinen, Stein- und Eis- und Blitzschlag, Wächtenabbrüche, Gletscherspalten und die Unsicherheit und Angst der Gäste, die zu Mitreißunfällen führen kann, oft mit tödlichem Ausgang.
Moderne Bergführer sind keine »Pfadfinder und Wegweiser« mehr, sie sind Vollprofis, die in zahlreichen Gebieten exzellent ausgebildet wurden.
Ulrich Inderbinen
Jahr für Jahr pilgern Touristen aus aller Welt zu einem Brunnen im historischen Ortskern von Zermatt. Errichtet wurde er im Jahr 2000 zum 100. Geburtstag der Bergführerlegende Ulrich Inderbinen. Der Jubilar war höchstpersönlich zugegen, als das Quellwasser zum ersten Mal sprudelte. Glücklich und dankbar sind all diejenigen, die diesem Urgestein persönlich begegnen durften. »Beeindruckend« sei er gewesen. Dabei wäre das sicher das Letzte, was Ulrich Inderbinen von sich behauptet hätte.
Was war so beeindruckend an dem Mann, der 104 Jahre lang in Zermatt gelebt hat? Der niemals ein Auto, Fahrrad oder Telefon besessen hatte. Sprechen die Menschen vom »alten Inderbinen«, so geht es eben immer um sein Alter. Als sei er bereits mit hundert auf die Welt gekommen. Doch auch eine Legende hat einmal klein angefangen.
Inderbinen wurde im Dezember 1900 in Zermatt als Sohn armer Bergbauern geboren, in einem einfachen, nach traditioneller Walliser Art erbauten Haus. Alle Bewohner des Dorfes am Fuße des Matterhorns waren zu dieser Zeit Selbstversorger, man lebte hauptsächlich von der Landwirtschaft, und das Wasser kam nicht aus der Leitung, sondern musste vom Dorfbrunnen geholt werden. Der kleine Ulrich war eins von neun Kindern, alle schliefen sie im selben Zimmer, in einem Bett.
Bereits mit fünf Jahren hütete er die Kühe. Mit acht Jahren ging er jeden Morgen zu Fuß von Zmutt, einem kleinen Weiler oberhalb von Zermatt, zur Schule und am Abend wieder zurück. Es waren einfache Zeiten, an die sich Inderbinen mit Wehmut erinnerte: »Früher war das Leben hart und schön. Alle besaßen wenig, und jeder hat jedem geholfen. Die Menschen waren zufriedener als heute, wo man alles hat und nur an sich selbst denkt.«
Berge rauf- und runterlaufen, das war für den kleinen Ulrich Alltag. Sommers wie winters. Bei Eis und Schnee, bei brütender Hitze. Aber niemals wäre er auf die Idee gekommen, eine Bergtour zu machen, geschweige denn einen Berg zu besteigen. Bis dahin mussten über zwanzig Jahre vergehen.
Obwohl Ulrich Inderbinen zwei Bergführer in der Familie hatte, beschloss er erst spät, in ihre Fußstapfen zu treten. Sein Onkel Moritz Inderbinen führte nicht nur Gäste aufs Matterhorn, er konnte auch auf internationale Erfahrung zurückblicken: Er war in Afrika und Kanada unterwegs, sogar im Himalaja arbeitete er als Führer. Auch Theodul Biner, Ulrichs Taufpate, verdiente seinen Lebensunterhalt als Bergführer.
Als Inderbinen auf die Welt kam, war die Erstbesteigung des Matterhorns gerade einmal 35 Jahre her. Nachdem Edward Whymper den Gipfel 1865 als Erster erklommen hatte, wurde Zermatt berühmt und ein beliebter Sommerkurort. 1891 wurde die Bahnlinie zwischen Visp und Zermatt eröffnet, und die Besucherzahlen stiegen noch einmal deutlich an. Der Tourismus hielt Einzug, doch Ulrichs Eltern verdienten ihr Geld nun nicht etwa mit den berghungrigen Besuchern Zermatts, sie blieben Selbstversorger: »Arm, aber unabhängig.«
Auch Ulrich dachte (noch) nicht daran, Touristen auf die umliegenden Gipfel der 41 Viertausender zu führen. Mit 18 verließ er Zermatt und arbeitete hart in einem Kohlebergwerk im Unterwallis. Zehn Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Der junge Mann hatte Heimweh, doch auch während der folgenden Jahre musste er im Winter stets auswärts Arbeit suchen.
Da der Bergführerberuf eine der wenigen Einkommensmöglichkeiten darstellte, beschloss Ulrich, Bergführer zu werden. Die erste Etappe auf dem Weg zum Bergführer bestritt er als junger Träger, wie die Aspiranten damals genannt wurden. Bei seinem ersten Engagement musste er einer Dame den Rucksack tragen, die, wie er später bemerkte, »an sich schon genug zu tragen hatte«.
Im Juni 1925 absolvierten Ulrich und sein ältester Bruder Albinus den Bergführerkurs. Zuvor hatten die beiden neben der Bewerbung auch eine Bestätigung eingereicht, dass sie das Matterhorn und das Breithorn bestiegen hatten. Nun folgten fünf Tage theoretischer Unterricht, und bei einer viertägigen Bergtour wurden verschiedene Techniken, Eis- und Felskletterei praktisch vermittelt.
Nach neun Tagen legte Ulrich erfolgreich die Prüfung ab. Er bekam das Führerbuch sowie Bergführerdiplom und -abzeichen.
Zur Ausbildung gehörten auch »Anstandsregeln«, nachzulesen im Führerbuch:
»Die Führer sind verpflichtet, den Reisenden, die es verlangen, ihre Dienste zur Verfügung zu stellen. Sie beachten ihnen gegenüber die größte Verschwiegenheit und Höflichkeit und fügen sich ihren Befehlen, insoweit diese mit der Sicherheit der Karawane vereinbar sind. Der Führer soll sich bewusst sein, dass er im Dienste des Reisenden steht und von ihm den Lohn bezieht; er soll daher nicht durch Grobheiten und Belästigungen oder durch unwahre Angaben den Reisenden von sich stoßen. Der Ungeübte bedarf der stützenden Hand des Führers da, wo der erfahrene Bergsteiger dieselbe zurückweisen würde. Der Führer muss sich demnach bestreben, dem Letztern ebenso wenig durch unnötige Zudringlichkeit lästig zu werden, als den Erstern durch Unterlassung der erforderlichen Nachhülfe der Gefahr auszusetzen.«
Außerdem waren alle patentierten Bergführer verpflichtet, bei Bergrettungen zur Verfügung zu stehen, das hieß »… bei Unglücksfällen an der Bildung von Nachforschungs- oder Rettungskarawanen mitzuwirken«.
Nach wochenlangem Warten vor dem Hotel Monte Rosa bekam der frischgebackene Bergführer Ulrich endlich seinen ersten Gast. Ende Juli verpflichtete ein Arzt aus Krefeld neben Alexander Perren auch den jungen Inderbinen, und der erste Auftrag lautete: Matterhorn.
Ulrich zog eine warme Hose, gestrickte Strümpfe, Hemd und Jackett an, schnürte seine Militärschuhe und steckte ein paar Lebensmittel in seinen Rucksack, aus denen der Hüttenwirt ihnen ein einfaches Mahl zubereiten sollte. Dann holten er und Perren ihren Kunden nachmittags am Hotel ab, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Hörnlihütte.
Bevor die Dreierseilschaft zur Matterhorn-Besteigung aufbrach, bekreuzigten sie sich mit Weihwasser und sprachen ein Gebet. Dann nahm Ulrich die Kerzenlaterne, und sie gingen hinaus in die kalte und dunkle Nacht. Ulrich führte seine erste Matterhorn-Tour erfolgreich, der Gast war hochzufrieden:
»Herr Inderbinen erwies sich als durchaus sicher und zuverlässig, so dass ich hoffe, noch häufiger mit ihm zusammen zu gehen …« So steht es in seinem Führerbuch.
Danach musste sich der junge Bergführer erst einmal wieder in Geduld üben, es war schwierig, Gäste zu bekommen. In der ersten Saison seiner Bergführertätigkeit hatte er neben der Matterhorn-Tour nur zwei weitere Engagements.
Im Sommer 1928 durften die Bergführer keine Gäste mehr am Bahnhof anwerben, und vor den Hotels hatte Ulrich keine Chance. Aber die Inderbinen-Brüder waren clever, und getreu dem Motto »Der frühe Vogel fängt den Wurm« gingen sie frühmorgens vier Stunden zu Fuß auf den Gornergrat und warteten auf den Zug, der die Touristen von Zermatt auf 3087 Meter brachte. Dort oben waren sie konkurrenzlos und wurden oft von Bergwanderern angesprochen, die beim Anblick der Viertausender ringsum spontan Lust auf eine Bergtour bekamen.
So vergingen die Sommer, tagein, tagaus, nur sonntags führte Ulrich keine Gäste. Wenn nichts dazwischenkam … wie im Sommer 1930: Ulrich war seit fünf Jahren Bergführer, als er während einer Tour einen ganzen Samstagnachmittag mit seinem Gast in der Cabana Margherita festsaß, draußen herrschte dichtes Schneetreiben, ein Weiterkommen war unmöglich. Erst am Sonntagmorgen wagten sie den Abstieg, und der 30-Jährige wusste, was ihn zu Hause erwartete. Er hatte die Sonntagsmesse verpasst, und dafür hatte der Vater kein Verständnis. Schneetreiben hin oder her.
Der Glaube an Gott und fromme Rituale waren feste Bestandteile in Ulrichs Leben. Vor dem Verlassen des Hauses bekreuzigte man sich mit Weihwasser, vor und nach jeder Mahlzeit sprach man ein kurzes Gebet. Und natürlich besuchte die ganze Familie Inderbinen jeden Sonntag das Hochamt. Ulrich saß sein Leben lang jeden Tag in der Frühmesse. Die eigene Person war ihm nie wichtig, dafür aber der Herrgott, die Natur und die Mitmenschen. Inderbinen war über siebzig Jahre lang als Führer in den Walliser Alpen unterwegs. Und er wusste, was er »dem da oben« schuldig war: »Sehr oft hatte Gott das Seil in der Hand.«
Seine Gäste brachte er nicht einfach nur heil hinauf und wieder hinunter, er wollte ihnen auch die Liebe zu den Bergen vermitteln. Bis Anfang der sechziger Jahre war es nicht leicht, als Bergführer engagiert zu werden, denn den beiden Weltkriegen war auch der Tourismus zum Opfer gefallen. Das änderte sich erst 1962, als in Zermatt das Bergführerbüro eröffnet wurde und der Bergtourismus einen neuen Aufschwung erlebte. Endlich herrschte eine starke Nachfrage nach Bergführern. Um die Touren zu organisieren, wäre ein Telefon nützlich gewesen, doch der über 60-Jährige beschloss, dass es sich für einen so alten Bergführer nicht mehr lohne, wegen der noch verbleibenden Jahre eines anzuschaffen. Dennoch war es kein Problem, Inderbinen zu erreichen, man traf ihn täglich zwischen 17 und 18 Uhr auf dem Zermatter Kirchplatz!
Nun sind wir also doch wieder beim Alter angekommen, man kommt auch gar nicht umhin, denn die meisten Ulrich-Inderbinen-Anekdoten haben damit zu tun. Einem Gast, der sich über sein hohes Alter Sorgen machte, dann allerdings nach der Tour selbst ziemlich geschafft war, sagte er einmal: »Wenn Sie langsamer laufen wollen, müssen Sie sich nächstes Mal einen älteren Bergführer suchen.« Und gelangweilt habe er sich nie, »höchstens dann, wenn meine Kunden zu langsam marschiert sind«.
Der Doyen der Bergführer hat das Matterhorn 370-mal bestiegen. Andere Bergführer waren sicher öfter dort oben und sie waren mitunter schneller. Aber keiner war so betagt wie er. Mit achtzig Jahren begann er, an Skirennen teilzunehmen. Da er in seiner Altersklasse fast immer ohne Konkurrenz fuhr, gewann er auch meistens.
Als Inderbinen 87 Jahre alt war, führte er einen Gast, der befürchtete, möglicherweise seinen Bergführer auf den Gipfel tragen zu müssen. Nach der Tour bat der Mann für das nächste Mal um einen anderen Führer, »einen, der auch mal eine Pause macht«!
Weltweit erntete Inderbinen im Jahr 1990 Bewunderung, als er zum 125. Jahrestag der Erstbesteigung des Matterhorns als 89-Jähriger den Gipfel noch einmal bestieg – zum letzten Mal.
Ulrich Inderbinen war damit der älteste Mensch, der über den Hörnligrat gegangen ist.
Für viele Bergführer am Matterhorn ist Ulrich Inderbinen bis heute ein großes Vorbild: »So einen Menschen gibt es in tausend Jahren nur einmal.« (Richard Andenmatten) Bis zum Schluss hatte Ulrich Inderbinen sich modernen Sicherungsmethoden verweigert. Während seine Kollegen spezielle Sicherungsseile verwendeten, vertraute er auf seine Erfahrung und den gesunden Menschenverstand und führte die Kunden mit einem Hanfseil um den Bauch auf die Gipfel der Viertausender. Bis zu seinem 96. Lebensjahr war er als Bergführer aktiv. Und als er an seinem 100. Geburtstag darauf angesprochen wurde, ob er Angst vor dem Sterben habe, meinte er: »Nein, wenn ich die Zeitung aufschlage, sehe ich kaum jemanden von meinem Jahrgang bei den Todesanzeigen.«
Im Jahr 2002 besuchte ihn ein Fernsehteam, man traf sich zum Interview im alten Museum in Zermatt. Eine steile Treppe führte nach oben auf eine Empore, dort wollte man die Filmaufnahmen machen. Eine Mitarbeiterin des TV-Teams wollte dem 102-Jährigen respektvoll den Vortritt lassen. Doch Inderbinen lächelte charmant und sagte: »Es ist besser, du gehst vor, damit ich dich auffangen kann.«
Es braucht sicher kein Denkmal, damit sich die Zermatter und Bergfreunde aus aller Welt an »den alten Inderbinen« erinnern. Kein Bergführer ist am Matterhorn so präsent wie er. Und um ihm eine Ehre zu erweisen, muss man auch nicht aufs Horu steigen, ein Besuch an »seinem« Brunnen würde genügen.
Quellen: Heidi Lanz, Liliane De Meester: Ulrich Inderbinen. Ich bin so alt wie das Jahrhundert, Visp 2014. Hermann Biner: Auszüge aus der Laudatio zum 100. Geburtstag von Ulrich Inderbinen.