Julia Latscha
Lauthalsleben
Von Lotte, dem Anderssein und meiner Suche nach einer gemeinsamen Welt
Knaur e-books
Julia Latscha, geboren 1975, arbeitete neben ihrem Studium als Physiotherapeutin in einer Kinderpraxis. Nach der Ausbildung spezialisierte sie sich auf die Therapie für Kinder mit neurologischen Auffälligkeiten. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes schloss sie ihr Philosophiestudium ab und wechselte beruflich in den Bildungsbereich. Heute lebt sie mit ihren beiden Kindern in Berlin.
© 2017 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2017 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Liedtext von Frederik Vahle: © Aktive Musik Verlagsgesellschaft mbH
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Julia Zimmermann
Alle Fotos im Bildteil: Julia Zimmermann
Alle Fotos im Textteil, sofern nicht anders angegeben: privat
ISBN 978-3-426-44240-1
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Musik ist Lottes Lebenselixier. Die Kapitelüberschriften in diesem Buch wurden in Anlehnung an ihre Lieblingslieder gewählt. Eine Auflistung der Songs findet sich am Ende des Buches.
Für Lotte und Kasimir
Es mag mir geschehen, was will, ich verliere nie die Gewissheit, dass hinter mir Arme geöffnet sind, um mich aufzunehmen
– Lou Andreas Salomé
Alle in Berlin haben irgendwelche Projekte. Ich habe auch eins. Ein ziemlich großes sogar. Ich will ein Leben mit Lotte. Und das nicht am Rande der Gesellschaft. Daran arbeite ich seit Jahren. Ich bin alles Mögliche: atemlos, ratlos, kraftlos. Oder habe ich das große Los gezogen? Warum? Weil mich das Leben mit Lotte immer wieder auf essenzielle Themen stößt. Ich kann ihnen nicht ausweichen. Sie sind groß und mächtig. Während meiner Schulzeit habe ich regelmäßig den Sportunterricht geschwänzt, wenn Hürdenlauf auf dem Plan stand. Heute mag ich Herausforderungen. Manche überspringe ich mit Leichtigkeit. An anderen Stellen stolpere ich oder bleibe kurz vor dem Absprung stehen. Dann gehe ich zurück und nehme erneut Anlauf. Einige Hindernisse sind zu hoch, jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt. Ich muss warten. Es ist eine Illusion zu meinen, dass die Hürden im Leben irgendwann weniger werden. Und Schnelligkeit erhöht nur die Anzahl der neuen Herausforderungen. So meine Erfahrung. Ausdauer und Beweglichkeit sind wichtige Voraussetzungen. Sportlich sein hilft.
Ich bin also auch: kraftvoll, freudvoll und temperamentvoll. Zumindest immer wieder.
Wir stehen am U-Bahnsteig. Ich schiebe den Rollstuhl erst zum linken Ausgang, dann zum rechten. Wir sitzen fest. Beide Fahrstühle funktionieren nicht. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen.
»So ein Mist«, sage ich laut.
Lotte steckt ihre Hand in den Mund und beißt auf ihren Fingern herum.
»Keine Sorge. Wir finden schon einen Ausweg.«
Ich streiche ihr die blonden Haare aus dem Gesicht und wische die Spucke weg. Gemeinsam bewegen wir uns weiter den Bahnsteig auf und ab. Ich laufe vorneweg, Lotte schiebt sich hinter mir her.
Ich entdecke eine Notrufsäule. Einen kurzen Moment zögere ich. Ist es ein Notfall, am normalen Leben teilhaben zu wollen? Ich drücke den SOS-Knopf. Es klingelt.
»Hallo, wie kann ich helfen?« Eine männliche Stimme begrüßt mich.
»Meine Tochter sitzt im Rollstuhl, und beide Fahrstühle sind kaputt.«
»Verstehe, fahren Sie einfach eine Station weiter. Dort funktioniert der Aufzug.«
»Ich muss aber hier aussteigen. Wir haben einen Therapietermin.«
»Wie gesagt, nehmen Sie die U-Bahn, und steigen Sie an einer anderen Haltestelle aus.«
Ein Klicken verrät, dass die Stimme das Gespräch beendet hat. Erst schüttele ich den Kopf, dann trete ich gegen die Sprechanlage, und schließlich beschimpfe ich die stumme Säule vor mir. Ich zögere und presse erneut meinen Zeigefinger auf den runden Knopf.
»Hallo?« Es ist dieselbe Stimme, nur unfreundlicher.
»Ich möchte genau hier mit meiner Tochter aussteigen und werde so lange den Notrufknopf drücken, bis mir jemand beim Tragen des Rollstuhls hilft«, drohe ich.
Klick. Eine U-Bahn kommt, Menschen steigen aus, ich spreche niemanden an. Jetzt will ich es wissen. Fünf Minuten später schleichen zwei unmotiviert aussehende Männer in gelben Neonwesten den Bahnsteig entlang. Sie haben keine Eile. Ich schon. Ungeduldig laufe ich ihnen entgegen.
»Ich brauche Hilfe. Der Rollstuhl samt meiner Tochter ist zu schwer für mich.«
Beide blicken mich an. Lotte winkt. Wortlos begleiten sie uns zur Treppe.
»Vielleicht tragen wir erst meine Tochter und dann den Rollstuhl nach oben? Das ist rückenschonender.«
Nicken.
»Meine Tochter heißt Lotte«, ergänze ich.
Beide Männer schauen mich an. Lotte erntet keinen Blick und keine Begrüßung. Sie winkt weiterhin motiviert.
»Wo soll ich Ihre Tochter anfassen? Ich habe noch nie so ein Kind getragen.« Der größere Mann krempelt seine Ärmel hoch. Es hat den Anschein, als wolle er Zementsäcke nach oben schleppen. Stattdessen sitzt ein schlankes vierzehnjähriges Mädchen vor ihm.
»Sie nehmen die Beine und ich den Oberkörper«, erkläre ich.
Lotte findet das Unterfangen spannend. Ihr ganzer Körper zappelt vor Freude, als ich sie aus dem Rollstuhl hebe. Die Abwechslung macht ihr Spaß. Immer wieder winkelt sie ihre Beine an, sodass der Mann unsicher ihre Füße fallen lässt. Wir schaffen es kaum die Treppe hoch. Ich japse, und der Mann schwitzt. Der Rollstuhl folgt kurze Zeit später. Lotte bedankt sich mit einem kleinen Applaus. Ich mich mit einem Wort. Das »Dankeschön« vibriert noch auf meinen Lippen, da blicke ich schon auf die Rücken der Männer. Sicherheitsdienst steht auf ihren grellen Westen.
Noch vor einiger Zeit hätte ich erst meine Tochter und dann den Rollstuhl alleine die Treppen hochgetragen. Ich wollte nie von anderen abhängig sein. Heute weiß ich, dass ein Leben mit Lotte nur mithilfe von anderen Menschen gelingen kann.
Auch nach vierzehn Jahren berührt mich die Unsicherheit der anderen. Häufig lasse ich mich von diesem Gefühl anstecken. Manchmal werde ich wütend und ungeduldig. Was denkt Lotte in solchen Situationen?
»Alles gut?«, frage ich.
Sie antwortet nicht. Eine entgegenkommende Fahrradfahrerin zieht sie in den Bann. Lotte mag Bewegung und Schnelligkeit. Sie ist gerne unterwegs. Sie lacht. Im Gegensatz zu mir scheint sie nicht nachtragend zu sein.
Bei mir lösen manche Verhaltensweisen einen Rattenschwanz an stillen Vorwürfen aus. Vor allem, wenn sich Unsicherheit in Ignoranz oder Arroganz äußert. Dann melden meine Rezeptoren Schmerzen in der Herzregion und Wut im Bauch. Der Fluchtreflex springt an. Nur selten starte ich eine verbale Gegenattacke.
Auf dem Rückweg erkläre ich meine Teilhabemission für heute für beendet. Wir gehen zehn Minuten in die falsche Richtung und nehmen den funktionierenden Fahrstuhl an der nächsten U-Bahn-Station. Ich will nicht noch einmal um Hilfe betteln. Ich will generell nicht mehr dankbar sein müssen, wenn mir Menschen in Situationen wie dieser behilflich sind. Vor allem dann nicht, wenn Fahrstühle defekt, Stufen vor Gebäuden zu hoch oder Eingänge zu schmal sind. Regelmäßig warten wir gemeinsam mit den Hunden draußen vor Geschäften. Manchmal reichen uns Menschen Dinge heraus, oder ich springe kurz rein und blicke nervös zu Lotte, die vor der Tür wartet. Zu viele Menschen haben Rückenprobleme, Berührungsängste oder einfach keine Zeit.
Das U-Bahn-Fahren stimuliert Lotte. Sie bewegt sich hektisch zu den Fahrgeräuschen und gibt bewundernde Laute von sich.
Ich weiß nicht, was sie gerade denkt. Aber sie denkt ganz viel. Ich habe gelernt, mit meiner Tochter zu sprechen, auch wenn sie überwiegend schweigt. Am Anfang fiel mir das nicht leicht. Besonders unangenehm waren die Situationen, in denen ich den Blicken anderer nur schwer ausweichen konnte. In der U-Bahn, in Warteschlangen oder im Fahrstuhl übte ich mich in Gelassenheit und Toleranz. Die neugierigen Blicke der anderen ließen mich meine Stimme runterdimmen. Ich achtete mehr auf die Reaktionen der Menschen als auf die meiner Tochter.
Heute stelle ich ihr Fragen. Sie antwortet mit Ja und Nein. Nicht immer adäquat, zumindest nicht aus meiner Sicht. Sie kann Mama und Papa sagen. Hunger, bitte und noch mal.
Auch wenn Lotte nur vereinzelte Wörter spricht, kann sie sich gut mitteilen. Vor allem ihre Wut und Freude. Wenn Lotte sich ärgert, beißt sie ihre Hände blutig. Sie kann so laut und lange brüllen, dass Trommelfell und Nerven zu zerfetzen drohen. Wir haben zu Hause schon über Lärmschutz-Kopfhörer nachgedacht. Dort ist Lotte ständig wütend.
Doch sie kann auch anders. Lottes Lachen ist ansteckend. Wenn sie sich freut, wirft sie ihre Arme in die Luft. Lautes Entzücken plumpst aus ihrem Mund. Sie mag Musik und Menschen. Und Reiten. Und Thermalwasser. Und Würstchen. Wäre der Alltag ununterbrochen mit alldem gefüllt, was Lotte glücklich macht, wäre unser Leben, zumindest was das Schreien betrifft, harmonischer.
Aber nicht nur Lotte hat Bedürfnisse. Mein Handy klingelt.
»Mama?« Eine heisere Stimme ist in der Leitung.
»Kasimir?«
»Wo bist du?«, fragt er.
»In der U-Bahn. Ich war mit Lotte bei der Physiotherapie. Wir sind gleich zu Hause. Wo bist du?«
»Vor der Haustür. Ich habe meinen Schlüssel vergessen.«
Im Hintergrund höre ich andere Kinderstimmen.
»Knut und Albert sind auch hier. Wir haben bei den Nachbarn geklingelt und warten jetzt im Garten auf dich.«
Kasimir legt auf, bevor ich antworten kann. Die Telefongespräche mit ihm sind kurz und effektiv. Kasimir ist Lottes drei Jahre jüngerer Bruder. Er ist frech und geduldig und liebevoll mit seiner Schwester. Kasimir mag Lotte genau so, wie sie ist. Nur ihr ohrenbetäubendes Brüllen stört auch ihn.
Die U-Bahn ist voll. Immer mehr Menschen drängen sich um uns. Lotte sieht nur Hosenbeine. Taschen hängen vor ihrer Nase. Sie greift nach Riemen und Stoffen. Niemandem gefällt das. Graue Gesichter drehen sich weg, Hinterteile wenden sich uns zu. Lotte starrt auf Streifen, Karos und gedeckte Farben. Ich blicke auf die Stationsschilder in den U-Bahnhöfen. Lotte meckert. Die Fahrt dauert noch zehn Minuten.
»Willst du Musik hören?«, frage ich meine Tochter.
»Ja«, ruft sie.
Ich krame in meinem Rucksack und setze ihr bunte Kopfhörer auf. Dann drückt mein Finger auf die Play-Taste. Ich weiß, was Lotte jetzt gefällt. Kasimir und ich haben uns bereits an so einige Lieder gewöhnen müssen. Die ersten Takte wippt nur Lottes Oberkörper zur Musik. Dann singt sie die Melodie von Atemlos durch die Nacht von Helene Fischer lauthals mit.
Alle gucken.
Ich habe mir mein Leben immer ganz anders vorgestellt. Unkomplizierter. Kinder gehörten definitiv dazu. Mindestens drei sollten es sein. Jetzt habe ich zwei, und ich bin angestrengt, als ob es fünf wären. Beruflich habe ich mich als Entwicklungshelferin in fernen Ländern gesehen. In gewisser Weise bin ich das auch geworden. Nur eben nicht in der Ferne, sondern hier in meinem Leben mit Lotte. Tagtäglich unterstütze ich meine Tochter in ihrer Entwicklung und helfe ihr, im Leben klarzukommen.
Spastisch-athetotische infantile Cerebralparese lautet die medizinische Diagnose. Lotte hat eine Tetraparese. Die Bewegung in ihren Armen und Beinen ist eingeschränkt. Es steht noch mehr in den Befunden: Mikrocephalie; kombiniert umschriebene Entwicklungsstörung bei Intelligenzminderung mit deutlichen Verhaltensauffälligkeiten; oppositionelles Trotzverhalten; Störung des Schlaf-wach-Rhythmus und symptomatische Epilepsie.
Lotte ist auf permanente Hilfe angewiesen.
Ein Fahrdienst bringt sie morgens zur Schule. Um Viertel nach sieben wird Lotte vor unserer Haustür abgeholt. Manchmal wird sie auch nachmittags zurückgebracht. Olaf hebt Lotte aus dem Bus in ihren Rollstuhl. Seine Mütze landet auf dem Boden.
»Immer derselbe Witz«, sagt er. »Und nie bin ich darauf vorbereitet.«
Beim Wegfahren winkt er. Die anderen Kinder aus dem Bus tun dasselbe.
»Bis morgen«, rufe ich.
Lotte mag diesen Fahrer. Und seine Mütze.
Unsere Wohnung ist in der dritten Etage. Der Fahrstuhl fährt nur bis zur zweieinhalbten. Die Treppe ist unser Nadelöhr. Wir wohnen nicht barrierefrei. Bis heute wollte ich mir beweisen, dass Lottes Behinderung kein Grund sein muss, meine lichtdurchflutete schöne Wohnung zu verlassen. Inzwischen ist mir klar, dass wir dringend umziehen müssen.
Kasimir fährt seit der dritten Klasse alleine mit dem Fahrrad zur Schule und zurück. Er spielt am Nachmittag mit seinen Freunden. Für Lotte bin ich das Animationsprogramm.
Sind wir endlich oben in der Wohnung angekommen, klopft sie schon ungeduldig auf ihre Schuhe.
Mama, ausziehen heißt das.
Während ich dann vor Lotte knie, die Klettverschlüsse von ihren Fußorthesen öffne und schnaufend an den engen Plastikschienen ziehe, zeigt ihre Hand bereits in eine Ecke des Wohnzimmers. Dort steht unsere Musikanlage.
»Da«, sagt sie und macht eine Handbewegung wie ein Dirigent, der sein Orchester zum ersten Ton bewegt. Dann tippt sie auf ihren Mund. »Tee« und »Hunger«, artikuliert sie schwer verständlich.
Ihre Bedürfnisse sollen alle auf einmal befriedigt werden. In Lottes Welt herrscht Gleichzeitigkeit. In meiner leider nicht.
»Wir können den Alltag mit Lotte nicht mehr lange stemmen«, sage ich und zupfe nervös am Deko-Deckchen. Die roten Plastikblumen vor mir schwanken bedrohlich. Ich sitze in der dreizehnten Etage beim Jugendamt. Neben mir wühlt Sebastian in seiner Tasche. Er legt einen weißen Block und einen Kugelschreiber auf den Tisch.
»Schön, dass Sie beide kommen konnten«, sagt Frau Hendriks. Sie ist unsere zuständige Fallmanagerin. Wir sind einer von vielen Fällen. Keine Ausnahme.
Frau Hendriks zieht ein Taschentuch aus dem Ärmel und schnäuzt darin ihre spitze Nase. »Heuschnupfen«, erklärt sie.
»Das Treffen ist uns wichtig«, betont Sebastian.
Er erläutert zum wiederholten Male die familiären Herausforderungen und Lottes Bedürfnisse. Seine Worte sind gut gewählt. Sebastian ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Sozialrecht, und er ist Lottes und Kasimirs Vater.
Berlin sieht von oben ganz anders aus, stelle ich fest. Irgendwie übersichtlicher. Breitspurig ziehen sich Straßen durch die Plattenbauten. Dazwischen wiegen vereinzelte Bäume ihre Äste im Wind. Großstadtgeräusche dringen durch das gekippte Fenster.
»Kaffee?«, fragt Frau Henriks.
Sebastian und ich schütteln den Kopf. Unser Verhältnis zum Jugendamt ist gespalten. Wir bekommen nicht die Hilfe und Unterstützung, die wir brauchen. Deswegen streiten wir. Mittlerweile juristisch. Diesmal hoffen wir auf eine Einigung.
»Ich kenne Ihre Situation.« Frau Hendriks hält kurz inne. »Trotzdem wird das Jugendamt Ihre beantragten Stunden auf Einzelfallhilfe nicht bewilligen können«, erklärt sie und lächelt. Das Überbringen von Hiobsbotschaften scheint ihr nicht schwerzufallen. Wahrscheinlich sind wir nicht der erste Fall, der heute diese Entscheidung übermittelt bekommt. Gespart wird überall. Auch in der Abteilung Eingliederungshilfe. Gar nicht so einfach, mit einem Kind mit Behinderung Teil der Gesellschaft zu bleiben. Oder es überhaupt zu werden. Alles eine Frage der eigenen Haltung, des eigenen Engagements und des eigenen Geldes. So die Tendenz. Aber was ist mit der Verantwortung der anderen? Mich macht das wütend. Ich beiße mir auf meine Zunge. Heute will ich mich beherrschen. Der Blick aus dem Fenster beruhigt mich.
Frau Hendriks dekoriert mit Gesten und Paragrafen ihre Ausführungen. Die Argumente des Jugendamtes überzeugen uns nicht. Sebastian bietet Paroli und macht Notizen. Ich versuche sachlich zu bleiben. Jahrelang war die Bewilligung von fachlich ausgebildeten und kompetenten Menschen zur Förderung unserer Tochter kein Problem. Irgendwann wurden die Stunden der Einzelfallhilfe auf ein Minimum reduziert. Jetzt soll uns die neue Sparpolitik zwingen, den größten Teil der Kosten selbst zu tragen. Wir müssen improvisieren und stolpern über unsere auf dem Boden hängenden Zungen. Schadensbegrenzung ist das alltägliche Motto. Ich will aber mehr als das.
Die Blumen schwanken. Dann kippen sie um. Kein Problem. Sie sind ja aus Plastik. Die Fallmanagerin stopft das Gestrüpp zurück ins Glas. Aus ihren Akten erscheinen alternative Angebote und Vorschläge, die sie auf den Tisch legt. Nichts, was unsere Situation entschärfen könnte. Zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Ich schüttle vehement den Kopf, Frau Hendriks die Dosenmilch. Die scheint in einen anderen Aggregatszustand übergegangen zu sein. Ein weißer Brocken landet in ihrem schwarzen Kaffee.
»Haben Sie mal über eine stationäre Unterbringung für Ihre Tochter nachgedacht?«, fragt Frau Hendriks unvermittelt.
Das Jugendamt will uns dafür gewinnen, Lotte jetzt schon in einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung leben zu lassen. Je länger wir damit warten, desto weniger gute Plätze gebe es und desto schwieriger gestalte sich der Abnabelungs- und Eingewöhnungsprozess. Die Pubertät sei ein guter Zeitpunkt für diesen Schritt – so die Erfahrung.
Ich habe schon über vieles nachgedacht. Vor allem dann, wenn mir der Atem ausging. Für das Leben mit Lotte verbiege ich mich, kremple Tage und Strukturen um, versuche flexibel zu bleiben. Und vor allem auch eine Familie. Nichts funktioniert in unserem Alltag von alleine. Ununterbrochen müssen Anträge gestellt und Widersprüche eingelegt werden. Wir brauchen einen Einfall, keinen Wegfall. Vielleicht auch mal Beifall statt immer nur Kniefall. Das Jugendamt könnte unser Zusammenleben stärken. Zumindest solange Lotte noch ein Kind ist.
Die Aufzugstür schließt sich. Frau Hendriks fährt mit uns nach unten. Wir halten die Köpfe hoch. Das Gericht wird entscheiden. Irgendwann. Bis dahin machen wir weiter. Irgendwie.
»Das Schreiben wird Ihnen per Post zugestellt.« Frau Hendriks gibt uns die Hand.
Die Fallmanagerin verschwindet samt Aktenstapeln unter ihrem Arm in einem Gang, von dem endlos viele Türen abzugehen scheinen. Wir treten durch die große Glastür nach draußen ins Freie. Ich rieche den Frühling.
Sebastian wirft sich die Tasche über die Schulter, faltet seine braunen Haare unter den Fahrradhelm und fährt nach links in Richtung Kanzlei. Ich biege nach rechts in die Innenstadt ab, vorbei an blühenden Tulpen. Eine Amsel trällert ihre Morgenweise.
Die Auseinandersetzung mit den Ämtern, die Anträge für Hilfsmittel und Hilfsleistungen, das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist der innere Kampf.
Abends, wenn alles still ist, wenn die Kinder schlafen, fahren meine Gedanken hoch. Ich finde keine Ruhe und wälze mich von links nach rechts. Wie gerne würde ich nachts mein Gehirn in einem Wasserglas neben dem Bett aufbewahren. Stattdessen spuken Fragen durch meinen Kopf: Darf ich mich nach einem anderen Leben sehnen? Die tägliche Pflege meiner Tochter nervt mich. Windeln wechseln, waschen, anziehen, kämmen, Zähne putzen und wieder waschen und Windeln wechseln. Und das schon seit vielen Jahren. Ich bin regelmäßig am Limit, gereizt und ungeduldig. Aber: Darf ich überhaupt genervt sein von der Pflege meiner eigenen Tochter? Die Behinderung ist weder ihre noch meine Schuld. Natürlich ist es überflüssig zu fragen, ob ich diese Gedanken und Gefühle überhaupt haben darf. Fakt ist, ich habe sie. Was mache ich damit? Augen zu und durch, könnte die Antwort lauten. Aber das versuche ich schon seit Jahren, und es macht uns alle nicht glücklich. Was kann ich ändern? Sicherlich ganz viel. In manchen Momenten weiß ich nicht, wo ich anfangen soll. In unerträglichen Situationen droht Kasimir seiner Schwester: »Wenn du nicht aufhörst zu schreien, musst du ausziehen.«
Den Satz hat er von mir übernommen. Ich weiß, dass diese Drohung unfair ist. Häufig stecke ich im Sumpf des Frustes fest. Später tun mir die lieblosen Worte leid. Deswegen will ich den Vorschlag von Frau Hendriks vom Jugendamt auch nicht hören. Wir sind alle gestresst. Aber keiner von uns kann sich einen Alltag ohne Lotte vorstellen. Lotte ist wichtig und besonders in unserem Leben. Sie hat Talente und ein großes Herz. Ihr Humor bringt Sebastian und mich zum Lachen. Kasimir braucht seine Schwester, nicht nur zum Spielen und Quatschmachen. Er sucht bei ihr Trost. Großzügig wird Kasimirs Gesicht dann mit zärtlichen und feuchten Küssen übersät. Die Umarmungen tun ihm gut. Lotte gehört zu ihm, auch dann, wenn sie stundenlang brüllt und ihm die Ohren davon schmerzen.
Als Lotte auf die Welt kam, war sie mucksmäuschenstill. Über ihren ersten Schrei freuten wir uns. Auch noch über den zweiten und dritten.
Die Geburt begann zwei Tage vor dem errechneten Termin mit leichten Wehen. Ganz normal eigentlich. Mein Gefühl sagte mir aber, dass irgendwas nicht in Ordnung war. Ich fuhr mit dem Taxi ins Krankenhaus. Sofort beugte sich ein Mann über meine Liege, Arzt in Praktikum las ich auf seinem Schild.
»Könnte ich bitte was zu trinken bekommen?«, fragte ich.
Eine Krankenschwester stellte mir ein Glas Wasser hin. Prophylaktisch auch eine Nierenschale.
Der junge Arzt, vielleicht Ende zwanzig mit schwarzen glatten Haaren und einem unsicheren Lächeln, schüttelte die Flasche mit Kontaktgel. Seinen Kopf bewegte er hektisch hin und her. Wie ein Huhn auf der Suche nach Futter. Ich zuckte zusammen. Das kalte Gel verbreitete sich auf meinem Bauch. Lautlos glitt der Ultraschallkopf darüber. Auf dem Bildschirm sah ich hohe Wellen, die gegen Felsen schlugen. Ungetüme aus endlosen Tiefen auftauchen. Die Weltmeere schienen zu beben. Ich fühlte mich schlecht. Seit Stunden hatte ich keine Kindsbewegungen mehr gespürt. Auch das schien normal zu sein. Die Übelkeit erst recht.
»Was sehen Sie?«, fragte ich nervös.
Der Arzt saugte die Luft wie durch einen Strohhalm langsam ein.
»Bisher nichts Dramatisches. Ihr Kind hat einen schnellen Herzschlag«, antwortete er. »Vielleicht ist es genauso aufgeregt wie Sie. Halten Sie noch mal still«, sagte er und erhöhte den Druck der Ultraschallsonde auf meinen Bauch. »Was ist das denn?«, murmelte er vor sich hin. Seine Augen suchten in den Gezeiten der Meere nach einer Erklärung. »Irgendwas ist nicht in Ordnung«, erklärte er. »Aber was, kann ich Ihnen nicht sagen.«
In diesem Moment stürmte Sebastian in mein Zimmer.
»Da bin ich«, sagte er. »Ich habe dich nicht gleich finden können.« Er nahm meine feuchte Hand.
»Was ist mit unserem Kind?«, fragte er den Arzt.
Der schwieg. Wie ein Tier auf Beutejagd umkreiste der Ultraschallkopf immer wieder dieselbe Stelle. Aus dem Nebenraum zerrissen Schreie die Stille.
»Das weiß ich nicht.« Der junge Arzt stand in gebückter Haltung vor uns. Mit einem Papiertuch wischte er meinen Bauch trocken. Ich starrte auf den Bildschirm und sah nur schwarz-weißes Rauschen.
»Dann holen Sie einen Kollegen«, forderte Sebastian.
Der Arzt schlich reptilienartig aus dem Untersuchungszimmer. Ich holte tief Luft. Die Angst pochte in meinem Hals. Sebastian drückte seine kalte Wange gegen meine Tränen. Mit seinen Fingern strich er durch mein Gesicht und verteilte gerecht die verlaufende Schminke. Seine dunklen Augen bohrten sich in meinen Kummer. Auch er schien besorgt zu sein.
»Wenn der Arzt gleich zurückkommt, werde ich darauf bestehen, dass sofort der diensthabende Oberarzt gerufen wird. Mach dir keine Sorgen«, versuchte er mich zu beruhigen. »Alles wird gut.«
Er legte seine Hände auf meinen Bauch. Seit zwölf Monaten waren wir ein Paar. Wir hatten uns bei einem Abendessen in Hamburg kennengelernt. Und uns gleich verliebt. Die Schwangerschaft war nicht geplant. Kurz vor der Geburt war ich zu Sebastian nach Berlin gezogen. Wir freuten uns auf unser Kind.
Irgendwann erschien der Oberarzt. Ratlos schaute er sich die Werte des Wehenschreibers an. Berge und Täler. Sein Finger wanderte über die Kurven auf dem Papier.
»Die Tachykardie Ihres Kindes beunruhigt mich«, sagte er. Doktor Möhring war ein rundlicher Mann. Die Haare hatten sich zum Teil schon verabschiedet. Der Rest klebte etwas ungelenk am Kopf. In seinen Augen kauerte noch der Schlaf. Unentschlossen kratzte er sich am Kinn.
Der schnelle Herzschlag könne auch normal sein, erklärte er. Er wolle zu diesem Zeitpunkt keine Entscheidung treffen. Es folgten stundenlanges Warten und Nicht-Wissen im Krankenhaus. Ein Babyschrei drang durch die Wände. Unterhaltungen wurden geführt. Krankenschwestern erschienen. Ein paar Wortfetzen erreichten mich.
»… junge Mutter, erstgebärend, ängstlich.«
Das stimmte alles. Diese Aussagen waren keine Erklärung für meinen Zustand. Ich spürte, dass mein Kind in Not war.
Als die Beleghebamme eintraf, kam Bewegung auf. Mehrere Hände hielten und drehten mich. Der Anästhesist schob mir eine lange Nadel in den Rücken. Ich spürte einen harten Druck und dumpfen Schmerz. Das halte ich nicht lange aus, dachte ich.
»Sie haben es gleich geschafft«, ermutigte mich die Hebamme. »Die Nadel ist schon fast am Ziel.«
Ich saß gekrümmt auf dem Bett. Plötzlich war der Schmerz nicht mehr zu ertragen. Ich heulte laut auf. Und das Gefühl verschwand aus meinen Beinen. Unter meinem Flügelhemd spürte ich weder kalte Hände noch das Ende des Reflexhammers, der über meine Haut strich. Ich war wie gelähmt und dachte an Klara Sesemann aus dem Heidi-Roman.
Die Krankenschwestern legten mir einen Wehentropf. Das Regulationsrädchen am Schlauch wurde geöffnet. Eine halbe Nacht lang war nichts geschehen, und jetzt passierte alles auf einmal. Unsere Tochter sollte so schnell wie möglich auf die Welt kommen.
»Heldin im Chaos«, sagte Sebastian.
Alles nahm seinen Lauf. Die Hebamme drückte die Sonden des Herzton-Wehenschreibers auf meinen Bauch. Ein schnelles Klopfen war zu hören. Diesen Ton werde ich nie vergessen. Ein Rasen, als ob unser Kind einen Marathon laufen würde. Weiter, immer weiter, bitte keine Pause, dachte ich. Du schaffst das. Der Klang des Lebens erfüllte unseren Raum. Dann war es still. Die Hebamme schob die Sonden hin und her. Ein leises Klopfen war wieder zu hören.
»Das ist die Bauchschlagader von Frau Latscha«, sagte Doktor Möhring.
Und dann drückte der Oberarzt den roten Notfallknopf. Sie rannten und brüllten. Niemand sprach mit mir. Sebastian ließ meine Hand los. Hilfesuchend blickte ich ihn an. Er öffnete seinen Mund. Ich konnte nichts hören. Jemand hatte die Lautstärke rausgedreht. Nur Rauschen war in meinen Ohren. Mein Bett wurde über den Flur geschoben. Sebastian musste vor dem OP warten.
»Ich will nicht sterben.« Meine Worte klatschten gegen die Wand und fielen zu Boden. Unbeachtet blieben sie dort liegen. Eine Ärztin nahm meinen Arm, stach daran herum, und alles wurde schwarz.
Jemand beugte sich über mich. Es war Doktor Möhring. Ich befand mich in einem Bett auf dem Flur des Krankenhauses. Einige Menschen liefen an mir vorbei. Das grelle Licht stach in meine Augen. Ich hob den Kopf. Mein großer Bauch war verschwunden.
»Wo ist mein Kind?«, fragte ich.
Es habe Komplikationen gegeben. Meine Tochter liege auf der Intensivstation. Und schon eilte Doktor Möhring im blauen Gewand den Gang hinunter und verschwand. Es war sieben Uhr morgens. Das war keine normale Geburt. Das war Lottes Geburt.
Sebastian ging schweren Schrittes neben meinem Bett die langen Flure entlang. Sie schoben mich auf die Wöchnerinnenstation. Mein Körper schmerzte. Ich versuchte, in den Bauch zu atmen. Mein Atem fand den Weg nicht. Einen Blick unter die Decke wagte ich nicht. Selbstverständlich war ich davon ausgegangen, beim Erwachen meine Tochter im Arm zu halten. Bilder von glückseligen Paaren, die verliebt ihr gerade geborenes Kind anstrahlten, waberten durch meinen Kopf. Graue Wolken zogen auf. Ich ahnte, dass etwas Schlimmes passiert war. Meine Gedanken waren von der Vollnarkose wirr, mein Gefühl ganz klar. Die immer wiederkehrende Frage »Wo ist mein Baby?« machte Sebastian nervös.
»Ich weiß es nicht. Hör auf, mir diese Frage zu stellen.« Sein Ton stach in mein Ohr. Er selbst hatte unsere Tochter auch nicht gesehen. Später erfuhren wir, dass Lotte mehrmals reanimiert werden musste. Hat dieses Erlebnis Lotte stark gemacht? Oder traumatisiert? Fragen, auf die es keine Antworten gibt.