Wolfgang Schäuble

Hans Peter Schütz

Wolfgang Schäuble

Zwei Leben.
Ein Porträt

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Hans Peter Schütz

Hans Peter Schütz (1939–2021) beobachtete seit Mitte der Siebzigerjahre den politischen Lebensweg Wolfgang Schäubles. Er berichtete für die Stuttgarter Nachrichten aus Bonn und arbeitete lange Jahre für den Stern, unter anderem als Leiter der politischen Redaktion in Berlin. Seit 2007 war er freier Autor und Kolumnist.

Impressum

eBook-Ausgabe 2021

Knaur eBook

© 2012 Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Gabi Braun

Coverabbildung: Dominik Butzmann/laif

ISBN 978-3-426-41418-7

Endnoten

Sascha Adamek, Die Machtmaschine

FAZ vom 22.12.1999

Ingeborg Schäuble zum Autor

Ingeborg Schäuble zum Autor

Stern Nr. 43 vom 18.10.1990, »Leute wie ich kriegen nie eine Chance.«

Stern Nr. 19 vom 2.5.1991, »Vom ›Staatsterror gefoltert‹«

Stern Nr. 45 vom 31.10.1990, »Spritzen statt Therapie«

Koch zum Autor

Koch zum Autor

Koch zum Autor

Wolfgang Schäuble, Der Vertrag, S. 284

Ulrich Reitz, Wolfgang Schäuble, 1996, S. 408

Ulrich Reitz, Wolfgang Schäuble, 1996, S. 405

Filmer/Schwan, Wolfgang Schäuble, 1992, S. 61

Der Spiegel vom 16. 12. 2011

Kauder zum Autor

Kauder zum Autor

Süddeutsche Zeitung, 18. Juni 2011, S. 2

Berliner Morgenpost, 19. Juni 2011

Fritzenkötter zum Autor

Stern, 9. Januar 1997

Helmut Kohl, Erinnerungen 1930–1982

Helmut Kohl, Mein Tagebuch 1998–2000, S. 38

Helmut Kohl, Mein Tagebuch 1998–2000, S. 40

Schulte zum Autor

Schulte zum Autor

Repnik zum Autor

Repnik zum Autor

Repnik zum Autor

Spöri zum Autor

Repnik zum Autor

Jenninger zum Autor

Schulte zum Autor

Schulte zum Autor

Jenninger zum Autor

Repnik zum Autor

Jenninger zum Autor

Jenninger zum Autor

Repnik zum Autor

Spöri zum Autor

Filmer/Schwan, Wolfgang Schäuble, Politik als Lebensaufgabe, S. 106

Wörner zum Autor

Filmer/Schwan, Wolfgang Schäuble, Politik als Lebensaufgabe, S. 106

Waigel zum Autor

Waigel zum Autor

Waigel zum Autor

Waigel zum Autor

Waigel zum Autor

Waigel zum Autor

Waigel zum Autor

Waigel zum Autor

Waigel zum Autor

Waigel zum Autor

Waigel zum Autor

Repnik zum Autor

Repnik zum Autor

Repnik zum Autor

Filmer/Schwan, Wolfgang Schäuble, Politik als Lebensaufgabe, S. 112

Teltschik zum Autor

Teltschik zum Autor

Teltschik zum Autor

Teltschik zum Autor

Teltschik zum Autor

Teltschik zum Autor

Teltschik zum Autor

Helmut Kohl, Mein Tagebuch, S. 13

Helmut Kohl, Mein Tagebuch, S. 13

Wolfgang Schäuble, Mitten im Leben, S. 27

Heiner Geißler, Zeit, das Visier zu öffnen, S. 32

Wolfgang Schäuble, Mitten im Leben, S. 32

Helmut Kohl, Mein Tagebuch, S. 25

Wolfgang Schäuble, Mitten im Leben, S. 35

Wolfgang Schäuble, Mitten im Leben, S. 43

Geißler zum Autor

Bajohr zum Autor

Bajohr zum Autor

Zeit online vom 23.12.2009, »Ein Jahrzehnt Merkel-Putsch«

Repnik zum Autor

Wolfgang Schäuble, Mitten im Leben, S. 203

Klaus Dreher, Kohl und die Konten, S. 166

Der Spiegel, Nr. 38, 2000, S. 40

Helmut Kohl, Mein Tagebuch, S. 165f.; Schäuble, Mitten im Leben, S. 234f.

Langguth, Kohl, Schröder, Merkel, S. 139

Friedbert Pflüger, Ehrenwort. Das System Kohl und der Neubeginn

Merz zum Autor

Merz zum Autor

Merz zum Autor

Merz zum Autor

Merz zum Autor

Merz zum Autor

Wulf Schönbohm, Parteifreunde, 1990

Bosbach zum Autor

Repnik zum Autor

Süddeutsche Zeitung vom 6.2.2004

Koch zum Autor

Langguth zum Autor

Strobl zum Autor

Lafontaine/Schäuble im Stern, Nr. 16, 8. April 2009

Lafontaine/Schäuble im Stern, Nr. 16, 8. April 2009

Wolfgang Schäuble, Mitten im Leben, 2000, S. 21

Lafontaine zum Autor

Stern, Nr. 31, 28. Juli 2011

Alle Zitate von Schäuble zum Autor

Ulrich Lücke, Bonner Generalanzeiger, 29.9.2010

Ingeborg Schäuble zum Autor

Thomas Schäuble zum Autor

FAZ, 29.9.2006

Die Welt, 30.10.2006

Gabriele Hermani, Die Deutsche Islam Konferenz, 2010

Die Zeit, 8. April 2009

Gabriele Hermani, Die Deutsche Islam Konferenz, S. 129

Jörg Lau, Zeit online, 25.6.2009

Gabriele Hermani, Die Deutsche Islam Konferenz, S. 130

Gabriele Hermani, Die Deutsche Islam Konferenz, S. 128

FAZ, 30.4.2009

Nakschbandi zum Autor

Frank zum Autor

Frank zum Autor

Aus der Begründung der Verleihung

Aus der Begründung der Verleihung

Strobl zum Autor

Aus der Begründung der Verleihung

Aus der Begründung der Verleihung

Schäuble-Lamers-Papier, September 1994

Rede am Tag der Einheit, Frankfurter Paulskirche, 3. Oktober 2011

Rede vor der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD), 16. Juni 2009

Leipziger Volkszeitung, 11. Januar 2012

Solms zum Autor

Rede Schäubles im Bundestag, Haushaltsdebatte, 29. April 2008

Rede vor der EBD

Lamers zum Autor

Lamers zum Autor

Solms zum Autor

Spöri zum Autor

FAZ vom 2. Januar 2012

Die Zeit, 29. 9. 2011

Kauder zum Autor

Kauder zum Autor

Repnik zum Autor

Süddeutsche Zeitung vom 26./27.9.2020

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Wolfgang Schäuble ist der absolute parlamentarische Rekordhalter der Bundesrepublik. Man kann auch sagen: Er ist das Urgestein der deutschen Politik. Denn der CDU-Mann ist der dienstälteste Abgeordnete in der deutschen Parlamentsgeschichte seit 1871. Schäuble übertrifft damit auch den SPD-Urvater August Bebel, der es insgesamt auf 44 Parlamentsjahre brachte.

Zum Ersten: Er macht Politik im Deutschen Bundestag, in dem er seit dem 19. November 1972 sitzt. Damals mit 53,2 Prozent der CDU-Stimmen im Wahlkreis Offenburg erstmals gewählt. In die Junge Union ist der am 18. September 1942 geborene Schäuble bereits 1961 eingetreten. In die CDU dann 1965. Zum Zweiten: Er war in dieser langen politischen Laufbahn nie einer, der jemals auf einer der vielen kommoden Hinterbänke der Politik herumdöste.

Nach den Anfangsjahren in den Ausschüssen für Sport und Bildung und der ersten Wiederwahl in seinem Wahlkreis mit 59,1 Prozent wurde er auf Vorschlag von Helmut Kohl 1981 zu einem der Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gewählt. Nur ein Jahr später rückte er bereits zum Ersten Geschäftsführer der Unionsfraktion auf. Nach seiner dritten Bundestagswahl (1983: 62,4 Prozent) amtierte er ab 1984 als Chef des Kanzleramts mit »echtem« Ministerrang als engster Mitarbeiter von Kanzler Helmut Kohl. Er war mit der Federführung in der Deutschlandpolitik beauftragt, die er im Oktober 1990 mit der Wiedervereinigung abschloss. Und er war es, der entscheidend dazu im Bundestag beitrug, dass Berlin anstelle von Bonn wieder Bundeshauptstadt wurde.

Auch die weitere Karriere nach Kohl unter Kanzlerin Merkel ist eindrucksvoll. Außer als Kanzleramtsminister amtierte er bis heute: als Bundesinnenminister (2005–2009), als Bundesfinanzminister (2009–2017) und profilierte sich als Erfinder der »schwarzen Null«. Zum Bundestagspräsidenten, dem protokollarisch zweithöchsten Staatsamt, wurde er am 24. September 2017 gewählt.

Wenige Tage nach seinem 75. Geburtstag, aber vor der Bundestagswahl am 24. September 2017, beschloss Schäuble, »egal wie die Wahl ausgeht«, nicht mehr in der Regierung und Minister zu sein. Auf einer nachträglichen Geburtstagsfeier mit Freunden teilte er diesen vertraulich mit, »dass ich nicht mehr der Regierung angehören werde«. Es hätte nach seinen Worten dann aber sein können, dass die Wähler seine erneute Kandidatur für den Bundestag »als Wählertäuschung empfinden«. Daher habe er hinzugefügt: »Aber Bundestagspräsident könnte ich machen.« Es ist Zeit gewesen, sagt er heute dazu. Es sei zwar eine andere Rolle, »aber ich habe das nicht bereut, es ist auch gut so«. Das Amt des Bundestagspräsidenten »passt für einen 78-Jährigen einfach«.

 

Lange Zeit schien das Kanzleramt in die politische Karriere Schäubles, der ja nach 1998 auch zwei Jahre als CDU-Chef amtierte, solide einprogrammiert zu sein. Kanzler wurde er jedoch nicht, weil Helmut Kohl und Angela Merkel es gemeinsam mit der CSU trickreich und unfair verhinderten. Seine nach langem Zögern geplante Kandidatur fürs Amt des Bundespräsidenten als Nachfolger von Johannes Rau scheiterte 2004 dann gleichermaßen an einer taktischen und politischen Intrige, die ebenfalls Angela Merkel inszenierte. Diese Tatsache wird von Schäuble bis heute nicht kommentiert.

Aber es war ein unfaires Manöver. Merkel rief ihn damals eines Tages an und wollte wissen, ob er denn nicht Bundespräsident werden wolle. Dies geschah, obwohl ihr bekannt war, dass er gar keinen persönlichen Ehrgeiz hatte, Nachfolger des damaligen Präsidenten Johannes Rau zu werden. Schäuble hatte ihr dies zuvor zwar schon mehrfach mitgeteilt. Aber er war auch der Ansicht, ein Deutscher könne eben nicht Nein sagen, wenn er offiziell gefragt werde, ob er sich für das höchste Staatsamt in die Pflicht nehmen lasse.

Dabei hatte Merkel, was sie Schäuble verschwieg, schon zuvor auch bei Horst Köhler angefragt, ob er denn als Präsidentschaftskandidat zur Verfügung stehe. Denn ihr war klar, dass der preußische Pflichtmensch Schäuble nicht halb so pflegeleicht sein würde wie ein Horst Köhler, der sich damals noch im Status eines Politikamateurs befand. Das ganze Manöver war ein politischer Handstreich, den der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker später einmal als »ein Bubenstück aus Mädchenhand«[1] bezeichnet hat.

Schäuble schluckte das Manöver, das Merkels egoistisches Handeln absicherte, weil seine Loyalität ihr gegenüber unerschütterlich war. Ebenso verlässlich, wie dies später auch in der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin der Fall war. Denn Loyalität ist die zentrale Charaktereigenschaft des Politikers Schäuble. Er hat einmal über sich selbst gesagt: »Ich werde nicht bequem sein. Ich habe meinen eigenen Kopf. Aber ich bin loyal.«

 

Diese Loyalität bezieht sich zudem nicht auf Personen, sondern auf sein Amtsverständnis. Als der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler auf dem berüchtigten CDU-Parteitag in Bremen (1989) zum Sturz von Kanzler Kohl als CDU-Chef aufrief, erklärte Schäuble ihm auf die Frage, ob er mitmache, da mit Kohl doch die nächste Wahl garantiert verloren gehen würde: »Solange ich ein Amt habe, in das mich der Bundeskanzler berufen hat, werde ich nicht gegen ihn arbeiten. Oder intrigieren.« Er trat daher im Frühsommer 1998 konsequent vor Kohl hin und erklärte, mit ihm sei die nächste Wahl nicht zu gewinnen. Als Kohl widersprach, trennte sich Schäuble endgültig von ihm.

Von diesem ausgeprägten Loyalitäts-Bewusstsein hat dann auch die Kohl-Nachfolgerin Angela Merkel mehrfach machtpolitisch profitiert. Denn Schäuble agierte auch ihr gegenüber konsequent nach seiner persönlichen politischen Lebensdevise in Sachen Loyalität. Er und Merkel hatten sich 1990 kennengelernt. Da war sie noch Stellvertretende Regierungssprecherin der DDR, er schon der wichtigste Mann in Kohls Mannschaft. Trotz der langjährigen, engen politischen Partnerschaft siezen sich die beiden bis heute. Die Frage nach dem Grund beantworten sie lieber mit einem Lächeln als mit Worten. Dahinter steckt eine Distanz, die von beiden Seiten mit Bedacht getragen und gepflegt wird.

Männerfreundschaften sind in der Politik selten von längerem Bestand. Die Beziehung zwischen Merkel und Schäuble überstand dagegen auch schwerste Krisen. Schäuble selbst kommentiert sein Scheitern ihr gegenüber mit dem sehr badischen Satz: »s’kummt, wie’s kummt.« Kritische Kommentare zu den Machtspielchen der Kanzlerin ihm gegenüber lehnt er bis heute strikt ab. Das klänge nach später Revanche, nach rachelüsterner Illoyalität. Und er sei ja auch »nicht unglücklich« darüber, sagt er, nicht Kanzler oder Bundespräsident geworden zu sein – beides letztlich von Merkel verhindert. Sie war es schließlich auch, die ihn als CDU-Vorsitzenden stürzte, indem sie 1999 in der FAZ[2] in einem öffentlichen Brief als CDU-Generalsekretärin zum Sturz Kohls aufrief, denn der habe der Partei mit einer Spendenaffäre »Schaden zugefügt«. Dies allerdings, ohne den Fraktionsvorsitzenden Schäuble vorab informiert zu haben. Er verlor dadurch sein Parteiamt. Und alle Chancen, jemals auch Kanzler zu werden.

Merkel ihrerseits hat nur ein einziges Mal ein derartiges Loyalitätsbewusstsein Schäuble gegenüber bewiesen, als er 2010 wegen der Nachwirkungen seiner Operation nach dem Attentat immer wieder wegen offener Wunden am Steiß ausfällt und nicht sitzen kann. Weil die Wunden sich laufend von Neuem entzünden, bietet Schäuble Merkel knallhart seinen Rücktritt an: »Ich habe es nicht am Kopf, sondern am Hintern.« Merkel lehnte jedoch eine Diskussion über seinen zweimal angebotenen Rücktritt ab. Sie befand: »Ihren Rücktritt nehme ich nicht an.« Schäuble, der sich »hundeelend« fühlte, solle sich eine Auszeit nehmen, bis es ihm wieder besser gehe. Und sie sagte: »Ich finde das angesichts der Lebensleistung und der Lage des Betroffenen unangemessen.«

 

Die bitterste Erfahrung in seinem Leben jenseits der Loyalitätsfrage machte Schäuble allerdings am 12. Oktober 1990, als der Attentäter Dieter Kaufmann, an paranoider Schizophrenie erkrankt, in der Brauerei-Gaststätte »Bruder« im badischen Örtchen Oppenau dreimal von hinten aus zehn Zentimetern Entfernung auf ihn schießt. Zwei Kugeln treffen Schäuble. Eine in den Rücken, die zweite zwischen Kinnwinkel und Ohrläppchen am Kopf. Die dritte verletzt einen seiner Leibwächter am Bauch. Schäuble war sich zwar noch in der Klinik darüber klar: »Dem Rollstuhl kann man nicht entkommen.« Die endgültige Entscheidung dafür, an seinem bisherigen politischen Leben festzuhalten, fiel damals aber bereits ein Jahr nach dem Attentat, in einem Gespräch zwischen Ingeborg Schäuble und ihrem Mann, das sie heute noch das schwerste ihres Lebens nennt. Da wagte die Frau, die ursprünglich ohne Politik hatte leben wollen und sich in ihrer Jugend einen Professor oder Richter als Lebenspartner gewünscht hatte, die Frage, ob Schäuble sich denn ebenfalls ein Leben ohne Politik vorstellen könne. Diese Frage getraute sie sich ein Jahr nach dem Attentat nur, weil sie im Gegensatz zu ihrem Mann den Satz nicht vergessen hatte, den er ihr in den ersten Stunden nach seiner Einlieferung in die Klinik, bewegungsunfähig und den Rollstuhl bereits vor Augen, zugeflüstert hatte: »Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?«[3]

 

Wolfgang Schäubles Antwort war absolut unmissverständlich: »Willst du wirklich, nachdem ich diese dramatische Veränderung in meinem Leben verkraften muss und die du auch aushalten musst, denn du musst mich ja ertragen, dass ich eine zweite dramatische Veränderung aushalten muss, nämlich ein Leben ohne Politik? Und willst du, dass ich in ein sehr zurückgezogenes Leben umsteige, mit der Gefahr, dass die Unzufriedenheit wächst? Wäre das gut für dich und deine Familie?« Die Botschaft an Ingeborg Schäuble war klar: Wenn Wolfgang Schäuble wegen der zu diesem Zeitpunkt bereits feststehenden Querschnittslähmung fortan der Politik entsagen müsste, dann würde seinem zweiten Leben nach dem Attentat der Lebenskern fehlen. »Ich konnte nicht verlangen«, sagt sie im Rückblick auf dieses Gespräch, »dass er sein Leben aufgibt. Der Politik war er schließlich schon in den Tagen verbunden, als er noch ein Bub war.«[4] Bereits mit 19 Jahren sei er ja in die Junge Union eingetreten. Bis heute steht Ingeborg Schäuble unbeirrt zu der Entscheidung jener Tage, zumal die weitere rasante politische Karriere ihres Ehemanns und seine große Befriedigung, die er dabei erkennbar auch im Rollstuhl erlebt, sie vor der stets drohenden Gefahr bewahrte, »dass man in eine von Mitleid überlagerte Beziehung rutscht.«

Wolfgang Schäuble hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst auf ein Leben unter dem Stress der Politik festgelegt. Und Ingeborg Schäuble blickte schon damals weit voraus. Zu lange war sie durch die Veränderungen, die durch das Attentat auch in ihrem eigenen Leben entstanden waren, selbst blockiert. Und sie fügt im Rückblick auf die einmalige politische Karriere ihres querschnittsgelähmten Mannes im Rollstuhl selbstbewusst hinzu: »Jedes Leben ist lebenswert. Für uns alle ist es ganz wichtig, dass er da ist.« Dann setzt sie noch einen Satz hinzu, dem Wolfgang Schäuble ganz gewiss niemals widersprechen wird: »Aber ich denke, auch für ihn ist das ganz schön.« So schön, dass er auch jetzt immer noch nicht an politischen Ruhestand denkt, sondern doch noch weitermacht, voraussichtlich im Amt des Bundestagspräsidenten, und damit weit länger im Bundestag sitzt als bisher jeder andere deutsche Politiker.

 

Und Ingeborg Schäuble ist sich in ihrer Prognose für die neue Amtszeit Wolfgang Schäubles ganz sicher: »Der ändert sich auf seine alten Tage nicht mehr.« Denn auch Schäuble sieht in der Verlängerung seines Amts eine Chance, seinem Lebensmotto treu zu bleiben: »Politik heißt vorangehen. Wenn die Welt sich ändert, müssen Politiker eine Antwort darauf finden.«

Einleitung

»Ich konnte nicht verlangen, dass er sein Leben aufgibt«

Es war das schwerste Gespräch, das Wolfgang Schäuble und seine Frau Ingeborg je geführt haben. Er hatte nach jenem 12. Oktober 1990, dem Tag des Attentats, das ihn für die zweite Hälfte seines Lebens in den Rollstuhl gezwungen hat, mit unglaublicher Energie die dramatische Veränderung akzeptiert. Noch in der Universitätsklinik, in den Tagen, da er wegen seiner Verletzungen im Mundraum nicht richtig sprechen konnte, musste ihm – auf seine schriftliche Bitte hin – seine Frau die Berichte der Tageszeitungen aus den ostdeutschen Bundesländern vorlesen. Irgendeinen Wunderglauben, er könne jemals wieder aus der Gefangenschaft seiner Querschnittslähmung befreit werden, ließ er nie an sich heran. Ehe die Operationswunden auch nur halbwegs verheilt waren, stürzte er sich zurück ins politische Leben. Nur kein Mitleid zulassen, Selbstmitleid schon gleich gar nicht.

Ingeborg Schäuble tat sich mit dem gemeinsamen Schicksal viel, viel schwerer. In ihr Gedächtnis hatte sich der Satz tief eingebrannt, den ihr Mann irgendwann in den ersten Stunden nach der Einlieferung in die Klinik geflüstert hatte und an den er sich später nicht erinnerte, wohl auch nicht mehr erinnern wollte: »Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?« In jener Zeit konnte auch er sich ein Leben im Rollstuhl und in der Politik mit der Behinderung einer Querschnittslähmung nicht vorstellen.

Noch jahrelang hat Ingeborg Schäuble die Hoffnung nicht aufgegeben, die Mühsal des Rollstuhls lasse sich vielleicht doch noch eines Tages lindern. Sie musste mit ansehen, wie ihr Mann sich in der Bonner Politik ohne jede Rücksicht auf sich selbst wieder einspannen ließ. Sie kannte die Probleme genauer als seine politischen Weggefährten. »Ich habe gesehen, wie es ihm wirklich ging und welche Probleme da waren.« Und nächtelang saß sie zu Hause und schrieb Briefe an Menschen, die ihr immer wieder mitteilten: Mir ist auch so was passiert, und ich bin heute nicht mehr gelähmt.

Ingeborg Schäuble studierte die medizinische Fachpresse in der Hoffnung, dass sich irgendwo in der Wissenschaft neue Wege der Rehabilitation öffneten. Sie suchte – gegen den Widerstand ihres Mannes – Kontakte mit allen möglichen Experten. Doch das Einzige, bei dem er mitzog, waren Besuche bei einem Akupunkteur. Sie räumt heute offen ein: »Für mich innerlich uneingeschränkt ja zu sagen zu dieser Behinderung, das habe ich erst nach etwa fünf Jahren geschafft.« Da gab sie die Hoffnung auf, es ließe sich eine Verbesserung seines Zustandes erreichen, wenn er sich mehr Zeit für sich und seinen Körper nähme.

 

Dem Leben, von dem die Studentin Ingeborg Hensle geträumt hatte, ehe sie ihren Wolfgang im Studium kennenlernte, einem Leben mit einem Mann, der die Chance gehabt hätte, sehr viel zu Hause zu arbeiten, ist sie nie nahe gekommen. Doch nun blickt sie gelassen auf das beschwerliche Leben an der Seite eines Mannes im Rollstuhl zurück: »Jedes Leben ist lebenswert. Für uns alle ist es ganz wichtig, dass er da ist. Aber ich denke, auch für ihn ist das ganz schön.« Der Satz von einst, den Ingeborg Schäuble oft zu ihm gesagt hat, »Mensch, komm, mach mal was anderes«, kommt ihr heute nicht mehr in den Sinn.

Journalisten, die Wolfgang Schäuble dieser Tage befragen, wie es denn politisch mit ihm weitergehen soll und ob er noch nach anderen Stationen Ausschau halte, müssen mit Antworten rechnen, wie sie so barsch nur einem Schäuble mit der badischen »Schwertgosch« einfallen können. Dem Magazin Cicero und dessen Autor Hartmut Palmer antwortete er im März 2012: »Wenn Sie keine gescheiteren Fragen haben, ist das fast Ihre letzte.« Und mit jenem Schäuble-Lächeln, das viele für zynisch halten, fügte er dann noch hinzu: »Die letzte Station ist der Friedhof.«

1. Kapitel

Zwischen zwei Leben:
Das Attentat

Freitag, 12. Oktober 1990, 22.04 Uhr in der Gaststätte »Brauerei Bruder« im badischen Oppenau bei Offenburg.

»Passt es neun Uhr früh? Geh’n wir doch erst mal raus hier«, sagt Wolfgang Schäuble zu mir, »dann können wir in Ruhe besprechen, was wir morgen machen.«

20 Sekunden später liegt er auf dem verschlissenen, schmutzigen Teppichboden des Gasthauses. Niedergestreckt durch zwei Revolverschüsse des 36-jährigen Dieter Kaufmann. Blut läuft aus Schäubles Mund und Nase. Eine Frau schreit: »Mein Gott, er darf nicht sterben! Er darf nicht sterben! Er muss durchkommen!«

»Ich kann meine Beine nicht mehr spüren«, flüstert Schäuble noch, ehe er das Bewusstsein verliert.

Ein bisschen joggen wollten wir am kommenden Samstagmorgen, dann vielleicht Tennis miteinander spielen und schließlich über Bonner Politik sprechen, zumal über die Rolle, die für Wolfgang Schäuble im nächsten Jahrzehnt darin vorgesehen ist.

Ein Porträt im Stern war geplant – Arbeitstitel: »Kohls Kronprinz«. Als ich ihm unsere Absicht vortrage, lacht er: »So ein Quatsch!« Aber ausgesehen hat Schäuble dabei so selbstbewusst, als sei da schon was dran. Schließlich hatten ihn soeben die Delegierten des ersten gesamtdeutschen CDU-Parteitags in Hamburg mit einer Ovation gefeiert und ihn dann mit dem weitaus besten Ergebnis aller Bewerber in den Parteivorstand gewählt. Die CDU hat einen neuen Liebling. Und im Kanzleramt sagt einer, der weiß, was Helmut Kohl denkt: »Er ist der tüchtigste, der begabteste, energischste und intelligenteste Mitarbeiter des Kanzlers.«

Mein Kollege Cornelius Meffert sollte ihn fotografieren. Zusammen mit Ehefrau Ingeborg und den vier Kindern Christine, 19, Hans-Jörg, 16, Juliane, 14, und Nesthäkchen Anna, 9, im Haus der Familie am Hang hoch über dem Schwarzwaldstädtchen Gengenbach. Beim Sport, den er liebt und der viel zu kurz kam, seit die Probleme der deutschen Einheit den Bundesinnenminister 18 Stunden täglich auf Touren halten. Auch der Hund sollte ins Bild, den er auf seine in letzter Zeit seltenen ausgedehnten Wochenendwanderungen durch die Wälder seiner Heimat gerne mitnimmt.

Anderthalb Stunden redet der Wahlkämpfer Schäuble am Freitagabend in der »Brauerei Bruder«. Ein Heimspiel. Die Oppenauer mögen den Wahlkreisabgeordneten, der ihre Interessen seit 18 Jahren in Bonn vertritt. Und mächtig stolz sind sie darauf, dass der »Wolf«, wie viele ihn nennen, jetzt Minister und Helmut Kohls wichtigster Mann ist.

Der Bundesinnenminister ist müde. Tagsüber war er in Berlin von Termin zu Termin gehetzt, und auf dem Weg zum Flugplatz ist er mal wieder im Stau hängengeblieben. Die Wahlplakate im Gaststättensaal zeigen ein jüngeres Gesicht, als Cornelius Meffert es zu sehen bekommt, wenn er den Redner mit dem Teleobjektiv der Kamera zu sich heranholt. Noch sieht man Schäuble seine 48 Jahre zwar nicht an, aber über den Augen kerben sich erste Linien ein, und das straff gescheitelte Haar beginnt grau zu werden. Er hält seine Standardrede, mit sehr viel weniger Polemik, als er bieten könnte. Denn er hat, wie hier die Leute respektvoll sagen, eine »Saugosch«, wenn er nur will. Den Kanzlerkandidaten der SPD, Oskar Lafontaine, allerdings nimmt er hart ran. Ihn hat Schäuble wenige Tage zuvor, in der Nacht der deutschen Einheit, vor dem Berliner Reichstag genau beobachtet. »Wenn einer Kanzler werden will, der beim Deutschlandlied die Lippen nicht einen Millimeter auseinanderbringt, dann ist er vielleicht doch nicht der richtige Kandidat für diese Zeit.«

Das Publikum, etwa 250 Menschen, ist begeistert. Der CDU-Ortsvorsitzende Gerd Hoferer dankt dem Redner mit einer Flasche Kirschwasser: »Möge das Wahlergebnis im Dezember so viele Prozent haben wie dieser Schnaps – nämlich 50

Bundesweit, kontert Schäuble, wäre ihm ein solches CDU-Ergebnis bei den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen am 2. Dezember 1990 schon recht, im Wahlkreis allerdings zu mickrig. Er hat in Oppenau beim letzten Mal 67 Prozent der Erststimmen geholt.

Für Bärbel Doll, eine Bürgerin aus Oppenau, die in der Saalmitte sitzt, ist die Lafontaine-Kritik ein Stichwort. So ein Attentat, wie eine verrückte Frau es am 25. April 1990 gegen den SPD-Politiker verübt habe, sagt sie über den Tisch hinweg zu ihrer Freundin, wäre in ihrer Stadt unmöglich. »Das kann hier nicht passieren.«

Weiter hinten im Saal, am zweitletzten Tisch, sitzt ein mittelgroßer, dunkelhaariger Mann mit einer schwarzen Lederjacke. Den ganzen Abend hat er Schäuble ruhig zugehört. Martin Springmann, dem Ortsvorsteher der Schwarzwaldgemeinde Ibach, fällt an dem Fremden vor ihm nur eines auf: »Geklatscht hat er nicht, nur ab und zu in den CDU-Prospekten geblättert, die er vor sich liegen hatte.«

Der Minister spricht am Schluss der Veranstaltung im Stehen noch ein paar Worte mit Parteifreunden und gibt Autogramme. Dann gehen wir zum Ausgang. Die Menschen bilden auf dem Weg zum hinteren Teil des Saals ein Spalier und klatschen freundlich. Zwei Schritte vor der Tür wartet rechts der Mann in der Lederjacke. Als Schäuble und sein dicht folgender hünenhafter Bodyguard Klaus-Dieter Michalsky ihn fast passiert haben, macht er eine schnelle Bewegung, schiebt den rechten Arm von oben zwischen Michalsky und Schäuble. Es knallt zweimal kurz hintereinander, hell und schmerzhaft laut, dann ein drittes Mal. Menschen fallen übereinander, reißen Bilder von der Wand, Glas scheppert. Ein dummer Scherz mit Knallkörpern, denken die Leute im Saal zunächst. Oder hat jemand die CDU-Luftballons im Eingang platzen lassen? Nur wenige erkennen die Situation. Sie verkriechen sich unter den Biertischen.

Olga Biess hat direkt am Ausgang auf Schäuble gewartet. Die Deutschrumänin, erst vor sechs Monaten nach Oppenau übergesiedelt, wollte ein Autogramm. Als sie sieht, was wirklich geschehen ist, ruft sie schrill: »Nein, nein, nein!«

Zwei Schritte weiter steht Christine Schäuble, die mit dem Vater nach der Veranstaltung nach Hause, hinüber in das nahe Gengenbach, fahren will. Jetzt begreift auch sie, dass es ihr Vater ist, der da auf dem Rücken in der Tür liegt. Sie schreit auf und will zu ihm. Sie hält den Vater für tot. Zwei Freunde aus dem »Team Schäuble«, einer Gruppe junger Leute, die für ihn Wahlkampf machen, halten sie zunächst zurück. Sie läuft dann doch nach draußen, wo zwei Polizisten stehen, die gar nicht mitbekommen haben, dass im Saal geschossen worden ist. Christine ruft ihre Mutter an, sie möge doch sofort nach Oppenau kommen.

Es ist vier Minuten nach 22 Uhr. Aus einer Einschusswunde zwischen rechtem Ohrläppchen und Kinnwinkel sickert Blut über den Hemdkragen des Schwerverletzten. Böse sieht die Verletzung aus, tief, breit und blaurot. Hoferer und zwei Helfer wollen irgendetwas tun, aber sie wissen nicht, was. Dass es auf Leben und Tod steht, das sehen sie. Vorsichtig drehen sie schließlich Schäuble in Seitenlage, denn sein Mund ist voller Blut. Auf dem Rücken wird dabei eine zweite Einschusswunde sichtbar, umgeben von einer runden, grauen Schmauchspur.

»Holt doch endlich einen Arzt«, ruft einer. Verzweifelt versucht jemand mit einem Papiertaschentuch das Blut in Schäubles Gesicht abzutupfen. Es ist duster am Saalausgang. Eine Taschenlampe wird geholt. In ihrem Schein öffnet der Verletzte kurz die Augen. »Ich habe kein Gefühl mehr in den Beinen«, flüstert er. Nach zehn Minuten, einer Ewigkeit, kommt dann endlich der Oppenauer Bereitschaftsarzt Wolfgang Keller und spritzt ein Kreislaufmittel. »Schnell, schnell«, ruft er, »die sollen endlich eine Trage bringen.«

Drei Meter weiter rechts, im Durchgang zum Biertresen, liegen zur gleichen Zeit drei Männer auf dem Attentäter und pressen ihn platt auf die Erde. Im Liegen durchsuchen sie seine Taschen. Außer dem Revolver trägt er keine Waffen bei sich. Ein kleiner weißer Kamm. Eine verbeulte Blechschachtel für Zigarillos. Marke »Dannemann«. »Aua, aua«, jammert der Mann. »Halts Maul, du Sau«, schimpfen die Umstehenden. »Verdammt, hat hier denn keiner Handschellen.«

Klaus-Dieter Michalsky steht daneben. »Dass uns das passieren muss, oh, was für eine Scheiße«, stöhnt er und presst den Unterarm auf seinen Bauch. Sein Jackett ist dort dunkel gefärbt. »Ich habe einen Streifschuss«, sagt er leise mit kreidebleichem Gesicht. Er hat sich in den dritten Schuss geworfen und muss sich nun anhören, wie einer draußen im Saal laut kommentiert: »Die haben geschlafen, die Leibwächter!« Am Tag danach verteidigt sich die Polizei mit der Erklärung, es seien an diesem Abend die bei einem Politiker der höchsten Gefährdungsklasse wie einem Innenminister »üblichen« Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. Allerdings: Leibesvisitationen der Zuhörer gehörten nicht dazu.

Es dauert und dauert, bis der Attentäter endlich abgeführt wird. Die Lederjacke hat man ihm heruntergerissen, ebenso die Hose. »Totschlagen sollte man dich!«, rufen ihm die Menschen hinterher, als zwei Polizisten den Mann im Laufschritt wegbringen.

Schäuble liegt immer noch in seinem Blut. Der Rettungswagen habe schon Oberkirch passiert, meldet jemand. Tröstlich ist das nicht. Noch zehn kurvenreiche Kilometer das Renchtal hinauf sind es von dort, weitere gut zehn Minuten. Genau eine halbe Stunde nachdem ihn die Kugeln getroffen haben, trägt man den Verletzten endlich in den Rettungswagen hinaus.

Stumm bleiben die Menschen zurück. Das war kein Attentat, wie sie es aus dem Fernsehen kennen, zuletzt zu sehen beim Anschlag auf Oskar Lafontaine. Das hier war live. Geknallt hat es, und Wolfgang Schäuble ist umgefallen. Die Blutlache ist immer noch da. Einer kann es nicht mehr sehen und deckt eine grüne Tischdecke drüber. Es gibt nichts mehr zu tun. »Nur zwei Leibwächter«, klagt einer an. »Warum haben sie ihn nicht besser geschützt?« Bürgermeister Thomas Grieser atmet schwer und sagt: »Ausgerechnet bei uns. Ausgerechnet hier, wo er doch zu Hause ist.«

 

Wo waren die bei einer Veranstaltung mit einem so stark gefährdeten Politiker wie dem Bundesinnenminister »üblichen Sicherheitsvorkehrungen«? Im Saal selbst saß während Schäubles Rede nur ein einziger Polizist, Armin Schneider aus Oppenau, und der war privat gekommen. Zwei Ortspolizisten waren kurz nach dem Attentat nur deshalb vor Ort, weil sie auf Streifenfahrt zufällig an der »Brauerei Bruder« vorbeigefahren waren. Ehe die Spurensicherung ans Werk geht, vergehen zwei Stunden, obwohl bis dahin die Frage noch offen war, ob der Attentäter einen Helfershelfer hatte.

Die Wahrheit ist, dass überhaupt keine Vorkehrungen getroffen worden waren, weil die Polizei einfach nicht damit gerechnet hatte, es könnte – ausgerechnet – in Oppenau Schäuble etwas passieren.

Er selbst vermutlich auch nicht, denn rund um Gengenbach fühlte er sich sicher, selbst dann, wenn er mal – wie so oft – ohne Personenschutz unterwegs war. Am vorletzten Wochenende war Schäuble erst abends und viel später als angekündigt auf dem Löcherhansenhof eingetroffen, der hoch oben im Schwarzwälder Peterstal liegt. Er hatte sich im Wald verlaufen. »Hend Se denn koi Angst so ganz alloi?«, hat ihn der Bauer gefragt. »Man muss halt damit leben«, antwortete ihm Schäuble und bedankte sich freundlich für die Fürsorge.

Wir hatten in der Woche zuvor auf einer langen Autofahrt zu Wahlkampfterminen in der Nähe von Leipzig über die Schwierigkeit gesprochen, im politischen Spitzenamt einen kleinen privaten Winkel für sich und die Familie zu retten. Schwer sei das schon, und er sehe auch ein, dass er nicht mehr wie früher am Samstagmorgen über den Gengenbacher Wochenmarkt schlendern könne. »Aber man muss den Menschen doch zeigen, dass ein Minister ein ganz normaler Mensch ist«, hatte er gesagt und sich bereits auf die drei Wochen Urlaub über Weihnachten gefreut.

Schäuble fährt seit Jahren nach Österreich, an den Arlberg. Den Sommerurlaub hat er fürs Ringen um den gesamtdeutschen Vertrag opfern müssen: »Eigentlich waren wir drei Wochen auf Sylt, doch davon habe ich zwei in Bonn und eine in Berlin zugebracht.« Jetzt fühlt er sich ausgelaugt, wofür er sich nicht leiden kann, »man ist dann so schnell gereizt«.

Auf dem Rückflug von Leipzig nach Bonn kommen wir vom Hölzchen aufs Stöckchen, reden über dieses und jenes. Über den Fußball, dem der Bayern-München-Fan Schäuble jahrelang leidenschaftlich nachjagte, in der Bundestagself am liebsten als Rechtsaußen. Da konnte er sich den Ball weit vorlegen und dem Verteidiger zurufen: »Na, was ist, kommst du mit?« Flink und fit – damit hat er auch politisch Erfolg gehabt. Erst als Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion (1981), dann als Kanzleramtsminister (1984) und jetzt als Innenminister (seit April 1989). In Kohls Team spielt er längst den Libero, ohne den das Spiel nicht läuft. Ein Mann für alle Fälle.

Ein Mann auch für den Fraktionsvorsitz nach der Bundestagswahl 1990, anstelle von Alfred Dregger? »Da bin ich«, antwortet Wolfgang Schäuble, »ganz entspannt. Das warten wir mal ab.« Innenminister sei er gern, einerseits. Die Fraktionsarbeit als Parlamentarischer Geschäftsführer, andererseits, hat ihm auch immer Spaß gemacht.

Wir sprechen über das Terrorismusproblem und den vorangegangenen Autobombenanschlag auf seinen Staatssekretär Hans Neusel. Die Tat hat ihn daran erinnert, dass Gefährdete sich nie zu sicher fühlen dürfen. Da die Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) jedoch jeden persönlichen Einsatz scheuten, halte er das Risiko in seinem Fall für beherrschbar. Dann zuckt er mit den Schultern und fügt hinzu: »Gegen einen Verrückten kannst du sowieso nichts machen.«

Drei Tage später ist das zu einer schrecklichen Gewissheit geworden. Als Fotograf Meffert nach dem Attentat in der Redaktion die Fotos sah, die er gemacht hatte, war er den Tränen nahe: »Ich kann es noch gar nicht fassen. Dass so was passiert, und ausgerechnet ich muss dabei sein.«

2. Kapitel

Paranoide Schizophrenie:
Der Täter

Auf seine Tat bereitet sich Dieter Kaufmann sorgfältig vor. Er duscht ausgiebig, rasiert sich und kleidet sich bedachtsam an. Jacke und Krawatte müssen heute sein, sieht seriöser aus. Er zieht sein bestes Hemd und eine schwarze Stoffhose an. Einen Klacks von Vaters Aftershave klatscht er sich an den Hals. Seine Mutter beobachtet ihn genau und verbindet Hoffnungen mit der sorgfältigen Vorbereitung. »Er war schon lange nicht mehr ausgegangen und hatte sich so feingemacht. Ich dachte, jetzt hat mein Junge endlich mal ein Rendezvous.«

Keine Spur. Ihr Dieter will aussehen wie ein braver, an der CDU interessierter Bürger an diesem Abend des 12. Oktobers.

Dann geht er zum Schrank seines Vaters, nimmt dessen »Chief Special«, eine Smith-&-Wesson-Pistole, heraus, samt der Fangschussmunition, mit der sein Vater Günter Kaufmann, ein leidenschaftlicher Jäger, normalerweise angefahrenes oder angeschossenes Wild zu erlösen pflegt. Dann fährt er mit dem Fahrrad die drei Kilometer zum Bahnhof des Städtchens Appenweier, steigt um 19.26 Uhr in den Bus, der ihn in 20 Minuten nach Oppenau bringt. Er betritt, ohne kontrolliert worden zu sein, den Festsaal der »Brauerei Bruder«, setzt sich in die Mitte der hinteren Stuhlreihen und hört Wolfgang Schäuble zu, der leicht verspätet eingetroffen ist und sofort seinen Vortrag beginnt. Um 22.04 Uhr, als Schäuble den Saal verlassen will, fallen die drei Schüsse, von denen ihn zwei treffen.

Später erzählt Kaufmann, Schäuble sei ihm während seiner Rede im Prinzip »ganz in Ordnung vorgekommen«. Doch dann habe ihm eine innere Stimme zugeflüstert, wenn dieser Schäuble »doch nur so was nicht machen würde«. Mit »so was« meint Dieter Kaufmann Anschläge »auf mein Innenleben«.

Ein paar Tage zuvor hatte er zufällig das Plakat gesehen, auf dem zu der Veranstaltung mit Wolfgang Schäuble in der Brauereigaststätte eingeladen wurde. Dabei, so berichtet er später, sei ihm blitzartig klar geworden: »Jetzt ist der Mann fällig.« Warum er ausgerechnet auf Schäuble geschossen hat, erklärt er 16 Jahre später so: »Weil er als Innenminister für diesen Staat verantwortlich war, von dem ich mich terrorisiert fühlte. Ich hörte Stimmen in mir, die sich über Parteien stritten oder mir sagten, dass in Deutschland der Faschismus probiert würde.«

Mit den Schüssen auf Schäuble wollte sich Kaufmann, damals kurz vor seinem 37. Geburtstag, rächen an dem Staat, von dem er sich misshandelt fühlte. In seinen Vernehmungen nach dem Attentat beklagte er sich auch über »Psychoterror des Staates« gegen ihn, der von »Stimmen aus dem Staatsterrorfunk« gegen ihn ausgeübt werde. Berichtete von »elektrolytisch erheblichen Schmerzen«, die man ihm im »Zwölffingerdarm und im Kopf« zugefügt habe. Zudem habe dieser Staat »immer wieder versucht, mich sexuell zu erregen«.[5]

Für die Gutachter, die Kaufmann vor Beginn des Verfahrens gegen ihn vor dem Landgericht Offenburg untersuchen, ist der Befund schnell klar: Der Attentäter leidet an paranoider Schizophrenie, an Verfolgungswahn und massiven Störungen im Denken und Fühlen – alles die Folge jahrelangen Drogenkonsums.[6] Irgendwann in jenen Tagen fasst er den Entschluss, entweder den Bundeskanzler Helmut Kohl oder aber den Innenminister Schäuble zu töten, die für ihn die Hauptverantwortlichen für »Drogenpolitik« und »Haftfolter« sind.

Der Attentäter freut sich nach seiner Verhaftung förmlich auf sein Verfahren, denn er hofft, »dass durch die Gerichtsverhandlung Einzelheiten des Psychoterrors gegen mich einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden«. Sein Wunsch erfüllt sich nicht. Denn die Gutachter waren sich einig: Der Mann ist schuldunfähig. Sie beantragen seine Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus.

 

Hassgefühle hat Schäuble später nie gegen Kaufmann gehabt. Es habe nie eine Täter-Opfer-Beziehung zwischen ihnen gegeben. »Für mich ist das ein Unglücksfall«, sagte Schäuble im April 1991 über Kaufmann. »Er soll ja krank sein. Mir ist etwas passiert, was jedem bei einem Verkehrsunfall auch passieren kann. Gefühle wie Rache habe ich überhaupt nicht.« Er denke mit großer Distanz an den Attentäter. »Ich gebe allerdings auch zu: Allzu viel Mitleid habe ich mit dem Mann nicht.« Was geschehen sei, »das ist mein Schicksal, das mich getroffen hat, mit dem ich leben muss«. Schäubles Konsequenz: »Die ständige Langzeitlebensplanung schenke ich mir auch, denn diese Rechnungen gehen manchmal doch nicht auf.« Wie bei ihm selbst, dem Mann, der in den Gedanken seiner politischen Lebensplanung so gerne Bundeskanzler geworden wäre.

Mitte der neunziger Jahre hat Dieter Kaufmann Schäuble einen Brief geschrieben, in dem er um Verzeihung bat. Schäuble hat nicht geantwortet, obwohl Kaufmann gehofft hatte, »dass er mir vergibt. Es würde mir viel bedeuten. Für mich ist das heute selbst ein Rätsel, wie sich der Kopf eines Menschen selbständig machen kann. Ich war krank. Ich wollte das doch nicht.«

Das war eine Tonlage, von der Kaufmann unmittelbar nach dem Attentat unendlich weit entfernt war. Von Reue zu jener Stunde kein Wort. Stattdessen sagte er: »Der Mann kann von Glück sagen, dass ich ihn nicht richtig erwischt habe, denn wenn ich einmal marschiere, dann hält mich nichts mehr auf.« Nur dass er auch Schäubles Leibwächter Klaus-Dieter Michalsky mit einem Streifschuss am Bauch verletzt hatte, bedauerte er wortreich. Auf einen Unschuldigen habe er nicht schießen wollen.

Kaufmann hat später, nach seiner Entlassung aus der Haft im Jahr 2004, beim Arbeiter-Samariter-Bund gearbeitet und Menschen gepflegt. Er wisse, was das bedeutet. Und mit Blick auf Schäuble sagte er: »Ich leide genauso unter meiner Tat wie er. Auch mein Leben ist zerstört.«

 

Ausgeprägtes Selbstmitleid prägte den Charakter des am 20. Oktober 1953 geborenen Dieter Kaufmann. Er kam als Sohn und ältestes Kind des Bau- und Vermessungstechnikers Günter Kaufmann und dessen Ehefrau Emilie in Appenweier auf die Welt, einem Kleinstädtchen nahe Offenburg. Der Vater, ein SPD-Mann, der zuweilen sehr autoritär aufgetreten sein soll, schaffte es 1969, Bürgermeister von Appenweier zu werden. Dieter Kaufmann wächst zusammen mit zwei Schwestern auf, liebevoll betreut von seiner Mutter, einer strenggläubigen Protestantin.

Die Eltern berichteten später, mit dem Sohn habe es allerdings schon früh Probleme gegeben. Ein Einzelgänger sei er gewesen, verschlossen und schwierig, sagt der Vater. Nach der mittleren Reife kommt es zu den ersten schweren Konflikten zwischen Vater und Sohn. Der weigert sich, einen technischen Beruf zu erlernen, wie es der Vater gerne sehen würde. Er lässt sich die Haare lang wachsen, was den Vater, soeben zum Bürgermeister gewählt, zu wütenden Kommentaren verführt und den Sohn zu ebenso zornigen Antworten gegen dessen Gängelei. Der Vater besorgt ihm eine Praktikumsstelle in einem Heim für schwererziehbare Jugendliche.

Ausgerechnet, denn dort begegnet Dieter Kaufmann einer Welt, von der er sich nur zu gerne verführen lässt. Hier beginnt er, Hasch zu rauchen, und bald nimmt er auch härtere Drogen. Nach einem Beschaffungseinbruch in einer Apotheke wird er zu einem Jahr Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt und kommt danach ins Elternhaus zurück. Doch es ändert sich nichts. Der Sohn liegt meist untätig in seinem Zimmer, raucht weiter Haschisch und blickt apathisch auf ein großes Poster von Che Guevara über seinem Bett. Eines Tages ist er verschwunden. Die Eltern haben keine Ahnung, wohin, bis sie einige Wochen später aus der afghanischen Stadt Kabul, auch damals schon ein Drogenparadies, den Hilferuf des Sohnes empfangen: »Helft mir«, schreibt er ihnen, »ich brauche Geld, sonst komme ich hier nicht mehr raus.«

Zurück bei den Eltern, geht Dieter Kaufmann auf Entzug. Die Eltern sehen ihn auf gutem Weg zurück in ein bürgerliches Leben. Doch an seinen Versagensängsten gegenüber der Familie hat sich nichts geändert. Er betäubt sie, indem er wieder zum Hasch greift und sich mit Alkohol zuschüttet. In Karlsruhe, wo er sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, verliebt er sich zum ersten Mal. Aber das Mädchen weist ihn ab. Er betrinkt sich und versucht dann, sich in seinem Auto mit Abgasen das Leben zu nehmen. Kaufmann wird gerettet und kommt in die geschlossene Abteilung des Psychiatrischen Landeskrankenhauses in Wiesloch. Seelisch behandelt wird er dort nicht, klagt später der Vater. »Die haben ihn nur mit Psychopharmaka vollgepumpt und ruhiggestellt.«

Zwei Monate später beginnt der endgültige Abstieg des Dieter Kaufmann. Mit seinem Freund Rainer und der Unterstützung des Vaters eröffnet er in der Nähe von Bruchsal eine Bierbar namens »Raidie« – was für Rainer und Dieter steht. Doch die beiden geben das Geld schneller aus, als sie es einnehmen. Dieter legt sich einen teuren Mercedes zu, mit dem er seinem Vater den erfolgreichen Aufstieg zum soliden Geschäftsmann beweisen will. Doch tatsächlich ist er wieder ins Drogengeschäft zurückgekehrt. Er leiht sich 20000 Mark, reist nach Marokko und kauft 20 Kilogramm Haschisch. Im Spätsommer 1982 wird er auf der Rückreise in der spanischen Exklave Melilla, die an der nordafrikanischen Küste liegt, verhaftet. Der Vater kauft ihn aus der Haft frei, indem er dem Gefängnisdirektor 35000 Mark bezahlt. Aber sein Sohn wird erneut verhaftet, als er bei Kehl über die Grenze nach Deutschland zurückkehren will.

Es folgen fünfeinhalb Jahre Gefängnis wegen Rauschgifthandels, zu denen Dieter Kaufmann im Frühjahr 1983 verurteilt wird. Das bringt ihn endgültig um sein seelisches Gleichgewicht. »Andere werden wegen Totschlags zu dieser Strafe verurteilt«, klagt er wütend, »ich musste wegen ein paar Pfund von dieser Baby-Droge dran glauben.« Seine ohnmächtige Wut auf alles, was ihn an staatliche Instanzen erinnert, wächst dramatisch. Eine Schreinerlehre im Mannheimer Gefängnis bricht er ab, prügelt sich mit Mitgefangenen und kommt in Einzelhaft. Zweimal wird er von dort in die Psychiatrie des Vollzugskrankenhauses Hohenasperg nahe Ludwigsburg verlegt, wo er die letzten Monate seiner Haft verbringen muss, ehe er im August 1986 auf Bewährung vorzeitig entlassen wird.

Die Kaufmanns klagen die Verantwortlichen der Psychiatrie Hohenasperg nach der Rückkehr des Sohnes massiv an: »Unser Sohn hätte therapeutische Hilfe gebraucht, stattdessen wurde er dort ruhig gespritzt und innerlich total kaputtgemacht.«[7] Der Vorwurf scheint nicht unberechtigt gewesen zu sein. Denn auch die Grünen im Stuttgarter Landtag beklagten Mitte der Achtzigerjahre, dass in der Psychiatrie auf dem Hohenasperg gerne »Beton-Spritzen« gesetzt wurden. Das waren Langzeit-Depotinjektionen des dämpfenden Psychopharmakons Lyogen. Das Stuttgarter Justizministerium hat jedoch eine medikamentöse Zwangsbehandlung als Disziplinierungsmaßnahme stets energisch bestritten.

Psychopharmaka würden nur mit »therapeutischem Ziel« verabreicht. Ein Anstaltspsychologe bestätigte indes gegenüber dem Stern, dass es sehr wohl eine Grauzone gegeben habe, in der Psychopharmaka missbräuchlich verabreicht worden seien und nicht nur bei »schwerwiegender Gesundheits- und Lebensgefahr«. Ein Betreuer räumte auch ein: »Die Spritzen sind grauenhaft, aber die Regel.« Die Häftlinge seien dann wie Zombies durch die Gegend gelaufen, hätten kaum mehr sprechen können und an Lähmungserscheinungen an Händen, Füßen und im Gesicht gelitten. Kaufmann selbst beschwerte sich später beim Verhör, es sei ihm egal, ob er außer- oder innerhalb eines Gefängnisses vom Staat terrorisiert werde.

Die Haftstrafe auf dem Hohenasperg machte Kaufmann endgültig zum psychischen Wrack. Es fehlte dort schlichtweg an geeignetem Personal. Von den Häftlingen in den baden-württembergischen Gefängnissen kamen jährlich rund 1000 dorthin in die Psychiatrie. Haftkoller war weit verbreitet. Die Behörden haben dennoch später energisch der Behauptung widersprochen, Kaufmanns Persönlichkeit könnte dort vollends zerstört worden sein.

Davon zu sprechen sei »schlicht unwahr«. Tatsache sei, »dass er durch die Behandlung ausgeglichener und stabiler« geworden sei. Keineswegs habe man ihm Psychopharmaka verabreicht. Der psychiatrische Gutachter Professor Achim Melcher, der vom Gericht beauftragt wurde, den Geisteszustand Kaufmanns zu klären, wies allerdings beim Blick auf den Hohenasperg darauf hin, dass dort ein »unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Psychiatrie und Strafvollzug« existiere. Der Mann muss als Kenner der Praxis akzeptiert werden. Er war bis 1979 stellvertretender Leiter des Vollzugskrankenhauses Hohenasperg.

 

Dieter Kaufmann war nach seiner Rückkehr vom Hohenasperg zunächst jähzornig, brauste gegenüber seinen Eltern wegen jeder Kleinigkeit auf und fing danach an, heftig zu zittern. Als er in der Zeitung über die wachsende Zahl von Asylbewerbern las, schimpfte er: »Die bekommen von allen Seiten Puderzucker in den Hintern geblasen, aber Leute wie ich kriegen nie eine Chance.« Im Frühjahr 1990 wurde Kaufmann ruhiger, umgänglicher, mied den Alkohol und begann ein Fernstudium zum Heilpraktiker an der Paracelsus-Schule in Freiburg. Nebenbei fing er an, als Vermessungsgehilfe zu arbeiten. Die Familie war glücklich darüber, »dass wir ihn wieder so hingekriegt haben, so ganz ohne die Hilfe eines Psychologen«.

Was niemand ahnte: dass Dieter Kaufmann zu diesem Zeitpunkt bereits fest entschlossen war, entweder Helmut Kohl oder Wolfgang Schäuble zu töten – »weil ich innere Schmerzen habe«, wie er später seinen Entschluss einmal begründete.

 

2004