Der innere Stammtisch

Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

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Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Reiner Ohms/plainpicture

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN 978-3-644-00362-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00362-0

Fußnoten

Ich habe mit «Heinrich» über diese Szene telefoniert, es war ein langes Ringen, er ist ja schon ein toller Kämpfer. Er könne die Ernsthaftigkeit seiner politischen Sorge in meiner Schilderung nicht wiedererkennen, es sähe so aus, als sei es ihm nur um den Theaterdonner gegangen, während er aufrichtig bestürzt gewesen sei über meine Indolenz. Wir haben dann beschlossen, die Szene zu lassen, aber sie zu anonymisieren.

Hannah Arendt

Dienstag, der 17. September

Noch drei Tage bis zur großen Fridays-for-Future-Demo. Die vierjährige Tochter meiner Nachbarin ist ganz aufgeregt: Ihre Kita legt zwar nicht die Arbeit nieder, möchte aber ein Zeichen setzen, deshalb sollen die Kinder an diesem Tag in grünen Kleidern zur Kita kommen. Da kaum einer was Grünes im Kleiderschrank habe, fügt die Mutter hinzu, würden alle vorher noch hektisch shoppen gehen.

Mittwoch, der 18. September

Mein Charaktermakel ist Trotz. Was habe ich nicht schon für Unbeherrschtheiten aus Trotz begangen. Eigentlich bin ich auf Harmonie aus und eher konfliktscheu, aber was politische oder weltanschauliche Meinungen betrifft, ertrage ich Harmonie so wenig wie der Teufel das Weihwasser. Wenn Leute in Gesellschaft ihre Ansichten vortragen, als wären sich im Raum alle einig, man ist ja unter seinesgleichen, kriege ich Beklemmungszustände – sogleich vertrete ich die Gegenposition. Was für unsinnige, gewollt originelle Thesen habe ich nicht schon aus Trotz in die Welt posaunt … Es wäre zu viel der Ehre, mich deshalb als einen Garanten von Pluralität zu sehen, in Wahrheit sind meine Motive niedrig: In meinem Herzen verspüre ich eine tiefe Befriedigung

Früher ließ ich Abendgesellschaften fremdeln, indem ich für Steuersenkungen eintrat oder über die hohe Staatsquote schwadronierte. Man kann es sich kaum mehr vorstellen, aber über solche Fragen wurde tatsächlich einmal gestritten. Kopfpauschale oder Bürgerversicherung, Austeritätspolitik oder Schuldenerlass für Griechenland – solch trocken-sachliche Problemfelder mobilisierten vor noch gar nicht so langer Zeit politische Emotionen.

2015, im langen Herbst des Missvergnügens, konnte man dann jede Party crashen, indem man sich für den befestigten Grenzschutz aussprach, ja schon das Wort mit seinem DDR-Schießbefehl-Sound in den Mund zu nehmen war eine Provokation. In letzter Zeit jedoch unterlaufen mir gewisse Entgleisungen, wenn das Gespräch auf ökologische Fragen zusteuert: also ständig, weil die beliebtesten Tischgespräche mittlerweile um Essen und Reisen kreisen, und die stehen unvermeidlich im Zwielicht von Massentierhaltung und Easy-Jet-Wahnsinn. Ich bin dann jedes Mal in Gefahr, aus nichts als Trotz den Klimaskeptiker zu geben – was selbst die Leute, die es gut mit mir meinen, nicht lustig finden. Irgendwo hört der Spaß auf.

Ich kann sie verstehen. Ich möchte auch nicht zum Geisterfahrer werden, der sich gegen 99 Prozent der Wissenschaft stellt in einer Sachfrage, von der ich keinen blassen Schimmer habe. Ich möchte kein Klimaskeptiker sein, aber

Und damit sind wir beim Thema dieses Buchs. Wenn wir aufmerksam in uns hineinhorchen, wissen wir eigentlich ziemlich gut, was uns triggert. Aber wir neigen dazu, es zu verdrängen, denn es will nicht zu unserem Selbstbild eines autonomen Vernunftwesens passen, ein Reflexbündel zu sein, das getriggert wird – und deshalb verleugnen wir es. Bei den Menschen, über deren politische Ansichten wir bloß den Kopf schütteln können, begreifen wir dafür umso genauer, was die so triggert. In jedem dritten Satz werfen wir ihnen Reflexhaftigkeit vor; wenn sie sich polternd verteidigen, erkennen wir auf Schnappatmung. Über die Affekte der anderen sind wir meistens viel besser im Bild als über die eigenen.

Ich möchte mich in diesem Buch selbst beobachten, um den Zusammenhang zwischen Reflexen, Emotionen, Affekten, weltanschaulichen Überzeugungen und politischen Urteilen genauer zu begreifen. Wie ticke ich als politischer Bürger? Es wäre ja lächerlich, sich vorzumachen, ein ausschließlich vernunftgeleitetes Wesen mit hohen moralischen Standards zu sein.

Im 18. Jahrhundert, in der Epoche der Empfindsamkeit, erfreute sich das Tagebuch in pietistischen Milieus großer Beliebtheit; man wollte sich vor Gott ehrlich machen und jede Seelenregung, jede Anfechtung und Schwäche, jeden Gedanken an ein Laster akkurat notieren, um sich über die eigene Sündennatur nicht zu täuschen (es könnte sonst am Tag des Jüngsten Gerichts zu bösen Überraschungen kommen); Bekenntnis, Reue, Läuterung, das war das Programm, das damals zu einer Explosion von Subjektivität führte.

Donnerstag, der 19. September

Ich kann nicht genug bekommen von Greta-Thunberg-Fotos. Spätestens seit sie mit diesem einfach nur geilen Gerät den Atlantik überquert hat, bin ich ihr erlegen. Jetzt muss ich alles lesen, was über sie geschrieben wird. Staunend stehe ich vor ihrer Bild-Produktion: Mit schlafwandlerischer Unbeteiligtheit bringt Greta am laufenden Band ikonische Bilder hervor, ihr Gesicht ist schön wie das einer frommen Jungfrau, als könnte von ihr eine Renaissance der Ikonen-Malerei ausgehen.

Sie hat die Obamas in Washington besucht. «Eine der größten Verteidigerinnen unseres Planeten» sei sie, sagt der Präsident außer Dienst. «Verteidiger des Planeten», das klingt wie ein Titel, mit dem sich einst Könige schmückten (und Elisabeth II. bis heute): Verteidiger des Glaubens. Auch das passt: Wie der Erzengel Michael ist Greta auf ihrer Segelyacht über den Atlantik gefegt, das Schwert, mit dem sie das Ungeheuer der Apokalypse niederringen würde, unsichtbar in der Hand … «Niemand ist zu klein, um Einfluss zu nehmen

Zum Repertoire des pietistischen Tagebuchs gehört die Selbstanklage: Ja, ich habe gesündigt. Ja, ich bekenne: Ich habe über Greta gespottet. Nun lese ich auf Facebook und Twitter, dass vor allem alte weiße Männer von Greta getriggert werden, ich vermute, sie meinen Typen wie mich mit meinem sarkastischen Greta-Fantum. Wer sich über sie lustig mache, sei misogyn und ableistisch – dabei bin ich nur halbalt (das macht es bloß schlimmer!), nicht weiß, und für misogyn halte ich mich auch nicht – was, zugegeben, nichts heißt, denn jemand, der zugäbe, misogyn zu sein, wäre bereits etwas anderes, irgendwie Komplexeres, Verspulteres, Kaputteres.

Triggert mich Greta? Ich würde sagen: Nein. Ich möchte sie ja nicht missen. Sie ist ein echtes Phänomen, ein Hingucker, und was sie mit den Menschen anstellt, welche Emotionen und Hoffnungen sie weckt, ist ein Schauspiel, ein wirklich außeralltäglicher Vorgang – ich bin ein ästhetischer Greta-Fan. Authentische Greta-Fans dürften meine Haltung als zynisch zurückweisen.

Das sehe ich nicht so. Ich finde nicht, dass man ein pathologischer HATER ist, wie ich jetzt im Netz lese, bloß weil man darauf hinweist, dass das Phänomen Greta tatsächlich nur noch in religiösen Kategorien zutreffend zu beschreiben ist. Mit Greta kehrt das Unbedingte in unsere Welt unerlöster Relativitäten zurück: Radikalität statt Abwägen,

Vielleicht sollte ich mich nicht herausreden: Ja, Greta triggert mich wie kein Kinderstar vor ihr. Ich: Verteidiger der Lauen, Anwalt des Graubereichs; Extremismen schrecken mich, im Durchwurschteln sehe ich das eigentlich Menschliche. Aber wenn das Weiterwurschteln zur Sintflut führt, sollte ich vielleicht langsam mal umdenken?

Mein Problem: So viel Konsens wie in Klimafragen hat es seit dem Sommermärchen 2006, als plötzlich alle meinten, die Deutschlandfahne sei nur Ausdruck eines unverkrampften Nationalgefühls, mit dem die wiedervereinte Nation die Welt umarme, nicht mehr gegeben. Jetzt wird man mir entgegenhalten, dass schon meine Formulierung irreführend sei; von einem Konsens könne bei der Anerkennung eines Faktums nicht sinnvoll die Rede sein, die Polkappen schmelzen, darüber könne man schlecht diskutieren. Ja, stimmt. Aber es bleibt ja nicht beim Faktum des Klimawandels, sondern dieser wird so umfassend als ein Faktum behandelt, das keiner weiteren Interpretation bedarf, dass daraus mit der Unausweichlichkeit reiner Kausalität lauter Konsequenzen gezogen werden, die nun ihrerseits die Aura der Unbestreitbarkeit und Alternativlosigkeit genießen. Die Herausforderung verlange nach Mitteln jenseits der demokratischen Meinungsbildungsprozesse, ist zu lesen. Wer nicht

Natürlich, die ökologische Frage ist die zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts; aber ich mag die Verhaltensweisen nicht, die aus dieser Einsicht hervorgehen. Mein Trotz hat auch mit Verachtung zu tun, Verachtung für die Inszenierung der eigenen Besorgtheit, für den Gratis-Mut, mit dem man auf Facebook die Plastikfolie ums Gemüse im Supermarkt postet. Für die Feier des eigenen, richtigen Bewusstseins. Und vor allem für das Ausmaß demonstrativen Symbolhandelns, das mit tatsächlicher CO2-Reduktion nichts zu tun hat. Ich will meinen CO2-Fußabdruck nicht kleinreden, aber immerhin sind die Mangolds, und zwar schon in dritter Generation, autolos.

Sagen wir es so: Jeder muss in diesem Leben schauen, wie er es schafft, auf irgendein Plateau zu kraxeln, von dem aus er auf andere herabschauen kann; die einen halten sich für was Besseres, weil sie von ihrem ökologischen Gewissen auf die fleischfressenden SUV-Fahrer herabschauen, ich halte mich für was Besseres, weil ich nicht wie solche bigotten Musterschüler meine öko-moralische Rechtschaffenheit zur Schau trage (auch mit seinem Taktgefühl kann man angeben). Wenn jetzt wer sagt: «Fair enough, aber deine Position ist bloß geschmäcklerisch, während die Bigotten wenigstens das Heil der Welt im Blick haben», gebe ich zu: Da ist was dran, und ja: das gibt mir zu denken, und vielleicht liegt darin tatsächlich das entscheidende Argument – und doch …

Kürzlich auf dem Geburtstagsfest von Margaux, die Schweizerin ist mit vielen Verbindungen nach Frankreich. Bernd hielt eine fabelhafte Rede auf seine Frau, in der er deren Fähigkeit hervorhob, Freundschaften zu stiften und

Die Pointe war gut gesetzt, denn natürlich war jedem klar, dass die Flugscham, von der nun so viel die Rede ist wie früher von der German Angst, einfach mal gar nichts mit irgendeinem realen Verhalten zu tun hat – es gibt die Flugscham (die man schamlos ausstellt), und es gibt unser Meilenkonto: zwei voneinander unabhängige Sphären.

Ich hingegen kenne eher die Heuchelscham.

In meiner Nachbarschaft lebt ein kämpferischer Professor, der mit seinen Büchern wichtige Denkanstöße geleistet hat für ein ökologisches Umdenken; ihm geht es vor allem um die Praxisfähigkeit eines neuen, nachhaltigen Lebensstils, alles eigentlich sehr vernünftig. Einmal flog ich von Berlin nach Wien, beim Boarding standen wir plötzlich nebeneinander, ich war aufrichtig überrascht. Ich hatte wirklich geglaubt, nach allem, was ich von ihm gelesen hatte, er würde zu den Bahnfahrern gehören. Irgendetwas musste ihn ja von mir unterscheiden. Mit aufrichtiger Überraschung stotterte ich: «Wie, Sie nehmen das Flugzeug?» Er wirkte nicht, als hätte ich ihn bei einem Seitensprung erwischt, er war keineswegs peinlich berührt, sondern meinte nur: «Na ja, mit dem Zug nach Wien ist schon ein bisschen weit.» Wäre das ein Flieger nach Lissabon gewesen, ich wäre nicht nachdenklich geworden. Aber Wien? In dem Moment dachte ich, dass mein pubertäres Öko-Ketzertum in der Sache harmlos ist.

Mit einer Freundin unterhielt ich mich kürzlich über Wochenendhäuser auf dem Land. Es ziehe mich in die Uckermark, unbändig. Auch meine Freundin kannte diesen Drang in die Natur, aber Brandenburg sei am Ende eben

Noch ein Beispiel: Eine Kollegin erzählte mir stolz, ihre Tochter mache jetzt ein soziales Jahr in Bolivien. Dann fügte sie mit Kummer im Gesicht hinzu: Leider habe die Tochter ihr untersagt, sie zu besuchen – wegen des CO2-Ausstoßes einer solchen Flugreise. Ich bin der Letzte, der jemandem Inkonsequenzen vorwürfe, Kompromisse haben meine volle Sympathie, siehe Durchwurschteln. Was mich indes irritierte, war die Kaltschnäuzigkeit, mit der die Tochter die emotionalen Kosten ihrer moralisch vorbildlichen Entscheidung ganz bei der Mutter abgelegt hatte.

Dass man mich nicht missversteht: Ich werfe niemandem vor, ein Haus auf den Kanaren zu haben oder nach Wien zu

Samstag, der 21. September

Besuch von Helena.

Helena: «Irgendwie gebrauche ich die Worte immer falsch. Also für mich fühlt es sich richtig an, aber ich merke dann, dass die anderen sie anders gebrauchen.»

Ich: «Welche Worte?»

Helena: «Zum Beispiel Feminismus. Ich würd schon auch sagen, dass ich Feministin bin, aber ich meine dabei irgendwie etwas sehr Weibliches.»

Ich muss lachen. Das stimmt. Wenn Helena, mit ihren russlanddeutschen Wurzeln, mit dunkler Stimme sagt, sie sei Feministin, klingt es so, als würde sie sagen: Ich bin eine Frau, ein Naturereignis.

Die Wörter ein bisschen versetzt zu gebrauchen, leicht verrückt, aber nicht als ideologische Geste, sondern wie eine natürliche Regung, die einem unterläuft, das ist Helenas Spezialität, deswegen bin ich so gerne mit ihr befreundet.

«Helena, das kann man so nicht sagen!», rufe ich oft in unseren Gesprächen aus.

«Warum?», sagt sie dann, «ich finde, es klingt stimmig!»

In meiner Lieblingssequenz will sie ihre Schülerinnen dazu bringen, von der Kopfstimme in die Bruststimme zu wechseln. Sie sollen den Unterkiefer locker lassen, damit die Stimme mehr Tiefe gewinnt. Die Frauen trauen sich nicht so recht. Helena: «Formt euren Mund so, als würdet ihr an der Straße stehen und rufen: ‹Hey, Taxi!›» Das Hey, Taxi! kommt so tief, fordernd und verwegen aus ihrem Mund, dass alle lachen müssen. Als hätte sie sich für einen Moment in einen Godard-Film der sechziger Jahre versetzt.

Wenn man etwas will, erläutert Helena, dehne man den Ton. Damit verlängere sich die Resonanz. Man komme in einen Gesangsmodus. Wie kleine Kinder, die schreien, aber niemals heiser werden.

«Die meisten Frauen», sagt Helena, «haben keine Verbindung zu ihrer Brust.» Die Bruststimme werde als männlich empfunden. Umgekehrt sängen Männer automatisch in der Brustlage und müssten erst angeleitet werden, in die Kopfstimme zu wechseln. Zu vieles, was man ist und kann, bleibe unentdeckt im Leben.

Helena, die Ausleberin.

Eigentlich, stelle ich mir vor, könnten ihre Gesangsstunden auch Seminare für Führungskräfte sein. Wie man aus

Sonntag, der 22. September

Ich habe einen Bekannten, von dem ich gerne prahlerisch sage (denn es zeichnet einen ja selber aus, die Intelligenz eines anderen anzuerkennen), er sei der intelligenteste Mensch, dem ich je begegnet bin. Wenn wir uns unterhalten, bin ich von dem, was er sagt, häufig regelrecht geblendet, ja aus dem Häuschen, welche Gedankenverbindung er schon wieder aufgemacht hat. Er ist Staatsrechtler, er beschäftigt sich also viel mit politischen Fragen. Politische Fragen sind solche, zu denen jeder eine Meinung haben darf. Und an dieser Stelle taucht für mich jedes Mal ein Problem auf, von dem ich glaube, dass es charakteristisch für das Wesen der Politik ist: Wenn Politik das ist, wozu jeder eine Meinung haben sollte, dann kann es nicht sein, dass der Intelligentere gewinnt. Es kann nicht sein, dass ich meinem Reflex nachgebe und mich der Sichtweise meines Bekannten füge, nur weil ich weiß, dass er wie ein Jongleur mehr gedankliche Bälle gleichzeitig in der Luft halten kann als ich.

Und wie verhalte ich mich konkret? Beim Lunch höre ich mir schwer beeindruckt seine Thesen an, auf dem Heimweg ist mir nun klar, dass meine alte Position nicht zu halten ist, mein Bekannter hat mich überzeugt, ich strecke die Waffen

Als ich ein junger Redakteur war, sagte mir ein von mir verehrter älterer Kollege, er sei meistens der Meinung, die er zuletzt gehört habe. Beeindruckt, dass man das einfach zugeben konnte, wollte ich es ihm nachtun und stellte fest: Ja, man fühlt sich dann gleich viel freier.

Montag, der 23. September

Zum politischen Modus gehört die Wutrede, sie ist so unvermeidlich wie das Husten in klassischen Konzerten zwischen den Sätzen. Aber viel wäre gewonnen, wenn wir unsere Wutreden im Bewusstsein hielten, dass es sich dabei auch um Rollenprosa handelt. Als stünde ein zweites Ich, während man noch schimpft, neben einem und sagte: «Guck ihn dir an, wie der auf die Pauke haut!»

Der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs hat Boris Johnson in die Schranken gewiesen und die Zwangspause, in die der Premierminister das Parlament geschickt hatte, für ungültig erklärt. Die Überschriften in den Medien lauten: «Schallende Ohrfeige für Johnson». Ja, das ist es wohl, aber man spürt doch auch, wie sehr wir danach dürsten, eindeutige Niederlagen identifizieren zu können. Meistens liegen die Dinge ja so verwickelt, dass man sie so, aber eben auch anders lesen kann. Das Wort «Wahlschlappe» ist deshalb so überstrapaziert, weil jede Seite der anderen eine solche nachsagen will, während diese dann irgendeine andere Referenzgröße heranzieht, wonach das Ergebnis alles andere als eine Wahlschlappe darstelle, vielmehr in Wahrheit, angesichts des Gegenwindes aus Berlin und im Vergleich zu den Europawahlen vor drei Jahren, eine eindrucksvolle Bestätigung des Wählervertrauens und ein klarer Regierungsauftrag sei …

So macht das natürlich keinen Spaß. Ungetrübter Triumphgenuss, der wie ein Schnaps den Rachen freiputzt, verlangt nach Anerkennung der Niederlage durch den Gegner. Stattdessen besteht Politik zu 80 Prozent darin, dass sich jede Seite die Wirklichkeit zu ihren Gunsten schönredet: emotional unbefriedigend.

Schön also, wenn es ein Oberstes Gericht gibt, das in letzter Instanz über die Wahrheit entscheidet. Jetzt also: «schallende Ohrfeige». Eine «schallende Ohrfeige» lässt keine Fragen offen und keine Ausreden zu. Der solcherart Gescholtene kann, die roten Striemen glühen noch auf seiner Wange, nicht behaupten, es habe gar nicht weh getan.

Nur manchmal suggeriert die Wirklichkeit Unzweideutigkeit. In Fukushima zum Beispiel – Angela Merkel hat es zumindest so gelesen. Der Erste Weltkrieg war es nicht («Dolchstoßlegende»), der Zweite («Stunde null») schon, darin aber eine ziemliche Singularität.

Wir dürsten nach schallenden Ohrfeigen, weil sie die Wirklichkeit vereindeutigen. Weil dann endlich klipp und klar da steht, wer recht und wer unrecht hat, und darum erfreuen wir Kontinentaleuropäer uns am Urteil des Obersten Gerichtshofs, weil es uns mit maximaler Deutlichkeit in unserer Position bestätigt, dass der Brexit ein Wahnsinn ist.

Ich merke in diesem Moment natürlich, warum ich mich in erkenntnistheoretische Spitzfindigkeiten flüchte, statt mich mitzuerfreuen. Wir betreten ein mir peinliches Gebiet, ich gestehe: Boris Johnson ist meine Schwachstelle. Ich habe ihn lange verteidigt, heute muss ich einräumen, dass ich im Irrtum war.

Für ein politisches Tagebuch ist der Irrtum ein wichtiges

Laut reden wir über Sachen, bei denen wir ins Recht gesetzt worden sind, über Sachen, bei denen wir falschlagen, schweigen wir lieber. Oder noch komplizierter, was wieder etwas mit fehlender Eindeutigkeit zu tun hat: Sehr oft passieren Dinge, von denen andere finden, dass sie uns ins Unrecht setzen, während wir selber gar keinen Zusammenhang zwischen dem Ereignis und bestimmten Ansichten, die wir irgendwann zum Besten gegeben haben, erkennen können. Ein gesellschaftspolitischer Breitensport: wen man für was verhaften darf.

Ich erinnere mich noch gut an die Tage, als es in Fukushima zu Komplikationen kam und Düsterkeit über der Welt hing. Ich hatte zwar im Leben noch nichts über Atomkraft geschrieben, spürte aber, wie mich meine Kollegen in der Redaktion anschauten, als gäbe es keinen Zweifel, dass diese Katastrophe auf meine Rechnung ging. Das wurde natürlich nicht ausgesprochen, ich wurde nur so angeschaut, als sei es höchste Zeit, mich zu erklären und aus freien Stücken ein umfassendes Geständnis abzulegen. Beziehungsweise als deutete man mein Schweigen als Ausdruck von Reue. Plötzlich saß die Generation Golf auf der Anklagebank. Ich fand das im ersten Moment absurd, auf dem Nach-Hause-Weg allerdings dachte ich mir: Eigentlich haben sie recht, die lieben Kollegen, natürlich ist dir die Atomkraft in Stunden der Schlaflosigkeit, wenn der Mensch sich schwach und ohnmächtig fühlt, unheimlich, aber bei Tageslicht warst du

Doch kaum löste sich die radioaktive Wolke auf und die Sonne kam wieder hervor, verunklarten sich die Dinge … Was wir erlebten, wurde wieder komplexer, die Pariser Klimaziele nach Merkels Atomausstieg illusorischer, die Schuldzuweisungen schwieriger. So ist es immer: Die Guten und die Bösen sitzen im selben Boot und können sich nicht einigen, wer welche Rolle spielt.

Zurück zu Boris Johnson. Wer sich selbst beobachtet, kennt die Muster der eigenen Fehleranfälligkeit, also weiß ich, ich bin ja nicht blöd, dass ich zu den Typen gehöre, die auf Typen wie Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg reinfallen. Ein Wort wie Eton geht mir runter wie Butter. Ich habe eine Schwäche für Traditionen und Rituale. England, «this precious stone set in the silver sea», ist eine Wunderkammer an herrlich verstaubten, aber immer noch gepflegten Traditionen. Den exzentrischen Individualismus der Briten, den Johnson und Rees-Mogg wie in einer spätdekadenten Prachtblüte noch einmal entfalten, liebe ich, als würde sich an ihnen der globale Konformismus die Zähne ausbeißen. Und natürlich sagen die beiden Clowns keine Plastiksätze wie die meisten Politiker. Man kann auch nicht Johnsons Roman ‹72 Jungfrauen›, eine Politsatire aus dem Jahr 2004, lesen, ohne dem Verfasser zuzugestehen, ein wirklich eigenwilliger Kauz zu sein. Damals war Johnson Bürgermeister von London, bekannt dafür, immer mit dem Fahrrad

Jeder Mensch hat Glaubensgewissheiten, die er nur, wenn es eben gar nicht mehr anders geht, über Bord wirft, und bei mir gehört dazu die Überzeugung, dass ein Mensch, der zu Selbstironie fähig, also ein souveräner Beobachter seiner selbst ist wie Johnson, kein ganz schlechter Mensch sein kann.

Und deswegen bin ich auf ihn reingefallen. Jetzt ist meine Wut auf Johnson und Rees-Mogg manchmal inbrünstiger als die ihrer traditionellen politischen Gegner, denn nun, da sie sich als Geschöpfe einer idiosynkratischen Luxusklasse entpuppen, haben sie meine Liebe zu Eton, debating club, Oxford English und anachronistischer Unangepasstheit verraten und mich blamiert.

Aber weil man sein Ich nicht einfach aufgeben kann, gebe ich mich noch nicht ganz geschlagen. Jeden Morgen, wenn ich die Zeitung aufschlage, hoffe ich auf eine Lesart Boris Johnsons, die an ihm doch noch ein gutes schmutzig blondes Haar lässt. Kurzum, im Brexit-Kontext herrscht bei mir eine labil-hysterische Gefühlslage voll gegensätzlicher Affekte;

Wenn ich mir die deutschen Kommentierungen des Brexit anschaue, stelle ich fest, dass ich den Brexit zwar für einen geschichtlichen Fehler halte (wie so vieles, was aus Plebisziten hervorgeht), aber mich als EU-Bürger nicht in dem Maße narzisstisch gekränkt fühle wie viele meiner Landsleute, die jetzt förmlich danach lechzen, dass die Briten die Suppe, die sie sich eingebrockt haben, auslöffeln bis zum bitteren Ende.

Ich bin hin- und hergerissen. Ich hatte durchaus Verständnis dafür, dass ein Land, zu dessen Nationalcharakter der Westminster-Parlamentarismus gehört, sich schwerer mit Weisungen aus Brüssel tut als, sagen wir mal: Berlin oder Lissabon. Ich bin generell fast immer auf der Seite der Institutionen. Wer die Institutionen angreift, den halte ich für gefährlich, weswegen ich empört war, als ausgerechnet der Mann, der den EU-Austritt einst mit dem Satz forderte, «to take back control», das Parlament in den Zwangsurlaub schickte, dessen Handlungsfähigkeit er doch gerade noch wiederherstellen wollte.

Mach dich ehrlich! Abschied von Boris Johnson!

Doch der Abschied von politischen Irrtümern ist eine

In diesem Sinne: Auf welche Typen falle ich in der Politik rein? Diese Frage zuzulassen heißt nicht, der eigenen Schwäche abzuschwören, aber doch seinen Blick zu schärfen für die Anfechtungen, denen man ausgesetzt ist.

Mittwoch, der 25. September

Manchmal frage ich mich: Bin ich vielleicht gar kein politischer Kopf?

Was meint das eigentlich – politisch sein? Woran misst man das? An einer Parteimitgliedschaft? Am Engagement in einer Bürgerbewegung? An starken utopischen Sehnsüchten? Am Grad der Informiertheit und Kompetenz, mit der man Lösungen für die Probleme der Gesellschaft durchdenkt? An einer vernehmbaren Moral, mit der man die Leute in gute und böse einteilt? Oder am Umstand, dass man das Private für politisch hält und deshalb global denkt, aber lokal handelt? Dass man auf Flugreisen verzichtet? Oder aber daran, dass man sich schnell aufregt und zu so gut wie jedem Sachverhalt eine Meinung hat?

Bis auf den letzten Punkt trifft das alles auf mich eher nicht zu. Gleichzeitig bin ich aber auch kein Eskapist, der

All das interessiert mich, ich brauche es wie die Luft zum Atmen. Man könnte es den inneren Stammtisch nennen. Wie der Fußballfan die Sportschau, so verfolge ich die Politik-Nachrichten. Und wie der Fußballfan, während er sich noch die Haare rauft über den Trainer seines Lieblingsclubs und dessen geisteskranke Mannschaftsaufstellung, im Innern weiß, dass er es selber nicht besser könnte, bin ich zwar auch oft rechtschaffen entgeistert über die mut- und phantasielosen Entscheidungen der Politiker, käme aber

Vermutlich würde ein politologisches Seminar bündig beweisen, dass genau dies, dieser innere Stammtisch, gerade nicht Ausdruck eines politischen Bewusstseins ist, sondern dessen blinde, unreflektierte Schwundstufe.