Sadhguru
Wie wir das eigene Schicksal
beeinflussen können
Aus dem Englischen
von Horst Kappen
Knaur eBooks
Sadhguru Jaggi Vasudev ist ein international anerkannter Vordenker und Vermittler eines ganzheitlichen und spirituellen Bewusstseins. Er trat als Redner bei den Vereinten Nationen, dem Weltwirtschaftsforum und dem MIT auf und sprach vor dem House of Lords. Viele bekannte Lehrer wie Deepak Chopra sind von ihm beeinflusst worden. Sadhguru ist Gründer Isha-Stiftung zur Verbreitung eines modernen Yoga mit zahlreichen Praxiszentren weltweit.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »KARMA. A Yogi's Guide to Creating Your Own Destiny« bei Harmony Books, einem Imprint von Crowm Publishing Group, Teil der Verlagsgruppe Penguin Random House, New York, USA.
© 2021 Jaggi Vasudev
© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe O. W. Barth Verlag
© 2021 Harmony Books
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
This translation published by arrangement with Harmony Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC
Covergestaltung: Lisa Höfner I buxdesign
Coverabbildung: Isha Foundation
ISBN 978-3-426-46203-4
1
Schicksalsbegriff im islamischen Kulturraum (Anm.d. Übers.).
2
Sambar (Linsencurry) und Idli (Küchlein aus Urdbohnen und Reis) sind klassische Bestandteile des südindischen Frühstücks (Anm.d. Übers.).
3
2009 ist das Jahr, in dem die Pandemie H1N1 2009/10, auch als Schweinegrippe bekannt, ausbrach (Anm.d. Übers.).
4
Gemeint ist das Phänomen der Vakuumfluktuation (Anm.d. Übers.).
5
»The bridge is out!«: Legendärer Ausruf Arnold Schwarzeneggers in der Actionkomödie »True Lies« (Anm.d. Übers.).
An alle Suchenden …
Die innere Reise durch eine unbekannte Landschaft kann voller Widersprüche im Denken, Fühlen, Erleben und Handeln sein. Dieses Buch versucht, den Schleier dieser Widersprüche in den Köpfen und Herzen aller Wahrheitssuchenden zu lüften.
Eines schönen Tages schaffte sich Shankaran Pillai ein Boot an – eine Zwölf-Meter-Super-Luxus-Jacht für zehn Millionen Dollar. Er beschloss, mit seiner frischgebackenen Ehefrau aus Puerto Rico eine romantische Kreuzfahrt auf dem Meer zu unternehmen.
Unterwegs geschah das Unglück: Die Jacht lief auf eine Klippe auf und zerschellte.
Während das nagelneue Boot im Meer versank, gelang es Shankaran Pillai und seiner Frau, mit heiler Haut davonzukommen. Sie schwammen um ihr Leben und schafften es schließlich an das Ufer einer nahe gelegenen Insel – ein kleiner Flecken sandigen Eilandes, das am Ende der Welt aus dem Ozean ragte, ohne eine Spur von Vegetation.
Shankaran Pillai und seine Frau hatten ein paar Konserven dabei, wussten aber, dass diese nur für ein paar Tage reichen würden. Sie saßen in der Patsche.
Unbeirrt begab sich Shankaran Pillai in eine Yoga-Stellung und nahm dabei einen sehr gelassenen, spirituellen Gesichtsausdruck an. Seiner Frau hingegen war nicht so unerschütterlich zumute.
»Wir sind verloren!«, schluchzte sie. »Weit und breit keine Menschenseele und nicht das kleinste Anzeichen von Leben – keine Tiere, keine Pflanzen, nichts. Wovon sollen wir uns ernähren? Wie können wir je wieder von hier wegkommen? Was für ein entsetzliches Ende für unsere Träume vom Eheglück! Was für ein entsetzliches Ende unseres Lebens!«
Ungerührt verharrte Shankaran Pillai in seiner Yoga-Position.
Seine Frau war fassungslos. »Wie kannst du einfach so dasitzen? Ist dir nicht klar, dass wir dem Tod ins Auge sehen? Begreifst du nicht, dass wir sterben werden?«
Shankaran Pillai sah sie mit sanftem Mitgefühl an. »Meine Liebe, beunruhige dich nicht«, sagte er. »Was ich dir vor unserer Hochzeit nicht gesagt habe: Ich bin kein unbeschriebenes Blatt. Als ich noch in Tennessee Student war, habe ich einen Studienkredit aufgenommen. Nach meinem Studium ging ich nach New York, ohne den Kredit zurückzuzahlen. Drei Monate später haben mich meine Gläubiger dort aufgespürt.
Aber ich schaffte es, ihnen zu entkommen, und ging nach Kalifornien. Dort wollte ich mir einen Wagen anschaffen. Da ich mir einen Autokredit besorgt hatte, sagte ich mir: Warum mich mit einem kleinen Wagen zufriedengeben? Ich beschloss, mir einen Rolls-Royce mit Zierleisten aus purem Gold zuzulegen, und nahm dafür einen Kredit von zwei Millionen Dollar auf. Da ich aber das Gefühl hatte, es könnte für mich in der Gegend etwas brenzlig werden, setzte ich mich mit dem Wagen nach Oregon ab.
Aber auch dorthin sind sie mir gefolgt. Als Nächstes nahm ich einen Kredit für das Haus über fünf Millionen Dollar auf. Ich landete dann irgendwie in Mexiko, aber sechs Monate später haben sie mich auch dort wieder aufgespürt.
Danach habe ich dich, wie du weißt, geheiratet und in Texas diese Zehn-Millionen-Dollar-Jacht gekauft. Ich habe noch nicht einmal die erste Rate bezahlt. Mach dir also keine Sorgen. Bleib ruhig. Kein Grund zur Panik. Sie werden uns finden. Das tun sie immer.«
Shankaran Pillais fester Glaube daran, dass man ihn immer »finden« werde (oder besser gesagt, seine Gewissheit, seinen Gläubigern niemals entkommen zu können!), ist ein Phänomen, das man gemeinhin unter einem anderen Namen kennt.
Karma.
Die unentrinnbare Grundlage unseres Lebens. Der Mechanismus, der dafür sorgt, dass wir uns den Konsequenzen unseres Handelns nicht entziehen können. Der Lauf der Dinge, der uns unerbittlich und unausweichlich einzuholen scheint, wohin wir uns auch wenden.
Obwohl der Begriff aus dem Indischen stammt, hat er inzwischen in jedes Wörterbuch Einzug gehalten. Karma ist nicht nur Gegenstand metaphysischer Werke und akademischer Abhandlungen, sondern ein Begriff, der überall auf der Welt im Wortschatz Einzug gehalten hat, von der Esoterik bis zur Populärkultur.
Wie konnte dieser Sanskrit-Begriff in jede einzelne Sprache der Welt Eingang finden? Wie erklärt sich seine außergewöhnliche Popularität, seine Fähigkeit, die Jahrhunderte zu überdauern?
Dafür gibt es viele mögliche Erklärungen. Aber vielleicht ist der Hauptgrund einfach dieser: Karma ist weltweit das einzige Konzept, das sich mit der menschlichen Ratlosigkeit angesichts des Leidens befasst. Es ist die einzige logische Erklärung für die scheinbare Beliebigkeit der Welt, in der wir leben.
Wie sonst machen wir uns die Allgegenwärtigkeit menschlicher Not verständlich? Wie erklären wir uns die Schrecken des Krieges und der todbringenden Krankheiten, die stumme Qual auf den Gesichtern hungernder Kinder und traumatisierter Gefangener? Die endlose Liste von Grausamkeiten und Konflikten, die Teil der menschlichen Erfahrung sind, solange wir zurückdenken können?
Und wie finden wir Antworten auf uralte Fragen wie diese: Warum passieren guten Menschen schlimme Dinge? Warum begünstigt das Schicksal so oft diejenigen, die wir als grausam, herzlos oder moralisch verdorben wahrnehmen? Warum scheinen die Umstände unseres Lebens so ohne jeden Sinn und Zusammenhang zu sein? Warum kommt es uns manchmal so vor, als würde Gott – falls es ihn gibt – mit der Welt sein Spiel treiben? Warum erscheint uns das Universum so oft als ein feindseliger Ort, ohne Gesetz und ohne Kontrolle?
Vielleicht existiert kein anderer Begriff, der die bange Frage des Menschen nach dem Warum so gut beantwortet, wie der Begriff des Karma es tut.
Oder es zu tun vermag.
Viel zu lange wurde der Begriff entweder über die Maßen vereinfacht oder unnötig mystifiziert. Es ist daher an der Zeit, das hinter ihm stehende Konzept genauer unter die Lupe zu nehmen. Es ist an der Zeit, diesen meist überstrapazierten, missbräuchlich verwendeten und zugleich so unverzichtbaren Begriff im spirituellen Vokabular der Welt von seinen Verzerrungen zu befreien. Und es ist an der Zeit, zu ergründen, in welchem Bezug der Begriff des Karma zu den tiefsten Grundfragen des Menschseins steht: nach dem Sinn des Lebens und vor allem danach, wie wir ihn in unserem Leben verwirklichen können.
Dieses Buch will sowohl Auslotung als auch Anleitung sein. Es will Wege aufzeigen, wie wir in einer Welt, die uns viel abverlangt, auf kluge und freudvolle Weise leben können. Dabei versucht es, dem Begriff des Karma das Potenzial zu transformieren, das ihm ursprünglich innewohnt, zurückzugeben. Es will die Schicht aus Missverständnissen, die sich auf ihm abgesetzt hat, abtragen und das Karma in seiner ganzen unverfälschten Kraft und metaphysischen Urgewalt sichtbar machen.
Dabei werde ich meinen Erläuterungen eine Reihe von Sutras voranstellen, die helfen sollen, sich in der Welt des Karma zurechtzufinden. Sutra bedeutet wörtlich »Faden« oder »Kette«. Niemand trägt eine Perlenkette wegen des Fadens, aber ohne den Faden kann es keine Perlenkette geben! In der yogischen Kultur gab der Guru den Schülern traditionell einen zusätzlichen Leitfaden an die Hand, der ihnen den Weg durch das Leben wies. Dieses Buch will jedoch Anleitung und umfassende Darstellung des Themas Karma zugleich sein. Es bietet sowohl einzelne Fingerzeige als auch den Blick auf das Ganze – mit anderen Worten: Es will, so gut es geht, sowohl Faden als auch Perlenkette sein.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil erforscht das Karma als Quelle der Verstrickung; der zweite Teil geht den Möglichkeiten nach, sich aus dieser Verstrickung zu befreien; und der dritte Teil geht auf häufig gestellte Fragen zum Thema ein.
Teil Eins untersucht die verflochtenen Abläufe des karmischen Mechanismus – der weitaus komplexer ist, als den meisten Menschen bewusst ist. Teil Zwei führt in den Begriff des Karma-Yoga ein – als ein Weg, sich mit dem Karma auseinanderzusetzen, mit ihm umzugehen und sich von ihm zu befreien. Auch wenn dieser Abschnitt bis zu einem gewissen Grad praktischer Natur ist, kann die Wissenschaft des Yoga in ihrer ganzen Tiefe doch nicht durch ein Buch vermittelt werden. Es bedarf persönlichen Einsatz und Unterweisung durch einen spirituellen Meister, damit sie zu einer wahrhaft verwandelnden Kraft wird. Ein Buch kann jedoch einen gangbaren Weg aufzeigen und dazu motivieren, ihn zu gehen, und das ist es, was dieser Abschnitt zu leisten hofft.
Hier eine kleine Vorwarnung: Beim tieferen Eintauchen in das Buch wird dir eine Reihe von Fachbegriffen begegnen. Lass dich davon nicht entmutigen. Karma ist eben kein poetisches Thema, sondern ein komplexes Gebiet, zu dem präzise, ja wissenschaftlich exakte Begriffe und Unterscheidungen gehören. Dennoch ist Karma auch kein steriles Thema. Es ist die Grundlage der menschlichen Existenz – buchstäblich eine Frage von Leben und Tod. Eine solche Diskussion lässt sich nicht auf rein akademische Weise führen.
In mehreren Kapiteln des ersten und zweiten Teils sind mit Sadhana überschriebene Abschnitte eingefügt. Im Sanskrit bedeutet Sadhana so viel wie Hilfsmittel oder Werkzeug. Die Sadhanas bieten dir die Möglichkeit, einige der Einsichten, die dir in den einzelnen Kapiteln begegnen, in die Praxis umzusetzen und sie im Labor deiner Erfahrung zu erproben.
Teil Drei ist ganz der Beantwortung von Fragen gewidmet. Es sind drängende, von Herzen kommende Fragen. Fragen, die mir über dreieinhalb Jahrzehnte hinweg in Lehrprogrammen und Gesprächen gestellt worden sind. Fragen, die immer wieder auftauchen, einfach weil die menschliche Wissbegier in Bezug auf das Karma ungebrochen, unermüdlich und oft von großer Dringlichkeit ist. Die Verunsicherung in Bezug auf dieses Thema ist echt, die Sehnsucht nach Klarheit gleichermaßen authentisch.
Möglicherweise werden einige dieser Fragen bei dir auf Resonanz stoßen. Andere klingen vielleicht ganz so wie deine eigenen. Nur sehr wenige Fragen sind seit dem Anbeginn der Zeiten wirklich neu. Die konkreten Umstände mögen wechseln, aber das Verlangen, einer Welt voller Schmerz und Ungerechtigkeit einen Sinn zu verleihen, bleibt in uns lebendig – ebenso wie der menschliche Drang, die Geheimnisse des Lebens zu ergründen, bis ans Ende aller Tage fortbestehen wird.
Gehen wir also daran, das Karma zu enträtseln.
Wie ich oft betone, bezeichnet das Wort Sadhguru einen »ungebildeten Guru«. Ein »ungebildeter Guru« schöpft nicht aus einem Fundus überlieferter Lehren, sondern aus unmittelbarem innerem Wissen. Ich komme deshalb von einem Ort der direkten Erfahrung aus, nicht von einem Wissen aus zweiter Hand.
Mein Zugang zum Karma ist daher nicht der eines Gelehrten – und ist es auch nie gewesen. Wenn ich von Karma spreche, berufe ich mich nicht auf ein Dogma. Ich beziehe mich auf die Wahrnehmung. Wissen aufgrund von Konzepten ist der Weg des Akademikers. Wissen aufgrund von Wahrnehmung ist der Weg des Yogi.
Teil Eins dieses Buches erklärt das Karma – in seiner ganzen Komplexität und Vielschichtigkeit. Es kann den Anschein haben, als ob es hier um bloße, mitunter schwer verständliche Begrifflichkeiten ginge. Aber ich möchte betonen, dass es sich nicht um abstruse Theorien handelt, sondern um unmittelbare Einblicke in das tatsächliche Wirken des Karma.
Dieser Teil ist für die Wissbegierigen. Er ist für diejenigen, die sich schon seit Jahren mit Fragen befassen wie: Was ist Karma? Wie häuft es sich an? Was hält das Räderwerk in Gang? Wann hat dieser ganze komplizierte und verrückte Kreislauf begonnen? Er ist für diejenigen, denen es nicht bloß um eine Gebrauchsanweisung geht, sondern um einen Einblick in den eigentlichen Wirkmechanismus des karmischen Rades.
Dieser Abschnitt befasst sich also mit der Frage, wie dieses Rad ins Dasein tritt und ins Rollen kommt. Er führt dich Schritt für Schritt in das Thema Karma ein – erklärt, um was es sich dabei handelt und wie es sich anhäuft; geht auf die vielen verschiedenen Einflüsse ein, unter denen sich die menschliche Persönlichkeit formt; auf das unglaublich große Gedächtnis-Reservoir, das jeder Einzelne in sich trägt; die Rolle des Willens und die komplexe Art, in der uns Karma anhaftet, auch wenn wir versuchen, uns von ihm zu befreien.
Wer sich auf einer spirituellen Suche befindet, will in der Regel sein Karma abschütteln. Aber es ist wichtig, zu bedenken, dass das Karma nicht unser Feind ist. Um ein gutes Leben zu führen, ist es nicht nötig, alles Karma zu beseitigen. Im Gegenteil, wir könnten ohne Karma nicht leben, denn das menschliche Leben beruht darauf. Zugleich kann das Karma zu großem Leid und in tiefe Verstrickung führen, wenn wir nicht lernen, mit ihm umzugehen.
Das yogische System macht keinerlei Vorschriften. Es lässt dir die freie Wahl, ob du positives Karma für die Zukunft schaffen, dich von der Last deines Karmas befreien oder es gänzlich auflösen möchtest. Dieses Buch geht diesen verschiedenen Möglichkeiten nach und zeigt sie auf – die Entscheidung aber liegt ganz allein bei dir.
Wenn du mit deinem Fuß immer wieder in die Speichen deines Rades gerätst, dann ist nicht das Rad daran schuld. Die Sache ist vielmehr die, dass du keine Ahnung vom Radfahren hast. Dieses Buch will nicht das Rad neu erfinden, sondern Wege aufzeigen, wie du es mit Freude ans Ziel deiner Wahl schaffst, in der Gewissheit, die Kontrolle über deine eigene Reise zu haben.