Tatort Krankenhaus

Prof. Dr. Karl H. Beine

Tatort Krankenhaus

Ein kaputtes System macht es den Tätern leicht

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Karl H. Beine

Professor Dr. med. Karl H. Beine, geboren 1951, war bis 2020 Chefarzt am St. Marien-Hospital Hamm und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke. In seiner aktuellen Studie zu Tötungen in Krankenhäusern und Pflegeheimen hat er im Herbst 2018 mehr als 5000 Ärzt*innen und Pflegekräfte zur Gewalt in ihrem Arbeitsalltag befragt. In dieser Taschenbuchausgabe präsentiert der Autor die Ergebnisse dieser Befragung erstmals einem breiten Publikum.

Impressum

Eigenlizenz 2021

Vollständig überarbeitete eBook-Ausgabe

© 2021 Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Claudia Krader, München

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Duda Vasilii/shutterstock.com

ISBN 978-3-426-43965-4

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Das ist die Situation in deutschen Krankenhäusern: Viel zu wenig schlecht bezahlten Helfern wird viel zu viel Arbeit aufgebürdet. Niemand muss deshalb zum Täter werden und widerrechtlich Patienten töten. Doch unter solchen Verhältnissen sinkt die Hemmschwelle, wird das Wegschauen begünstigt und die Aufdeckung von Straftaten erschwert.

Davon erzählt dieses Buch. Von ursprünglich hoch motivierten, aber letztlich haltlosen Helfer*innen, die vor den Augen ihrer Kolleg*innen in ihrer einsamen Sprachlosigkeit zu Mörder*innen geworden sind. Es ist das Zusammenwirken von spezifischen Persönlichkeitsanteilen mit äußeren Umständen, die eine destruktive Abwärtsspirale auslösen. Die langen Tatzeiträume und die hohen Opferzahlen sind mitverursacht durch eine Krankenhauswirtschaft, in der nicht das Patientenwohl, sondern Profit zur zentralen Stellschraube geworden ist. So ist das System selbst zur Gefahr geworden.

Kaum ein Ort, an dem wir uns sicherer fühlen und mehr Vertrauen haben als im Krankenhaus. Kaum ein Ort, an dem ein verstorbener Mensch weniger Aufsehen erregt als im Krankenhaus. Kaum ein Ort, an dem Tötungen schwieriger zu erkennen sind, als im Krankenhaus, wenn ein Helfer das tatsächlich will.

Umso besorgniserregender sind die Ergebnisse einer eigenen Studie, an der sich 2507 Ärzte*innen und 2683 Pflegekräfte aus deutschen Kliniken im Herbst 2018 beteiligt haben. 278 Ärzt*innen und 117 Pfleger*innen räumten ein, während ihrer Berufstätigkeit selbst schon aktive Sterbehilfe praktiziert zu haben, und zwar in 680 Fällen. 46 Ärzt*innen und 27 Krankenpfleger*innen, hatten in den 24 Monaten vor der Befragung sogar das Leben von Patienten aktiv und vorsätzlich bei 325 Patient*innen beendet, obwohl sie »kein Mal« um Sterbehilfe gebeten worden waren. Im Lichte dieser Ergebnisse wird die schon vorher zweifelhafte Rede von den Einzelfällen noch einmal fragwürdiger. Tötungen in deutschen Kliniken sind mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht so selten, wie wir das vermuten und wie wir es uns wünschen. Vieles deutet auf ein großes Dunkelfeld hin.

Bis zu meiner Pensionierung im Januar 2020 war ich selbst mehrere Jahrzehnte Teil dieses Gesundheitssystems. Den kritischen Blick auf gefährliche Fehlentwicklungen zu erhalten und für Veränderungen zu arbeiten war mir nur möglich, weil ich in zahllosen Gesprächen und Gesten so viel Unterstützung bekommen habe von Patient*innen, Angehörigen, Kolleg*innen und last not least von meiner Familie. Diese Erfahrungen und Bindungen haben dieses Buch mitgeschrieben: danke!

Vor mehr als drei Jahrzehnten hat mein ärztlicher und akademischer Lehrer, Herr Professor Dr. Dr. Dörner, die Initialzündung für die Auseinandersetzung mit diesem Thema bewirkt. Auch er hat dieses Buch mitgeschrieben: danke!

 

Karl H. Beine,

im Frühjahr 2021

Wunsch und Wirklichkeit

Wenn wir krank werden, sind wir auf Hilfe angewiesen. Niemand kann sich den Tumor selbst herausoperieren, das kaputte Bein schienen oder den Wundverband eigenhändig anlegen. Wir brauchen dafür Unterstützung. Wenn es sich nicht vermeiden lässt, gehen wir in eine Klinik.

Dort erwarten wir Hilfe von Ärzt*innen und Pflegekräften, die Zeit für uns haben. Von ihnen möchten wir erfahren, was uns fehlt, wie wir behandelt werden können und wie unsere Aussichten sind. Sind wir selbst nicht dazu in der Lage, soll man uns waschen, kämmen, beim Anziehen und Zähneputzen helfen und beim Essen unterstützen. Wenn wir den Notknopf am Bett drücken, erwarten wir schnell den Beistand einer Pflegekraft. Wir wünschen uns kompetente Behandlung und Pflege sowie Zeit und ein offenes Ohr für unsere Sorgen oder die unserer Angehörigen.

Soweit die Wunschvorstellung. Mit der Wirklichkeit hat sie in vielen Kliniken leider wenig zu tun. Ärzt*innen und Pflegekräfte arbeiten dort an der Belastungsgrenze. Das war schon so, bevor im Januar 2020 die Corona-Pandemie begann. Seitdem ist es noch schlimmer geworden.

Helfer*innen werden wegen des Personalmangels zur Arbeit ins Krankenhaus beordert, sogar dann, wenn sie Kontakt mit Infizierten hatten oder selbst krank sind. »Arbeitsquarantäne« oder »Pendelquarantäne« nennt man das. Die Mitarbeitenden in Gesundheitsberufen sind ohnehin einem sehr viel größeren Infektionsrisiko ausgesetzt als die Allgemeinbevölkerung (Fischer-Fels, 2020). Durch solche Praktiken wird dieses Risiko noch erhöht.

Die Pandemie hat im Jahr 2020 die Wurzel des Übels überdeutlich gemacht. Die marktorientierte Krankenhausfinanzierung führte dazu, dass im Pflegebereich ein drastischer Stellenabbau stattfand. Krankenhäuser sind zu Wirtschaftsbetrieben geworden, die sich rentieren müssen.

Grundlage für die Bezahlung der Krankenhäuser durch die Krankenkassen sind die Fallpauschalen, die sogenannten DRGs (Diagnosis Related Groups). Geld fließt nur noch pro »Fall«. Die tatsächlichen Kosten des Krankenhauses spielen in diesem Vergütungssystem keine Rolle mehr. Der Geldbetrag, der erstattet wird, steht schon fest, bevor Art und Umfang von Diagnostik und Therapie festgelegt wurden. Der weitere Verlauf variiert ohnehin in weiten Grenzen. Deswegen werden Diagnostik und Therapie so gestaltet, dass die Vergütung vorteilhaft für das Krankenhaus ist. Die Preise für die Behandlung jedes einzelnen Patienten werden dafür mit einem unfassbar bürokratischen Aufwand ermittelt.

In anschließenden flächendeckenden »Abrechnungsschlachten« zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen ist eine unüberschaubare Anzahl von Menschen damit beschäftigt, auf Kassenseite Rechnungen zu kürzen und auf Krankenhausseite das Geld einzutreiben. Als Folge dieser »Schlachten« beschäftigen beide Parteien, von Anwälten beraten, regelmäßig die Sozialgerichte. Nicht auszudenken, wie viele Menschen in den Krankenhäusern plötzlich Zeit für Patienten haben könnten, gäbe es ein einfaches und unbürokratisches Finanzierungssystem.

Einstweilen herrscht die Marktlogik: Mehr Nachfrage ist gut fürs Geschäft. Je mehr Fälle, umso besser. Noch besser, je weniger Kosten dieses »Mehr an Fällen« verursacht. Wie jeder Wirtschaftsbetrieb müssen sich die Krankenhäuser um Wachstum bemühen – also darum, dass bei ihnen ständig neue Patienten eingeliefert werden. Das müssen sie auch deshalb, weil das gegenwärtige Preissystem die Kliniken zur Konkurrenz untereinander zwingt. Dabei gibt es in diesem »Geschäftsfeld« keinen fairen Wettbewerb, denn die dafür notwendigen »Kunden« sind Patienten, kranke Menschen. Und wenn man krank ist, kann man keine wirklich freie Entscheidung treffen.

Im Krankenhausbereich herrscht mittlerweile ein Wettbewerb um den höchsten Erlös. Viele gut bezahlte Operationen sind gut fürs Betriebsergebnis. Genaues Beobachten, geduldiges Abwarten und einfühlsame Gespräche mit Patient*innen werden dagegen entweder extrem schlecht oder gar nicht bezahlt.

Wie durch ein Brennglas werden heutzutage die Fehlentwicklungen deutlich, die eingeleitet wurden, lange bevor das neue Coronavirus um die Jahreswende 2019/2020 auf Menschen übergesprungen ist. Die in Deutschland derzeit praktizierte Art der Finanzierung verursacht Personalknappheit, besonders beim Pflegepersonal, unnötige Kosten und schlechte Ergebnisse. Außerdem entwertet sie die Helfer*innen und reduziert sie zu Eurobeträgen, die jeden Monat auf Kostenstellen verbucht werden.

Das System der Fallpauschalen brachte keine Erleichterungen im Krankenhausbetrieb, sondern führte zu einer überbordenden Bürokratie, die zusätzliche Zeit kostet. Überlastung, Hetze und Arbeiten am Limit waren schon im Normalbetrieb die Regel, in Zeiten von COVID-19 gerät der gesamte Ablauf auf den Stationen an seine Grenzen.

Ein gefährlich krankes System

Tötungen in Kliniken hat es schon immer gegeben. Man wird sie wahrscheinlich nie vollständig vermeiden können. Aber es gibt Umstände, die tatbegünstigend wirken. Hetze und Leistungsdruck, Personalmangel und ein verantwortungsloser Umgang mit Fehlern gehören dazu.

Der Systemwandel in den Krankenhäusern mit den Fallpauschalen führte zu mehr Krankenhauspatienten bei weniger Pflegepersonal. Daraus resultierten unerträgliche Arbeitsbedingungen und eine mangelhafte Versorgung der Patient*innen. In der Vergangenheit reagierten die Verantwortlichen in den Kliniken auf diese Zustände mit Gleichgültigkeit.

Rund 30 Jahre ist es her, dass 1990 eine Tötungsserie in der Westfälischen Klinik Gütersloh aufgedeckt wurde. Tatort war ein Krankenhaus, in dem ich selbst von 1982 bis 1988 zum Facharzt ausgebildet wurde und später als ärztlicher Direktor gearbeitet habe. Ein pflegerischer Kollege, den ich kannte, brachte damals Patienten um, die ich behandelt hatte.

Du sollst nicht töten. Dieses Gebot und Gesetz zählt zu den Tabus, die in unserer Zivilisation tief verankert sind. Vorsätzliche Tötungen werden hart bestraft. Wir sind fassungslos, wenn ein Mensch umgebracht wurde. Noch größer ist das Entsetzen, wenn der Tatort ein Krankenhaus und der Täter ein Helfer war. Schließlich sind die Opfer kranke Menschen, ebenso hilflos wie arglos. Sie hatten sich voll Vertrauen ins Krankenhaus begeben. Dort geschah dann, was niemand für möglich hielt: Patient*innen wurden von Helfer*innen umgebracht. Das ist erschütternd  – für die Hinterbliebenen und die Öffentlichkeit, für jeden Einzelnen.

Wie kann so etwas geschehen, wie werden Helfer zu Tätern? Wie kann es sein, dass quasi vor den Augen von Kolleg*innen gemordet wird? Welche Umstände verringern oder erhöhen das Risiko für derartige Verbrechen? Können wir sie überhaupt verhindern? Das sind Fragen, die sofort von der Tagesordnung verschwinden, wenn nach dem Bekanntwerden einer solchen Mordserie Schrecken und erste Empörung verebben. Wir müssen uns diesen Fragen aber stellen. Jeder von uns kann jederzeit krank werden und auf ein Krankenhaus angewiesen sein. Wir müssen uns dort sicher versorgt wissen.

Im Sommer 2019 schockierten dann die Taten des Krankenpflegers Niels H. die Bevölkerung der Bundesrepublik. Er hatte über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren nachweislich 87 Patienten ermordet (Landgericht Oldenburg, 2019). Dieser Fall nimmt allein durch sein Ausmaß eine Sonderstellung ein. Eines ist jedoch gewiss: Seine berufliche Umgebung hat versagt. Sie hat es ihm viel zu leicht gemacht und vieles vertuscht. In den meisten anderen Fällen, von denen später berichtet wird, verhielt es sich leider ähnlich.

Werden solche Mordserien bekannt, dann treten die Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung sofort vor die Kameras und reden stereotyp von Einzeltaten krimineller Psychopathen. Sie bestehen darauf, dass man nicht ganze Berufsstände unter Generalverdacht stellen dürfe.

Die Behauptung, es handle sich um Einzelfälle, ist jedoch gänzlich unbewiesen und höchstwahrscheinlich falsch. Sie lenkt von der eigenen Verantwortung dafür ab, dass aus dem Krankenhauswesen eine Krankenhauswirtschaft geworden ist. Genau diese »Vermarktung« hat zu Versorgungsdefiziten und zu dieser personellen Misere geführt. Die Ökonomisierung der Abläufe führte in den Krankenhäusern durch Personalabbau, mehr Bürokratie und eine größere Zahl von Patient*innen zu einer verschlechterten Versorgung kranker Menschen. Doch die Kritik an diesem System wird meistens fadenscheinig so umgedeutet, als handelte es sich dabei um eine bösartige Pauschalkritik an Pfleger*innen und Ärzt*innen.

Am 22. Januar 2019 war der Prozess gegen Niels H. in vollem Gange. An diesem Tag strahlte Welt TV ein Interview zum Thema aus. Studiogast war der amtierende Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft. Er sagte unter anderem: »Ich kann fest behaupten, dass sich ein solcher Fall heute nicht wiederholen könnte.« (Hinrichs, 2019)

Vom Zeitpunkt dieses Interviews bis zum November 2020 sind in Deutschland allein im Klinikbereich zwei Krankenpfleger und ein Arzt verhaftet worden. Sie alle sind dringend verdächtig (Krafft-Dahlhoff et al., 2020), im Krankenhaus Patienten umgebracht (Gerber, 2019) oder es zumindest versucht zu haben (Hans, 2020).

Manipulative Statements wie das des Hauptgeschäftsführers der Deutschen Krankenhausgesellschaft zeugen von der Unkenntnis in Bezug auf Einflussfaktoren und Häufigkeit solcher Verbrechen im Krankenhaus. Sie gaukeln Patientensicherheit vor, wo es keine gibt, und erschweren so eine wirksame Prävention.

Die dauerhafte Überforderung der Beschäftigten im Gesundheitssystem ruft bei den Betroffenen zwangsläufig Ohnmachtsgefühle und Frustrationen hervor: Sie sehen die Defizite, können aber nichts verändern. Dieser Dauerstress ist gefährlich. Wenn unter ständigem Zeitdruck im Laufschritt gearbeitet wird, muss der arbeitende Mensch sich selbst schützen. Denn die Kraft reicht nicht, und es gibt keine Zeit und keine Energie für den umsichtigen und aufmerksamen Blick nach rechts und nach links. Man beschränkt sich auf das Dringlichste und blendet alles andere aus. So sieht die Arbeit in deutschen Kliniken aus. Jede und jeder ist froh, wenn er oder sie am Schichtende die Tür hinter sich zumachen und nach Hause gehen kann.

Gefährlich wird es dann, wenn Ärzt*innen oder Pflegekräfte gereizt reagieren, Gespräche abblocken, Patienten grob behandeln oder beschimpfen. Wenn fester zugepackt, geschubst oder an den Haaren gezogen wird. Wenn Kranken nicht verordnete Medikamente verabreicht werden. Sind dann die unmittelbaren Kollegen nicht aufmerksam, schweigen sie oder reagieren nicht, schreiten Vorgesetzte nicht ein oder vertuschen das Beobachtete gar, dann wird eine Grenze überschritten. Diese Grenzüberschreitung kann für Patient*innen lebensgefährlich werden.

Ohnehin sterben in deutschen Krankenhäusern täglich nicht nur deshalb Menschen, weil ihre Erkrankung tödlich wäre oder sie an Altersschwäche gelitten hätten. Nein, sie sterben durch ärztliche Fehleinschätzungen, falsche Medikamente und Therapien oder überlastetes Personal, das Fehler macht. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit geht von 20000 vermeidbaren Todesfällen in der Krankenhausversorgung aus – jedes einzelne Jahr. (Schrappe, 2018)

Einfach mal »nachhelfen«

Es gibt einen weiteren, erschreckenden Grund für den Tod von Menschen in deutschen Krankenhäusern: Mitarbeiter*innen »helfen nach«, sie praktizieren »unverlangte Sterbehilfe«. Wahrscheinlich keine Seltenheit, wie eine eigene Studie zeigte.

Im Jahr 2015 wurde an der Universität Witten/Herdecke eine Untersuchung zur Arbeitssituation der Gesundheitsberufe und zur Einstellung der Beschäftigten zum Lebensende durchgeführt. Daran beteiligten sich 4629 Ärzt*innen, Kranken- und Altenpfleger*innen. Sie alle füllten umfangreiche Fragebögen aus.

Eine Frage dort lautete: »Haben Sie selbst schon einmal aktiv das Leiden von Patienten beendet?« Eine andere Frage: »Haben Sie in den vergangenen zwölf Monaten schon einmal von einem oder mehreren Fällen gehört, dass jemand das Leiden von Patienten aktiv beendet hat?«

Gibt jemand an, das Leben eines Patienten aktiv beendet zu haben, kann damit Unterschiedliches gemeint sein. Darunter dürften aber auch solche Fälle sein, bei denen es sich um Tötung auf Verlangen oder gar unverlangte Tötungen handelt.

Die Auswertung der Fragebögen ergab Erschreckendes: 172 Personen hatten in den vergangenen zwölf Monaten von absichtlicher Lebensbeendigung am eigenen Arbeitsplatz erfahren. 77 der Befragten bekannten, selbst vorsätzlich lebensbeendende Handlungen durchgeführt zu haben. Mehr als ein Drittel dieser Personen war dafür nicht um Hilfe gebeten worden. (Beine und Schubert, 2017) Das Studienergebnis war ein deutlicher Hinweis darauf, dass es wahrscheinlich mehr Tötungsdelikte in deutschen Krankenhäusern gibt als bisher angenommen.

Diese Annahme wird durch eine eigene Folgestudie erhärtet. im Zeitraum von September bis Dezember 2018 nahmen ausschließlich in deutschen Kliniken beschäftigte Ärzt*innen und Pfleger*innen an einer anonymen Online-Befragung teil. Die Ärzt*innen wurden bundesweit über die Kooperation mit einem Adressenverlag per E-Mail angeschrieben. Pfleger*innen wurden über eine berufsspezifische Anzeige in einem sozialen Netzwerk, über einen Hinweis im Newsletter des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe und im Pflegeportal Bibliomed um Teilnahme an der Untersuchung gebeten. Am Ende beteiligten sich 2507 Ärzt*innen und 2683 Pflegekräfte. Sie wurden gefragt, ob sie während ihrer Berufstätigkeit aktive Handlungen mit dem Ziel durchgeführt hatten, das Leben eines Menschen absichtlich zu beenden. 278 Ärzt*innen (11,04 Prozent) und 117 Pfleger*innen (4,17 Prozent) hatten bereits das Leben mindestens eines Patienten absichtlich beendet. (Beine, 2020)

Die Ergebnisse dieser Studie weisen erneut auf eine hohe Dunkelziffer von Tötungsdelikten im Krankenhaus hin, die man natürlich auch – beschönigend – »unverlangte Sterbehilfe« nennen kann. (Mehr dazu ab Seite 179.)

Arbeitsüberlastung macht es Tätern leicht

Der von der Ökonomisierung erzwungene Personalabbau mit seinen Folgen ist bei den bisher bekannt gewordenen Tötungsserien eine der Ursachen für die späte Aufdeckung und die hohen Opferzahlen. Das System erschwert das Erkennen von und den offenen Umgang mit Fehlentwicklungen.

Deswegen reicht es nicht, die Persönlichkeitsstruktur der Täter zu betrachten, um das abgründige Phänomen der Mordserien in Kliniken zu verstehen. Es reicht nicht, das Verhalten der Teams und der Vorgesetzten zu analysieren.

Hinzukommen muss der Blick auf eine Krankenhauswirtschaft, die vermeidbare Krankenhausaufenthalte verursacht, gleichzeitig Personal abbaut und die Beschäftigten zwingt, permanent gegen eigene fachliche und ethische Ansprüche zu verstoßen.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es beängstigende Mordserien in Kliniken gibt, und versuchen, frühzeitig jene Menschen zu erkennen, die Gefahr laufen, zu Tätern zu werden. Wir müssen verhindern, dass politisch und administrativ Verantwortliche, Vorgesetzte und direkte Kolleg*innen durch Unkenntnis, Ignoranz, Untätigkeit oder durch aktives Vertuschen die Tatzeiträume verlängern und damit für höhere Opferzahlen mitverantwortlich sind.

Die Lehren aus der Pandemie

Die Pandemie hat deutlich gemacht, dass man Betten und Beatmungsgeräte relativ schnell beschaffen kann, Pfleger*innen und Ärzt*innen aber nicht. Systematischer Personalabbau über Jahrzehnte hinweg und miserable Gehälter führen dazu, dass der Nachwuchs ausbleibt. Mangelnde Wertschätzung und Gleichgültigkeit wirken auf Dauer demotivierend.

Doch in der Pandemie wurden die Gesundheitsberufe auf einmal als »systemrelevant« erkannt. Es waren ein paar kleinere Verbesserungen geplant. Die »Pflege am Bett« sollte aus den Fallpauschalen herausgerechnet und über ein eigenes Pflegebudget finanziert werden. 2019 war für vier medizinische Disziplinen im Krankenhaus ein fester Personalschlüssel für die Pflege eingeführt worden, zwar äußerst knapp bemessen, aber immerhin. Im März 2020 wurde diese Maßnahme gleich wieder ausgesetzt. Eingeführt als wichtige Maßnahme zur Stärkung der Patientensicherheit wurde sie mit Beginn der Corona-Epidemie für verzichtbar gehalten. Es gab schlicht zu wenig Fachpersonal.

Es muss endlich Schluss sein damit, dass in deutschen Krankenhäusern Helfer*innen permanent in eine nicht tragbare Verantwortung für zu viele Patienten gezwungen werden. Was das für die Patientensicherheit bedeutet, kann man seit vielen Jahren wissen. Die erhöhte Arbeitsbelastung bei Pflegekräften führt zu einer erhöhten Sterblichkeit von Krankenhauspatient*innen. (Aiken et al., 2014)

Wo Menschen arbeiten, passieren zwangsläufig Fehler. Irren ist menschlich, auch im Krankenhaus. Gerade deshalb muss dafür gesorgt werden, dass dort gute Arbeitsbedingungen herrschen. Das medizinisch und pflegerisch Notwendige und die menschliche Zuwendung müssen gefördert werden.

Missstände an deutschen Krankenhäusern

Fluch der Ökonomisierung

All jene, die Tag für Tag und Nacht für Nacht in deutschen Kliniken ihren Dienst an Menschen leisten, haben Respekt, Achtung und eine bessere Bezahlung verdient. Sie leiden seit Jahren unter den Arbeitsbedingungen. Sie wissen, wie es sich anfühlt, dreißig oder mehr Patienten allein versorgen zu müssen und eigentlich ständig für zu viele notleidende Menschen gleichzeitig da sein zu sollen.

Den Pfleger*innen, Ärzt*innen und Therapeut*innen, die in Kliniken ihre Arbeit tun, geht es schlecht und mit ihnen ihren Patienten. Die Mitarbeiter sind gehetzt, arbeiten im Dauerstress. Kein Wunder. Die Arbeitslast, besonders für Pflegende, ist in den letzten 25 Jahren stark angestiegen. Eine Pflegekraft muss heute deutlich mehr Kranke versorgen als noch vor zehn Jahren. Außerdem sind die Patient*innen älter und bleiben kürzer auf den Stationen. Die Folgen sind entsprechend: Stress und Erschöpfung, Hetze und Frust.

Es fehlt an Zeit für eine angemessene und vor allem menschenwürdige Versorgung. Damit wir uns richtig verstehen: Krankenhäuser sind keine Sehnsuchtsorte. Das brauchen sie auch nicht zu werden. Aber sichere Orte, an denen uns in der Not geholfen wird, das müssen sie sein und bleiben.

Wir vertrauen den Menschen, die dort arbeiten. Wir verlassen uns darauf, dass ein Arzt weiß, was er tut, und Pflegekräfte ihre Arbeit gut machen. So wie wir unsere Kinder in Krippen und Kitas erzieherischem Personal anvertrauen, so möchten wir uns selbst den Mitarbeitenden in Krankenhäusern anvertrauen.

Sie können jedoch ihre Aufgabe nicht erfüllen, wenn sie, wie Wirtschaftsbetriebe, nach marktwirtschaftlichen Prämissen funktionieren sollen. Wenn anstelle der kompetenten medizinischen oder pflegerischen Versorgung die Wirtschaftlichkeit im Vordergrund steht. Ein Pflegemitarbeiter sagt dazu deutlich: »Es geht nicht mehr um den Patienten, sondern es geht um gut vergütete Leistung, um Geld.«

Das früher obligatorische Mitarbeiterfrühstück fällt mittlerweile häufig aus. Teambesprechungen finden oft nur noch zwischen Tür und Angel statt. Pflegekräfte und Mediziner*innen hetzen von Bett zu Bett, immer darauf bedacht, dass niemand zu Schaden kommt und die Station optimal belegt ist, um »Erlösausfälle« zu vermeiden. Unter diesen Voraussetzungen bleibt nur noch Zeit für das Nötigste. Keine Zeit mehr fürs Beobachten, für Beziehungspflege, für Gespräche, auch mit Angehörigen.

Vertrauensvolle Gespräche, das Erkennen von Bedürfnissen und Verhaltensbeobachtungen jedoch sind unverzichtbare Grundpfeiler für eine gute Versorgung, brauchen aber Zeit. Die Helfer*innen können weder in der nötigen Ruhe ihrer Arbeit nachgehen, geschweige denn, ihre Arbeit ausreichend reflektieren, wozu auch der Austausch mit dem Team gehört.

Außerdem zählt der Umgang mit Sterben, mit Leid und mit Tod in den Krankenhäusern zum Alltag – damit sind viele zwangsläufig überfordert. Jedem von uns würde es genauso gehen. Diese Arbeitsbedingungen führen dazu, dass viele Pflegekräfte und Ärzte ihre Arbeit nur noch freudlos und angestrengt tun.

Auch Patienten und Angehörige begreifen in der Regel schnell, dass das Krankenhaus nicht der Ort ist, für den sie es gerne halten möchten. Kranke merken, dass sie nicht die Aufmerksamkeit, die Informationen und die Betreuung bekommen, die sie sich wünschen und die ihnen zustünde. Oft verstehen sie nicht, was Ärzte ihnen erklären. Oder noch schlimmer: Niemand erklärt ihnen irgendetwas. Angehörige müssen sich im Klinikalltag damit abfinden, dass sie den Tagesablauf, die medizinische Routine stören. Sie halten mit ihren Fragen auf, werden abgewimmelt, belächelt oder zuweilen auch unfreundlich abgewiesen. (Berndt, 2013)

Solche Verhältnisse sind gefährlich, sie machen krank und verhindern Heilung. Patient*innen brauchen tragfähige Beziehungen zu den Pflegenden. Sie müssen spüren, dass man sich wirklich um sie kümmert. Das ist ein wichtiger Faktor, um gesund zu werden oder um die letzte Lebensphase würdig zu gestalten.

Für die Pflegekräfte ist Zeit eine Grundvoraussetzung dafür, dass sie ihre Aufgaben gut erfüllen können. Achtsamkeit im Umgang mit Patienten und die Zeit für den kollegialen Austausch sind unverzichtbar, um mit den Belastungen überhaupt zurechtzukommen. Keiner lässt vorsätzlich Patienten eine Stunde vor ihrem Mittagessen sitzen, ohne zu helfen. Niemand verwechselt in der Eile absichtlich den Blutdrucksenker mit dem Herz-Rhythmus-Medikament. Selbst die Krankenhaushygiene leidet seit Jahren unter dem Arbeitsdruck.

All diese Umstände tragen auch dazu bei, dass es nicht auffällt, wenn Kolleg*innen sich unter diesem Druck verändern, sich zurückziehen und verbittert werden. Es ist nicht verwunderlich, dass Achtsamkeit und Empathie abhandenkommen, dass sich Gleichgültigkeit und Zynismus entwickeln.

Kranke Menschen sind keine Kunden, Pfleger*innen, Ärzt*innen und Therapeut*innen keine Dienstleister*innen. Und Gesundheit ist keine Ware. Wenn die Beziehungen von Patient*innen zu ihren Helfer*innen zum Geschäftskontakt verkümmern, hat das Folgen für uns alle.

Geld heilt nichts

Wenn Kraft und Zeit nicht mehr für den umsichtigen und achtsamen Blick nach rechts und nach links reichen, dann muss man sich auf das Dringlichste beschränken und alles andere ausblenden. »Das ist eigentlich ein schöner Beruf, aber nicht zu diesen Bedingungen«, so formulierte es eine Krankenschwester.

In ihrer Not reagieren manche Pflegekräfte und Ärzt*innen mitunter sogar ablehnend oder barsch, was natürlich weder der Genesung der Patienten noch dem eigenen Wohlbefinden dient. »Nach 16 Stunden Notaufnahme, da wird der nächste Patient zum Feind«, so formulierte es neulich ein Arzt.

Manche machen nur noch Dienst nach Vorschrift, andere reduzieren auf Teilzeit, einige werden krank. »Ich gehe ständig mit dem Gefühl nach Hause, meine Arbeit nicht gut gemacht zu haben«, sagt eine Pflegerin. Das demotiviert, macht krank. Im Durchschnitt halten es Krankenpfleger und -schwestern nur sechs Jahre in ihrer Einrichtung aus, dann wechseln sie die Stelle oder gar den Beruf (Simon et al., 2010).

Diese Zustände sind seit Jahrzehnten bekannt, lange hat das niemanden interessiert. Inzwischen versucht die Politik gegenzusteuern. Der Fachkräftemangel in Krankenhäusern ist zum Thema geworden, aber schnelle Hilfe ist nicht in Sicht. Zu sehr haben die Gesundheitsberufe durch Gleichgültigkeit, mangelnde Wertschätzung und schlechte Bezahlung in den vergangenen Jahrzehnten an Attraktivität verloren. Das jahrzehntelange Sparen am Personal rächt sich bitter.

Zeitdruck und Stress machen unachtsam und fehleranfällig. Einen eindrucksvollen Beleg für diese alte Weisheit liefert das Experiment von Darley und Batson. Sie schickten dafür Studierende mit dem Auftrag in ein Nachbargebäude, dort einen Vortrag zu halten. Einem Drittel der Studierenden wurde gesagt, es wäre noch viel Zeit, dem mittleren Drittel, sie müssten sofort los, und dem Rest, sie wären zu spät dran. Auf dem Weg zum Vortragsort trafen die Untersuchungsteilnehmer überraschend auf einen am Boden liegenden, offenbar hilfsbedürftigen alten Mann, der hustete und stöhnte. Das Ergebnis: Von den Studierenden mit viel Zeit halfen 63 Prozent, von denen ohne Zeitdruck 45 Prozent und von denen in Zeitnot nur zehn Prozent. Ausschlaggebend für die Bereitschaft, Hilfe zu leisten, war der Zeitdruck. Viele sagten später, sie hätten den hilfsbedürftigen Menschen zwar gesehen, wären aber wegen des Zeitdrucks so in Gedanken gewesen, dass sie die Situation nicht wirklich wahrgenommen hätten. (Darley und Bateson, 1973)

So ist es im wirklichen Leben auch. Unter Zeitdruck steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Situation nicht die nötige Beachtung erfährt und folglich auch als »nicht so wichtig« ausgeblendet wird. In genau solche Situationen werden die Mitarbeiter*innen in deutschen Krankenhäusern dauerhaft gezwungen. 2007 wurden in Deutschland 17,2 Millionen »Fälle« im Krankenhaus behandelt. Zehn Jahre später waren es 19,5 Millionen »Fälle«. Hinzu kommt, dass die Kranken im Durchschnitt älter geworden sind und mehr statt weniger Zuwendung brauchen.(Statistisches Bundesamt, 2018b)

Eine Studie zeigt, dass Klinikärzt*innen nur in 13 Prozent ihrer Arbeitszeit direkten Kontakt mit Patient*innen haben. Das ist etwa die Hälfte der Zeit, die Ärzt*innen vor dreißig Jahren am Patientenbett verbrachten. (Chaiyachati et al., 2019)

Dieser Mangel an Zeit für direkte Patientenkontakte ist ein wichtiger Grund für die Unzufriedenheit vieler Krankenhausmitarbeiter*innen. Bei einer Befragung des Marburger Bundes von 6200 Ärzt*innen beklagten zwei Drittel der Beschäftigten in Krankenhäusern, dass ihnen für die Behandlung ihrer Patienten nicht ausreichend Zeit zur Verfügung steht (Marburger Bund, 2017).

Im Jahr 2000 waren 332269 pflegerische Vollkräfte in deutschen Krankenhäusern beschäftigt. Nachdem 2007 mit 298325 der Tiefststand (Deutsche Krankenhausgesellschaft, 2015) erreicht wurde, ist die Anzahl der pflegerischen Vollkräfte wieder auf 328327 im Jahr 2017 gestiegen (Deutsche Krankenhausgesellschaft, 2020). Die derzeitige Personalausstattung in der Pflege entspricht also knapp dem Niveau von 1995 (Klauber et al., 2018:70).

Es ist die jahrzehntelange systemisch verursachte Personalknappheit, die Mitarbeiter*innen dazu zwingt, an ihrer Belastungsgrenze und darüber hinaus zu agieren. Viele Mitarbeiter*innen sagen im Gespräch, dass sie ihre Arbeit trotzdem gern machen. Sie wollen helfen, damit es Menschen besser geht, aber sie merken oft, dass die Arbeitslast zu hoch ist, um wirklich gute Arbeit zu machen. Überforderung macht hilflos, Hilflosigkeit macht verzweifelt und Verzweiflung aggressiv. Die Folgen sind schlimm.

Pflege am Limit

Ein Kollege, nennen wir ihn Thomas, ist Mitte fünfzig. Seit vielen Jahren arbeitet er als Stellvertretender Pflegedienstleiter auf einer großen kardiologischen Intensivstation. Er sagte: »Noch bevor schwerwiegende Fehler passieren, merkt man, dass etwas nicht stimmt.«

Sein Beispiel: Ein Patient bekommt mit mehr als einer Stunde Verspätung sein Mittagessen. Er braucht Hilfe, kann sich nicht allein versorgen. Aber weil andere Dinge wichtiger sind, bleibt die Mahlzeit erst einmal stehen. Das ist für sich genommen noch kein Fehler, »aber meinen Kindern würde ich das nicht zumuten.« Im Krankenhaus, fügte er bitter hinzu, wären zuerst die Patienten die Leidtragenden, dann würden die Pflegekräfte missbraucht. »Wir sind es, die mit unserem Gewissen klarkommen müssen.« Manchmal würde er gerne kündigen, aber als Familienvater sei das nicht so leicht.

Auch Sabine, die seit dreißig Jahren in der Pflege arbeitet, würde am liebsten etwas anderes machen. Mit vier Kolleg*innen ist sie zuständig für 45 Betten – in den letzten Monaten waren sie sogar oft nur zu dritt.

Sabine brach vor einem Jahr mitten im Dienst zusammen. Kollaps, totale Überlastung. Das war ihr schon einmal passiert, einige Jahre zuvor, auf einer anderen Station. An ihrer derzeitigen Arbeitsstelle wären die Arbeitsbedingungen lange ganz in Ordnung gewesen, doch die Situation hätte sich kontinuierlich verschärft. Sie liebte ihr Team, machte ihre Arbeit mit Leidenschaft. Und jetzt fürchtete sie, dass genau das ihr Problem sein könnte. »Ich bin Perfektionistin«, sagte sie. »Und ich sehe, wenn ich die Arbeit nicht machen kann, die eigentlich gemacht werden müsste. Weil zu wenig Personal da ist. Das macht mich fertig.« Sie hätte schon lange keine Zeit mehr, um Patienten gründlich zu waschen. Und das wäre noch das geringste Problem.

Das ganze System wäre nur noch für eine Minimalversorgung ausgelegt. »Eigentlich dürften wir nur in das Zimmer reingehen, Blutdruck messen, Tabletten hinstellen, Pflaster wechseln, rausgehen. Mehr ist nicht drin. Wir haben aber viele alte, schwer kranke Leute auf Station, die man komplett versorgen muss. Das können wir nicht leisten, deshalb sind wir froh, wenn uns Angehörige einen Teil der Arbeit abnehmen.« Auf die Frage, ob das denn dann nur Arbeiten wie Hilfe beim Essen oder Waschen beträfe, blieb ihre Antwort zunächst aus. Sabine starrte eine Zeit lang ins Leere. »So sollte es sein. Natürlich.«

Zwischen den Zeilen konnte man deutlich heraushören, dass es auch für andere Dinge nicht mehr reicht. Die Situation verschärft sich zusätzlich zur Urlaubszeit oder wenn Kollegen krank sind. Dann muss unter Umständen ein Pfleger 15 zusätzliche Patienten mit übernehmen. Sogar offiziell heißt es dann, jetzt könne schon mal »von den Standards abgewichen werden«.

Sabines Geschichte ist eine von vielen, an der sich aufzeigen lässt, wie Personalknappheit und Arbeitslast zuerst Auswirkungen auf die Kranken haben und dann auf die Mitarbeitenden. Patient*innen können nur unzureichend versorgt werden. Pfleger*innen werden aufgrund der Überlastung krank, können und/oder wollen zu diesen Bedingungen nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten.

Was könnten die Mitarbeiter aus den Krankenhäusern tun, um die Situation zu verbessern? Das Arbeitsrecht sieht die Möglichkeit vor, dass ein Arbeitnehmer bei Vorgesetzten eine Überlastungsanzeige machen kann. Wer seinen Arbeitgeber über eine akute Belastung in Kenntnis setzt, kann für etwaige Fehler in dieser Zeit schwerlich verantwortlich gemacht werden.

Konkret hilft das dem Überlasteten allerdings nur wenig weiter. Verfasst man eine solche Überlastungsanzeige, ändert sich zunächst einmal nichts. Man muss im Alltag trotzdem irgendwie klarkommen.

Wie eine Pflegerin einmal resigniert zu diesem Thema bemerkte: »Nach so einer Anzeige wird ja niemand Neues hergezaubert. Das Team muss das irgendwie schaffen. Und wenn dann einer wegen einer Belastungsanzeige vielleicht eine zusätzliche Pause bekommt, muss der Rest das wuppen. Da überlegt man sich schon, ob man so was macht. Zumal man nie weiß, was das langfristig für Konsequenzen nach sich zieht und ob es einen nicht den Job kosten kann.«

Trotzdem würden sich die Überlastungsanzeigen auf ihrer Station häufen. Klinikleitung, Ärzte und Mitarbeiter sollten in der steigenden Anzahl der Anzeigen ein Zeichen sehen. Ebenso in den typischen Angaben von Patient*innen in Bewertungsbögen über ihren Aufenthalt. Hektisches Personal und fehlende Erklärungen werden häufig beklagt. Für die Mitarbeiter wäre dieses Feedback zwar frustrierend, aber unvermeidbar, weil es die Realität wiedergäbe.

Im Grunde müsste es einen großen Aufstand geben. Doch resigniert erklärte die Krankenschwester: »Wir sind alle zu gutmütig.« Man übte den Beruf aus, weil man eben irgendwie sozial eingestellt wäre – und weil man sich die Situation schönredete.

Für Pflegekräfte wie auch für viele Ärzt*innen ist klar: Das finanzielle Betriebsergebnis ist das Maß der Dinge im Krankenhausalltag. Die Verwaltung hat aber nur wenig Einblick in die medizinischen Abläufe, gleichwohl wird dort bestimmt, wie es im Krankenhaus zu laufen habe.

Sabine, jene Krankenschwester, die die Überbelastung mit einem Kollaps büßen musste, sagte dazu: »Da fühle ich mich absolut vernachlässigt und verarscht, wenn mir dann einer sagt, ihr müsst noch schneller machen.«

Der Pflegedienstleiter einer Intensivstation pflichtete ihr bei. Wenige Betriebswirte wüssten, wie ein Krankenhaus funktioniere. Trotzdem wäre das Einzige, was zählte, die Fallzahl. Die Pflege hinge immer vom Etat des jeweiligen medizinischen Bereichs ab und litte an dem Problem, zu teuer zu sein – allein aufgrund des notwendigen Personals. Er bedauerte, dass der Berufsstand der Pflege sich in seinem Unternehmen, wie er die Klinik nannte, nicht positionieren könnte. Gegen die fortschreitende Ökonomisierung hätte es keine Widerstände gegeben, keine Gegenargumente. Im Gespräch mit ihm fielen auch die Worte »Opferrolle« und »Abwärtsspirale.« Der Ökonomisierungsprozess hätte vor allem eines mit sich gebracht: »Wir dünnen die Qualität in der Fläche aus, um punktuell leisten zu können, was gefordert ist.«