Axel Pütter • Frank Schneider
15 Morde und andere Todesfälle
Wahre Kriminalgeschichten eines Hauptkommissars
Rowohlt E-Book
Nach seinem Studium zum Kriminalkommissar wurde Axel Pütter 1988 Mitglied, 1994 Leiter einer Mordkommission und 2002 stellvertretender Dienststellenleiter im Fachkommissariat für Tötungsdelikte bei der Polizei Bochum. Gleichzeitig war er Dozent für Kriminologie, Kriminalistik und Rechtskunde. Heute ist er Leiter der Pressestelle des Polizeipräsidiums Bochum.
«Tut mir leid, du musst ran. Wir haben eine erstochene Frau in Witten. Sieht aber nicht nach einem komplizierten Fall aus, der Täter hat sich bereits gestellt.»
Auch wenn es verrückt klingt: Ich war trotz der schlimmen Tat erst einmal erleichtert. Bei Tötungsdelikten dieser Art sagen wir Ermittler: «Der Mörder sitzt auf der Leiche.»
Nach drei Tagen hatten wir den Fall mehr oder weniger abgeschlossen. Der Täter saß in U-Haft. Er war geständig, die Beweise waren eindeutig, und wir hatten ein klares Motiv – verschmähte Liebe. Dass Motive aber auch abstrus und unfassbar sein können, sollte ich schon ganz bald erfahren. Sehr bald. Im Grunde am selben Tag …
Tatort: Ein Hauptkommissar ermittelt.
Vom Serienmörder bis zum kaltblütigen Totschläger, vom verzweifelten Familienvater bis zum Frauenjäger: 20 Jahre lang war Axel Pütter an der Aufklärung von Tötungsdelikten aller Art – unfassbaren, bewegenden und skurrilen – beteiligt und überführte zahlreiche Täter. Nun öffnet er die Akten und berichtet von den Fällen, die ihn in seiner Laufbahn am intensivsten beschäftigt und geprägt haben. Dabei gibt er außergewöhnliche Einblicke in die Welt der heutigen Polizeiarbeit.
Manche Personen in diesem Buch haben aus Gründen der Sicherheit einen anderen Namen erhalten. Die Schilderungen und Dialoge beruhen auf Erinnerungen.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Februar 2012
Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
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Lektorat Regina Carstensen
Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München
(Foto des Autors: Frank Schneider)
Fotos im Innenteil: privat, außer S. 91, 109, 123, 141, 161, 181 und 235 (Frank Schneider)
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ISBN Printausgabe 978-3-499-62812-2 (3. Auflage 2013)
ISBN E-Book 978-3-644-45751-5
www.rowohlt.de
Anmerkung: Die Fotoverweise im Impressum beziehen sich auf die Seitenzahlen der Printausgabe.
ISBN 978-3-644-45751-5
Ein Buch über meine Arbeit zu schreiben ist für mich ein großes Glück. Es bietet die Möglichkeit, meinen phantastischen Beruf mit seinen verschiedenen Facetten anderen Menschen näherzubringen. So kann ich seine Freuden verdeutlichen, aber auch, wie psychisch belastend es sein kann, festzustellen, dass es Personen gibt, die Lust dabei verspüren, jemanden auf brutale Weise zu töten. Ich kann zeigen, wie es ist, einen Täter festzunehmen, den es erregt, wenn er nachts durch dunkle Straßen fährt, Frauen auf ihrem Heimweg folgt und sie dann niedersticht. Wenn ein nach außen hin «normaler» Familienvater aus Verzweiflung zum grausamen Mörder an seiner Frau und seinen Kindern wird. Oder dass manchmal nur Bruchteile von Sekunden, der pure Zufall oder vielleicht das Schicksal zwischen Leben und Tod entscheiden.
Besonders wichtig ist für mich, darzustellen, dass die Polizei einen entscheidenden Beitrag zu unserer aller Sicherheit leistet. Polizeiliche Arbeit bedeutet für mich aber auch: Leidenschaft bei den Ermittlungen, ein unbändiger Wille, Verbrechen aufzuklären, und nicht zuletzt Teamgeist. Nahezu unfassbar sind die Glücksmomente, die ich gemeinsam mit meinen Kollegen erlebte, wenn wir endlich einen Täter hatten. Oder der Verdächtige gerade ein Geständnis ablegte. Diese Zeit als Leiter einer Mordkommission war für mich die Erfüllung meines beruflichen Lebens.
Allerdings musste ich feststellen, dass der Stress nach fast einundzwanzig Jahren Mordermittlung und mit zunehmendem Alter größer wurde. Aus diesem Grund suchte ich zuletzt eine neue Herausforderung – und fand sie. Als Pressesprecher des Polizeipräsidiums Bochum habe ich jetzt die wunderbare Aufgabe, die Erfolge meiner Kollegen von der Schutzpolizei und der Kripo der Öffentlichkeit bekannt zu geben. Manchmal, wenn meine alten «Weggefährten» einen spektakulären Mord zu ermitteln haben, spüre ich in mir ein wenig Wehmut, nicht mehr richtig dabei sein zu können.
Ich möchte mich aber auch bedanken. Bei den Menschen, die mich auf meinem beruflichen Weg begleitet und beim Schreiben dieses Buchs unterstützt haben. Als Erstes fallen mir da meine Kollegen und Freunde meiner Mordkommission V und aus dem Kriminalkommissariat 11 ein. Weiterhin die Staatsanwälte, mit denen ich immer vertrauensvoll zusammengearbeitet habe, sowie die Rechtsmediziner, die uns Ermittlern häufig mit ihrem großen Wissen weitergeholfen haben.
Nicht zuletzt möchte ich mich bei meiner Familie bedanken, die mich während laufender Mordkommissionen oft entbehren musste und ohne deren Unterstützung ich das alles nie hätte leisten und verarbeiten können.
Wie immer fahre ich alleine zum Tatort. Ein Mann soll seine Frau mit einem Messer getötet und sich anschließend bei der Polizei gestellt haben. Jetzt sitzt der Verdächtige in einer Zelle der Polizeiwache Witten.
Meine Kollegen von der Mordkommission – auch MK genannt – habe ich vor dem Einsatz in mehrere Teams aufgeteilt. Auch sie sind auf dem Weg zum Tatort, denn jeder Beamte der MK muss wissen, wie es dort aussieht. In den Vernehmungen von Beschuldigten oder Zeugen können so alle genau nachvollziehen, ob die jeweilige Aussage überhaupt zum Spurenbild am Tatort passt.
In der Kreispolizeibehörde Bochum, dazu gehören auch die Städte Witten und Herne, gibt es insgesamt sechs Mordkommissionen. Von diesen sechs MKs hat eine immer eine Woche lang Bereitschaft. Passiert also ein Mord, wird die entsprechende Kommission eingesetzt. Es ist also Zufall, welche Tötungsdelikte wer von uns aufklären muss.
Eine Mordkommission besteht aus einem MK-Leiter und sechs Ermittlern, die aus verschiedenen Kommissariaten kommen. Sie müssen während des Einsatzes ihre normale Tätigkeit liegenlassen und sind bis zum Schluss der Ermittlungen mit dem Morddelikt beschäftigt. Ist ein Fall besonders spektakulär oder aufwendig, kann eine MK auch deutlich aufgestockt werden, dann arbeiten manchmal bis zu dreißig Beamte an der Aufklärung.
Die einzelnen Kriminalkommissariate unterscheiden sich durch die Sachgebiete, für die sie zuständig sind, das KK 12 zum Beispiel für Sexualdelikte, das KK 13 für Raubdelikte, und das KK 14 behandelt Wohnungseinbrüche.
Einer von den sechs MK-Leitern in Bochum bin ich. Mein Name ist Axel Pütter. Ich bin Kriminalhauptkommissar, siebenundfünfzig Jahre alt, in zweiter Ehe verheiratet und habe einen erwachsenen Sohn sowie eine Stieftochter. Mein Kriminalkommissariat ist das KK 11. Hier werden Todesermittlungsverfahren, Brand-, Waffen- und Sprengstoffdelikte sowie Vermisstenfälle bearbeitet, aber auch die sechs Mordkommissionen sind dem KK 11 unterstellt. Wenn also eine Leichensache anfällt, sind meine Kollegen und ich vor Ort. Wir entscheiden dann, ob eine Mordkommission eingesetzt werden muss oder nicht. Im Fall der erstochenen Frau ist es so. Ich leite die Mordkommission V – und die hat gerade Bereitschaft.
Es ist Dienstag, der 4. Dezember 2001. Zu meinem Team gehören Michael Kusemann, genannt Micha, und Tommi Flake. Nach der Tatortbesichtigung sollen sie auf der Wache den Beschuldigten vernehmen. Micha vertritt mich als MK-Leiter, wenn ich aus irgendeinem Grund ausfalle. Er ist knapp zehn Jahre jünger als ich, und schon viele Jahre arbeiten wir vertrauensvoll im KK 11 zusammen – auf ihn kann ich mich hundertprozentig verlassen. Tommi ist ein großgewachsener, breitschultriger Kollege. Ein Gemütsmensch, immer ruhig und ausgeglichen. Wegen seiner imposanten Erscheinung und seines Wesens ist sein Spitzname «Hightower», benannt nach der gleichnamigen Figur aus den Police Academy-Filmen.
Während der Fahrt denke ich daran, dass sich Rolf Schwake und Volker Damberg den großen Kombi genommen haben, in dem die komplette Ausrüstung für die Spurensicherung liegt. Rolf arbeitet beim KK 13 und Volker beim Erkennungsdienst (ED). Sie werden noch vor der Tatortbesichtigung den mutmaßlichen Täter in seiner Zelle aufsuchen, um an seiner Kleidung und am Körper Kampf- sowie DNA- und Faserspuren zu sichern. Danach werden sie die Spuren am Tatort sichern, um sie miteinander zu vergleichen. Rolf ist auch ein Mann mit Gardemaß. Er ist knapp 1,90 Meter groß und schlank, immer hat er einen lustigen Spruch auf den Lippen.
Guido Meng und Robert bilden das dritte Team. Guido ist ein durchtrainierter Sportler, der eine Leidenschaft fürs Drachenbootrennen entwickelt hat. Ein Mann Mitte dreißig mit extrem spärlichem Haarwuchs. Man könnte auch sagen, dass Guido eine Glatze hat. Zu ihm passt sie aber, sie macht ihn zu einem echten Typen. Robert ist der Oldie in unserer Truppe. Sein Humor ist meist von leichter Ironie durchsetzt. Er kleidet sich sehr salopp und denkt bei den Ermittlungen auch gern in eine andere Richtung. Auch nimmt er kein Blatt vor den Mund. Als Mann mit großer Erfahrung ist er eine Bereicherung für meine MK.
Guido und Robert haben den Auftrag, Klinken zu putzen und im Haus der getöteten Frau die stets gleichen Fragen eines Ermittlers zu stellen: Wer hat was gehört? Wer hat was gesehen? Wer kann etwas zum Motiv sagen? Es sind die Fragen, die einem Kriminalbeamten nach vielen Berufsjahren nahezu automatisch durch den Kopf schwirren.
Ich muss daran denken, wie erst vor einer Stunde mein Diensthandy geklingelt hat. Ich saß schon zu Hause auf der Couch, die Tagesschau lief. Eigentlich war klar, dass etwas passieren musste. Da ich diese Woche mit meiner Mordkommission Bereitschaftsdienst hatte, war es absehbar. Meist geschieht dann etwas.
Ein Kollege der Kriminalwache, der K-Wache, war am anderen Ende der Leitung. Elo erklärte mir kurz, was geschehen war: «Tut mir leid, du musst ran. Wir haben eine erstochene Frau in Witten. Sieht aber nicht nach einem komplizierten Fall aus, der Täter hat sich bereits gestellt.» Auch wenn es verrückt klingt: Ich war trotz der schlimmen Tat erst einmal erleichtert. Und dachte: Hier müssen wir nicht lange nach einem Täter suchen, anscheinend ist er bekannt. Bei Tötungsdelikten dieser Art sagen wir Ermittler: «Der Mörder sitzt auf der Leiche.» Das hört sich makaber an, aber die manchmal zynische Weise, über persönliche Schicksale zu sprechen, ist auch ein Schutzschild. Damit die Tragik, die sich hinter jedem Verbrechen oder Unglück verbirgt, einen nicht zu emotional trifft. Nicht selten kommt es vor, dass sich Kollegen ein anderes Tätigkeitsfeld innerhalb der Polizei suchen, weil sie bestimmte Erlebnisse nicht richtig verarbeiten konnten.
Elo, der mich angerufen hat, ist Dienstgruppenleiter der Kriminalwache, im Polizeideutsch: der DGL der K-Wache. Die liegt im ersten Obergeschoss des Altbaus in unserem Polizeipräsidium in Bochum. Hier sind im Spät- und Nachtdienst Kollegen tätig, die bei größeren Straftaten kurz nach den uniformierten Beamten am Tatort eintreffen und sofort mit den ersten Ermittlungen beginnen. Diese Ergebnisse übergeben sie später an die zuständigen Kommissariate. Oder sie werden, wie in diesem Fall, von der Mordkommission bereits am Tatort abgelöst.
Sofort habe ich sein Bild vor Augen: Elos rotblonde Stoppelhaare sind auffällig, ansonsten ist der Mittvierziger eher zurückhaltend. Seine Ruhe überträgt sich auch auf die Kollegen, was in hektischen Situationen sehr angenehm ist. Am Telefon erklärte er genauer, wer der Tatverdächtige ist: «Es handelt sich um den Ehemann. Der hat selbst den Notruf gewählt und sich dann widerstandslos am Tatort festnehmen lassen. Und genau das macht die Sache einfach.»
Bevor Elo auflegte, bat ich ihn, den Erkennungsdienst zu informieren und alle Mitarbeiter der MK zur K-Wache zu schicken. Seine Antwort: «Klar, mach ich. Und ich werde auch die Kollegen der Wache Witten bitten, dass sie vom mutmaßlichen Täter Blutproben nehmen. Die kennen sich mit den Formularen besser aus als wir. Schließlich machen sie oft genug Blutproben von angetrunkenen Autofahrern.» Es ist toll, dass ich einen solchen Kollegen habe, denn andernfalls hätte ich mich selbst darum kümmern müssen.
Es war genau 20.08 Uhr, als Elo auflegte. Sofort schaltete ich den Fernseher aus, ich hatte etwas anderes vor: Ich musste die Nacht durcharbeiten. Schnell nahm ich mir noch einen Apfel aus dem Obstkorb auf dem Küchentisch, setzte mich in meinen Wagen und fuhr zum Polizeipräsidium. Als Erstes begrüßte ich die Kollegen auf der K-Wache, danach schenkte ich mir einen heißen Kaffee ein und suchte Elo auf.
«Was wissen wir denn bislang?», fragte ich.
«Wie gesagt, in Witten-Bommern ist eine Frau in ihrer Wohnung erstochen aufgefunden worden. Vermutlich hat sich der von ihr getrennt lebende Ehemann nicht damit abfinden können, dass sie nicht zu ihm zurückwollte. Nach der Tat alarmierte er uns dann.»
Elo erzählte weiter: Angehörige des Opfers, die sofort benachrichtigt worden waren, hätten den ersten am Tatort eingetroffenen Polizisten berichtet, der Mann hätte seiner Frau in den letzten Wochen immer wieder aufgelauert und sie nahezu auf Schritt und Tritt verfolgt. «Ja, und das Verrückte ist: Heute Abend hatten sich die beiden in ihrer Wohnung verabredet, nachdem die Frau diesem Treffen zugestimmt hatte – das war ihr Unglück. Den Verwandten zufolge wollte sie sich mit ihm aussprechen. Sie hatte wohl die Hoffnung, ihn überzeugen zu können, sie doch endlich in Ruhe zu lassen.» Offensichtlich ein fataler Irrtum. Elo fuhr fort: «Nach ersten Spuren und seinen Angaben soll er mit einem Messer auf seine Frau eingestochen und sie dabei getötet haben. Sollte er das Messer mitgebracht haben – bislang wurde die Tatwaffe noch nicht gefunden –, können wir ihm unterstellen, dass er von vornherein die Absicht hatte, sie umzubringen, würde sie nicht bereit sein, wieder zu ihm zurückzukehren.»
Ich konnte ihm nur zustimmen. Keiner, der nach einer friedlichen Lösung sucht, nimmt zu einer Aussprache ein Messer mit. «Doch das müssen wir ihm erst einmal beweisen», sagte ich. «Stimmt nämlich diese Annahme, würde das den verschmähten Ehemann zum Mörder machen. In einem Prozess würde er nicht mehr als Totschläger davonkommen.» Der Unterschied zwischen den beiden Straftaten liegt darin, dass einem Mörder sogenannte Mordmerkmale nachgewiesen werden können. Im Rahmen einer Tötung können das Habgier, Heimtücke, überhaupt niedere Beweggründe sein. Bei Totschlag handelt es sich häufig um Taten im Affekt.
Mir schoss durch den Kopf: Haben wir es mit dem Eifersuchtswahn eines verlassenen Ehemannes zu tun? Sollte er wirklich nach dem Motto gehandelt haben: «Wenn ich dich nicht mehr haben kann, soll dich auch kein anderer mehr bekommen»? Wie krank ist das eigentlich? Oder hat ihn die verletzte Eitelkeit zu einer Tat getrieben, die ihm sonst nie einer zutrauen würde? Wie auch immer: Verschmähte Liebe ist eines der ältesten Mordmotive.
Auf dem Präsidium trafen jetzt im Minutentakt meine Kollegen der Mordkommission ein. Schnell verteilte ich die Arbeit: «Micha, du kümmerst dich mit Tommi um den Beschuldigten. Denk daran, wir stellen alle Bekleidungsgegenstände bei ihm sicher, und lass sie dann von Rolf oder Volker asservieren.» Am Tatort Spuren sichern, wir nennen das in unserem Polizeideutsch asservieren. Eine extrem wichtige Arbeit ist das, denn diese Spuren überführen später häufig den Täter. Es sind objektive Beweise, die genauso viel zählen wie ein eindeutiger Fingerabdruck. Fragend schaute ich schließlich in die Runde: «Wer übernimmt den Tatort?» Niemand meldete sich freiwillig. Natürlich. Den Tatort aufzunehmen, das macht meist keiner gern. Damit sind viele Mühen verbunden, und am Ende findet dann irgendein Rechtsanwalt oder Richter während der Gerichtsverhandlung doch noch einen vermeintlichen Fehler. In einem Tatortbericht stehen nämlich sämtliche Details, die für die Rekonstruktion eines Tatgeschehens wichtig sein können. Manchmal ist es sogar erforderlich, den gesamten Hausstand mit Tellern, Tassen und Messern zu zählen, zu beschreiben und zu fotografieren. Man weiß eben vorher nie, auf was man alles achten muss.
Rolf ist normalerweise beim KK 13, dort bearbeitet er täglich Raub- und Einbruchsdelikte. Als «erfahrener Einbrecher und Räuber» wurde er deshalb von mir zum Tatortmann bestimmt. Widerstand zwecklos. Der Grund ist einfach: Beim KK 13 muss man fast jeden Tag Einbruchstatorte aufnehmen, deshalb beherrschen die «13er-Kollegen» die Tatortaufnahme wie kaum andere. Und Rolf vom KK 13 gehört zugleich zu meiner Mordkommission. Ihm zur Seite stellte ich Volker. Sein Vater war auch schon bei der Polizei, seine Familie ist eine richtige Polizistenfamilie.
Nach der Fahrt durch nahezu leere Straßen komme ich am Tatgebäude an. Ein graues Mehrfamilienhaus an einer Hauptstraße in Witten-Bommern. Früher war die Fassade wahrscheinlich einmal weiß gewesen, nun blättert überall die Farbe ab. Auch die Eingangstür hat schon bessere Tage gesehen. Sie ist nur angelehnt, sodass wir nicht klingeln müssen. Die Kollegen der Polizeiwache Witten haben vorsorglich einen Holzkeil zwischen Türrahmen und Tür geklemmt. So können die nacheinander eintreffenden Kollegen schnell ins Haus kommen. Die Wohnung, in der die Frau getötet wurde, liegt im ersten Obergeschoss. Das Treppenhaus sieht ordentlich aus, wie ich feststelle. Es riecht, als hätte heute jemand gewischt. Jedenfalls erschnuppere ich den schwachen Zitronenduft eines Reinigungsmittels.
Vor der Wohnung werde ich bereits erwartet: Zwei Kollegen der K-Wache und die Staatsanwältin stehen auf dem Treppenabsatz. «’n Abend!» Ich begrüße jeden mit Handschlag. Danach frage ich die Kripo-Kollegen: «Was könnt ihr uns sagen, was habt ihr schon gemacht?» Nach einigen kurzen Erklärungen zeigt sich Freude auf ihren Gesichtern. Das ist auch kein Wunder. Seit anderthalb Stunden warten sie auf die Übergabe, nun wollen sie nur noch zurück auf die Wache und einen heißen Kaffee trinken, wie sie zum Abschied sagen. In diesem Augenblick merke ich, dass es im Treppenhaus von irgendwoher unangenehm zieht.
Die Beamten haben – davon überzeuge ich mich jetzt selbst – alles abgesichert, damit keine Spuren zerstört werden können. Was passiert ist, weiß ich ja schon, und wirklich Neues hat sich in der Zwischenzeit nicht ergeben. Die Kollegen werden auf der Wache aber nicht nur Kaffee trinken, sondern auch einen Bericht schreiben. Morgen früh werde ich ihn als Erstes in meinem Büro lesen.
Ich wende mich der Staatsanwältin zu. Silvia Hartmann hat heute ihren ersten Fall als Kapitaldezernentin. Sie ist schlank und kleiner als ich, irgendwie wirkt sie zart besaitet. Aber das täuscht. Normalerweise arbeitet sie in der Abteilung «Kinderpornographie». Ein harter Job. Ich will gar nicht wissen, was sie schon alles erlebt und gesehen hat. Keinesfalls möchte ich mit ihr tauschen. Das Sachgebiet meiner Kollegen vom Kriminalkommissariat 12, gern auch Sitte genannt, wäre absolut nichts für mich. Niemals, dann schon lieber meine Leichen … oder Mörder.
Ein einziges Mal hatte ich einen Sittentäter vor mir sitzen. Er hatte ein siebenjähriges Mädchen missbraucht und fast totgeschlagen. Ich musste mich damals sehr beherrschen, um nicht laut zu werden. Dieser Mensch wollte einfach nicht mehr wissen, dass er das getan hatte. Er sprach von einer plötzlichen Amnesie, einer Krankheit. Eine Ausrede, wie es in psychiatrischen Gutachten später auch bestätigt wurde. Aber als Polizist muss man sich immer im Griff haben und beherrschen, selbst wenn es einem manchmal sehr schwer fällt.
Ich lächele die Juristin an: «Wir haben anscheinend Glück, es ist wohl alles ziemlich eindeutig! Der Ehemann hat selbst die Polizei angerufen und soll die Tat bereits gestanden haben. Zwei meiner Kollegen suchen gerade nach Spuren an seinem Körper und der Kleidung. Wir stellen alles sicher. Wir entnehmen vom Täter auch zwei Blutproben, die eine ist für einen Alkohol-, die andere für einen Drogentest. Es ist bereits alles veranlasst.» Silvia Hartmann wirkt entspannt, während ich fortfahre: «Wir müssen nur noch den Rechtsmediziner informieren, um die Leichenschau am Tatort durchzuführen.» Sie nickt, und fast zeitgleich rufe ich den Bereitschaftsdienst der Rechtsmedizin Essen an. Dr. Freislederer, so erfahre ich, kann erst in anderthalb Stunden kommen.
In der Zwischenzeit wollen wir uns einen Eindruck von der Wohnung und dem direkten Tatort verschaffen, also der Stelle, an der die Leiche liegt. Wir Kriminalisten bezeichnen das als «Auffindesituation». Vorher müssen wir die weiße Schutzkleidung anziehen, auch die Staatsanwältin ist dazu aufgefordert. Danach betrete ich mit einigen Kollegen die Wohnung. Frau Hartmann folgt uns. Sehr vorsichtig, wie ich beobachte.
Es ist eine kleine Wohnung, höchstens siebzig Quadratmeter. Geradeaus liegt der Flur, links geht die Küche ab, dahinter folgt das Badezimmer. Am Ende des Flurs befindet sich das Wohnzimmer. Alles unauffällig. Keine Kampfspuren, kein Blut, kein von der Wand oder einem Regal heruntergefallenes Bild. Fast wie ein sauberer Derrick-Tatort, denke ich. Derrick-Tatorte sind normalerweise Tatorte, die es nur im Fernsehen gibt. Kaum Blut, nur Rinnsale, und gut situierte Herrschaften. Das Haus, in dem die Leiche liegt, macht was her, auch die Leiche selbst, denn sie sieht mit der frischen Gesichtsfarbe wie das blühende Leben aus. Zudem ist sie teuer gekleidet, und selbstverständlich sind Rock, Hose, Hemd oder Bluse nahezu faltenlos.
Während ich weiter durch die Wohnung gehe, arbeitet es in meinem Kopf. Es ist alles ein wenig seltsam: Man sieht überhaupt nicht, dass hier vor wenigen Stunden ein Drama passiert ist. Bin ich doch in einem Fernsehkrimi gelandet? Nein. Mein Eindruck ändert sich schlagartig in der Küche. Die Leiche der Frau liegt mit dem Rücken auf dem Boden. Und dann sehe ich das, was mir im Flur gefehlt hat: Blut. Aber nicht viel Blut.
Überall sehe ich nach, doch auch ich entdecke kein Messer. Beim Täter wurde ebenfalls keines sichergestellt, das hatte mir Elo noch auf der Wache gesagt. Nach dieser Feststellung telefoniere ich mit meinem ersten Team: «Micha, frag doch mal verstärkt nach, wo das Tatwerkzeug abgeblieben ist.» Während ich weiterrede, drehe ich mich zur Staatsanwältin um, denn sie soll nachvollziehen, welche Gedanken ich im Einzelnen verfolge: «Der Täter sollte eigentlich wissen, wo es geblieben ist. Außerdem wäre es für den Prozess wichtig, sollte der Ehemann der Ermordeten uns das mitteilen. Das wäre dann ein sogenanntes Täterwissen. Wer sollte sonst über das Messer Auskunft geben können, wenn nicht der Täter? Mag er später sein Geständnis widerrufen, dieses Täterwissen – wenn preisgegeben – kann ihn der Lüge und damit möglicherweise auch der Tat überführen.»
Von meinem Befragungsteam, von Robert und Guido, erfahre ich, dass es zwischen dem Ehepaar öfter Streit gegeben hat. Das erzählten jedenfalls übereinstimmend alle Hausbewohner. Hin und wieder sei sogar die Polizei gerufen worden. Ein Rentner aus der Wohnung berichtete Robert: «Ihre Kollegen haben den Mann auch einmal über Nacht mitgenommen. Aber dass er zu so etwas Schrecklichem fähig ist, haben wir alle nicht gedacht. Ehrlich, keiner hat ihm so etwas zugetraut.» Das tun die wenigsten Zeugen, deshalb hören wir diesen Satz öfter, als man vermuten könnte.
Weiterhin schaue ich den Tatortbeamten über die Schulter. Volker, der Kollege vom Erkennungsdienst, vermisst jeden Raum der Wohnung. Eine Skizze wird angefertigt, sie wird dem Richter im späteren Prozess einen Überblick über die Situation verschaffen. Die Fotos der ED-Leute werden dazu beitragen, dass der Tatort visuell vorstellbar wird. Kampfspuren sind so gut wie keine vorhanden.
Bei einem erneuten Blick in die Küche fällt mir auf, dass auf einer Ablage ein Brotmesser liegt. Das könnte doch das Tatmesser sein, überlege ich. Wieso hatte es denn keiner vorher beachtet? In Gedanken schüttele ich den Kopf. Über Telefon informiere ich Micha, der bereits den Täter vernimmt. Ich höre, wie ein Stuhl weggeschoben wird. Vermutlich ist mein Kollege gerade aufgestanden, um den Vernehmungsraum zu verlassen. Der Beschuldigte soll nicht mithören, was wir uns zu sagen haben.
«Gut, dass du anrufst», sagt Micha. «Zu deiner Info: Verletzungen hat der Ehemann keine, jedenfalls keine, die auf ein Kampfgeschehen hindeuten. Zur endgültigen Klärung brauchen wir aber noch den Rechtsmediziner. Er sollte sich den Beschuldigten ansehen.»
«Da hast du recht. Ich werde gleich versuchen, Dr. Freislederer zu erreichen. Er soll zuerst zu euch kommen, danach kann er sich dann den Tatort vornehmen.»
«Alles klar», sagt Micha, wobei mir nicht entgeht, dass er sich verabschieden und auflegen will.
Schnell rufe ich deshalb in den Hörer: «Halt! Ich wollte dir noch sagen, dass auf der Küchenablage ein Messer liegt. In deiner Vernehmung solltest du danach fragen, das könnte hilfreich sein. Wir müssen sonst alle Messer, die wir finden, sicherstellen.»
«Ja, mach ich.» Micha ist total bei der Sache, wie nicht zu überhören ist. Auch eine gewisse Freude stelle ich bei ihm fest. Vielleicht liegt es daran, dass er die Aufgabe hat, den Beschuldigten zu vernehmen. Aber Micha ist nicht nur mein Stellvertreter, sondern auch ein sehr erfahrener Kollege, der sich gut auf Menschen einstellen kann. Somit ist er bestens geeignet für die Beschuldigtenvernehmung.
«Wie ist er denn drauf?», frage ich weiter.
«Hä?» Micha lacht. «Wie soll er wohl drauf sein? Der freut sich riesig, dass wir uns um ihn kümmern und gleich in die Zelle stecken!»
«Blödmann», sage ich schmunzelnd. «Du weißt genau, was ich meine!»
«Ist schon klar.» Micha wird wieder ernst. «Der Mann wirkt ziemlich gefasst und macht alles mit. Ich glaube, er hat realisiert, dass auf ihn einige Jahre Knast warten. Und dass seine Messerattacke ein riesiger Fehler war.»
«Perfekt. Und gib mir Bescheid, wenn ihr Neuigkeiten habt.»
«Mach ich, dann bis nachher.» Micha legt auf.
Kurz darauf meldet sich Dr. Andreas Freislederer auf meinem Diensthandy. Nach dem Gespräch mit Micha hatte ich ihn persönlich nicht erreicht, ihm aber eine kurze Nachricht auf die Mailbox gesprochen.
«Hallo, Herr Pütter, das ist ja kaum zu glauben! Immer wenn Sie Bereitschaft haben, passiert etwas.»
Als wenn ich das nicht selbst wüsste. Das sage ich aber nicht laut. Stattdessen erwidere ich: «Irgendwie ziehe ich das Unheil an. Tut mir wirklich außerordentlich leid, dass es Sie so spät am Abend noch getroffen hat. Aber ich denke, die Sache ist nicht so zeitintensiv.»
Nach dieser Bemerkung bitte ich den Rechtsmediziner, erst zur Wache Witten zu fahren, um dort den Täter zu untersuchen, und anschließend zum Tatort. Dr. Freislederer ist sofort ganz Ohr. Er ist ein echter Fachmann, dabei nicht ohne Witz. Zu jedem medizinischen Thema kann man ihm Fragen stellen. Er beantwortet sie immer gern, erklärt auch viel bei Obduktionen. Er ist ein wirklich guter und sehr netter Doc.
Während wir auf ihn warten, fange ich mit der Staatsanwältin ein eher privates Gespräch an. Silvia Hartmann erzählt mir von ihren sportlichen Aktivitäten. Sie scheint eine gute Tennisspielerin zu sein, und es bleibt nicht aus, dass wir einen Termin für ein Match ausmachen. Danach reden wir über ihre Arbeit. Während wir uns über das Problem von gewaltsamen Zuhältern unterhalten, trifft Dr. Freislederer ein. Nach einem kurzen und kräftigen Handschlag zieht sich der gut fünfzigjährige Mediziner sofort einen der weißen Schutzanzüge an. Zusammen betreten wir die Wohnung der Ermordeten und gehen in die Küche.
Bei der Untersuchung der Leiche stellt der Mediziner fest, dass ein Stich in den Brustkorb todesursächlich war, fügt aber hinzu: «Genaueres kann ich jedoch erst nach der Obduktion sagen.» Weitere Verletzungen sind auf den ersten Blick nicht vorhanden. Auch bei der nachfolgenden Obduktion wird sich nichts anderes ergeben. Der Stich in den Brustkorb hat das Herz getroffen. Frau K. ist durch ihn relativ schnell innerlich verblutet.
Mit diesen neuen Erkenntnissen fahre ich nach der Leichenuntersuchung zur Polizeiwache Witten, die in der Casinostraße liegt. Dort warte ich auf die Kollegen, um das Ergebnis der Vernehmung zu erfahren.
Micha kommt zuerst aus dem Zimmer, in dem diese stattfindet. «Ach, da bist du ja schon», sagt er zur Begrüßung. «Der Ehemann ist völlig geständig. Er gibt alles zu, und auch sein Motiv ist eindeutig: verschmähte Liebe. Das Paar hat sich in der Wohnung von Frau K. getroffen. Das Gespräch fand am Küchentisch statt, und am Anfang soll es ganz harmonisch verlaufen sein. Sagt er jedenfalls. Als er jedoch die Fortführung der Beziehung verlangte, habe sie ihn barsch abgewiesen und aus der Wohnung schmeißen wollen. Da habe er rot gesehen und sie mit einem Messer bedroht. Seiner Aussage nach wollte seine Frau daraufhin aus der Wohnung flüchten. Er hätte sie aber gepackt, zurück in die Küche gezogen und dann zugestochen. Damit sie endlich ruhig werden würde, sagt er. Und weil sie ihn nicht mehr wollte. Er ist der Meinung, dass er das Tatmesser bei sich gehabt hätte, doch er hätte es nicht in Tötungsabsicht mitgenommen.»
Micha hat sich richtig in Fahrt geredet. Deshalb stelle ich auch keine Zwischenfragen, sondern lasse ihn weiter berichten: «Der Ehemann bestätigt übrigens, dass das Tatmesser von ihm auf die Ablage gelegt wurde. Eigentlich verrückt! Nach solch einer Bluttat legt dieser Mensch das Messer auf die Spüle, als wäre nichts geschehen. Hat es wahrscheinlich sogar noch abgespült.»
Die Untersuchungen werden später zu dem Ergebnis kommen, dass die DNA von Frau K., also ihr genetischer Fingerabdruck, im Blut an der Klinge auszumachen ist und die DNA von ihrem Ehemann am Griff. Diese Beweislage rundet die Sache ab. Die Staatsanwältin beantragt daraufhin am nächsten Tag einen Haftbefehl. Die Folge: Der Richter veranlasst für den Ehemann Untersuchungshaft.
Nach drei Tagen, also am Freitag, haben wir den Fall mehr oder weniger abgeschlossen. Der Täter sitzt in U-Haft. Es sind noch einige Vernehmungen von Nachbarn und Freunden des Opfers wie natürlich auch des Täters durchzuführen. Die Zeit drängt jedoch nicht. Der Täter ist geständig, die Beweise sind eindeutig, und wir haben ein klares Motiv. Dieses ist bei jedem Tötungsdelikt ein sehr wichtiger Beweis, denn wenn ein Verdächtiger überhaupt keinen ersichtlichen Grund für ein Verbrechen hat, spricht das gegen seine Täterschaft und kann ihn entlasten. In diesem Fall ist das Motiv eindeutig. Eigentlich kann nichts mehr schiefgehen. Dass Motive aber auch abstrus und unfassbar sein können, soll ich schon ganz bald erfahren. Sehr bald. Im Grunde am selben Tag.
Die Fotos zeigen die Eingänge zum Büro-/ und Wohncontainer, sowie das Firmengelände.
Es ist jener besagte Freitag, der 7. Dezember 2001, noch früher Morgen. Wir haben weiterhin Bereitschaftsdienst. In der Kaffeerunde beim KK 11 bemerkt Micha, was alle an diesem Tag nach Nikolaus denken: «Es ist gut, dass wir gerade einen relativ einfachen Fall zu Ende gebracht haben. Jetzt können die Feiertage kommen, uns lässt man bestimmt in Ruhe.» In diesem Moment klingelt der Apparat unseres Chefs. Interessiert höre ich zu, wie Walter Pindur, ein sehr erfahrener Mordermittler, sagt: «Hmm, erstochen? Tja, wo denn? Aha, Großmarkt in Herne. Ja, die MK V hat Bereitschaft. Ich gebe denen Bescheid. Und mache allen vor Ort klar, dass sie nichts verändern sollen, aber das ist ja selbstverständlich. Wir kommen sofort raus!» Walter blickt mich an – und braucht nichts mehr zu sagen. Von wegen ruhige Zeiten. Das ist der zweite Mordeinsatz in nur einer Woche. Verbrechern ist es vollkommen gleichgültig, dass wir gerade erst ein Tötungsdelikt hatten.
Walter leitet das gesamte Kriminalkommissariat 11, er ist der Chef aller Mordkommissionen. Ruhige Stimme, klarer Blick, trockener Humor. Er hat schon Mörder gefasst, als es noch keinen genetischen Fingerabdruck gab. Im Telegrammstil verkündet er der Runde: «Eine Leiche ist aufgefunden worden. In einem Wohncontainer einer Firma am Großmarkt in Herne. Der Notarzt konnte keinen natürlichen Tod bescheinigen, der Leichnam wurde blutüberströmt entdeckt. Der Mann ist vermutlich durch mehrere Messerstiche getötet worden.» Typisch Walter: sachlich exakt und kein Wort zu viel.
Mir schießt durch den Kopf: Super! Der nächste Einsatz! Und es hört sich alles andere als gut an. Denn eines steht jetzt schon fest: Dieser Fall wird nicht so einfach und unkompliziert zu lösen sein. Hier hat sich ganz offensichtlich kein Täter gestellt. Und im nächsten Moment denke ich: Bloß kein neuer ungeklärter Fall! Denn einen bis heute ungeklärten Mord trage ich seit Jahren mit mir herum. Es ist wie eine Wunde, die nicht schließen will. Jeder, der Mörder jagt, will partout, dass der Täter gefunden wird. Zu wissen, dass nach vielen Wochen, ja Jahren Arbeit der Täter noch immer frei herumläuft, ist für jeden Ermittler nämlich der Albtraum. Ganz automatisch fällt mir dieser alte Fall von 1996 ein. Da wurde ein Mitarbeiter von Opel kurz nach Mitternacht in Bochum-Wattenscheid auf offener Straße erstochen. Bis heute gibt es keinen Hinweis auf den Mörder. Schnell wische ich den Gedanken weg, ich will ihm keinen Raum geben. Ich gehe einfach davon aus, dass wir den zweiten Täter in dieser Woche auch erwischen werden.
Erneut werden die Kollegen der Mordkommission V, meiner Kommission, zusammengetrommelt. Bis auf unseren «Ersatzmann Thomas» vom Kriminalkommissariat in Witten – nicht zu verwechseln mit Tommi – sind alle, die auf dem MK-Bereitschaftsplan stehen, innerhalb von fünfzehn Minuten im Besprechungsraum des KK 11. Thomas, ein Polizist, der nicht nur die Details, sondern auch das Ganze im Blick hat, muss noch einen Gerichtstermin absolvieren und lässt uns telefonisch mitteilen, dass er nachkommt, sobald er damit fertig ist. Auf ihn warten können wir nicht, wir müssen los.
Zuvor instruiere ich kurz die Truppe, teile sie wie immer in Teams ein. Schnell noch sämtliche dienstlichen Telefonnummern auf einen Zettel kopieren, damit nicht lange gesucht werden muss, wenn man einen Kollegen erreichen will – und dann ab in die Autos. Es geht zum Tatort, wo wir die Kollegen von der Schutzpolizei ablösen wollen. Sie haben schon den Tatort für uns abgesperrt.
Wir brauchen zum Großmarkt etwa zwanzig Minuten. Es ist kalt, knapp über null, ein eisiger Wind weht, aber immerhin scheint die Sonne. Eigentlich ein schöner, klarer Wintertag. Eigentlich. Schon nach wenigen Minuten im Freien friere ich, denn an diesem Tag habe ich mir nur eine leichte Winterjacke angezogen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass wir in dieser Woche noch einen Mord klären müssen. Wie soll ich das bloß überstehen, überlege ich, wenn ich lange draußen herumstehen muss? Na ja, versuche ich mich selbst zu beruhigen, notfalls besorgst du dir von den Kollegen der Schutzpolizei einen gefütterten Parka.
Die Beamten der Polizeiwache Herne erwarten uns am Tatort. Mit dabei: Kareen. Die Schutzpolizistin kommt auf mich zu und begrüßt mich freudig. Ich umarme sie und sage: «Wo du bist, ist Arbeit! Was machst du für Sachen? Ständig das Gleiche.» Sie lächelt, ihre blonden Haare sind unter einer Mütze streng zusammengehalten, selbst der Wind hat keine Chance, sie zu zerzausen. Dann erwidert sie: «Ich? Ich tue gar nichts! Dein Problem, wenn du Bereitschaft hast!» Stets frech, die jungen Frauen. Keinen Respekt mehr vor dem Alter.
Kareen kenne ich seit einigen Jahren. Mit ihrem Vater Bernd habe ich früher zusammen Dienst geschoben. Ein alter Haudegen, der wusste, wo’s langgeht. Als junger Kommissar habe ich viel von ihm und seinem Partner Jochen gelernt. Wenn da nicht seine Schiedsrichtertätigkeit gewesen wäre: Zu meiner aktiven Zeit als Fußballer hatte Bernd öfter unsere Spiele gepfiffen. Ich spielte in der Bezirksliga in Witten, genauer gesagt, in Witten-Bommern und später in Witten-Ardey. Eine schöne Zeit, die ich nicht missen möchte.
Bei einem Spiel hatte Bernd mich jedoch ermahnt. Der Grund: Er meinte, ich hätte zu viel gemeckert. Aber ich war eben nicht mit jeder Entscheidung des Schiedsrichters einverstanden gewesen. Und außerdem: Wenn die Kugel rollt, bin ich ein anderer Mensch. Ich will unbedingt gewinnen, das geht aber nicht bei jedem Spiel. Als das wieder einmal der Fall war, musste der Ärger heraus. Schuld an allem war natürlich der Schiedsrichter. Na ja, auch nicht immer! Nach der Ermahnung kam die Verwarnung: «Herr Pütter, ich verwarne Sie!» Er sprach mich sogar mit «Sie» an, was er nie zuvor getan hatte. Das hieß nichts Gutes. Genauer gesagt hieß das: «Beim nächsten Mal fliegst du.»
Ich brauchte nur Bernd anzusehen und wusste: «Kein Kommentar mehr!» Daran habe ich mich auch gehalten. Und so durfte ich bis zum Schlusspfiff durchspielen. Nachher standen wir zusammen am Bierstand, und er lachte über diese Szene. Klar, dass ich ihn damals fragte, ob er mich bei einer weiteren Meckerei wirklich vom Platz gestellt hätte. Die Antwort kam schnell: «Blöde Frage, sicher!» Als Schiedsrichter war er gnadenlos. Musste er wohl auch.
Jetzt steht seine Tochter vor mir und erklärt mir, was sie bisher an Erkenntnissen gewonnen hat. Nicht viel. Noch weiß keiner etwas Genaues. «Der Ermordete ist von Mitarbeitern dieser Firma gefunden worden.» Kareen deutet auf einen milchverarbeitenden Betrieb. «Der Mann war hier als Lagerarbeiter beschäftigt und lebte in dem Container hinter mir. Als er heute gegen sechs Uhr morgens nicht zur Arbeit erschien, hat man im Container nachgesehen. Da lag dieser Karl E. in seinem Blut. Sofort haben die Mitarbeiter einen Notarzt gerufen, aber der Mann war da bereits längst tot.»
«Weißt du, warum der Lagerarbeiter in diesem Container gewohnt hat?», frage ich Kareen neugierig.
«Nee, keine Ahnung. Da musst du dich bei der Firmenleitung schlaumachen», antwortet sie knapp.
Kareen drückt mir die Todesbescheinigung, die der Notarzt ausgestellt hat, in die Hand. Sie hat ihren Job getan, jetzt sind wir an der Reihe. Noch ein Küsschen auf die Wange. «Bis bald», sagt sie. «Hoffentlich dann nicht wieder aus solch einem Anlass.» Sie lächelt, auch weil sie weiß: Das ist ein frommer Wunsch. Wenn die Schutzpolizisten uns vom KK 11 rufen, ist meistens einer tot, oder etwas ähnlich Schlimmes ist passiert. Es ist also immer ein unerfreulicher Anlass. Sonst bräuchten sie uns ja nicht zu holen. Der Tod ist nun einmal unser tägliches Geschäft.
Das Areal um den Großmarkt in Herne ist ein weitläufiges Industriegebiet, auf dem sich mehrere Firmen angesiedelt haben. Unter anderem die erwähnte Molkerei, in der der Ermordete anscheinend tätig gewesen war. Der Inhaber des Betriebs ist, wie mir bekannt ist, der Sponsor von Westfalia Herne, jenem Traditionsverein, in dem ich als Jugendlicher Fußball spielte. Diese Zeit war weniger schön. Selten wurde ich aufgestellt, war mehr auf der Ersatzbank als auf dem Feld. Der Trainer und seine «Berater» mochten mich nicht und stellten mich wohl deshalb nicht auf. Egal. Die Zeiten sind längst vorbei.
Die Presse ist bereits vor Ort, wie ich feststelle. Immer öfter erlebe ich es, dass die Journalisten noch vor uns am Tatort auftauchen. Erst ist nur ein freier Kameramann da, später kommen noch zwei weitere Reporter dazu, einer vom WDR und ein anderer von einem Privatsender, von Sat.1, dann ein ganzer Pulk.