Die Originalausgabe erschien 1963 unter dem Titel «La Force des choses» bei Éditions Gallimard, Paris.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2015
Copyright © 1966 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«La Force des choses» Copyright © 1963 by Éditions Gallimard, Paris
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Umschlaggestaltung Werner Rebhuhn, unter Verwendung eines Fotos der Autorin
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ISBN Printausgabe 978-3-499-11250-8 (24. Auflage 2008)
ISBN E-Book 978-3-644-03141-8
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-03141-8
«Das Leere neigt zum Vollen.»
Dieser Ausspruch stammt in Wirklichkeit von Lautréamont (Chants de Maldoror). Anm.d.Verl.
Ich habe bereits erwähnt, warum ich mich entschlossen hatte, nach dem ersten Band – Mémoires d’une jeune fille rangée [Memoiren einer Tochter aus gutem Hause] – meine Autobiographie fortzusetzen. Als ich bei der Befreiung von Paris angelangt war, hielt ich atemlos inne. Ich musste wissen, ob mein Unternehmen andere interessiere. Allem Anschein nach war das der Fall. Aber bevor ich die Arbeit wiederaufnahm, zögerte ich von neuem. Freunde und Leser hörten nicht auf zu fragen: «Und dann? Und nachher? Wie weit sind Sie jetzt? Schreiben Sie doch weiter. Sie sind uns die Fortsetzung schuldig.» Aber es hat auch an inneren und äußeren Einwänden nicht gefehlt: «Es ist zu früh. Ihr Gesamtwerk ist doch noch gar nicht umfangreich.» Oder: «Warten Sie doch, bis Sie alles sagen können. Auslassungen verfälschen die Wahrheit.» Und dann: «Es fehlt Ihnen der nötige Abstand.» Und auch: «Schließlich lernt man Sie besser in Ihren Romanen kennen.» Das alles hat etwas für sich. Aber mir blieb keine andere Wahl. Die Gleichgültigkeit des Alters, ob sie nun heiter oder trist war, würde mir nicht erlauben, das zu erfassen, was ich einfangen möchte: den Augenblick, da am Rande einer noch lebendigen Vergangenheit der Abstieg beginnt. In diesem Bericht soll mein Blut kreisen. Ich wollte ihn schreiben, solange ich noch ein lebendiger Mensch bin, wollte Rede und Antwort stehen, solange noch nicht alle Fragen sinnlos geworden sind. Vielleicht ist es zu früh. Morgen aber wird es bestimmt zu spät sein.
«Man kennt die Geschichte Ihres Lebens, weil es sich vom Jahre 1944 an in der Öffentlichkeit abgespielt hat.» Auch das hat man mir entgegengehalten. Diese Publizität aber war ja nur eine Dimension meines Privatlebens, und da es meine Absicht ist, Missverständnisse zu zerstreuen, halte ich es für wichtig, die wahren Zusammenhänge zu schildern. Da ich mehr als früher in die politischen Ereignisse verstrickt war, werde ich im Übrigen viel von ihnen reden müssen. Mein Bericht wird aber dadurch keineswegs unpersönlicher werden. Wenn die Politik die Kunst ist, ‹die Gegenwart vorauszusehen›, werde ich als Laie von einer unvorhergesehenen Gegenwart berichten müssen: Die Art, wie sich mir die Geschichte von Tag zu Tag dargeboten hat, ist ein ebenso eigenartiges Abenteuer wie meine persönliche Entwicklung.
In der Periode, von der nun die Rede sein wird, ging es eher um die Verwirklichung als um die Formung meines Charakters. Obwohl Gesichter, Bücher, Filme, Begegnungen im Einzelnen nicht wichtig waren, blieb das Ganze doch bedeutend. Wenn ich von ihnen erzähle, so haben oft die Launen der Erinnerung meine Wahl bestimmt, was nicht bedeutet, dass es sich dabei unbedingt auch um ein Werturteil handelt. Außerdem werde ich die Erlebnisse, von denen ich bereits berichtet habe – meine Reisen nach den USA und nach China –, weglassen, dafür aber meinen Besuch in Brasilien ausführlich beschreiben. Wenn dadurch das Gleichgewicht dieses Buches gestört sein sollte, tut es mir leid. Ich behaupte ja keineswegs, dass es sich um ein Kunstwerk handle (das gilt auch für die beiden ersten Teile): Dieses Wort erinnert mich an eine Statue, die sich im Garten einer Villa langweilt, es gehört zum Sprachgebrauch des Sammlers, des Genießers, aber nicht des schöpferischen Menschen. Es käme mir nicht in den Sinn, die Werke von Rabelais, Montaigne, Saint-Simon oder Rousseau als Kunstwerke zu bezeichnen, und es macht mir nichts aus, wenn man meinen Memoiren dieses Etikett verweigert. Denn es ist nicht ein Kunstwerk, sondern mein Leben mit seinen Glanzzeiten, seinen Nöten, seinen Zufälligkeiten, es ist mein Leben, das nach dem ihm gemäßen Ausdruck sucht, das aber nicht als Vorwand für zierliche Ornamente geeignet ist.
Auch diesmal werde ich möglichst wenig überspringen. Es wundert mich immer wieder, wenn man dem Verfasser einer Lebensbeschreibung Längen zum Vorwurf macht, denn wenn mich das Werk interessiert, dann werde ich gern viele Bände lesen, wenn es langweilig ist, dann sind zehn Seiten schon zu viel. Die Farbe des Himmels, der Geschmack einer Frucht – ich erwähne sie nicht aus Selbstgefälligkeit: Wenn es sich um das Leben eines anderen Menschen handelte, würde ich diese sogenannten trivialen Details, sofern sie mir bekannt wären, mit der gleichen Ausführlichkeit schildern. Man spürt in ihnen nicht nur eine Zeit und einen Menschen aus Fleisch und Blut: Gerade ihre Bedeutungslosigkeit verleiht einer wahren Geschichte erst den Anstrich der Wahrheit. Sie bestehen nur aus sich selbst. Man hebt sie nur aus dem einen Grund hervor – weil sie da sind: Das genügt.
Trotz meiner Zurückhaltung, die auch für diesen letzten Band gilt – da es unmöglich ist, alles zu sagen –, haben mich Kritiker der Indiskretion bezichtigt. Ich habe nicht damit angefangen. Ich will lieber selbst in meine Vergangenheit hinabsteigen, als dieses Geschäft anderen zu überlassen.
Im Allgemeinen gesteht man mir eine Eigenschaft zu, um die ich mich sehr bemüht habe: eine Aufrichtigkeit, die von Prahlerei ebenso weit entfernt ist wie von Selbstquälerei und die ich mir bewahrt zu haben hoffe. Seit mehr als dreißig Jahren pflege ich sie in meinen Gesprächen mit Sartre. Ohne falsche Scham, ohne Eitelkeit gebe ich mich Tag für Tag so, wie ich bin, äußere alles, was mich betrifft, ebenso offen, wie ich die Dinge meiner Umgebung wahrnehme. Sie ist mir nicht durch eine besondere Gnade des Himmels zur zweiten Natur geworden, sondern dank der Art und Weise, wie ich die Menschen, auch mich selbst, betrachte. Ich glaube an die Freiheit des Willens und an unsere Verantwortung, aber diese Dimensionen unseres Daseins, mögen sie noch so bedeutsam sein, entziehen sich jeglicher Beschreibung. Was man erfassen kann, sind nur die Voraussetzungen. Ich sehe mich selber als Objekt, als Resultat, ohne dass das Verdienst oder die Unwürdigkeit dabei eine Rolle spielten. Wenn mir eine bestimmte Handlung zufälligerweise allein schon durch den Abstand mehr oder weniger geglückt oder mehr oder weniger missglückt erscheint, dann kommt es mir in jedem Fall eher darauf an, sie zu begreifen, als ein Urteil darüber zu fällen. Mir selber nachzuspüren, macht mir mehr Vergnügen, als mir zu schmeicheln. Meine Wahrheitsliebe übertrifft bei weitem die Sorge um den guten Eindruck: Sie ist in meiner Vergangenheit verwurzelt, und ich rechne sie mir nicht zur Ehre an. Die Tatsache, dass ich über mich kein Urteil abgebe, hält mich nicht davon ab, mein Leben und mich selber ins helle Licht zu rücken, zumindest in dem Maße, wie dies für meine eigene Welt zutrifft. Vielleicht würde mir die Projektion meines Bildes in eine andere Welt – zum Beispiel die der Psychoanalytiker – bestürzend oder peinlich sein. Aber wenn ich selber die Feder in der Hand habe, schrecke ich vor nichts zurück.
Trotzdem müssen wir uns über die Grenzen meiner Unparteilichkeit verständigen. Ein Kommunist, ein Gaullist – ebenso wie ein Fabrikarbeiter, ein Bauer, ein Militär, ein Musiker – würde diese Jahre anders schildern. Aber meine Ansichten, Überzeugungen, Perspektiven, Interessen, Engagements liegen klar zutage: Sie gehören zu der Zeugenaussage, die von ihnen ausgeht. Selbstverständlich bin ich nur objektiv in dem Maße, wie meine Objektivität mich selber einbezieht.
Genauso wie die beiden früheren Bände verlangt auch dieses Buch von dem Leser eine gewisse Mitarbeit. Ich schildere der Reihenfolge nach sämtliche Etappen meiner Entwicklung, und er muss sich in Geduld fassen, um nicht voreilige Schlüsse zu ziehen. Es ist zum Beispiel nicht richtig, wenn ein Kritiker folgert, dass Sartre immer noch Guido Reni liebe, nur weil er ihn mit neunzehn Jahren geliebt hat. Eigentlich ist es nur der böse Wille, der diese Trugschlüsse diktiert, und dagegen kann ich mich nicht sichern. Dieses Buch besitzt im Gegenteil alle erforderlichen Eigenschaften, um ihn auf den Plan zu rufen, und ich wäre enttäuscht, wenn es niemandem gefiele. Deshalb möchte ich darauf hinweisen, dass sein wahrer Gehalt sich nicht auf der einzelnen Seite, sondern nur in der Gesamtheit äußert.
Man hat mir in dem zweiten Band meiner Memoiren – La Force de Vage [In den besten Jahren] – viele kleinere und auch zwei bis drei schwerer wiegende Irrtümer nachgewiesen. Trotz aller Sorgfalt werden mir sicher auch in diesem Buch Irrtümer unterlaufen sein. Aber ich kann nur abermals betonen, dass ich nie mit Absicht gemogelt habe.