Die Originalausgabe der 1962 entstandenen Erzählung erschien 1967 unter dem Titel «A Biblia» in dem gleichnamigen Erzählungsband bei Szépirodalmi Könyvkiado, Budapest.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2019
Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«A Biblia» Copyright © 1967 by Péter Nádas
Copyright der deutschen Übersetzung © 2009 by Berlin Verlag
in der Piper Verlag GmbH, Berlin und München
Redaktion Ingrid Krüger
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Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Róbert Berény, Kieselbach Gallery, © VG Bild Kunst, Bonn 2019
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ISBN 978-3-644-00343-9
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00343-9
«No innate principles»
(Locke, XVII. Jh.)
Die rostzerfressenen, sich schon von den Stielen lösenden Rosen, Knospen und verästelten Akanthusblätter schepperten noch lange nach, wenn das schwere schmiedeeiserne Tor geöffnet oder geschlossen wurde. Das ungeölte Geklirr drang durch den stillen Garten und hallte dumpf von der stuckverzierten Fassade des Landhauses wider.
Träge und stolz mit seinem Ausmaß protzend streckte sich der eingeschossige Bau im Garten aus, aber immerhin hatten die einstigen Bauherren so viel Takt besessen, seinen Übermut nicht unmittelbar zur Straße auszustellen. Die Front war meisterlich durch hochstämmige Fichten, dichte Ziersträucher und breite Steingärten verdeckt.
Die Terrasse und der in üppig verzierte Gitter gezwängte Wintergarten blickten hingegen offen auf die dunstige Silhouette der Stadt. Nach unserer Stadtwohnung erschienen uns die für eine fremde Lebensform bemessenen sechs Räume veraltet, die marmorverkleidete Vorhalle und das saalartige, blaugekachelte Badezimmer setzten uns in Erstaunen. Unsere Möbel wirkten zwischen den riesigen Wänden verloren, die sechs Zimmer waren kaum zu beheizen, so daß von der mit Staunen gemischten Freude allmählich nur Verdruß übrigblieb.
Auch der Garten war riesig.
Ich streifte den ganzen Tag ziellos umher. Rauchte heimlich Zigaretten oder schleppte den Liegestuhl nach draußen und las.
Ich langweilte mich und lungerte herum, aber mein Tag war eingeteilt. Nach der Rückkehr aus der Schule aß ich zu Mittag und stolzierte mit dem hinter mir hertrottenden Kurzhaarterrier durch den Garten, mit einem Stöckchen gegen meine Waden klopfend und stolz über die Blumenbeete blickend.
Wir umrundeten den Garten einige Male, danach zog ich mich um. Ich schlüpfte in den alten Trainingsanzug und rannte wieder hinaus. Meta saß auf den Hinterbeinen vor der Tür und schlug glücklich mit dem Schwanz. Es folgte der «Stierkampf».
Ich schwenkte ein rotes Tuch und lief damit los. Meta sprang hinterher, schnappte nach dem Lappen, zerrte daran, ließ ihn wieder los, ich wirbelte ihn ihr um den Kopf, sie ihm in wildem Dreh nach, winselnd und knurrend – sie faßte ihn, ich zerrte, sie biß sich fest, ich ließ nicht los, entriß ihn ihr, rannte davon, die Hündin hinter mir her, sie warf mich um, wir wälzten uns auf dem Rasen, sie schnappte nach meinem Handgelenk, sprang mich an, jagte mit dem Tuch davon … und so ging es Tag für Tag, bis ich vom Lachen und Laufen Seitenstiche bekam.
Manchmal vergaß Meta die Regeln, dann nahm sie das Spiel ernst, fletschte die Zähne, knurrte, schlug die Zähne aufeinander, so daß mich das furchterregende rosa Zahnfleisch und der gefleckte Gaumen drohend anbleckten.
Doch auch mich stachelte die Angst an, noch stärker als sie. Auch ich gab nicht nach. In einer solchen Situation griff sie mich eines Tages an.
Der Stoff hatte sich in ihren Zähnen verhakt, ich hielt fest und hob sie hoch. Sie jaulte vor Schmerz, spannte ihren Körper und riß sich los. In ihrer Schnauze hing ein Stück rotes Tuch.
Sie schnappte nach meinem Bein. Für einen Moment war ich außer mir. Vor Schreck, denn Schmerz konnte ich nicht gespürt haben, schließlich blieb nichts als ein Kratzer zurück. Im Gras neben mir lag eine Hacke. Langsam, mit klarem Kopf griff ich danach. Meta drückte sich mit winselnden Augen flach auf den Boden. Ich begann sie zu schlagen. Aus ihrem Körper rann Blut. Beim ersten Schlag jaulte sie noch auf, dann schloß sie die Augen und ertrug still, wie Fell und Fleisch unter der scharfen Hacke aufrissen.
Der Ekel ließ mich einhalten. Hätte es mich nicht geekelt, ich weiß nicht, wozu Rache und Kraft bei mir noch gereicht hätten. Ich ließ sie dort liegen.
Tagelang fanden wir sie nicht. Am Samstagnachmittag entdeckte mein Vater sie unten im Heuschuppen. Er zog sie heraus und brachte sie in die Vorhalle.
Die Hundeaugen flackerten vor Angst, der Körper glühte im Fieber, die Wunden waren voll Heu, auf dem Fell klebte geronnenes Blut. Sie atmete schwer, ließ ständig die Zunge heraushängen und leckte sich die Schnauze.
Meine Mutter wusch und verband sie und gab ihr zu trinken, dann wurden Überlegungen angestellt, wer sie wohl so übel zugerichtet haben mochte, sicher hatte sie ein Hühnchen gestohlen … Ich sagte nichts.
Am nächsten Morgen wäre ich auf dem Weg ins Badezimmer beinahe über Metas erstarrten Körper gestolpert. Sie hatte sich bis zum Ausgang geschleppt, wahrscheinlich wollte sie im Freien sterben … Mit tragischer Miene fand ich mich im Schlafzimmer meiner Eltern ein. Sie lagen noch im Bett. Es war Sonntagmorgen.
«Sie ist tot», sagte ich und begann zu weinen. Ich kroch zu meiner Mutter, entzog meinen Kopf aber ihren streichelnden Händen. Ich fand, daß für Tröstung keine Veranlassung war.
Tagelang wußte ich nicht, wohin mit mir. Ich stieg auf den Dachboden und entdeckte neue Schätze. In Kisten lagerten alte Briefe, Fotos und Zeitungen – die einzige Hinterlassenschaft des einstigen Besitzers. Ich wühlte in den verstaubten Papieren und las genüßlich die langen, mit spitzen Buchstaben geschriebenen Briefe. Stundenlang saß ich auf dem staubigen Balken, von Abendgesellschaften, Reitern, Dienstboten, Liebesaffären, Moden und Meeresstränden lesend.
Ich betrachtete die Fotos, die elegante, steife Herren und Damen zeigten, an Bord großer Ozeandampfer, auf Kamelrücken am Fuß der ägyptischen Pyramiden, unter römischen Arkaden und – in venezianischen Gondeln.
Durch die schmalen Bodenluken ergossen sich Garben goldschimmernden Staubs. Ganz selten drang irgendein rufartiger Laut aus der Welt unten bis zu mir oder das unaufhörliche monotone Brausen der Stadt, das ich damals gar nicht mehr wahrnahm, so sehr war ich daran gewöhnt.
Nach manchen Briefen träumte ich lange vor mich hin. Meine Phantasie setzte auch mich auf Pferderücken. Nicht als Erwachsenen, sondern als Kind, steif, mit Reitpeitsche. Oder ich saß in einem riesigen Marmorsaal am Klavier wie der kleine Mozart, von den Flügeltüren hingen rote Samtdraperien, und hin und wieder brachte das schwarzweiße Zimmermädchen auf einem Tablett Gratulationsbriefe herein.
So, in ungestörter Trägheit, hatte ich den Kopf an einen Balken gelehnt. In die goldenen Nebel platzte eine weibliche Stimme hinein. Sie kam vorn Ende des Gartens, aus der Richtung des Tennisplatzes:
«Evaaa! Komm aus dem Wasser!»
Ich kletterte zum Fenster hoch, doch durch das dichte Laub war nicht bis in den Nachbargarten zu sehen, und Eva mochte inzwischen aus dem Becken gestiegen sein, denn es war wieder still geworden.
Der Name versetzte mich in Erregung.
Ich warf meine Schätze hin und stürzte hinunter in die Wohnung.
Um diese Zeit, am frühen Nachmittag, herrschte große Stille bei uns. Meine Großeltern zogen sich dann zur Ruhe ins hinterste Zimmer zurück.
Sie hielten sich die Volksstimme, eine Zeitung, auf die mein Großvater seit seiner Lehrzeit abonniert war. Das Handwerk hatte ihm die Augen verdorben, und er konnte damals schon Großbuchstaben nicht mehr entziffern. Seit zehn Jahren las meine Großmutter ihm täglich die Zeitung vor. Sie setzte sich ans Fenster, schob ihre Nickelbrille auf die Nase, und schnell und ausdruckslos fielen die Sätze aus ihrem Mund. Mein Großvater muß unendliche Geduld oder völlige Schicksalsergebenheit aufgebracht haben, um der leiernden Stimme meiner Großmutter zuhören zu können. Und während er aus diesem milchigen Wust stets das Wesentliche herausfilterte, war meine Großmutter unfähig, etwas anderes als den Wetterbericht daraus zu behalten. Und den auch nur darum, weil sie behauptete, daß ihr Bein und ihr Rücken den Wetterwechsel pünktlicher anzeigten als das Meteorologische Institut.
An diesen Nachmittagen gehörte alles mir. Zeit und Raum. Ich konnte unbehelligt in Schubladen stöbern oder mich in weggeschlossene Bücher vertiefen.
Nachdem ich auf den Ruf «Eva» vom Dachboden heruntergestiegen war, lief ich schnurstracks zum Schrank meines Vaters und zerrte ein paar Krawatten heraus. Anders als mit Krawatte konnte ich mir die Begegnung nicht vorstellen.
Im Laufschritt machte ich mich zum Tennisplatz auf. Je näher ich kam, umso langsamer wurden meine Schritte. Ich stellte mir Eva vor. Im rosa Tüllkleid, mit weißem Sonnenschirm, wie sie um das Becken spaziert, stolz, mit Strohhut – wie ich es auf Illustrationen zu einem Mädchenroman gesehen haben mochte. Und die Erwartung ließ mein Herz bis zum Halse schlagen.
Vorsichtig näherte ich mich dem Zaun, spähte zwischen den auseinandergebogenen Fliederbüschen zu den Nachbarn hinüber, doch ich sah niemanden. In der Mitte des Gartens, in einem höher gelegenen Steingarten, stand, der Sonne hingegeben, eine rundum verglaste Villa. Etwas weiter unten war ein Bassin aus Natursteinen zu sehen, daneben ein kleineres mit Teichrosen.
Lange hockte ich zurückgezogen hinter den Büschen. Nichts rührte sich. Das hielt mich noch stärker in Bann. Ich stellte mir vor, daß Eva jetzt in einem der Zimmer hinter den Fensterläden am Klavier saß und spielte. Aber es waren keine Klavierklänge zu hören. Das störte meine Einbildung natürlich nicht. Lange saß ich so da, bis hinter dem Haus eine tiefe Mädchenstimme ertönte.
«Gansi Gansi Gansi», vernahm ich, und da erschien auch das Mädchen, mit einer Handvoll Mais, hinter ihr die hungrigen, trippelnden Gänse.
Immer näher kam sie zum Zaun heran. Sie neckte die Tiere, streute hier und dort mal ein, zwei Körner aus, über die sich die Gänse hermachten, um dann weiter hinter dem Mädchen herzutrippeln.
Das Mädchen – ich dachte überhaupt nicht daran, daß es Eva sein könnte – ein zu kurz gewordener Kattunrock bedeckte kaum ihre dünnen Beine – war barfuß. Nicht weit von meinem Versteck streute sie den Mais endlich aus. Da war meine Angst schon verflogen, und ich rief zu ihr hinüber: «He!»
Sie drehte sich um, ich hatte geglaubt, Überraschung auszulösen, aber ihr schmales Gesicht war eher feindselig.
«Was willst du?» fragte sie.
«Nichts.»
«Was guckst du dann?»
«Wieso? Ist das nicht erlaubt?»
«Idiot», entgegnete sie und wandte sich wieder den Gänsen zu. Ich wurde verlegen, aber ich rührte mich nicht. Sie tat, als beobachte sie die Tiere, schielte aus den Augenwinkeln aber zu mir, dann fuhr sie auf: «Bist du immer noch da?»
«Ja», antwortete ich entmutigt, da sie sich in Richtung des Hauses in Bewegung setzte und mir über die Schulter nur noch zuwarf: «Dann gehe ich!»
Unwillkürlich, wie ein Aufschrei, entfuhr es mir: «Geh noch nicht!»