P.C. Cast
Göttin des Meeres
Mythica 2
Aus dem Amerikanischen von Christine Strüh und Anna Julia Strüh
Fischer e-books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402052-5
okay, ich gestehe – Autoren haben ihre Lieblingsbücher. Ich weiß, ich weiß, Bücher sind wie Kinder, und wir geben nur ungern zu, dass wir eines lieber mögen, aber es stimmt. Die Göttinnen-Bücher sind meine Lieblingskinder.
Wie House of Night, meine Bestseller-Serie für junge Erwachsene, so feiert auch die Göttinnen-Reihe die Unabhängigkeit, Intelligenz und Schönheit der modernen Frauen. Meine Helden haben alle eines gemeinsam: Sie wissen starke Frauen zu schätzen und sind klug genug, sowohl Köpfchen als auch Schönheit zu würdigen. Ist die Mischung von Respekt und Anerkennung nicht ein exzellentes Aphrodisiakum?
Sich in die Mythologie zu versenken und alte Legenden neu aufzuarbeiten macht Spaß. Göttin der Liebe ist alles in allem eine erotische Komödie. Vielleicht ist dieser Band der lustigste und sinnlichste der Serie – schließlich ist ja Venus selbst die Hauptperson! In Göttin des Meeres erzähle ich eine moderne Fassung der Geschichte von Undine, der Meerjungfrau – sie tauscht den Platz mit einer Offizierin der U. S. Air Force, die selbst dringend einen Tapetenwechsel braucht. Dann begeben wir uns – in Göttin des Lichts – mit den göttlichen Zwillingen Apollo und Artemis auf eine nette Reise nach Las Vegas. In Göttin des Frühlings wende ich mich dem Mythos von Persephone und Hades zu und schicke eine moderne Frau in die Hölle. Wer hätte gedacht, dass die Hölle und ihr grüblerischer Gott auch so wunderbare, verführerische Aspekte haben könnten?
Göttin der Rosen ist eine Version meines Lieblingsmärchens »Die Schöne und das Biest«. Darin habe ich eine magische Welt erschaffen, aus der die – guten und bösen – Träume stammen, und ein atemberaubendes Tier ins Leben gerufen.
Aber auch der Trojanische Krieg interessiert mich schon seit langem, und ich finde, dass Achilles ein Held ist, der endlich auch einmal ein Happy End verdient. Darum geht es in Göttin des Sieges – ich bin gespannt, wie es euch gefällt.
Ich hoffe, ihr habt Spaß in meinen Welten, und ich wünsche euch, dass ihr euren eigenen Funken Göttinnen-Magie entdeckt!
P. C. Cast
Christine war so mit ihren Einkäufen bepackt, dass sie alle Mühe hatte, ihren Schlüssel aus dem Schloss zu ziehen und die Tür mit dem Fuß hinter sich zuzuschieben. Als sie das Apartment betrat, fiel ihr Blick als Erstes auf die Uhr. Schon halb acht. Erst war sie mit ihrer Arbeit nicht fertig geworden, dann hatte es im Weingeschäft und im Supermarkt viel länger gedauert als geplant. Auf dem Heimweg von der Tinker Air Force Base war der Verkehr schon zäh gewesen, und als wäre das alles nicht schon zermürbend genug, war sie bei dem Versuch, eine Abkürzung zu nehmen, falsch abgebogen und hatte sich im Handumdrehen hoffnungslos verfahren. Ein freundlicher Mensch an einer Imbissbude hatte sie wieder auf den richtigen Weg gebracht. Sie hatte ihm erklärt, dass sie sich nur verfahren hatte, weil sie erst drei Monate bei Tinker arbeitete und noch keine Zeit gehabt hatte, sich zurechtzufinden.
Der Mann hatte ihr die Schulter getätschelt wie einemWelpen und gefragt: »Was macht ein so junges Ding wie Sie bei der Air Force?« Christine tat, als wäre das eine rhetorische Frage, die sie nicht beantworten musste, dankte ihm mit vor Scham hochrotem Gesicht für seine Hilfe und fuhr davon.
Aus all diesen Gründen war sie so angespannt, dass sie heftig zusammenzuckte, als das Telefon klingelte.
»Moment! Ich komme sofort!«, rief sie, eilte in die Küche und ließ die Einkaufstüten auf die Arbeitsplatte fallen, bevor sie zum Telefon hechtete.
»Hallo?«, keuchte sie, hörte aber schon nur noch das Freizeichen, während ihr Anrufbeantworter anfing zu blinken. »Na ja, wenigstens haben sie eine Nachricht hinterlassen.« Christine seufzte, ging mit dem Telefon zurück in die Küche und gab die Nummer ihrer Mailbox ein. Das Telefon am Ohr, holte sie mit der anderen Hand zwei Flaschen Sekt aus den Einkaufstüten.
»Sie haben zwei neue Nachrichten«, verkündete die mechanische Stimme. »Nachricht eins, heute 17 Uhr 30.«
Christine lauschte aufmerksam, während sie die Halterung des Sektkorkens löste.
»Hallo, Christine, hier sind deine Eltern«, erscholl die blecherne Tonbandstimme ihrer Mutter.
»Hi, Christine.« Da ihr Vater den Lautsprecher benutzte, klang seine Stimme etwas weiter entfernt, aber genauso fröhlich.
Christine lächelte. Ihre Eltern waren die einzigen Menschen auf der ganzen Welt, die sie immer noch mit ihrem vollen Namen anredeten.
»Wir wollten nur klarstellen, dass wir deinen großen Tag nicht vergessen haben.«
Hier machte ihre Mutter eine Pause, und Christine konnte ihren Vater im Hintergrund leise lachen hören. Ihren Geburtstag vergessen? Auf die Idee wäre Christine nie gekommen – bis jetzt.
»Wir hatten nur alle Hände voll damit zu tun, unsere nächste Kreuzfahrt vorzubereiten!«, fuhr ihre Mutter fort. »Du weißt ja, wie lange dein Vater zum Packen braucht«, fügte sie dann in verschwörerischem Flüsterton hinzu. »Aber keine Sorge, Liebling, wir haben dein Paket zwar noch nicht losgeschickt, aber dafür eine schöne Überraschung vorbereitet, die unserer liebsten Fünfundzwanzigjährigen hoffentlich gefällt.«
»Fünfundzwanzig?« Ihr Vater klang ehrlich überrascht. »Ach du lieber Himmel. Ich dachte, sie wäre zweiundzwanzig.«
»Die Zeit vergeht wie im Flug, Schatz«, entgegnete ihre Mom weise.
»Allerdings«, stimmte ihr Dad zu. »Das ist einer der Gründe, warum ich immer sage, wir sollten viel häufiger verreisen – aber nur einer der Gründe.« Er kicherte vielsagend.
»Mit dem Grund hattest du jedenfalls recht, Liebling«, erwiderte ihre Mutter schelmisch und klang gleich ein paar Jahrzehnte jünger.
»Sie flirten auf meinem Anrufbeantworter«, stieß Christine ungläubig hervor. »Und sie haben tatsächlich meinen Geburtstag vergessen!«
»Jetzt machen wir uns gleich auf den Weg zum Flughafen …«
»Elinor!«, rief ihr Vater. »Komm zum Schluss, die Limousine wartet!«
»Okay, ich muss los, Geburtstagskind! Oh, und ich wünsche dir viel Spaß auf deinem kleinen Air-Force-Trip. Fliegst du nicht schon in ein paar Tagen?«
Auf ihrem kleinen Air-Force-Trip? Christine verdrehte die Augen. Ihre neunzigtägige Stationierung als Unteroffizierin im Kommunikationscenter der Air Base in Riad, wo sie beim Kampf gegen den Terror mithelfen würde, war in den Augen ihrer Eltern also ein »kleiner Air-Force-Trip«?
»Und Schätzchen, du solltest endlich deine alberne Flugangst überwinden. Du bist alt und vernünftig genug, vergiss sie doch einfach. Mein Gott, immerhin bist du bei der Air Force!«
Christine schauderte. Sie wünschte, ihre Mutter hätte dieses Thema nicht erwähnt, ausgerechnet jetzt, wo ihr ein Flug um die halbe Welt bevorstand. Fliegen war das Einzige, was sie an der Air Force ganz und gar nicht mochte.
»Wir haben dich lieb! Ciao!«
Christine schüttelte immer noch ungläubig den Kopf, als sie die Nachrichtenwiedergabe beendete und das Telefon auf die Arbeitsplatte legte.
»Habt ihr doch tatsächlich meinen Geburtstag vergessen! Dabei habt ihr immer behauptet, das würde euch niemals passieren, weil ich kurz vor Mitternacht an Halloween geboren bin«, schimpfte sie auf das Telefon ein, während sie aus einer der Schubladen einen Korkenzieher kramte. »Nicht mal an mein Geburtstagspäckchen habt ihr gedacht.«
In den sieben Jahren, die Christine inzwischen im aktiven Dienst bei der United States Air Force war, hatten ihre Eltern noch kein einziges Mal ihr Geburtstagspaket vergessen. Bis jetzt – ausgerechnet an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag! Heute wurde sie ein Vierteljahrhundert alt, das war ein ganz besonderer Tag, den sie jetzt ohne Eltern-Paket begehen musste.
»Dabei ist es eine Familientradition!«, rief sie ärgerlich, ließ den Korken knallen und hielt die schäumende Flasche übers Waschbecken.
Seufzend nahm sie zur Kenntnis, dass sie plötzlich schreckliches Heimweh hatte.
Schluss damit, ermahnte sie sich streng. Sie mochte ihr Leben bei der Air Force und hatte ihre Entscheidung, gleich nach der Highschool ihren Dienst anzutreten, niemals bereut. Immerhin war sie auf diese Weise endlich ihrem netten, biederen Kleinstadtleben entronnen. Zwar hatte sie nicht wirklich »die Welt gesehen«, wie es in der Werbung versprochen wurde, aber immerhin schon in Texas, Mississippi, Nebraska und Colorado und jetzt in Oklahoma gewohnt. Das waren fünf Staaten mehr, als die meisten der selbstzufriedenen Bewohner ihrer Heimatstadt Homer in Illinois jemals auch nur zu Gesicht kriegen würden.
»Meine Eltern werden allmählich die reinsten Weltenbummler!« Christine goss sich ein Glas Sekt ein, nippte daran und warf dem Telefon noch einen bösen Blick zu, während sie mit dem Fuß unruhig auf den Boden klopfte. Es war eigentlich menschenunmöglich, auf wie vielen Abenteuerreisen ihre Eltern im letzten Jahr gewesen waren. »Sie versuchen bestimmt, einen Weltrekord aufzustellen.« Christine erinnerte sich an das alberne Geplänkel auf ihrem Anrufbeantworter und schloss schnell die Augen, um das Bild zu verscheuchen.
Einen kurzen Moment später öffnete sie die Augen wieder, und ihr Blick fiel erneut auf das Telefon.
»Aber Mom, was soll ich denn ohne deine Chocolate Chip Cookies machen?« Überrascht stellte sie fest, dass sie ihren Sekt schon ausgetrunken hatte, und goss sich schnell nach. »Wie soll ich ohne mein Geburtstagspaket alle Nahrungsgruppen abdecken?« Sie griff in eine ihrer Einkaufstüten und holte einen Behälter von Kentucky Fried Chicken heraus. Mit einer Geste, die sowohl den Sekt als auch die Hähnchenteile mit einschloss, setzte sie ihr einseitiges Gespräch fort: »Hier ist schon mal die Fleischgruppe mit allen wichtigen Fetten für gute Verdauung. Dann meinen persönlichen Favoriten aus der Obstgruppe – Sekt. Aber wie soll ich ohne die Milch-/Schokolade-/Zuckergruppe den vollständigen kulinarischen Geburtstagsgenuss erreichen?«
Sie öffnete den Deckel des Behälters, schnappte sich eine Hähnchenkeule und biss herzhaft hinein. Wild mit dem Hähnchenteil gestikulierend, setzte sie ihre Tirade fort.
»Jedes Jahr schickt ihr mir irgendwas total Nutzloses, was mich zum Lachen bringt und an zu Hause erinnert. Egal, wo ich bin. Vorletztes Jahr zum Beispiel, da habt ihr mir dieses Außenthermometer in Form eines Froschs geschickt – dabei hab ich noch nicht mal einen Garten! Oder das Schild für die Eingangstür, auf dem Gott segne dieses Haus steht, das ich an der Wand in meiner Wohnung aufhängen musste, weil ich kein Haus habe!« Als Christine sich an die albernen Geschenke ihrer Eltern erinnerte, musste sie unwillkürlich kichern.
»Damit wolltet ihr mir wohl sagen, dass ich endlich heiraten soll. Oder mir zumindest ein Haus kaufen.«
Gedankenverloren kaute sie auf der Unterlippe herum und seufzte erneut, weil ihr klar wurde, dass sie eher nach fünfzehn als nach fünfundzwanzig klang. Aber ihre Stimmung hellte sich rasch wieder auf.
»Hey! Ich hab ja meine andere Nachricht ganz vergessen.« Sie nahm das Telefon wieder zur Hand, rief erneut ihre Nachrichten ab, übersprang aber die Ansage ihrer Eltern.
»Nachricht zwei. Heute 18 Uhr 32.«
Christine grinste. Das war bestimmt Sandy, ihre älteste Freundin – tatsächlich war sie die einzige ihrer Freundinnen aus der Highschool, mit der sie immer noch Kontakt hielt. Sie kannte Sandy schon seit der ersten Klasse und wusste, dass ihre beste Freundin selten etwas vergaß und schon gar nicht Christines Geburtstag. Die beiden liebten ihre regelmäßigen Ferngespräche, bei denen sie jedes Mal ausgiebig darüber scherzten, wie sie ihrer früheren Kleinstadtheimat Homer »entkommen« waren. Sandy hatte eine sehr gute Stelle an einem großen Krankenhaus in Chicago ergattert. Ihre offizielle Berufsbezeichnung lautete »Physician Affairs Liaison«, was eigentlich nur hieß, dass es ihre Aufgabe war, neue Ärzte für das Krankenhaus einzustellen, aber Christine und sie liebten den eindeutig zweideutigen Titel. Noch lustiger wurde das Ganze dadurch, dass Sandy seit drei Jahren glücklich verheiratet war und nie im Leben eine Affäre eingegangen wäre.
»Hi, Christine. Lang nichts von dir gehört, Süße!«
Das war nicht Sandys vertraute Stimme, die sie da im unverkennbar gedehnten Südstaatenakzent begrüßte. »Ich bin’s, Halley. Dein Lieblings-Südstaaten-Babe! Ach Gott – es war echt nicht leicht, deine neue Nummer rauszukriegen. Du hast nämlich vergessen, sie mir zu geben, als du weggezogen bist.«
Christines Grinsen verblasste. Halley gehörte zu den wenigen Dingen an ihrer letzten Dienststelle, die sie nicht vermisst hatte.
»Ich wollte dich nur daran erinnern, dass ich in anderthalb Monaten meinen dreißigsten Geburtstag feiere – am 15. Dezember, um genau zu sein –, und ich möchte, dass du dir das Datum in deinem Terminkalender rot anstreichst.«
Christine war fassungslos. »Das kann doch nicht wahr sein. Mein Tag wird immer schlimmer«, murmelte sie vor sich hin.
»Das wird die beste Party, die die Welt je gesehen hat, und du musst unbedingt kommen. Also beantrage so schnell wie möglich Urlaub. In einer Woche oder so schicke ich dir die offizielle Einladung. Und ja, Geschenke werden akzeptiert.« Halley kicherte wie ein kleines Mädchen. »Bis bald!«
»Ich glaub’s nicht.« Christine schaltete das Gerät energischer aus, als nötig gewesen wäre. »Erst vergessen meine Eltern meinen Geburtstag. Und dann sieht es nicht nur so aus, als hätte meine beste Freundin auch nicht daran gedacht, sondern mich ruft auch noch diese nervtötende Tussi an, um mich zu ihrer Party einzuladen!« Sie ließ das Telefon wieder auf den Tresen fallen. »Und das anderthalb Monate im Voraus!«
Ärgerlich schob sie den ungeöffneten Sekt in den Kühlschrank, dann nahm sie die offene Flasche, ihr halbleeres Glas und den KFC-Behälter und ging ins Wohnzimmer, wo sie ihr Festmahl auf dem Couchtisch ausbreitete, bevor sie in die Küche zurückging, um sich Servietten zu holen. Als sie an dem trügerisch stillen Telefon vorbeikam, hielt sie abrupt inne.
»O nein. Ich bin noch nicht fertig mit dir, du kommst mit!« Sie warf das Telefon neben sich aufs Sofa. »Bleib da liegen. Ich behalte dich im Auge.«
Christine fischte noch eine fettige Hähnchenkeule aus der Box, schaltete den Fernseher ein – und stöhnte laut. Der Bildschirm zeigte nur ein statisches Flimmern.
»O nein! Der Kabelanschluss!« Da sie die nächsten drei Monate im Ausland sein würde, hatte sie ihren Kabelanschluss zwischenzeitlich gekündigt und war sehr stolz auf ihre Sparsamkeit gewesen. »Nicht heute! Ich hab doch zum 1. November gekündigt, nicht zum 31. Oktober!« Sie sah das stumme Telefon argwöhnisch an. »Das ist bestimmt auch deine Schuld.«
Dann fing sie an, hysterisch zu lachen.
»Jetzt rede ich schon mit meinem Telefon!« Sie goss sich noch ein Glas Sekt ein, wobei sie merkte, dass die Flasche bereits halb leer war. Während sie an dem prickelnden Getränk nippte, überlegte sie laut: »Da muss wohl mein Unterhaltungsprogramm für Notfälle her. Zeit für die besten Mädchenfilme.«
Die Hähnchenkeule zwischen die Zähne geklemmt, wischte sie ihre Hände an der Papierserviette ab und öffnete ihren Video-Schrank, der neben ihrem Fernseher stand.
»Dirty Dancing, Ein Geschenk des Augenblicks, West Side Story, Vom Winde verweht.« Sie überlegte einen Moment, bevor sie den Kopf schüttelte. »Nein, zu lang – und auch nicht wirklich ein Geburtstagsfilm. Hmmm … Superman, Stolz und Vorurteil, Der letzte Mohikaner, Die Reisen des Mr. Leary, Die Farbe Lila, Die Hexen von Eastwick.« Beim letzten Titel hielt sie inne.
»Das ist jetzt genau das Richtige. Girl Power.« Sie schob das Video in den Videorekorder. »Nein«, verbesserte sie sich dann. »Das ist besser als Girl Power – das ist Frauenpower!« Christine hob ihr Glas und prostete den drei glorreichen Filmgöttinnen zu, die nacheinander auf dem Bildschirm erschienen. Sie waren einzigartig und einfach nur fabelhaft.
Zuerst Cher, mysteriös und exotisch, mit vollen, perfekten Lippen und einer verführerischen Lockenmähne.
Christine seufzte. Sie selbst hatte ziemlich schmale Lippen, und auch ihr Körper war nicht sehr weiblich. Vielleicht war es an der Zeit, sich wenigstens von ihrem jungenhaften Kurzhaarschnitt zu verabschieden.
Dann Michelle Pfeiffer – einfach nur hinreißend, selbst in der Rolle der gebärfreudigen Mama eine wahrhaft überirdische Schönheit.
So eine Frau wurde bestimmt von niemandem als »süß« bezeichnet.
Und Susan Sarandon! Nicht mal, wenn sie wie eine Musiklehrerin älteren Jahrgangs aufgemacht war, sah sie bieder aus, im Gegenteil – sie strotzte nur so vor Sex-Appeal.
Kein Mann würde so eine Frau nur als »gute Freundin« sehen. Oder zumindest kein heterosexueller Mann.
»Auf drei umwerfende Frauen, die all das sind, was ich gerne wäre!«
Christine konnte kaum glauben, dass ihr Glas schon wieder leer war – und jetzt sogar die Flasche.
»Gott sei Dank habe ich noch eine.« Sie tätschelte das Telefon voller Zuneigung, bevor sie zum Kühlschrank ging, um die zweite Sektflasche von ihrem einsamen Dasein zu erlösen. Leicht schwankend kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und machte es sich mit der vierten Hähnchenkeule wieder auf dem Sofa bequem. »Das hättest du bestimmt nicht gedacht, dass jemand so Kleines so viel essen kann«, meinte sie zu dem nach wie vor stummen Telefon.
Es antwortete mit einem schrillen Klingeln.
Christine zuckte heftig zusammen und verschluckte sich fast an dem halb gekauten Stück Hähnchen in ihrem Mund. »Mein Gott, du hast mich fast zu Tode erschreckt.«
Das Telefon schrillte erneut.
»Herrgott, es ist bloß ein Telefon! Reiß dich zusammen, Christine.« Sie schüttelte den Kopf über ihr idiotisches Benehmen.
Der Apparat klingelte ein drittes Mal, bevor Christine ihre Hände abgewischt und ihre Nerven so weit beruhigt hatte, dass sie sich traute ranzugehen.
»H-hallo?«, sagte sie zögerlich.
»Kann ich bitte Christine Canady sprechen?« Die weibliche Stimme war ihr unbekannt, klang aber freundlich.
»Am Apparat.« Mit der Fernbedienung stellte sie Die Hexen von Eastwick auf Pause.
»Miss Canady, hier spricht Jess Brown vom Woodland Hills Resort in Branson, Missouri. Ich rufe an, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Eltern, Elinor und Herb, Ihnen zu Ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag ein Wochenende in unserer schönen Ferienanlage gebucht haben! Herzlichen Glückwunsch, Miss Canady!« Christine konnte regelrecht sehen, wie Jess Brown in Branson vor Freude strahlte. Wo auch immer Branson sein mochte.
»Fünfundzwanzig«, war alles, was sie herausbrachte.
»Wie bitte?«
»Ich werde heute fünfundzwanzig, nicht zweiundzwanzig.«
»Nein!« Christine konnte durch das Telefon das hektische Rascheln von Papier hören. »Aber hier steht es, schwarz auf weiß – Christine Canady, zweiundzwanzig.«
»Aber das bin ich nicht.«
»Sie sind nicht Christine Canady?« Jess klang besorgt.
»Nein, ich bin nicht zweiundzwanzig!«, rief Christine und beäugte die soeben geöffnete zweite Sektflasche. Vielleicht war sie betrunken und bildete sich das alles nur ein.
»Aber Sie sind Christine Canady?«
»Ja.«
»Und Ihre Eltern sind Elinor und Herb Canady?«
»Ja.«
»Na ja, wenn Sie Christine Canady sind, spielt der Rest wohl keine Rolle.« Das war offenbar eine große Erleichterung für Jess.
»Da haben Sie wohl recht.« Christine zuckte hilflos die Schultern. Sie konnte den Wahnsinn ebenso gut mitmachen.
»Sehr schön!« Jetzt hatte Jess zu ihrer guten Laune zurückgefunden. »Also, ich würde Sie gerne noch über ein paar Details informieren. Sie können an einem beliebigen Wochenende im nächsten Jahr kommen, aber Sie müssen vorher anrufen, um Ihre Hütte zu reservieren …«
Hütte? Christines Gedanken überschlugen sich. Was hatten ihre Eltern getan?
»… mindestens einen Monat im Voraus, sonst können wir die Verfügbarkeit nicht garantieren. Natürlich ist dieses Geschenk an sich nur für Sie persönlich bestimmt, aber wenn Sie einen Freund oder eine Freundin mitbringen möchten, ist das gegen einen geringen Aufpreis selbstverständlich machbar – beziehungsweise kostenfrei, wenn er oder sie bereit ist, an einer kurzen Informationsveranstaltung über unsere Anlage teilzunehmen.«
Christine schloss die Augen und massierte sich die rechte Schläfe, in der ein dumpfer Schmerz zu pochen anfing.
»Und zusammen mit Ihrem wundervollen Woodland-Wochenende …« – Jess hatte diese ausgezeichnete Alliteration sicherlich einstudiert – »… haben Ihre Eltern ein Ticket für das Andy Williams Moon River Theater, einer der berühmtesten Shows hier in Branson, für Sie reserviert.«
Christine konnte sich ein Stöhnen nicht verkneifen.
»Oh, ich kann Ihre Begeisterung durchaus verstehen!«, sprudelte Jess. »Wir schicken Ihnen das offizielle Informationspaket per Post zu, lassen Sie mich deshalb noch kurz Ihre Adresse gegenchecken …«
Etwas steif bestätigte Christine die Adresse.
»Okay! Ich denke, das sind alle Informationen, die wir benötigen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Miss Canady, und alles Gute zu Ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag!« Mit diesen Worten legte Jess auf.
»Aber wo ist Branson überhaupt?«, fragte Christine das Freizeichen.
»Gut so!«, feuerte Christine den Fernseher an und verschüttete Sekt auf ihrem Teppich, als sie mit großer Geste das Glas hob. »Macht ihn fertig, Mädels! Gegen eure Magie ist selbst ein Jack Nicholson chancenlos.«
Beim Nachspann sprang sie auf und tanzte den Siegestanz der Hexen, ohne sich daran zu stören, dass sie ziemlich wackelig auf den Beinen war.
»Mr. Telefon.« Sie legte eine Tanzpause ein, um Atem zu schöpfen, und fragte sich flüchtig, wer eigentlich die ganze KFC-Box leer gegessen hatte.
Mr. Telefon schien sie von seinem Platz auf dem Sofa anzulächeln.
»Wusstest du, dass alle Magie den Frauen gehört?«
Mr. Telefon schwieg diskret.
»Natürlich hast du keine Ahnung – du bist ein Telefon!« Christine kicherte. »Du wusstest ja noch nicht mal, dass ich fünfundzwanzig bin und keine zweiundzwanzig.« Sie schnaubte vor Lachen. »Aber jetzt weißt du es. Und nach diesem großartigen Film sollte dir auch klar sein, dass Frauen Magie haben.«
Mr. Telefon machte einen eher skeptischen Eindruck.
»Glaub es ruhig! Haben Cher und Michelle und Susan das nicht gerade hinreichend bewiesen?« Christine wankte, aber nur ein bisschen. »Oh, ich verstehe schon. Du denkst, die drei vielleicht schon, aber eine normale Frau, so eine wie ich – niemals.«
Christine war sich nicht sicher, aber es kam ihr vor, als wäre das Telefon zumindest gewillt, ihr zuzuhören.
»Okay. Vielleicht hast du recht, aber was, wenn du dich irrst? Was, wenn wir Frauen wirklich so etwas in uns haben und es nur finden müssen? Genau wie die drei im Film.« Mit gerunzelter Stirn versuchte Christine, sich auf diesen unerwarteten Geistesblitz zu konzentrieren. »Die haben auch zuerst nicht dran geglaubt, aber die Magie hat trotzdem gewirkt. Vielleicht spielt es gar keine Rolle, ob man nur durchschnittlich aussieht oder gerade in eine neue Stadt gezogen ist und noch keine Freunde gefunden hat.« Oder ob alle deinen Geburtstag vergessen haben, fügte Christine in Gedanken hinzu. »Vielleicht muss man sich einfach ins Ungewisse stürzen.«
Auf einmal nahm sie aus dem Augenwinkel einen Lichtschein wahr, und sie verlor den Faden.
Was zum …? Ihre Nackenhaare sträubten sich.
Das Licht sickerte durch die zugezogenen Vorhänge an ihrer Balkontür.
Schnell warf Christine einen Blick auf die Zeitanzeige des Videorekorders. 22 Uhr 05.
»Das sind bestimmt die Straßenlaternen«, meinte sie zu Mr. Telefon, allerdings ohne den Blick von dem bezaubernden Lichtschimmer zu wenden. Er hatte eine merkwürdige Farbe, eigentlich ganz anders als das kalte Licht der Straßenlaternen.
»Vielleicht sind es die Scheinwerfer von einem geparkten Auto.« Noch während sie die Worte aussprach, wusste sie, dass auch das nicht sein konnte. Nicht in ihrer Wohnung im obersten Stockwerk. Autoscheinwerfer reichten weder hier herauf, noch strahlten sie ein so warmes Licht aus. Ein Licht, in dem sie am liebsten gebadet hätte.
Ohne bewusst den Entschluss zu fassen, ging Christine zur Balkontür hinüber.
»Du hast dir Magie gewünscht«, flüsterte sie. Ganz langsam, als bewegte sie sich durch das süße Zwielicht zwischen Wachen und Schlafen, zog sie die Vorhänge auf.
»Ohhhh …«, hauchte sie. »Es ist Magie.«
Leuchtend hell stand der Vollmond am Himmel, direkt über ihr, fast so, als hätte die Göttin Diana persönlich ihn als Geburtstagsgeschenk für sie dort platziert. Sein Schein tauchte die Topfpflanzen, die sich auf dem Balkon drängten, in ein warmes, matt schimmerndes Licht. Rasch öffnete Christine die Glastüren und trat hinaus in die milde Wärme der späten Oktobernacht.
Der Balkon war groß, mit einem wunderschönen Ausblick über die Grünfläche, die den Wohnkomplex von dem benachbarten, etwas schickeren Viertel trennte. Seinetwegen hatte Christine sich entschlossen, diese recht kostspielige Wohnung zu kaufen, obwohl sie ihr Budget dafür etwas überstrapazieren musste. Sie saß unglaublich gerne hier, denn die beruhigenden Geräusche der Natur ließen die Anspannung der Arbeit einfach dahinschmelzen – was oft nicht einmal das Kickboxen oder ein warmes Schaumbad schaffte. An dem gemütlichen Schaukelstuhl und dem dazu passenden Tischchen, das gerade groß genug für ein Buch und ein Getränk war, konnte man deutlich erkennen, dass sie schon zahllose Abende hier verbracht hatte. Und inmitten der Fülle von Topfpflanzen befand sich ihr liebstes Balkon-Möbelstück: ein winziger Terrassenofen.
Seine matte, sanft im Mondlicht schimmernde Oberfläche erinnerte Christine vage an einen exotischen Sandstrand.
Sie legte den Kopf in den Nacken und breitete die Arme aus, als wollte sie die Nacht umarmen, öffnete sich voll und ganz dem Mondschein, und sie hatte das Gefühl, als würde ihr Körper vom Licht einer anderen Welt durchflutet.
Mit einer raschen, fast unbewussten Bewegung hob sie dem Mond ihr Gesicht entgegen.
»Es ist wirklich wahr«, sagte sie in die lauschende Nacht hinein. »Es muss wahr sein.«
Eine Idee war in ihr entstanden, geboren aus Sekt und Mondlicht. Christine lächelte, dann trat sie durch die Glastüren zurück in ihr Schlafzimmer. Unterwegs knöpfte sie schon ihre Air-Force-Uniform auf, und nacheinander landeten der dunkelblaue Rock, die hellblaue Bluse, Strumpfhose und BH auf dem Boden.
»Schritt eins.«
Nackt zog Christine die Schublade mit den Schlafanzügen auf und wühlte darin, bis sie ganz am Boden ihr langes Seidennachthemd fand, das unter den praktischen Baumwollnachthemden ganz in Vergessenheit geraten war. Eine Uniform ist gut für die Arbeit, aber nicht für Magie, sagte sie sich und zog das blass schimmernde Gewand über den Kopf. Ein wundervoll erotisches Gefühl, wie es über ihren nackten Körper glitt.
»Das werde ich demnächst öfter tragen«, schwor sie sich laut.
»Schritt zwei.« Entschlossen ging sie in das Zimmer, das ihr Arbeitszimmer werden sollte. Bisher hatte sie nur genug Zeit und Geld gehabt, um sich einen Stuhl und einen Schreibtisch zu besorgen, auf dem ihr fünf Jahre alter Computer stand. Ihre Bücher lagen ordentlich aufgestapelt auf dem Boden und warteten auf die Regale, die sie ihnen versprochen hatte. Christine schaltete das Licht ein und begann die unzähligen Lehrbücher zu durchstöbern. Da sie sich nicht für ein Hauptfach entscheiden konnte, hatte sie bisher willkürlich irgendwelche College-Module belegt, und so hatte sich im Lauf der letzten sieben Jahre einiges angesammelt – von Anatomie über Physiologie bis hin zu den Grundlagen der Buchhaltung.
»Da bist du ja!« Sie zog das mittelgroße Buch hervor, das unter einem dicken geisteswissenschaftlichen Wälzer verborgen gewesen war und den Titel trug: Die Ära der Frauen – Mythen und Legenden. Christine dachte gern an ihr Semester in Frauenforschung zurück, vor allem an ihre Professorin Teresa Miller, die den Kurs zu einer ihrer Lieblingsveranstaltungen gemacht hatte. Bis heute hatte sie Mrs. Millers ausdrucksvolle Stimme im Ohr, die Texte aus einer längst vergangenen Zeit vorlas, in der Frauen verehrt und sogar angebetet wurden.
»Wo ist es?«, murmelte sie vor sich hin, während sie die Inhaltsangabe überflog und mit dem Finger über die Reihen von Namen fuhr, bis sie endlich bei G innehielt.
»Gaia!«
Auf dem Boden hockend, schlug sie die Seite sechsundachtzig auf und las laut vor: »Gaea oder Gaia war eine Erdgöttin, die Große Mutter, bekannt als die älteste der Gottheiten. Sie gebot über Magie, Weissagung und Mutterschaft. Obwohl Zeus und andere männliche Gottheiten während der Machtübernahme des Patriarchats sich ihre Heiligtümer zu eigen machten, schworen die Götter weiterhin all ihre Eide in Gaias Namen und folgten ihrem Gesetz.«
Christine nickte. Das war genau das, wonach sie gesucht hatte. Gaia war die Mutter der Magie. Erneut schlug sie das Inhaltsverzeichnis auf und durchsuchte jetzt die Begriffe, die mit R anfingen.
»Rituale! Erdrituale, Seite einhundertzweiundfünfzig.« Sie blätterte die glatten, weißen Seiten durch, bis sie die richtige fand. »Ha! Wusste ich’s doch!«, rief sie triumphierend und las versunken das altertümliche Bittgebet. Als sie fertig war, nahm sie das Buch mit an ihren Schreibtisch und saß einen Moment regungslos da. Dann schrieb sie mit blauer Tinte einen einzigen Satz auf ein Stück Papier, und faltete es zusammen. Um die Stelle zu markieren. Mit dem aufgeschlagenen Buch und dem Blatt Papier in der Hand kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.
Nachdem sie aus der Küche noch ein Glas Wasser und eine Schachtel langer Streichhölzer geholt hatte, trat sie wieder auf den Balkon hinaus.
Sie legte ein Stück trockenes Kiefernholz in den Terrassenofen und zündete es an. Dann ging sie zu dem langen Balkonkasten, der am schmiedeeisernen Geländer hing, strich zärtlich über die dunkelgrünen Blätter und atmete tief den herben Duft der frischen Minze ein.
»Wie gut, dass ich euch habe.« Christine lächelte, wählte ein paar größere Pflanzen aus und schnitt vorsichtig ein paar Zweige ab.
Aus dem kleinen Terrakottaofen strömte der würzige Duft des brennenden Kiefernholzes, im Mondlicht waberten dicke Rauchschwaden wie Nebel über den Balkon. Vor Aufregung ganz atemlos, nahm Christine ihre Position vor dem Öfchen ein. Die geschnittene Minze legte sie auf den Tisch neben das Glas Wasser und das Stück Papier, dann nahm sie das Buch an der aufgeschlagenen Seite zur Hand, räusperte sich und begann mit klopfendem Herzen zu lesen.
»Große Mutter Gaia, Schöpferin allen Lebens, ich rufe dich herbei.«
Während sie in den Rhythmus des uralten Rituals fiel, verschwand Stück für Stück alle Zaghaftigkeit aus ihrer Stimme, und ihre Arme kribbelten, als wären sie elektrisch aufgeladen.
»Ich benötige deine Führung in meinem Streben nach Wissen und Wachstum und bitte dich, mir zu helfen …« Christine hielt inne. An dieser Stelle stand im Text: Die Priesterin legt ihre Absicht dar. Christine atmete tief durch, schloss die Augen, konzentrierte sich mit Herz und Seele und fuhr fort: »Ich ersuche dich, mir zu helfen, Magie in mein Leben zu bringen.«
Dann öffnete sie die Augen und las weiter. »Ich schwöre, dass ich sie nur zu guten Zwecken einsetzen werde. Bitte zeige mir die Richtung, die ich einschlagen soll. Ich hoffe auf deine Führung und Hilfe.«
Ein Windhauch strich über die Seiten des offenen Buches, und einen Moment fühlte es sich in ihrer Hand lebendig an.
Zitternd vor Spannung stand Christine da. Die Nacht schien mit ihr den Atem anzuhalten.
»Ich gebe meine Träume und Wünsche in deine Obhut.«
Mit einer Hand hielt sie das Buch offen, die andere bewegte sie langsam durch den wabernden Kiefernrauch.
»Mit Hilfe der Luft erschaffe ich die Saat.« Der Rauch tanzte träge in der sanften Brise.
Dann nahm sie das Stück Papier, auf dem in ihrer kompakten Handschrift stand: »Ich wünsche mir Magie in meinem Leben.« Der Wunsch erfüllte ihre Gedanken …
»Mit Hilfe des Feuers wärme ich sie.«
Sie ließ das Papier ins Feuer fallen, wo es sogleich in einer wilden grünen Flamme aufloderte.
Ihr war vage bewusst, dass das nicht normal war – es war nur ein ganz gewöhnliches Stück Papier, nichts daran konnte eine wilde grüne Flamme verursacht haben. Christines Herz begann wild zu hämmern, aber ihre Hand war ruhig, als sie das Kristallglas nahm und das kalte, klare Wasser in einem kleinen Kreis um den Ofen herum versprengte.
»Mit Hilfe des Wassers nähre ich sie.«
Christine trat in den so entstandenen Kreis. Im Mondlicht glitzerten die Wassertropfen wie Quecksilber. Als Nächstes nahm sie die abgeschnittenen Zweige der Minze in die Hand.
»Mit Hilfe der Erde lasse ich sie wachsen.«
Sie warf die zarten Pflanzen ins Feuer, wo sie zischten und glühten und sich schließlich langsam auflösten. Für einen Moment sahen sie aus wie exotisches Seegras, und tatsächlich stieg Christine der salzige Geruch des Ozeans in die Nase.
»Mit Hilfe des Geistes werde ich fähig, an der Macht der Göttin teilzuhaben, die alles möglich macht.« In einer heftigen Gefühlsaufwallung legte Christine das Buch auf dem Tisch ab und vollendete das Ritual, als wären die Worte ihr ins Herz geschrieben. »Ich danke dir, Gaia, Große Muttergöttin!«
Wie als Antwort auf ihr Gebet schlug der leichte Wind um und kühlte ab. In einer bläulich schimmernden Spirale stieg der Kiefernrauch empor, und Christine beobachtete fasziniert, wie er im mondlichtdurchfluteten Nachthimmel verschwand.
Der Wind wurde immer stärker. Instinktiv hob Christine die Arme mit ausgestreckten Fingern über den Kopf, als könnte sie den Mond greifen, und begann, sich langsam hin und her zu wiegen, ließ sich vom Wind im sanften Rhythmus der Nacht-Symphonie schaukeln, und bald bewegten sich ihre nackten Füße in ihrem eigenen Tanz auf der Spur des Wasserkreises. Der Wind liebkoste Christines Körper und streichelte ihre nackte warme Haut mit der weichen Seide ihres Nachthemds.
Als Christine an sich herabsah, wurden ihre Augen groß vor Staunen. Normalerweise fand sie sich viel zu zierlich, um sexy zu sein, aber heute Nacht verschmolz Seide mit Mondlicht und verzauberte ihren Körper. Durch den dünnen Stoff zeichneten sich ihre Brüste deutlich ab, und die kleinen, perfekten Brustwarzen fühlten sich fest und extrem empfindlich an. Anmutig vollführte sie einen Tanzschritt, an den sie seit ihren Ballettstunden in der Grundschule nicht mehr gedacht hatte, ihr Nachthemd schmiegte sich sanft an ihre Oberschenkel, und sie kam sich vor, als wäre sie einem erotischen Gemälde von Maxfield Parrish entstiegen. Das Mondlicht verfing sich in den Falten der sich kräuselnden Seide, erfüllte die blasse Farbe mit Leben und verwandelte sie in schäumende Gischt. Lachend nahm Christine ihre unerwartete Schönheit zur Kenntnis, während sie sich drehte und wirbelte, als hätte sie Flügel.
»Das ist Magie!«, rief sie in die Nacht hinaus.
Schatten huschten über den Balkon, und als Christine aufblickte, sah sie über sich Wolkenfetzen, die das Antlitz des Mondes verschleierten. Der Wind frischte weiter auf, und Christine glich ihren Tanz dem Rhythmus der schwankenden Bäume an.
Normalerweise hätte der ohrenbetäubende Donnerschlag sie zu Tode erschreckt, doch Christine fühlte, dass dieser Sturm ihrem eigenen Inneren entsprungen war. Als ein blau-weißer Blitz den Himmel durchzuckte, fachte er ihr Verlangen nach der Nacht nur weiter an, und sie jauchzte laut auf vor Freude.
Da öffneten sich die Himmelsschleusen, als wollte auch der Regen mit ihr feiern. Christine empfing ihn tanzend und lachend, jeder Augenblick ein Genuss, der ausgekostet werden wollte. Selbst ihre Pflanzen schienen die Blätter im Einklang mit Christines innerer Musik zu bewegen, und die Regentropfen glitzerten auf ihnen wie geschliffene Juwelen. Als ihr Blick auf den sonst so tristen Parkplatz fiel, sah sie zu ihrem Erstaunen, dass der Regen ihm die matt schimmernde Oberfläche eines mysteriösen, schattenumwobenen Ozeans verliehen hatte.
Erneut hob Christine die Arme und drehte sich, in die feuchte Umarmung des Regens gehüllt. Als sie diesmal laut auflachte, glaubte sie, im Brausen des Winds ein Echo zu hören, das melodiöse Gelächter einer anderen Frau – und für einen magischen Moment verbanden sich ihre Stimmen in Freude und Liebe.
Ein zweiter Lichtblitz zuckte über den Himmel, und der Regen prasselte sintflutartig auf den Balkon herab. Aus dem Augenwinkel sah Christine, dass die Vorhänge in ihrer Wohnung sich wild aufbauschten und der Regen den Teppich im Wohnzimmer benetzte. Immer noch lachend und inzwischen pitschnass trat sie nun doch nach drinnen und zog die Balkontüren fest hinter sich zu.
Während sie fröstelnd auf ihrem durchweichten Teppich stand, hätte sie sich eigentlich wie ein begossener Pudel vorkommen müssen, aber stattdessen fühlte sie sich erfrischt und gestärkt. Sie streckte die Arme aus und sah zu, wie Wassertropfen funkelnd über ihr nasses Nachthemd glitten.
»Ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt«, sprach sie ihre Gedanken laut aus. Dann schüttelte sie den Kopf, dass die Wassertropfen nur so flogen, und fuhr sich mit den Fingern durch ihre kurzen Locken.
»Ich werde sie wachsen lassen«, schwor sie sich.
Und ihre Haare waren nicht das Einzige, was sie ändern würde. Sie würde sich völlig neu erfinden.
Mit federnden Schritten ging Christine ins Badezimmer zurück und nahm sich ein Handtuch aus dem Regal. Dann zündete sie auf dem Nachtschränkchen neben ihrem Bett eine Kerze an, die sie in der kuriosen kleinen Boutique mit dem treffenden Namen Secret Garden gekauft hatte. Tief atmete sie den herrlichen Duft nach Vanille und Rum ein, dann ließ sie die feuchten Träger ihres Nachthemdes von ihren Schultern gleiten. Es fiel zu Boden. Mit leichten, kreisenden Bewegungen, die ihre ohnehin schon sensibilisierte Haut zum Kribbeln brachten, rieb sie das Handtuch über ihren nackten Körper. Ihre Haare waren fast trocken, als sie nackt unter ihre kühlen frischen Laken schlüpfte. Mit prickelnden Fingerspitzen fing sie an sich zu streicheln. Schon nach kurzem stöhnte sie laut auf und wölbte sich ihrer Hand entgegen, überrascht und hingerissen von den unbeschreiblichen Empfindungen, die ihren Körper durchzuckten.
Noch im Einschlafen meinte Christine, das Lachen der anderen Frau zu hören, die vorhin in ihren Freudentanz auf dem Balkon eingestimmt hatte. Lächelnd sank sie in einen tiefen, entspannten Schlaf.
Sie träumte, dass ein Mann mit tiefer, verführerischer Stimme nach ihr rief. Ihr schlafender Körper reagierte auf den Ruf und wollte sich auf ihn zu bewegen, aber sie fühlte sich unendlich schwer und träge. Im Traum öffnete sie die Augen und sah, dass sie von einem seltsamen blauen Schleier umgeben war, und ihr schlafender Verstand erkannte, dass sie unter Wasser war.
Komm zu mir, meine Geliebte.
Die volltönende Stimme hallte in ihren Gedanken wider, und Christines Herz setzte einen Schlag aus.
Ja!, wollte sie antworten, aber in ihrem Traum war sie stumm.
Ein Licht schimmerte über ihrem Kopf, und sie blinzelte hinauf in die plötzliche Helligkeit. Direkt über der Wasseroberfläche erschien eine Gestalt. Als Christine nach oben schwamm, entpuppte sich die Gestalt als ein Mann. Schwarze Haare wallten ihm über die breiten, gebräunten Schultern, und seine Augen blickten lachend zu ihr herab. Über die glitzernden Wellen hinweg sah sie sein Gesicht, und er winkte sie mit ausgestreckter Hand zu sich.
Sie wollte seine Hand ergreifen, aber ihr Arm fühlte sich bleischwer an und gehorchte ihr nicht, so sehr sie sich auch bemühte.
Auf einmal wurde der Blick des Mannes traurig, und die Stimme in ihrem Kopf war erfüllt von einer großen Sehnsucht.
Bitte komm zu mir …
Ein ganz anderes Licht schimmerte rötlich durch Christines geschlossene Augenlider. Was für ein seltsamer Traum, dachte sie, während sie sich ausgiebig streckte. Das wohlige Gefühl der frischen Laken auf ihrer nackten Haut mischte sich mit dem eindringlichen, unerfüllten Verlangen ihres Traums. Sie fühlte sich immer noch extrem sensibel, und ihr nackter Körper kribbelte.
Nackt?
Sie schlief nie nackt. Warum in aller Welt war sie nackt? Sie öffnete die Augen, kniff sie aber schnell wieder zu, weil das helle Licht sie blendete. Es konnte doch nicht später sein als halb acht. Oder? Hatte sie ihren Wecker nicht gestellt? Würde sie zu spät zur Arbeit kommen? Ihr Herz klopfte.
Erinnerungen an die vergangene Nacht strömten auf sie ein – der viele Sekt, der Film, der plötzliche Geistesblitz, der sie zu dem Ritual veranlasst hatte. Beim Gedanken daran zuckte sie innerlich zusammen und versuchte, sich unter ihrer Decke zu verkriechen, aber die Erinnerung ließ sich nicht verdrängen.
»Man sollte doch meinen, ich hätte genug getrunken, um das alles zu vergessen«, stöhnte sie.
Vorsichtig spähte sie über die Bettkante. Die Kerze auf ihrem Nachtschränkchen war abgebrannt. Na ja, wahrscheinlich konnte sie dankbar sein, dass sie wenigstens nicht ihre Wohnung abgefackelt hatte. Als sie auf den Boden hinuntersah, entdeckte sie dort ihr zerknittertes Nachthemd, ein heller Fleck auf dem cremefarbenen Teppich.
Christine schüttelte den Kopf und seufzte. Zwei Flaschen Sekt – was hatte sie sich dabei nur gedacht?
»Ich hab wohl vergessen, dass man schon nach der ersten Flasche nicht mehr klar denken kann«, murmelte sie vor sich hin.
Kein Wunder, dass sie so seltsam geträumt hatte; sie hatte ihren Rausch ausgeschlafen.
Mit zusammengekniffenen Augen sah sie auf den Wecker – 11 Uhr 42! Unfassbar! Panik vertrieb die letzten Überreste des Traums, und Christine setzte sich kerzengerade auf.
»Es ist fast Mittag!«, schrie sie, sprang aus dem Bett und klaubte hastig eine frische Uniform aus dem Schrank. Aber dann fiel ihr plötzlich wieder ein, dass sie heute ja gar keinen Dienst hatte, weil sie morgen nach Riad flog. Sie brauchte nur zu packen und sich um ein paar Dinge zu kümmern, die vor ihrer dreimonatigen Abwesenheit noch zu erledigen waren.
Etwas zittrig holte sie Luft und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Sie musste zur Basis, um sich ihre neuen Erkennungsmarken abzuholen – die alten hatte sie beim Umzug von Colorado dummerweise verloren. Ansonsten stand noch ein Besuch in der Drogerie auf dem Programm, um ein paar Sachen für ihren Kulturbeutel zu besorgen, und sie wollte ihre Balkonpflanzen ins Wohnzimmer stellen, damit ihre Nachbarin Mrs. Runyan sie leichter gießen konnte. Und natürlich durfte sie nicht vergessen, Mrs. Runyan ihren Schlüssel zu geben, bevor sie morgen früh zum Flughafen fuhr.
Noch immer fühlte sie sich seltsam aufgewühlt. Was war nur los mit ihr? Normalerweise ging sie ihre Einsätze doch so organisiert und logisch an. Für heute hatte sie eigentlich geplant, früh aufzustehen, die Reisevorbereitungen zügig zu erledigen und den Rest des Tages auszuspannen. Der Trip nach Saudi-Arabien würde garantiert anstrengend werden, und schon beim Gedanken an den langen Flug wurde ihr ganz anders.
Und jetzt hatte sie auch noch einen gewaltigen Kater. Christine ging ins Bad und stellte die Dusche an. Während um sie herum ein warmer, wohltuender Nebel aufstieg, suchte sie in ihrem Badezimmerschrank nach Aspirin gegen die stechenden Kopfschmerzen. Doch bevor sie es fand, hielt sie plötzlich inne.
Kopfschmerzen? Jetzt, wo ihr Herz nicht mehr so wild pochte und sie auch nicht befürchten musste, dass sie unerlaubt den halben Tag vom Dienst ferngeblieben war, wurde ihr klar, dass ihr Kopf eigentlich gar nicht weh tat. Überhaupt nicht. Genau genommen ging es ihr prächtig. Sie schloss die Schranktür und betrachtete sich im Spiegel.
Ihr Gesicht war nicht etwa aschfahl und eingefallen, wie es sich für einen Kater gehörte, nein, ihre kastanienbraunen Augen strahlten, und auch ihre Haut sah gesund und frisch aus, die Wangen von einer zarten Röte überzogen. Es war fast, als hätte sie die Nacht in einem vornehmen Spa verbracht, wo sie doch in Wirklichkeit zwei Flaschen Sekt getrunken, kiloweise KFC gefuttert und sich beim Tanzen von einem heftigen Gewitter hatte erwischen lassen.
»Vielleicht …«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu.
Freudige Erregung breitete sich in ihrem nackten Körper aus, als sie an das Mondlicht und die prickelnde Leidenschaft dachte, das es in ihr ausgelöst hatte. Fast spürte sie wieder die Berührung der Nacht auf ihrer Haut.
Der warme Nebeldampf aus der Dusche umwaberte sie in dichten, trägen Wellen.
»Wie der Kiefernrauch«, sagte sie leise, und ihr Herz machte einen Sprung. »Erinnerst du dich?«, fragte sie ihr Spiegelbild. »Du hast geschworen, dich neu zu erfinden.«
Vorsichtig hob Christine die Arme, versuchte, den Tanz der vergangenen Nacht zu wiederholen, und vollführte langsam eine schläfrige Pirouette. Der Nebel liebkoste ihre nackte Haut mit einer feuchten Wärme, die sie an ihren sinnlichen, bittersüßen Traum erinnerte. In Gedanken wieder bei dem schönen Fremden, den sie im Schlaf heraufbeschworen hatte, drehte sie sich weiter, wobei sie gelegentlich einen flüchtigen Blick auf ihr nebelverschleiertes Spiegelbild erhaschte. Ihr zierlicher Körper wirkte geschmeidig und geheimnisvoll, als wäre die mondhelle Magie in ihn eingedrungen.
»Du hast gestern Nacht daran geglaubt. Glaube auch heute.« Als sie die Worte aussprach, schien sich etwas in ihr zu regen.
»Magie …«, flüsterte Christine.
Vielleicht waren die vergangene Nacht und ihr Traum Vorboten einer großen Veränderung in ihrem Leben. Vielleicht musste sie nur offen sein und sie willkommen heißen.
»Magie …«, wiederholte Christine.
Lächelnd tanzte sie in die Duschkabine und genoss die Berührung des warmen Wassers auf ihrem Körper.
Die ganze Zeit, während sie sich anzog und einen Hauch von Make-up auftrug, konnte sie nicht aufhören zu lächeln. Das Gefühl ließ sie nicht los. Es war, als hätte jemand eine Tür in ihrem Inneren aufgeschlossen, und jetzt, wo sie offen war, ließ sie sich nicht wieder schließen.
Sie schlüpfte in ihre Lieblingsjeans und – da der Wetterbericht deutlich kühlere Temperaturen angekündigt hatte – in ihr dickes graues Sweatshirt mit dem Air-Force-Logo. Dann holte sie sich einen Smoothie aus dem Kühlschrank und machte sich auf den Weg.
Die Treppe war immer noch nass vom gestrigen Gewitter, und die Umgebung wirkte fast übernatürlich klar und viel schöner als sonst. Als Christine ihr Auto aufschloss, das fast direkt unter ihrem Balkon stand, warf sie einen kurzen Blick nach oben – und ihre Lippen formten vor Entzücken ein lautloses »O«. Im Licht der Mittagssonne glitzerten die sattgrünen Pflanzen mit Tausenden von Regenperlen, und der Balkon wirkte, als sei er Teil einer faszinierenden Unterwasserwelt.
Magie liegt in der Luft. Der Gedanke kam ihr einfach so in den Sinn, und diesmal zweifelte Christine nicht daran, sondern ließ sich mit einem tiefen Atemzug auf die verlockende Vorstellung ein.
Am Nordeingang der Tinker Air Base gab es wie immer eine Passkontrolle, und als Christine an der Reihe war, kurbelte sie ihr Fenster herunter und begrüßte den ernst dreinblickenden Wachmann mit einem fröhlichen: »Guten Morgen!«
Tatsächlich entspannte sich sein versteinerter Gesichtsausdruck, und er erwiderte ihr Lächeln mit einem schiefen Grinsen. »Es ist schon Nachmittag, Ma’am«, verbesserte er sie freundlich.
»Ups!« Sie grinste. »Irgendwie ist alles so hell und strahlend, als sei es noch Morgen.«
»Das ist mir gar nicht aufgefallen, aber Sie haben recht. Es ist wirklich alles total hübsch heute.« Die Erkenntnis schien ihn zu erstaunen. »Ich wünsche noch einen schönen Tag, Ma’am«, fügte er hinzu, während er sie durch das Tor winkte. Eine ganze Weile folgten seine Augen ihrem Auto, und das schiefe Grinsen war noch lange auf seinen Lippen, nachdem sie verschwunden war.
Das Büro des Kommunikationscenter befand sich im Personalgebäude, einem großen typischen Militär-Backsteinbau. Normalerweise war der Parkplatz bis zur letzten Lücke gefüllt, aber zu Christines Überraschung und Freude war heute eine in der vordersten Reihe frei. Der Rasen, der das Gebäude umgab, und die Hecken am Eingang waren genauso makellos gepflegt und ordentlich wie das Innere des Gebäudes.
Als Christine durch die Tür kam, schlug ihr sofort der vertraute Geruch des vom Militär verwendeten Putzmittels entgegen. Jawohl, hier konnte man nicht nur von den Tischen, sondern auch vom Boden, von den Wänden und von den Schränken essen. Christine musterte sich in dem großen Spiegel, über dem stand: »Spiegelt Ihr Aussehen Ihre Arbeitseinstellung wider?« Erst war sie wegen ihrer lässigen Klamotten ein bisschen verlegen, aber dann sah sie genauer hin.
Waren ihre Augen schon immer so groß gewesen? Fasziniert trat sie näher an den Spiegel. Ihre Mutter hatte immer gesagt, sie hätte Augen wie ein Reh, wie Bambi. Normalerweise war Christine vor allem froh darüber, dass sie eine hundertprozentige Sehschärfe hatte. Aber heute schienen ihre Augen das ganze Gesicht auszufüllen, und die nussbraune Iris strahlte vor …
»Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«
Die raue Stimme ließ Christine zusammenzucken, und das Blut schoss ihr ins Gesicht, als sie sich umdrehte und einem älteren Master Sergeant gegenüberstand.
»Ähm, ja. Können Sie mir sagen, wo ich meine Erkennungsmarken abholen kann?«