Bernhard Hennen

Die Chroniken von Azuhr

Die Weiße Königin

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Bernhard Hennen

Seit seinem Roman »Die Elfen« erreichen seine Bücher regelmäßig Spitzenplätze auf deutschen und internationalen Bestsellerlisten: Bernhard Hennen, 1966 in Krefeld geboren, ist Germanist, Archäologe und Historiker. Er arbeitete als Journalist für verschiedene Zeitungen und Radiosender und bereiste Zentralamerika, den Orient und Asien.

 

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Über dieses Buch

Der lebende Pulsschlag der Magie

Auf der Insel Cilia eskaliert der Konflikt zwischen der Liga der Stadtstaaten und den Herzögen des Schwertwaldes. Die militärische Übermacht der Liga ist erdrückend, und die Hoffnung der Waldbewohner ruht auf einer alten Sage, dass in der Stunde der größten Not die Weiße Königin, die ehemalige Herrscherin des Waldes, zurückkehren wird. Doch wie groß muss die Not werden, bis sich dies erfüllt?

Milan Tomeno versucht, den Wirren des Krieges zu entgehen, denn in seinen Augen kämpft keine von beiden Seiten für eine gerechte Sache. Doch es droht eine weitere Gefahr: Überall auf der Insel erwachen Märengestalten zu neuem Leben. Erst allmählich begreift Milan, wie er dieser magischen Wesen Herr werden – und die Wirklichkeit verändern kann.

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Copyright © 2018 by Bernhard Hennen

Deutsche Erstausgabe:

© 2018 S. Fischer Verlag GmbH,Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

 

Covergestaltung: Guter Punkt, München,
unter Verwendung mehrerer Bilder von brickbeach, Hamburg, Conceptor/istock, Zozodesign/Thinkstock, Abstractor/shutterstock

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-490557-0

Die Menschen glauben gerne, was sie wünschen.

(Gaius Julius Caesar, De Bello Gallico)

»Ihr werdet noch Euer Kind umbringen. Ihr solltet das nicht tun.«

»Dieses Kind bedeutet mir nichts.«

Bao Li betrachtete die fremde Kaisertochter mit dem goldenen Haar aus den Augenwinkeln. Noch nie war er einer so kaltherzigen Frau begegnet. Nicht in all den Jahren am Wandernden Hof des Khans, wo Verrat und Intrige das Leben so selbstverständlich prägten wie die strengen Regeln der Teezeremonie.

Prinzessin Marcia saß, obwohl es höchstens noch zwei Wochen bis zu ihrer Niederkunft sein konnten, wie ein Mann im Sattel. Bao hatte darüber gewacht, wie dieses Kind gezeugt worden war. Er hatte den Vater ausgewählt und der Mutter kräftigende Fischbrühe bereitet und einen Sud aus Storchschnabelkraut, der sie dazu bereitmachte, ein Kind zu empfangen.

Als er sich ganz sicher gewesen war, dass sie ein Kind trug, hatte er das Gift gemischt, das dem Erzeuger in einem kleinen Krug mit Reisschnaps gebracht worden war. Alles war gut gewesen, bis der Khan entschieden hatte, dass es für die Mutter und das heranwachsende Kind am Wandernden Hof zu gefährlich war.

Bao blickte die endlose Reiterkolonne entlang. Die Eherne Horde zog nach Osten. Sie würde die roten Städte der Westermark niederbrennen. Städte, die niemals hätten gebaut werden dürfen.

»Dies ist kein Platz für eine Frau«, setzte er noch einmal an.

»Hier sind die Männer das, wonach sie aussehen, und keine in Seide gewandeten Schöngeister, die heimtückisch mit Gift morden, während sie mit einem arglosen Gast über die Schönheit einer neuen Orchideenzüchtung plaudern.«

»Ihr äußert Eure Gedanken ungebührlich direkt, meine Dame«, erwiderte er brüskiert. Die Prinzessin hatte sich sehr verändert, seit sie den Wandernden Hof verlassen hatte. Vor einem halben Jahr noch war Marcia nur eine schüchterne junge Frau gewesen, die es kaum gewagt hatte, ihm direkt in die Augen zu sehen. Jetzt führte sie sich auf, als sei sie eine Herrscherin.

Er bemerkte, dass auch die Männer in ihrer Umgebung ihn mit kalten Augen musterten. Sie hatten Respekt vor der jungen Frau mit dem goldenen Haar, dachte Bao. Sie waren keine Bewacher, sie waren Gefolgsleute. Es war also noch schlimmer, als die Gerüchte, die am Wandernden Hof umliefen, hatten erahnen lassen. Wie hatte General Xiang Yu seinen Khan derart hintergehen können? War das der Beginn einer Revolte?

»Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Herr Bao?«

Wie hätte er sich wohlfühlen können, nachdem er die halbe Welt auf dem Rücken eines Pferdes durchquert hatte statt in einer Sänfte, wie es sich für einen Mann seines Ranges geziemte? »Ich bin ein wenig von der Reise erschöpft, meine Dame.«

»Sie ist nicht deine Dame, du Seidenfurz!«, fuhr ihn einer der Reiter aus Marcias Gefolge an. »Nenn die kleine Kaiserin noch einmal so, und dein Kopf wird aus dem Gras zu ihr aufschauen, während dein Arsch noch im Sattel sitzt.« Der Krieger zog seinen breiten Säbel halb aus der Scheide und trieb sein Pferd zwischen ihn und die Prinzessin.

Seinem runden, fast konturlosen Gesicht nach zu urteilen gehörte der Rüpel zum Volk der Kargasen aus der nördlichen Steppe. Er trug abgewetztes Leder und eine pelzgesäumte Kappe. An den Mundwinkeln hingen dünne schwarze Barthaare herab. Einfältig sah er aus und brutal.

»Nachtgeschirr?« Der einfältige Pferdehüter blickte verwirrt zu seiner Herrin.

»Der Topf, in den der Kaiser sich erleichtert, wenn …«

Leng begann zu prusten. »Du bekommst diese Seidenkleider dafür, dass du Scheiße anglotzt? Ich sollte mein Glück am Wandernden Hof versuchen. Habt ihr das gehört?« Er blickte zu den anderen Leibwächtern, die ebenfalls breit grinsten.

»Du solltest mich wirklich einmal am Wandernden Hof besuchen, Leng«, entgegnete Bao und dachte an die Kammern der gelösten Zungen. Er hatte nur jene Männer und Frauen zu sehen bekommen, die bereit waren, alles zu erzählen. Es war seine Aufgabe gewesen, ihre Wunden zu behandeln und sie so lange am Leben zu erhalten, bis sie auch ihr letztes Wissen preisgegeben hatten. Ihm fehlte es an Vorstellungskraft, um sich auszumalen, was man ihnen angetan hatte. Wunden wie dort hatte er selbst auf den schrecklichsten Schlachtfeldern nicht gesehen. Es läge sicherlich im Rahmen seiner Möglichkeiten, Leng dorthin zu bringen. Und die selbstgefällige Prinzessin mit dem goldenen Haar vielleicht sogar auch, wenn sie noch Fehler machte.

»Der Khan ist in großer Sorge um Euch, edle Dame. Er wünscht sich, dass Ihr an den Wandernden Hof zurückkehrt.«

»Hast du das in seinem Nachttopf gelesen?«, spottete der Kargase.

»Nein, der Khan erweist mir gelegentlich die große Gunst, seine Gedanken mit mir zu teilen.« Bao legte seine Hand auf die schwarzlackierte Kiste, die mit Seidenbändern an seinem Sattel festgebunden war. »Da unserem Herrscher in seiner unermesslichen Weisheit nicht verborgen blieb, dass diese Welt voller Zweifler ist, hat er mir sein persönliches Siegel anvertraut, um es jenen zu zeigen, die nicht glauben wollen, dass meine Zunge seinen Willen verkündet.«

»Nun, ich soll mit General Xiang Yu darüber sprechen, was zu tun ist, um Eure Blutlinie zu erhalten, meine Dame.«

Es war ihm eine stille Genugtuung zu sehen, wie ihre Selbstgefälligkeit ein Opfer des Schreckens wurde, als sie begriff, dass die Frucht ihres Leibes genügen würde, um genau dafür zu sorgen, und dass ihr Leben von der Gunst des Mannes abhing, der die Ehre hatte, den Inhalt des Nachtgeschirrs des Khans zu begutachten.

Westermark, östlich des Schwarzforstes, früher Nachmittag, 11. Tag des Erntemondes, 18. Jahr vor Sasmiras zweiter Thronerhebung

»Sie sind da!«, keuchte der Reiter. Sein Gesicht war rot von der Hitze und dem scharfen Ritt. Seine Hosen und die Flanken des Schecken mit Schaumflocken bedeckt. »Keine zehn Meilen mehr.«

»Wen hast du gesehen?«, fragte Zaneta ruhig.

»Wir sind an ihren Spähern vorbei. Wir waren zu dritt …«, stammelte der junge Reiter atemlos. Sein rabenschwarzes Haar hing ihm in nassen Strähnen in die Stirn. »Ihre Späher haben uns bemerkt, aber wir haben sie gesehen. Die ganze Horde. Ein meilenlanger Reiterzug.«

»Was ist aus deinen Gefährten geworden?«, fragte sie.

»Tot …« Der junge Späher schien geradezu durch sie hindurchzublicken. Sein Gesicht war aschfahl, als durchlebte er den Tod seiner Gefährten ein weiteres Mal. »Ihre Späher kamen aus einem Wald. Diese Hundefresser schießen im Sattel so gut wie unsere besten Schützen zu Fuß … Bratis und Iwo sind ihnen entgegengeprescht, um mir Zeit zu erkaufen …«

»Tapfere Männer.« Zaneta löste einen Lederschlauch von

Der Späher wendete sein Pferd. Mit hängenden Schultern ritt er die Wagenkolonne entlang, bis ihm einer der Kutscher einen Platz auf dem Bock anbot.

»Dein Wille wird also geschehen«, bemerkte ihr Oheim Jan von Tanow, der wie stets an ihrer Seite ritt. »Jetzt können wir ihnen nicht mehr entkommen.«

Sie blickte ihn an. Er war ein kleiner Mann mit einem Pagenschnitt und einem runden Gesicht. Erstes Grau mischte sich in sein schwarzes Haar. Er sah nicht besonders aus, war nicht von stattlicher Gestalt und doch der beste Schwertkämpfer der Westermark. Stets trug er einen bestickten weißen Seidenschal. Immer denselben. Er war ausgefranst, und sein strahlendes Weiß von einst könnte ihm keine Wäscherin der Welt mehr zurückgeben. Solange Zaneta ihren Oheim kannte, begleitete ihn dieser Schal. Sie empfand diese Marotte als schrullig. Doch Jan von Tanow pflegte diese Schrulle. Wer ihn nicht kannte, der machte gern den Fehler, diesen kleinen, verschrobenen Mann zu unterschätzen.

»Ich habe gewollt, dass es so kommt. Es ist nicht die Eherne Horde, die uns überrascht. Ich habe sie gelockt, und sie werden überrascht werden.«

Ihr Oheim schenkte ihr ein schiefes Lächeln und blickte die endlose Kolonne aus Fuhrwerken entlang. Schwerfällige Planwagen, auf den ersten Blick … »Dreihundert Wagen und alles, was von den freien Rittern der Westermark noch übrig ist. Dazu Jäger, bewaffnete Bauern und Holzfäller, ein paar Söldner …«

Er sah über das wellige, von Waldinseln durchsetzte Grasland nach Westen. Das Gras reichte ihm bis zu den Steigbügeln. Die

»Sie waren ein Haufen eingebildeter Stutzer«, unterbrach Zaneta ihn, »die das Schlachtfeld mit den Turnierplätzen des Reiches verwechselt haben. Wir wissen, gegen wen wir kämpfen. Wir haben sie schon immer bekämpft …«

»Und wir haben fast immer gegen sie verloren«, bemerkte ihr Oheim spitz.

»Der Orden vom Schwarzen Adler wird uns unterstützen. Ich habe dem Hochmeister Gamrath von Hatzfeld Boten geschickt und ihm den Schlachtplan verraten.« Ihr Blick wanderte über das weite Grasland. Etwa eine Meile entfernt zog sich ein breites, dunkles Band durch das Gold des Hügellands. Der Schwarzforst, das einzige größere Waldstück in dieser Gegend. Etwa eine halbe Wegstunde südlich erhob sich ein großer, flacher Hügel. »Dort werden wir uns stellen.«

Ihr Oheim nickte. »Fällt auf der Rückseite steil ab. Dort fließt die Geiße. Nicht weit dahinter schließen die Marschen an. Kein schlechter Platz. Aber auf die Ordensritter hoffe ich nicht. Wären sie auf dem Krähenfeld gewesen, hätten sie den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausgemacht. Warum sollten sie hier erscheinen?«

Manchmal war ihr Oheim blind für die Welt, dachte Zaneta verärgert. »Die Ordensritter haben natürlich nicht an der Seite der Kaisermörder gekämpft.«

»Dass die Reichsfürsten Kaiser Orelian aus dem Fenster seiner Burg gestürzt haben, ist mehr als zwanzig Jahre her. Wenn wir die alten Feindschaften nicht endlich begraben, dann wird jeder für sich untergehen.«

Zaneta bemerkte weit im Westen drei Reiter. Einer stieg auf seinen Sattel und spähte zu ihnen herüber. »Sie sind da.« Ein Schauder überlief sie. Sie war zuversichtlich, dass sie es besser

Zaneta wendete ihr Pferd und ritt zur Wagenkolonne zurück. »Auf den Hügel!«, rief sie aus Leibeskräften. »Bildet eine Wagenburg auf der Hügelkuppe.«

Westermark, südlich des Schwarzforstes, Stunde des Huhns, 11. Tag des Erntemondes, 18. Jahr vor Sasmiras zweiter Thronerhebung

Xiang Yu erwartete die Schlacht mit Freude. Er hatte die Horde in etwa einer Meile Abstand zu dem Hügel, auf den sich die Karrenritter zurückgezogen hatten, mehrere Lager aufschlagen lassen. Die Wagen würden ihm nicht mehr entrinnen. Deutlich waren die Planen gegen den dunklen Himmel im Osten auszumachen. Das letzte Abendlicht gab dem Leinen die Farbe zarter Kirschblüten.

Manchmal vermisste er den tiefen Frieden der Parkanlagen des Khans. Es war lange her, dass er mit dem Herrscher zur Falkenjagd geritten war, und so, wie die Dinge standen, war er froh, Tausende Meilen vom Wandernden Hof entfernt zu sein.

Irgendwo im Lager erklang das klagende Lied einer Pferdekopfgeige. Xiang gestattete sich einen Augenblick der Ruhe. Er schloss die Augen und genoss die Musik. Er liebte den Schlachtenlärm nicht, auch wenn ihn seine Erfolge in nur zwölf Jahren von einem einfachen Reiterführer zum General der Ehernen Horde gemacht hatten.

»Xiang?« Ang Min, sein Stellvertreter, trat durch den lockeren Kreis der Wachen, die ihn vor Neugierigen aus dem Lager abschirmten. Ang war noch sehr den Attitüden des Hofes verfallen. Unter seiner geschwärzten Brustplatte trug er ein langes mohnrotes Seidengewand, auf das prachtvolle goldene Phönixe

»Xiang!« Der zweite General hatte es unangemessen eilig, an seine Seite zu gelangen. Er sollte sich mäßigen. Solche Auftritte sorgten für Gerüchte.

»Was ist? Sind die Ordensritter erschienen?«