Cover

Ingrid Betancourt

Kein Schweigen,
das nicht endet

Sechs Jahre in der Gewalt der Guerilla

Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff,
Elisabeth Liebl und Claudia Feldmann

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Ingrid Betancourt

Ingrid Betancourt, geb. 1961 in Bogotá, studierte Politik in Paris. 1989 kehrte sie mit ihren Kindern nach Kolumbien zurück, wo sie von 1994 bis 1998 Abgeordnete im Repräsentantenhaus war. Sie erhielt Morddrohungen und brachte 1996 ihre Kinder ins Ausland, eine Erfahrung, die sie in ihrem ersten Buch »Die Wut in meinem Herzen« beschrieb. Als Präsidentschaftskandidatin auf Wahlkampftour, wurde sie am 23. Februar 2002 entführt und erst am 2. Juli 2008 aus der Hand der FARC-Guerilla befreit. Heute lebt sie in den USA und Frankreich.

Über dieses Buch

Sie wollte Präsidentin von Kolumbien werden und ihr zerrissenes Land versöhnen. Auch im Ausland galt Ingrid Betancourt als Hoffnungsträgerin. Doch dann wurde sie von der linksgerichteten Rebellenarmee FARC entführt und tief in den Dschungel am Amazonas verschleppt. Sechseinhalb Jahre lang war sie der Willkür der Geiselnehmer ausgeliefert. Nach einer Zeit des Schweigens beschreibt Ingrid Betancourt in diesem Buch, was sie erleben musste. Sie setzt sich der Erinnerung an die Schreckensjahre ihrer Gefangenschaft aus, die sie an die Grenzen ihrer Leidensfähigkeit führten.

Impressum

Die französische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
»Même le silence a une fin« bei Gallimard, Paris.

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2010 Ingrid Betancourt

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2010 Droemer Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Claudia Schlottmann und Caroline Draeger

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: © Ruven Afanador/Corbis Outline

ISBN 978-3-426-41282-4

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Fußnoten

1

So lautet die offizielle Abkürzung der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee: Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo.

2

Hauptmann Julián Guevara starb im Dezember 2006 an einer unbekannten Krankheit, weil die FARC sich weigerte, ihn behandeln zu lassen. Er hatte in einem Lager nicht weit von unserem gelebt, das ebenfalls unter Enriques Kommando stand.

Für alle meine Brüder,

die noch als Geiseln gefangen gehalten werden

 

Für meine Mitgefangenen

 

Für alle, die für unsere

Freilassung gekämpft haben

 

Für Mélanie und Lorenzo

 

 

 

Für meine Mutter

1. Kapitel

Die Flucht aus dem Käfig

Dezember 2002. Ich hatte den Entschluss gefasst zu fliehen. Es war nicht das erste Mal, aber nach drei vergeblichen Versuchen waren die Bedingungen unserer Gefangenschaft noch unerträglicher geworden. Sie hatten uns in einen Käfig gesteckt, aus Holzbrettern und mit einem Blechdach. Der Sommer nahte, und es hatte seit über einem Monat keine nächtlichen Gewitter mehr gegeben. Und ohne Gewitter ging es nicht. In einer Ecke unseres Käfigs hatte ich ein halbvermodertes Brett entdeckt. Durch einen festen Fußtritt gelang es mir, ein kleines Stück herauszubrechen. Es war tagsüber, nach dem Mittagessen, als die Wache, auf das Gewehr gestützt, im Stehen vor sich hin döste. Der erbärmliche Krach ließ ihn zusammenzucken. Alarmiert kam er herüber und schlich um den Käfig herum, langsam, wie ein wildes Tier. Mit angehaltenem Atem beobachtete ich ihn durch die Ritzen zwischen den Brettern. Er konnte mich nicht sehen. Zweimal blieb er stehen, schaute sogar durch ein Astloch herein, und für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich unsere Blicke. Erschrocken fuhr er zurück. Dann stellte er sich, um Haltung bemüht, direkt vor dem Eingang des Käfigs auf. Das war seine Rache, er würde mich nicht mehr aus den Augen lassen.

Ich vermied jeden Blickkontakt und dachte sorgfältig nach. Wäre es möglich, sich durch die Öffnung zu zwängen? Wenn der Kopf durch die Lücke ging, passte normalerweise auch der Körper hindurch. Ich dachte an meine Kinderzeit zurück, wie ich mich zwischen den Gitterstäben des Zauns am Parc Monceau hindurchgezwängt hatte. Wenn, dann war es immer am Kopf gescheitert. Aber ich war mir nicht mehr so sicher. Galt das auch für den Körper eines Erwachsenen? Waren die Proportionen dieselben? Hinzu kam, dass meine Mitgefangene und ich zwar schrecklich abgemagert waren, aber ich hatte im Lauf der vergangenen Wochen bemerkt, dass mein Körper anschwoll, wahrscheinlich Wasser im Gewebe aufgrund unserer erzwungenen Bewegungslosigkeit. Bei Clara war es deutlich zu sehen. Meinen eigenen Zustand konnte ich schlecht beurteilen, da wir keinen Spiegel hatten.

Ich hatte mit ihr über einen weiteren Fluchtversuch gesprochen, und sie hatte sehr aufgebracht reagiert. Nach den gescheiterten Versuchen sorgte das Thema zwischen uns für Spannungen. Wir redeten kaum mehr miteinander. Sie war reizbar geworden, und meine Gedanken kreisten nur um die eine Sache. Ich dachte nur noch daran, meine Freiheit wiederzugewinnen, den Händen der FARC zu entkommen.

Also brachte ich den ganzen Tag damit zu, die Flucht zu planen und mir genauestens zu überlegen, was wir dafür brauchen würden. Dabei hielt ich mich immer wieder mit albernen Nebensächlichkeiten auf. Beispielsweise konnte ich mir nicht vorstellen, ohne meine Fleecejacke zu fliehen. Aber ich hatte vergessen, dass die Jacke nicht wasserdicht war, und sobald sie nass wurde, war sie schwer wie Blei. Das Moskitonetz würden wir auch brauchen.

Ich grübelte den ganzen Tag vor mich hin: Und die Stiefel, was machen wir mit den Stiefeln? Abends lassen wir sie immer draußen vor dem Eingang des Käfigs stehen. Ich muss mir angewöhnen, sie mit reinzunehmen, damit die Wachen nicht stutzig werden, wenn die Stiefel nicht vor der Tür sind, während wir schlafen. Und wir brauchen eine Machete. Um uns vor wilden Tieren zu schützen und uns einen Weg durch den Urwald zu bahnen. Aber das ist so gut wie unmöglich. Sie passen auf. Sie haben nicht vergessen, dass wir ihnen beim Aufbau des vorigen Lagers eine gestohlen haben. Eine Schere wäre gut, die überlassen sie uns ja ab und zu. Und Proviant, ich muss mir überlegen, wo wir etwas zu essen herbekommen. Wir müssen etwas aufsparen, ohne dass sie es merken. Und alles muss in Plastik eingewickelt sein, denn wir werden schwimmen müssen. Zu schwer darf es auch nicht sein, sonst kommen wir nicht vorwärts. Aber meine Schätze nehme ich mit, auf keinen Fall lasse ich die Fotos von meinen Kindern und meine Wohnungsschlüssel hier zurück.

Bestimmt zwanzigmal dachte ich darüber nach, welche Route wir nehmen sollten, sobald wir dem Käfig entkommen waren. Ich versuchte, alles Erdenkliche auszurechnen: wie weit der Fluss entfernt war, wie viele Tage wir brauchen würden, bis wir Hilfe bekamen, und dergleichen mehr. Ich stellte mir das Entsetzen vor, falls uns im Wasser eine Anakonda angriff oder ein riesiger Kaiman wie der, dessen Augen im Schein der Taschenlampe des Bewachers rot aufgeglüht hatten, als wir den Fluss hinuntergefahren waren. Ich malte mir aus, wie ich mit einem Jaguar rang, weil die Rebellen uns mit einer blutrünstigen Beschreibung beglückt hatten. Ich dachte an alles, was mir möglicherweise Angst machen könnte, um mich psychisch darauf einzustellen. Ich war fest entschlossen, mich diesmal von nichts aufhalten zu lassen.

Ich konnte an nichts anderes denken. Ich schlief nicht mehr, weil ich merkte, dass mein Verstand in der nächtlichen Stille besser arbeitete. Ich beobachtete und merkte mir alles: wann die Wachen sich abwechselten, wo jeder von ihnen stand, wer wach blieb und wer regelmäßig einschlief, wer seinem Nachfolger Bericht erstattete, wie oft wir aufstanden, um zu pinkeln, und so weiter.

Ich versuchte auch, mit Clara zu reden, sie auf die Mühen vorzubereiten, die die Flucht mit sich bringen würde, die Vorsichtsmaßnahmen, die zu beachten waren, die Geräusche, die wir vermeiden mussten. Sie hörte mir schweigend und mit verbissener Miene zu und reagierte jedes Mal mit Ablehnung oder Einwänden. Dabei gab es wichtige Dinge zu erledigen. Wir brauchten Material, mit dem wir unsere Decken ausstopfen konnten, damit es so aussah, als lägen wir auf unseren Schlafstellen.

Ich durfte den Käfig nur verlassen, um zu den chontos zu gehen, wenn ich ein menschliches Bedürfnis verspürte. Das bot mir die Gelegenheit, den Müllhaufen nach etwas Brauchbarem zu durchsuchen.

Eines Abends kam ich mit einem alten Sack zurück, der mit vergammelten Essensresten getränkt war, und ein paar Pappstücken − das ideale Material für unsere Tarnung. Mit meinem Verhalten ging ich meinem Bewacher auf die Nerven. Da er nicht wusste, ob er mir verbieten sollte, in den weggeworfenen Sachen zu wühlen, brüllte er mich an, ich solle mich beeilen, und schwenkte drohend sein Gewehr. Clara wiederum wich angeekelt vor meiner kostbaren Beute zurück, weil sie nicht begriff, wie nützlich sie uns sein konnte.

Da wurde mir bewusst, was für ein Abgrund uns trennte. Obwohl wir durch die Umstände zusammengeschweißt waren wie siamesische Zwillinge, hatten wir nichts gemeinsam, lebten wir in zwei verschiedenen Welten: Sie versuchte sich anzupassen, ich konnte an nichts anderes denken als an Flucht.

Nach einem besonders heißen Tag kam gegen Abend Wind auf. Für eine kleine Weile verstummte der Urwald. Kein Vogelschrei, kein Flügelschlag war zu hören. Wir alle hielten das Gesicht in den Wind, atmeten tief ein: Das Gewitter zog rasch auf.

Im Lager brach hektische Aktivität aus. Alle setzten sich in Bewegung: Einige überprüften die Spannseile an den Zelten, andere rannten los, um die Wäsche einzusammeln, die zum Trocknen aufgehängt war, wieder andere liefen in weiser Voraussicht zu den chontos, für den Fall, dass das Gewitter länger dauerte, als sie einhalten konnten. Während ich das Hin und Her verfolgte, krampfte sich mir vor Nervosität der Magen zusammen, und ich betete zu Gott, dass er mir die Kraft gab, meinen Plan umzusetzen. Heute Abend werde ich frei sein, sagte ich mir im Geist immer wieder, um die Angst zurückzudrängen, die meine Muskeln lähmte und mir das Blut in den Adern stocken ließ, während ich zitternd die Handgriffe erledigte, die ich mir in meinen schlaflosen Nächten tausendmal zurechtgelegt hatte: Ich baute meine Schlafattrappe, faltete die große schwarze Plastikplane zusammen und schob sie in meinen Stiefel, steckte die graue Plastiktüte ein, die ich mir als Regenschutz überziehen konnte, und vergewisserte mich, dass meine Mitgefangene bereit war. Dann wartete ich auf den Ausbruch des Gewitters.

Von meinen früheren Versuchen wusste ich, dass der beste Moment für die Flucht die Abenddämmerung war. Hier im Urwald bedeutete das genau um achtzehn Uhr fünfzehn. Während der wenigen Minuten, in denen die Augen mit dem schwindenden Licht rangen und bevor es vollkommen dunkel wurde, waren wir alle blind.

Ich betete darum, dass das Gewitter genau zu der Zeit losbrach. Wenn es uns gelang, aus dem Lager zu fliehen, bevor sich die Nacht über den Urwald senkte, würden die Wächter bei ihrem Wechsel nichts bemerken, und der Alarm würde erst am nächsten Morgen ausgelöst. Das gäbe uns genug Zeit, Abstand zu gewinnen und uns den Tag über zu verstecken. Die Suchteams, die sie losschickten, würden wesentlich schneller laufen als wir, weil sie viel kräftiger waren und das Tageslicht nutzen konnten. Aber wenn wir es schafften zu fliehen, ohne Spuren zu hinterlassen, würde ihr Suchbereich umso größer werden, je weiter wir kamen. Und dann würden sie mehr Männer brauchen, als sie im Lager hatten. Ich setzte darauf, dass wir nachts weitergehen konnten, denn in der Dunkelheit konnten sie uns nicht suchen, ohne sich durch den Schein ihrer Taschenlampen zu verraten. So könnten wir uns rechtzeitig verstecken. Wenn wir drei Nächte durchgingen, so hatte ich mir ausgerechnet, wären wir etwa zwanzig Kilometer vom Lager entfernt, und dann konnten sie uns nicht mehr finden. Von da an würden wir tagsüber weitergehen können, am Fluss entlang − aber nicht zu nah am Ufer, denn dorthin würden sie sicher ihre Suchtrupps schicken −, bis wir einen Ort erreichten, wo wir um Hilfe bitten konnten. Ja, es war machbar, und ich glaubte daran, dass wir es schaffen konnten. Aber wir mussten uns bald auf den Weg machen, um in der ersten Nacht so weit wie nur möglich vom Lager wegzukommen.

Doch der günstige Zeitpunkt kam und ging, ohne dass das Gewitter losbrach. Der Wind fegte unablässig, aber der Donner grollte in weiter Ferne, und im Lager breitete sich wieder eine gewisse Ruhe aus. Die Wache hatte sich eine große schwarze Plastikplane umgehängt, mit der sie aussah wie ein Krieger aus alten Zeiten, und trotzte dem Wetter mit wehendem Umhang. Und alle sahen dem Gewitter mit der Gelassenheit eines alten Matrosen entgegen, der seine Ladung gesichert hat.

Unendlich langsam krochen die Minuten dahin. Aus einem Radio irgendwo in einem der Zelte klangen Fetzen fröhlicher Musik herüber. Der Wind blies immer noch kräftig, aber der Donner war verstummt. Ab und an durchbrach ein Blitz die Kuppel der Vegetation. Es war kühl, beinahe kalt. Ich spürte die Elektrizität, die in der Luft lag und mir einen Schauer über den Rücken jagte. Doch allmählich fingen meine Augen vom angestrengten Starren in die Dunkelheit an zu brennen, und meine Lider wurden schwer. Heute kommt kein Regen mehr. Mir pochte der Schädel. Ich sah, dass Clara sich, von Müdigkeit übermannt, in ihrer Ecke zusammengekauert hatte, und schließlich sank auch ich in einen tiefen Schlaf.

Kalte Feuchtigkeit, die zwischen den Brettern hindurchdrang, weckte mich und verursachte mir eine Gänsehaut. Dann riss mich der Klang der ersten Regentropfen, die auf das Blechdach fielen, aus meiner Benommenheit. Ich berührte Clara am Arm; es war Zeit zu gehen. Mit jeder Sekunde wurden die Tropfen schwerer, dichter, zahlreicher. Doch es war nicht dunkel genug. Der Mond hatte sich gegen uns gestellt. Ich spähte zwischen den Brettern hindurch; draußen war es beinahe taghell.

Sobald wir aus dem Käfig heraus waren, würden wir losrennen und uns so schnell wie möglich im etwa zehn Meter entfernten Unterholz verstecken müssen, das Ganze in der Hoffnung, dass niemand aus den umliegenden Zelten auf die Idee kam, just in dem Moment zu unserem Gefängnis herüberzusehen. Ich versuchte abzuschalten. Doch woher sollte ich wissen, wann es so weit war, ich hatte keine Uhr. Ich musste mich auf Claras Uhr verlassen. Doch sie reagierte in letzter Zeit zunehmend genervt, wenn ich nachfragte. Jetzt musste es sein. »Es ist neun«, antwortete sie auf meine zögerliche Frage. Auch sie schien sich der Tatsache bewusst zu sein, dass wir uns in diesem Moment keine unnötige Diskussion leisten konnten. Im Lager schliefen offenbar bereits alle, und das war gut so, aber die Nacht wurde für uns immer kürzer.

Die Wache war damit beschäftigt, sich so gut es ging vor dem sintflutartigen Regen zu schützen, und das ohrenbetäubende Prasseln der Tropfen auf dem Blechdach übertönte das Geräusch meiner Tritte gegen die maroden Bretter. Beim dritten Versuch brach ein weiteres Stück heraus. Doch die Öffnung, die entstand, war nicht so breit, wie ich gehofft hatte.

Ich schob meinen Rucksack hindurch. Als ich meine Hände zurückzog, waren sie klatschnass. Ich wusste, dass wir den ganzen Tag bis auf die Knochen durchnässt sein würden, und allein bei der Vorstellung graute mir. Gleichzeitig war ich wütend auf mich selbst, dass meine Bequemlichkeit drohte, meinen Kampf um die Freiheit im Keim zu ersticken. Es kam mir so albern vor, wie viel Zeit ich damit verschwendete, mich davon zu überzeugen, dass ich nicht krank werden und meine Haut sich nach drei Tagen im Regen nicht auflösen würde. Offenbar hatte ich bisher ein zu leichtes Leben gehabt, war in einer Umgebung aufgewachsen, wo Vorsicht nichts anderes war als Angst vor Veränderung. Ich hatte die jungen Menschen beobachtet, die mich gefangen hielten, und ich konnte nicht umhin, sie zu bewundern. Sie schwitzten nicht, sie froren nicht, sie wurden nicht gestochen oder gebissen, sie legten eine bemerkenswerte Kraft und Geschicklichkeit an den Tag, und sie bewegten sich im Urwald dreimal so schnell wie ich. Die Angst, die ich überwinden musste, war im Wesentlichen aus Vorurteilen entstanden. Bei meinem ersten Fluchtversuch war ich gescheitert, weil ich Angst hatte zu verdursten. Ich konnte mich einfach nicht überwinden, das braune Wasser aus den Pfützen zu trinken. So hatte ich mich nun seit Monaten darin geübt, das schlammige Flusswasser zu trinken, um mir zu beweisen, dass ich imstande war, die schrecklichen Parasiten zu überleben, die sich gewiss längst in meinen Eingeweiden eingenistet hatten.

Darüber hinaus hatte ich El Mocho Cesar, den obersten Anführer der FARC, der mich gefangen genommen hatte, im Verdacht, dass er den Guerillas befohlen hatte, das Wasser für die Gefangenen vor unseren Augen abzukochen, damit wir psychisch abhängig von dieser Hygienemaßnahme wurden und uns nicht trauten, das Lager zu verlassen und in den Urwald zu fliehen.

Um unsere Angst vor der Wildnis zu schüren, brachten sie uns zum Flussufer, damit wir bei der Tötung einer riesigen Schlange zusehen konnten, die sie gefangen hatten, als diese gerade eine schwimmende Guerillakämpferin angreifen wollte. Das Tier war wirklich ein Ungeheuer. Ich maß es mit Schritten ab, es muss rund siebeneinhalb Meter lang gewesen sein, bei einem Durchmesser von einem halben Meter – ungefähr so breit wie meine Taille. Drei Männer waren nötig, um es aus dem Wasser zu ziehen. Sie bezeichneten die Schlange als guio, aber für mich war es eine Anakonda. Das Abschreckungsmanöver war ihnen gelungen; monatelang geisterte das Tier durch meine Alpträume.

Wenn ich diese jungen Rebellen sah, die sich so problemlos im Urwald bewegten, kam ich mir schwerfällig vor, ungeschickt und gealtert. Ich wusste, das war eine Frage der Selbstwahrnehmung. Doch in einer Welt ohne Respekt und Bewunderung, ohne die Wärme und Liebe meiner Familie kam es mir vor, als würde ich rapide altern. Und was noch schlimmer war, sie hatten mich dazu gebracht, das Wesen, zu dem ich geworden war, zu verachten − so abhängig, so dumm und vollkommen unfähig, auch nur die trivialsten Alltagsprobleme zu bewältigen.

Ich betrachtete noch eine Weile die Regenwand, die uns jenseits der schmalen Öffnung erwartete. Clara kauerte neben mir. Ich sah zum Eingang des Käfigs. Der Wachposten war im Gewitter verschwunden. Nichts rührte sich, außer dem Regen, der erbarmungslos niederprasselte. Meine Gefährtin drehte sich zu mir. Unsere Blicke trafen sich. Wir nahmen uns an den Händen und drückten sie so fest, dass es weh tat. Wir mussten los.

Ich löste mich von Clara, strich meine Kleidung glatt und legte mich neben der Öffnung auf den Boden. Ich schob den Kopf hindurch, was überraschend leicht ging, dann die Schultern. Ich wand mich hin und her, um den Rest meines Körpers hindurchzuzwängen, blieb stecken und versuchte nervös, einen Arm freizukriegen. Nachdem mir das gelungen war, grub ich die Finger in die Erde und zog, so fest ich konnte. Mühsam zerrte ich mich vorwärts. Endlich, mein Oberkörper war frei. Ich verdrehte die Hüften schmerzhaft, um den Rest meines Körpers seitwärts durch die Öffnung zu bekommen. Ich zappelte mit den Beinen, und einen Moment lang fürchtete ich, es nicht zu schaffen, doch dann war ich draußen. Ich sprang auf und trat ein Stück zur Seite, damit meine Mitgefangene leichter herauskommen konnte.

Doch an der Öffnung rührte sich nichts. Worauf wartete Clara? Warum war sie nicht draußen? Ich kniete mich hin und spähte durch die Öffnung. Doch ich sah nichts außer der abstoßenden, höhlenartigen Finsternis im Innern des Käfigs. Vorsichtig flüsterte ich ihren Namen. Keine Antwort. Ich schob eine Hand hinein und tastete umher. Nichts. Übelkeit schnürte mir die Kehle zusammen. Ich blieb neben der Öffnung hocken und musterte aufmerksam jeden Millimeter meines Gesichtsfelds, überzeugt, dass sich die Wächter jeden Moment auf mich stürzen würden wie wilde Tiere. Ich versuchte zu schätzen, wie viel Zeit vergangen war, seit ich es nach draußen geschafft hatte. Fünf Minuten? Zehn? Ich wusste es nicht. Hektisch überlegte ich, was ich tun sollte, während ich auf jedes noch so winzige Geräusch lauschte, nach jedem noch so schwachen Lichtschein Ausschau hielt. Verzweifelt beugte ich mich erneut zu der Öffnung und rief noch einmal Claras Namen, so laut, dass sie ihn auch in der hintersten Ecke des Käfigs hören musste, doch instinktiv wusste ich bereits, dass ich keine Antwort bekommen würde.

Ich stand auf. Vor mir lagen das Dickicht des Urwalds und der sintflutartige Regen, um den ich in den vergangenen Tagen so inständig gebetet hatte. Ich war draußen, und es gab kein Zurück. Auch wenn ich allein war, ich musste mich beeilen. Ich tastete nach, ob das Gummiband, das mein Haar zusammenhielt, noch an seinem Platz war. Ich wollte nicht, dass die Rebellen auch nur die winzigste Spur von mir fanden. Ich zählte langsam bis drei, dann lief ich los, direkt hinein in den Urwald.

Ich rannte blindlings drauflos, von wilder Panik getrieben, wich instinktiv den Bäumen aus und peitschte mich vorwärts, bis ich nicht mehr konnte.

Schließlich hielt ich inne und drehte mich um. Ich konnte immer noch die Lichtung erkennen, sie zeichnete sich wie ein phosphoreszierendes Licht zwischen den Bäumen ab. Als mein Verstand wieder einsetzte, bemerkte ich, dass ich wie ferngesteuert dorthin zurückging, weil ich es offenbar nicht fertigbrachte, ohne Clara zu fliehen. Im Geist ging ich alle unsere Gespräche durch, alle Vereinbarungen, die wir getroffen hatten. Vor allem eine war mir im Gedächtnis, und auf die stützte ich mich jetzt: Falls wir uns auf dem Weg nach draußen verloren, wollten wir uns bei den chontos treffen. Wir hatten es einmal erwähnt, flüchtig, ohne wirklich daran zu glauben.

Glücklicherweise schien mein Orientierungsvermögen im Urwald zu funktionieren. In den Straßen einer Großstadt verlief ich mich leicht, aber im Wald fand ich mich zurecht. Ich kam genau auf Höhe der chontos heraus. Doch natürlich war dort weit und breit niemand. Ich sah mich um, angewidert von dem Insektengewimmel um die Löcher, meinen dreckigen, schlammverschmierten Händen und dem unaufhörlichen Regen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und Verzweiflung überkam mich.

Plötzlich hörte ich Stimmen. Hastig zog ich mich in das Dickicht zurück. Ich versuchte zu erkennen, was drüben im Lager vor sich ging. Ich schlich am Rand der Lichtung entlang, um näher an den Käfig heranzukommen, und kauerte mich genau an der Stelle hin, wo ich in den Urwald geflüchtet war. Das Gewitter war einem gleichförmigen Regen gewichen, und jetzt konnte man auch wieder andere Geräusche hören. Die laute Stimme des Comandante drang an meine Ohren. Ich konnte nicht verstehen, was er sagte, aber es klang drohend. Im Innern des Käfigs leuchtete eine Taschenlampe auf. Ein Lichtstrahl schien grell aus der Öffnung in der Wand und schwenkte von links nach rechts über die Lichtung, nur eine Handbreit von meinem Versteck entfernt. Ich wich ein Stück zurück. Meine Kleidung war schweißgetränkt, mein Herz raste, und mir war speiübel vor Angst.

Da hörte ich Claras Stimme. Die erstickende Hitze verwandelte sich in Eiseskälte. Ich begann am ganzen Körper zu zittern. Ich begriff nicht, was passiert sein konnte. Warum war sie erwischt worden? Weitere Lampen leuchteten auf, Befehle wurden gegeben, eine Gruppe von Männern mit Taschenlampen schwärmte aus. Ein paar von ihnen inspizierten das Gebiet rund um den Käfig, die Ecken, das Dach. Sie musterten die Öffnung eingehend, dann schwenkten sie ihren Lichtstrahl zum Waldrand. Ich sah, wie sie erregt miteinander sprachen.

Auf einmal hörte der Regen auf, und Dunkelheit senkte sich herab wie ein bleierner Vorhang aus Stille. Ich meinte, den Umriss meiner Mitgefangenen im Käfig erkennen zu können. Sie hatte eine Kerze angezündet, und das war ein seltenes Privileg, denn normalerweise durften Gefangene kein Licht haben. Sie sprach mit jemandem, aber es war nicht der Anführer. Ihre Stimmen waren gedämpft, verhalten.

Während ich diese unerreichbare Welt beobachtete, ertappte ich mich dabei, wie ich es fast bereute, allein, durchnässt und zitternd hier draußen zu hocken. Es wäre so leicht gewesen, so bequem, so verlockend, einfach aufzugeben und an diesen warmen, trockenen Ort zurückzukehren. Doch ich ermahnte mich, der Versuchung zu widerstehen und meinem Plan zu folgen, und um kein Selbstmitleid aufkommen zu lassen, sagte ich mir immer wieder: »Du musst gehen, du musst gehen, du musst gehen!«

Widerstrebend riss ich mich von dem Lichtschein los und tauchte ein in die zähe, wirre Dunkelheit. Der Regen setzte wieder ein. Das Gehen war mühsam, ich stolperte bei jedem zweiten Schritt. Ich hielt die Hände vor mir ausgestreckt, damit ich Hindernisse rechtzeitig bemerkte. Ich hatte es nicht geschafft, an eine Machete heranzukommen, aber ich hatte eine Taschenlampe. Doch das Risiko, mich durch den Lichtstrahl zu verraten, war viel zu groß. Während ich mich langsam durch diese bedrohliche Finsternis bewegte, schwor ich mir, die Lampe nur dann einzuschalten, wenn ich es gar nicht mehr aushielt. Meine Hände stießen auf nasse, rauhe, klebrige Oberflächen, und die ganze Zeit rechnete ich damit, das Brennen eines gefährlichen Giftes zu verspüren.

Das Gewitter entlud sich erneut über mir. Der Regen prasselte auf die Blätterkuppel über meinem Kopf, und es klang, als würde sie jeden Moment unter dem Gewicht des Wassers nachgeben. Der Gedanke an die Flut, in der ich dann versinken würde, verstärkte noch meine Verzweiflung. Ich wusste nicht mehr, ob es Regentropfen oder Tränen waren, die mir über die Wangen liefen, und gleichzeitig hasste ich dieses weinende, zitternde Kind in mir.

Ich war bereits ein gutes Stück vorangekommen. Plötzlich schlug direkt vor mir ein Blitz ein, und in dem grellen Licht war meine unheimliche Umgebung für einen Moment ganz deutlich zu erkennen. Überall um mich herum standen riesige Bäume, und zwei Schritte vor mir gähnte ein steiler Abgrund. Geblendet blieb ich stehen. Ich kauerte mich zwischen die Wurzeln des nächsten Baumes, um zu Atem zu kommen. Ich war kurz davor, die Taschenlampe herauszuholen, als ich flackernde Lichtstrahlen bemerkte, die sich in meine Richtung bewegten. Kurz darauf konnte ich auch Stimmen hören. Sie suchten mich, und sie mussten sehr nah sein, denn ich hörte, wie einer von ihnen rief, er habe mich gesehen. Ich duckte mich, so gut es ging, zwischen die Wurzeln des Baumriesen und betete zu Gott, er möge mich unsichtbar machen.

Ich verfolgte ihre Bewegungen anhand der Lichtstrahlen. Einer von ihnen war ganz nah. Er hielt seine Taschenlampe genau in meine Richtung. Geblendet schloss ich die Augen, rührte mich nicht und wartete auf die Jubelschreie, auf die Hände, die mich packten. Doch der Lichtstrahl wanderte weiter, kehrte noch einmal kurz zurück und ließ mich endlich allein in der tropfenden Dunkelheit zurück.

Zitternd und ungläubig richtete ich mich auf und lehnte mich an den uralten Baum, um einen klaren Kopf zu bekommen. Mehrere Minuten stand ich einfach nur da. Wieder durchbrach ein Blitzschlag die Nacht und erlöste mich von der konturenlosen Schwärze, in der ich trieb. Sofort machte ich mich auf den Weg zu der Stelle, wo ich meinte, einen Durchgang zwischen zwei Bäumen gesehen zu haben, und wartete dabei auf den nächsten Blitz, der mich vorübergehend von meiner Blindheit befreien würde. Die Wachen waren verschwunden.

Meine Beziehung zur Welt der Nacht begann sich zu verändern. Es wurde leichter, voranzukommen, meine Hände reagierten schneller, und mein Körper lernte, sich besser zu orientieren. Die Panik ließ nach. Meine Umgebung erschien mir nicht mehr so feindselig. Ich fing an, in diesen Palmen und Farnen, in diesem widerspenstigen Dickicht eine mögliche Zuflucht zu sehen. Und die Verzweiflung über meinen Zustand, über die Tatsache, dass ich klatschnass und schlammbedeckt war, blutige Hände hatte und nicht wusste, wohin ich gehen sollte, verlor an Bedeutung. Ich konnte überleben. Ich musste weitergehen, in Bewegung bleiben, von hier wegkommen. Ich wusste, dass sie die Suche bei Tagesanbruch wieder aufnehmen würden, doch im Schwung des Augenblicks dachte ich nur immer wieder: Ich bin frei. Und meine innere Stimme leistete mir Gesellschaft.

Unmerklich wurde der Urwald vertrauter; aus der eindimensionalen, finsteren Welt eines Blinden wurde eine Landschaft in einfarbigem Relief. Umrisse begannen sich abzuzeichnen, und schließlich erlangte das Universum seine Farben zurück: Der Tag brach an. Ich musste ein gutes Versteck finden.

Ich lief schneller, stellte mir ihre Reaktion vor, versuchte, ihre Gedanken zu erraten. Ich hielt Ausschau nach einer Mulde im Boden, wo ich mich in meine schwarze Plastikplane hüllen und mit Laub bedecken konnte. Innerhalb weniger Minuten wechselten die Farben um mich herum von Graublau zu Grün. Es musste mittlerweile etwa fünf Uhr morgens sein, und sie konnten jeden Moment hier auftauchen. Dabei wirkte der Urwald so abgeschieden. Kein Geräusch, keine Bewegung; die Zeit schien stillzustehen.

Vom friedlichen Tageslicht in trügerische Sicherheit gelullt, fiel es mir schwer, meine Wachsamkeit aufrechtzuerhalten. Dennoch bemühte ich mich um Vorsicht, während ich weiterging. Plötzlich und ohne jede Vorwarnung füllte sich der Raum vor mir mit Licht. Verwundert blickte ich über die Schulter. Hinter mir blieb der Urwald so dämmrig wie zuvor. Da begriff ich, was das Licht zu bedeuten hatte: Ein paar Meter vor mir lichteten sich die Bäume, und dahinter lagen Himmel und Wasser.

Es war der Fluss. Ich konnte sehen, wie er tosend und brodelnd vorüberschoss und wütend ganze Bäume mit sich riss, die um Hilfe zu rufen schienen. Das aufgewühlte Wasser machte mir Angst. Doch dort lag meine Rettung.

Reglos stand ich da und betrachtete den reißenden Fluss. Da keine unmittelbare Gefahr drohte, fand ich sofort gute Gründe, nicht hineinzuspringen. Meine Ängste nahmen vor meinem inneren Auge konkrete Form an. Diese Bäume, die durch das Wasser gewirbelt wurden, untertauchten und ein Stück weiter wieder hochschossen, ihre Hände zum Himmel reckten − das war ich. Ich sah vor mir, wie ich in den Schlammwogen ertrank. Meine Feigheit hielt mich davon ab zu handeln – und der Gedanke daran, dass das Wasser in ein paar Stunden zurückgegangen sein würde. Kein reißender Strom läge vor mir, sondern ein friedliches, ruhiges Gewässer. Wie müde ich war. Ich musste erst zu Kräften kommen. Jede Entschuldigung war mir recht, um den Moment hinauszuzögern, in dem ich in die reißende Strömung eintauchen musste. Und würden mich die Rebellen nicht viel eher finden vor dem Hintergrund des hellen Wassers, nun, da es längst dämmerte? Dann wäre alles umsonst gewesen. Tief in meinem Innersten war mir bewusst, dass all dies Ausflüchte waren. Wäre meine Mitgefangene bei mir gewesen, hätte ich wahrscheinlich nicht gezögert. Genau genommen waren die Baumstämme, die da im Strom trieben, sogar hervorragende Bojen, an denen ich mich festhalten konnte. Aber ich hatte Angst. Und meine Angst setzte sich zusammen aus lauter armseligen kleinen Ängsten. Angst, wieder nass zu werden, wo mir vom Laufen gerade warm geworden war. Angst, meinen Rucksack zu verlieren und mit ihm die mageren Vorräte, die ich besaß. Angst, von der Strömung davongerissen zu werden. Angst, allein zu sein. Angst vor einem vermeidbaren Tod.

Als mir das klarwurde, erkannte ich voller Scham, was für ein armseliger, zweitklassiger Mensch ich immer noch war. Ich hatte noch nicht genug gelitten, um bis zum Letzten um meine Freiheit zu kämpfen. Ich war ein Hund, der trotz aller Schläge immer noch auf einen Knochen wartete.

Nervös sah ich mich nach einem Versteck um. Die Wachen würden ebenfalls zum Fluss kommen, und hier würden sie gründlicher suchen als anderswo. Natürlich könnte ich in das Dickicht des Urwalds zurückgehen, aber sie waren mir bereits auf den Fersen, und ich riskierte, ihnen in die Arme zu laufen.

In der Nähe des Flussufers waren Mangroven und alte, halbverrottete Baumstämme, Überbleibsel längst vergangener Unwetter. Einer dieser Stämme war besonders schwer zugänglich, aber er hatte an einer Seite eine ziemlich große Aushöhlung und war fast völlig von Mangrovenwurzeln überwuchert. Etwas Besseres war nicht in Sicht, und so beschloss ich, mich dort zu verstecken. Auf allen vieren, kriechend und zappelnd, zwängte ich mich zwischen den Wurzeln hindurch in die Aushöhlung. Dann faltete ich vorsichtig die große Plastikplane auseinander, die ich in meinen Stiefel gesteckt hatte. Meine Socken waren voller Wasser, und die Plane ebenso. Ohne nachzudenken, schüttelte ich sie aus und erschrak selbst über den Lärm, den ich dabei machte. Ich hielt den Atem an und lauschte auf jedes Geräusch um mich herum. Der Urwald erwachte allmählich, doch außer dem Summen der Insekten war nichts zu hören. Erleichtert wickelte ich mich in die Plastikplane ein und versuchte, mich in dem ausgehöhlten Baumstamm einzurichten.

Da sah ich sie. Yiseth.

Sie kehrte mir den Rücken zu. Sie war im Laufschritt gekommen, ohne Gewehr, aber mit einem Revolver in der Hand. Sie trug eine ärmellose Tarnweste, und ihre weibliche Gestalt ließ sie harmlos wirken. Ganz langsam drehte sie sich um, und unsere Blicke trafen sich sofort. Sie schloss kurz die Augen, als schicke sie ein Dankgebet gen Himmel, dann kam sie vorsichtig auf mich zu.

Mit einem traurigen Lächeln streckte sie mir die Hand entgegen, als wolle sie mir helfen, aus meinem Versteck herauszukommen. Ich hatte keine Wahl mehr. Ich tat, was von mir verlangt wurde. Sie nahm mir die Plastikplane ab, faltete sie sorgfältig zusammen und gab sie mir zurück, damit ich sie wieder in meinen Stiefel stecken konnte. Sie nickte befriedigt, dann sprach sie mit mir wie mit einem widerspenstigen Kind, dem sie Vernunft beibringen wollte. Ihre Worte waren ungewohnt. Sie benutzte nicht die befangene Sprache der Wachen, die ständig Angst hatten, dass einer ihrer Gefährten sie verriet. Sie blickte zum Fluss, und in ihre Worte mischte sich Bedauern, als spräche sie zu sich selbst.

Sie gestand, dass sie selbst mehr als einmal darüber nachgedacht hatte zu fliehen, denselben Weg zu nehmen, den ich gewählt hatte.

Da erzählte ich ihr von meinen Kindern, von meiner Sehnsucht, bei ihnen zu sein, von meinem verzweifelten Wunsch, nach Hause zu kommen. Sie sagte, sie habe auch einen kleinen Jungen, den sie bei ihrer Mutter zurückgelassen habe, obwohl er erst ein paar Monate alt sei. Sie biss sich auf die Unterlippe, und ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen. »Fliehen Sie mit mir«, schlug ich ihr vor. Da ergriff sie meine Hände, und ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich wieder. »Sie würden uns finden und töten.« Ich flehte sie an, umklammerte ihre Hände, zwang sie, mich anzusehen. Doch sie weigerte sich strikt, entzog sich mir und griff nach ihrer Waffe. »Wenn sie sehen, dass ich mit Ihnen rede, bringen sie mich um. Sie sind nicht weit weg. Gehen Sie vor mir her, und passen Sie genau auf, was ich Ihnen sage.«

Ich gehorchte, nahm meine Sachen und setzte mir den Rucksack auf. Sie ging direkt hinter mir und flüsterte mir leise zu: »Der Comandante hat uns befohlen, Sie zu misshandeln. Wenn die anderen hier sind, werden sie Sie anbrüllen, beleidigen und herumstoßen. Sie dürfen auf keinen Fall darauf reagieren. Sagen Sie nichts. Sie wollen Sie bestrafen. Sie werden Sie wegbringen, und nur die Männer bleiben bei Ihnen. Wir Frauen haben den Befehl, ins Lager zurückzukehren. Haben Sie verstanden?«

Ihre Worte hallten bedeutungslos in meinem Kopf wider. Es war, als könnte ich plötzlich kein Spanisch mehr. Ich gab mir größte Mühe, mich zu konzentrieren, den Sinn der Worte zu begreifen, doch die Angst lähmte meinen Verstand. Ich ging, ohne zu merken, dass ich ging, ich betrachtete die Welt von innen heraus, wie ein Fisch in einem Aquarium. Die Stimme der jungen Frau drang verzerrt an mein Ohr, manchmal sehr laut, dann wieder kaum hörbar, als wäre sie plötzlich ganz weit weg. Mein Kopf fühlte sich unendlich schwer an, als wäre er in einen Schraubstock geklemmt. Meine Zunge war wie mit einer zähen Paste bedeckt und klebte mir am Gaumen, und ich atmete schwer und mühsam. Bei jedem Schritt hob und senkte sich die Welt um mich herum. Und das Pochen in meinem Schädel brachte meinen Kopf fast zum Platzen.

Ich sah sie nicht kommen. Plötzlich waren sie da. Einer von ihnen fing an, mich zu umkreisen. Sein Gesicht war gerötet, und das blonde Haar stand in kurzen Borsten von seinem Kopf ab. Er hielt das Gewehr mit ausgestreckten Armen über seinem Kopf und hüpfte wild gestikulierend um mich herum, als vollzöge er einen albernen, aber dennoch bedrohlichen Kriegstanz.

Ein Stoß in die Rippen verriet mir, dass da noch ein Mann war. Er war dunkel und untersetzt, mit kräftigen Schultern und O-Beinen. Er hatte mir den Kolben seines Gewehrs in die Seite gerammt und tat so, als könne er sich nur mit Mühe zurückhalten, es nicht noch einmal zu tun. Dabei brüllte er auf mich ein, spuckte und beleidigte mich mit derben, absurden Schimpfwörtern.

Der dritte Mann kam von hinten und stieß mich zu Boden. Er lachte hinterhältig, und seine Gegenwart schien die anderen beiden anzuspornen. Er entriss mir meinen Rucksack, leerte ihn aus und stocherte mit seiner Stiefelspitze in den Dingen herum, von denen er wusste, dass sie mir viel bedeuteten. Hämisch lachend, trampelte er darauf herum, dann zwang er mich, sie wieder einzusammeln und in den Rucksack zu tun.

Als ich vor ihm kniete, sah ich plötzlich etwas Metallenes in seinen Händen aufblitzen. Als ich das Klirren einer Kette hörte, sprang ich auf und starrte ihm ins Gesicht. Die junge Frau, die die ganze Zeit an meiner Seite geblieben war, packte mich am Arm und zog mich mit sich. Doch der Kerl mit der Kette befahl ihr zu verschwinden. Mit einem Achselzucken ließ sie mich los und ging, ohne mich noch einmal anzusehen.

Ich war angespannt und zugleich abwesend, das Blut pochte in meinen Schläfen. Wir waren ein paar Meter weitergegangen. Der starke Regen hatte den Wasserspiegel ansteigen lassen, und das Ufergebiet war jetzt ein Teich, aus dem Bäume ragten, als hätten sie keine Lust, sich einen trockeneren Platz zu suchen. Ein Stück weiter, jenseits der stillen Wasseroberfläche, verrieten die bebenden Büsche die Gewalt des Flusses.

Die Männer umkreisten mich unter wüstem Geschimpfe. Die Kette klirrte unaufhörlich. Der Mann spielte damit, als wollte er sie zum Leben erwecken, als wäre sie eine Schlange. Ich wich jedem Blickkontakt aus, versuchte, mich dem Treiben innerlich zu entziehen, doch aus dem Augenwinkel sah ich Gesten und Bewegungen, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließen.

Ich war größer als sie, ich hielt den Kopf hoch erhoben, und mein ganzer Körper war starr vor Zorn. Ich wusste, ich konnte gegen sie nichts ausrichten, aber ich wusste auch, dass sie sich dessen nicht so sicher waren. Sie fürchteten sich mehr als ich, das spürte ich, aber sie hatten den Hass auf ihrer Seite und den Gruppenzwang. Eine einzige Geste würde genügen, um das prekäre Machtverhältnis zu zerstören, in dem ich − noch − die Oberhand hatte.

Ich hörte, wie der Mann mit der Kette mich ansprach. Er sagte meinen Namen, immer wieder, mit einer Vertrautheit, die beleidigend sein sollte. Ich hatte den Entschluss gefasst, mich von ihnen nicht verletzen zu lassen. Was immer auch geschehen mochte, sie würden nicht meinen innersten Wesenskern erreichen. An diesem Gedanken wollte ich mich festhalten. Wenn es mir gelang, sie nicht an mich heranzulassen, würde mir das Schlimmste vielleicht erspart bleiben.

Aus sehr weiter Ferne sprach die Stimme meines Vaters zu mir, und ein Wort kam mir in den Kopf. Füllte meinen Geist aus. Doch zu meinem Entsetzen hatte das Wort jede Bedeutung verloren. Es hatte keinen Bezug zur Gegenwart, es gehörte zum Bild meines Vaters, den ich vor mir sah, die Lippen zusammengepresst, der Blick hart und unnachgiebig. Immer wieder sprach ich mir das Wort vor, wie ein Gebet, wie einen magischen Spruch, der möglicherweise den bösen Zauber beenden konnte. Würde. Auch wenn es für mich keine Bedeutung mehr hatte, sagte ich es mir immer wieder vor, um die innere Haltung meines Vaters zu übernehmen, wie ein Kind, das den Ausdruck auf dem Gesicht eines Erwachsenen nachahmt und lächelt oder weint, nicht weil es Freude oder Schmerz empfindet, sondern weil das Nachahmen des Ausdrucks in ihm die Gefühle weckt, die es damit verbindet.

Durch diese Spiegelung begriff ich instinktiv, dass ich die Angst hinter mir gelassen hatte, und ich sagte leise: »Es gibt Dinge, die wichtiger sind als das Leben.«

Mein Zorn war verschwunden, stattdessen breitete sich extreme Kälte in mir aus. Die Alchemie, die, von außen nicht wahrnehmbar, in meinem Innern ablief, verwandelte die Starrheit meiner Muskeln in Körperkraft, die mich dazu befähigen würde, alle Widrigkeiten abzuwehren. Das war keine Resignation, ganz und gar nicht, und auch keine kopflose Flucht. Ich beobachtete mich von innen heraus und maß meine Stärke und Widerstandskraft, nicht um mich zu wehren, sondern um diesen Widrigkeiten standzuhalten, wie ein Schiff, das von den Wogen hin und her geworfen wird und dennoch nicht untergeht.

Er kam sehr nah an mich heran und versuchte, mir mit einer schnellen Bewegung die Kette um den Hals zu schlingen. Instinktiv duckte ich mich und wich zur Seite aus. Die anderen beiden trauten sich nicht, näher zu kommen, aber sie beschimpften mich lautstark, um ihn zu einem neuen Versuch anzuspornen. Sein Stolz war verletzt, und er ging in Lauerstellung wie ein wildes Tier, das den richtigen Moment abwartet, um sich auf seine Beute zu stürzen. Wir starrten uns an, und er musste in meinen Augen die Entschlossenheit gesehen haben, Gewalt zu vermeiden. Doch offenbar interpretierte er sie als Überheblichkeit. Er sprang auf mich zu und verpasste mir mit der Kette einen brutalen Schlag auf den Kopf. Ich fiel auf die Knie. Alles drehte sich, dann wurde mir schwarz vor Augen. Ich umklammerte meinen Kopf mit beiden Händen, und es dauerte eine Weile, bis die Sterne und Blitze verschwanden und ich wieder normal sehen konnte. Ich verspürte einen heftigen Schmerz, verbunden mit großer Traurigkeit, die in Wellen über mir zusammenschlug, als ich begriff, was gerade passiert war. Wie konnte er das tun? Was ich spürte, war nicht Empörung, sondern etwas viel Schlimmeres: den Verlust der Unschuld. Ich hob den Blick, und erneut sahen wir uns an. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Mund zu einem hämischen Grinsen verzogen. Und ich erkannte, dass er es nicht ertrug, wenn ich ihn ansah. Er war meinem Blick schutzlos ausgeliefert, unfähig, das Gewirr unkontrollierbarer Gefühle, das in ihm tobte, zu verbergen. In seinen Augen lag das Entsetzen über seine eigenen Handlungen, und ich hatte es gesehen.

Er gewann seine Selbstbeherrschung zurück, und als wollte er alle Spuren seines Haltungsverlusts auslöschen, bemühte er sich umso verbissener, mir die Kette um den Hals zu legen. Hartnäckig wehrte ich seine Übergriffe ab, wobei ich versuchte, jede körperliche Berührung zu vermeiden, sofern sie nicht unbedingt nötig war, um meine Weigerung deutlich zu machen. Doch selbst das genügte, um ihn aufzubringen. Er hielt kurz inne, holte aus und schlug erneut mit der Kette auf mich ein, begleitet von einem dumpfen, heiseren Schrei, um die Kraft seines Schlages zu verstärken. Ich stürzte in einen schwarzen Wirbel und verlor jedes Zeitgefühl. Ich wusste, dass mein Körper das Ziel ihrer Gewalt war, und ich hörte ihre Stimmen um mich herum, laut und hallend wie in einem Tunnel.

Ich spürte, dass ich angegriffen, umhergeworfen wurde, als würde ich von einem Schnellzug überrollt. Ich glaube nicht, dass ich das Bewusstsein verlor, aber obgleich ich vermutlich die Augen weit geöffnet hatte, verhinderten die Schläge, die ich bekommen hatte, dass ich etwas sah. Für eine kurze Ewigkeit blieben mein Körper und mein Herz kalt und starr wie Eis.

Als es mir schließlich gelang, mich aufzusetzen, hatte ich die Kette um den Hals, und der Mann zog ruckartig daran, um mich dazu zu bringen, ihm zu folgen. Er hatte Schaum vor dem Mund, als er mich anschrie. Der Weg zum Lager kam mir unendlich lang vor unter der Last meiner Erniedrigung und ihres Hohnes. Einer vor mir, die anderen beiden hinter mir, unterhielten sie sich laut und sonnten sich in ihrem Sieg. Mir war nicht nach Weinen zumute. Es war kein Stolz. Es war nur die Verachtung, die notwendig war, um zu verhindern, dass die Grausamkeit dieser Männer und das Vergnügen, das sie daraus zogen, mein innerstes Wesen, meine Seele verletzten.

Mit jedem Schritt dieses endlosen Marsches spürte ich, wie ich stärker wurde, weil ich mir meiner extremen Zerbrechlichkeit bewusst geworden war. Jeder erdenklichen Beleidigung ausgesetzt, gezwungen, an einer Leine zu gehen wie ein Tier, unter den Siegesschreien der restlichen Truppen durch das gesamte Lager geführt, Objekt der niedrigsten Instinkte von Misshandlung und Erniedrigung − ich hatte soeben das Schlimmste durchgemacht.

Doch ich lebte noch, und ich besaß eine neue Klarheit. Ich wusste, dass ich in gewisser Weise mehr gewonnen als verloren hatte, denn es war ihnen nicht gelungen, aus mir ein nach Rache dürstendes Ungeheuer zu machen. Was den Rest betraf, war ich nicht so sicher, und ich lauschte in meinem Innern sehr aufmerksam auf jegliche Anzeichen von Schmerz, die darauf hindeuteten, wie groß der Schaden war. Ich nahm an, dass die körperlichen Schmerzen sich bemerkbar machen würden, sobald ich zur Ruhe kam, und bereitete mich auf den Ansturm meiner seelischen Qualen vor. Doch ich wusste bereits, dass ich imstande war, mich von Hass zu befreien, und das betrachtete ich als meine größte Errungenschaft.