Der sterbende König

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Inhaltsübersicht

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel «Death of Kings» bei HarperCollins Publishers, London.

 

Redaktion Jan Möller

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Death of Kings» Copyright © 2011 by Bernard Cornwell

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt, nach der Originalausgabe von HarperCollins Publishers 2011

Umschlagabbildungen Lee Gibbons/Tin Moon, www.leegibbons.co.uk; David Ridley/Arcangel Images

Karte Peter Palm, Berlin

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-25903-6 (5. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-47151-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-47151-1

ist für Anne LeClaire,

Schriftstellerin und Freundin,

von der die erste Zeile stammt.

Die Schreibung der Ortsnamen im angelsächsischen England war eine unsichere und regellose Angelegenheit, in der nicht einmal über die Namen selbst Übereinstimmung herrschte. London etwa wurde abwechselnd als Lundonia, Lundenberg, Lundenne, Lundene, Lundenwic, Lundenceaster und Lundres bezeichnet. Zweifellos hätten manche Leser andere Varianten der Namen, die unten aufgelistet sind, vorgezogen, doch ich habe mich in den meisten Fällen nach den Schreibungen gerichtet, die entweder im Oxford Dictionary of English Place-Names oder im Cambridge Dictionary of English Place-Names für die Jahre um 900 zu finden sind. Aber selbst diese Lösung ist nicht narrensicher. So wird die Insel Hayling dort für das Jahr 956 sowohl Heilincigae als auch Hæglingaiggæ geschrieben. Auch bin ich selbst nicht immer konsequent geblieben; ich habe die moderne Bezeichnung England dem älteren Englaland vorgezogen, und anstelle von Norðhymbraland habe ich Northumbrien geschrieben, weil ich den Eindruck vermeiden wollte, dass die Grenzen des alten Königreiches mit denjenigen des modernen Countysidentisch sind. Aus all diesen Gründen folgt die untenstehende Liste ebenso unberechenbaren Regeln wie die Schreibung der Ortsnamen selbst.

Baddan Byrig: Badbury Rings, Dorset

Beamfleot: Benfleet, Essex

Bebbanburg: Bamburgh Castle, Northumberland

Bedanford: Bedford, Bedfordshire

Buccingahamm: Buckingham, Buckinghamshire

Buchestanes: Buxton, Derbyshire

Ceaster: Chester, Cheshire

Cent: Grafschaft Kent

Cippanhamm: Chippenham, Wiltshire

Cirrenceastre: Cirencester, Gloucestershire

Contwaraburg: Canterbury, Kent

Cracgelad: Cricklade, Wiltshire

Cumbraland: Cumberland

Cyninges Tun: Kingston upon Thames, Groß-London

Cytringan: Kettering, Northamptonshire

Dumnoc: Dunwich, Suffolk (heute größtenteils im Meer versunken)

Dunholm: Durham, Grafschaft Durham

Eanulfsbirig: St. Neots, Cambridgeshire

Eleg: Ely, Cambridgeshire

Eoferwic: York, Yorkshire (von den Dänen Jorvik genannt)

Exanceaster: Exeter, Devon

Fagranforda: Fairford, Gloucestershire

Fearnhamme: Farnham, Surrey

Fifhaden: Fyfield, Wiltshire

Fughelness: Insel Foulness, Essex

Gegnesburh: Gainsborough, Lincolnshire

Gleawecestre: Gloucester, Gloucestershire

Grantaceaster: Cambridge, Cambridgeshire

Hothlege: Fluss Hadleigh Ray, Essex

Hrofeceastre: Rochester, Kent

Humbre: Fluss Humber

Huntandon: Huntingdon, Cambridgeshire

Liccelfeld: Lichfield, Staffordshire

Lundene: London

Medwæg: Fluss Medway, Kent

Natangrafum: Notgrove, Gloucestershire

Oxnaforda: Oxford, Oxfordshire

Ratumacos: Rouen, Normandie, Frankreich

Rochecestre: Wroxeter, Shropshire

Sæfern: Fluss Severn

Sarisberie: Salisbury, Wiltshire

Sceaftesburi: Shaftesbury, Dorset

Sceobyrig: Shoebury, Essex

Scrobbesburh: Shrewsbury, Shropshire

Snotengaham: Nottingham, Nottinghamshire

Sumorsæte: Somerset

Temes: Fluss Thames

Thornsæta: Dorset

Tofeceaster: Towcester, Northamptonshire

Trente: Fluss Trent

Turcandene: Turkdean, Gloucestershire

Tweoxnam: Christchurch, Dorset

Westune: Whitchurch, Shropshire

Wiltunscir: Wiltshire

Wimburnan: Wimborne, Dorset

Wintanceaster: Winchester, Hampshire

Wygraceaster: Worcester, Worcestershire

Die Zauberin

«Jeder Tag ist ein gewöhnlicher Tag», sagte Pater Willibald, «bis er es nicht mehr ist.» Er lächelte freudig, als hätte er gerade eine Äußerung getan, die ich höchst bedeutend finden müsste, und dann sah er mich enttäuscht an, weil ich nichts sagte. «Jeder Tag …», begann er erneut.

«Ich habe Euer Geschwätz gehört», knurrte ich.

«Bis er es nicht mehr ist», endete er mit schwacher Stimme. Ich mochte Willibald, wenn er auch ein Priester war. Er war in meiner Kindheit einer meiner Lehrer gewesen, und jetzt sah ich ihn als Freund an. Er war gutherzig, ernst, und wenn die Sanftmütigen jemals das Erdreich besitzen werden, dann wird Willibald dereinst unermesslich reich sein.

Und jeder Tag ist ein gewöhnlicher Tag, bis sich etwas ändert, und dieser kalte Sonntagmorgen hatte so gewöhnlich angefangen wie jeder andere, bis diese Narren versuchten, mich zu töten. Es war so kalt. Unter der Woche hatte es geregnet, doch an diesem Morgen froren die Pfützen zu, und eine dicke Reifschicht lag weiß auf dem Gras. Pater Willibald war kurz nach Sonnenaufgang angekommen und hatte mich auf der Weide entdeckt. «Wir haben Euer Anwesen gestern Abend nicht mehr gefunden», erklärte er vor Kälte zitternd seine frühe Ankunft, «also haben wir im Kloster von Sankt Rumwold übernachtet.» Er deutete vage in Richtung Süden. «Dort war es sehr kalt», fügte er hinzu.

«Diese Mönche sind geizige Hunde», sagte ich. Normalerweise hatte ich wöchentlich eine Karrenladung

«Er war ein sehr frommes Kind, Herr», sagte er.

«Ein Kind?»

«Ein Säugling», sagte er seufzend, als ihm klarwurde, wohin unser Gespräch führen würde. «Er war kaum drei Tage alt, als er starb.»

«Ein drei Tage alter Säugling ist ein Heiliger?»

Willibald wedelte mit den Händen. «Es gibt Wunder, Herr», sagte er, «sie geschehen wirklich. Es heißt, dass der kleine Rumwold jedes Mal Gottes Lob sang, wenn er an der Brust lag.»

«Das würde ich auch jedes Mal am liebsten tun, wenn ich an eine Brust herankomme», sagte ich. «Bin ich also auch ein Heiliger?»

Willibald erschauerte und wechselte dann klugerweise das Thema. «Ich bringe Euch eine Botschaft von dem Ætheling», sagte er und meinte damit König Alfreds ältesten Sohn Edward.

«Dann heraus damit.»

«Er ist jetzt König von Cent», sagte Willibald fröhlich.

«Er hat Euch den ganzen Weg zu mir geschickt, um mir das zu sagen?»

«Nein, nein. Ich dachte, Ihr habt es vielleicht noch nicht gehört.»

«Gewiss habe ich es gehört», sagte ich. Alfred, der König von Wessex, hatte seinen ältesten Sohn zum König von Cent gemacht, was bedeutete, dass Edward Gelegenheit hatte, sich im Königsamt zu üben, ohne allzu großen

«Selbstverständlich nicht», sagte Willibald, «allerdings …», er unterbrach sich unvermittelt.

«Allerdings was?»

«Oh, es ist nichts», sagte er leichthin und gab mit einem Mal überaus großes Interesse an meinen Schafen vor. «Wie viele schwarze Schafe habt Ihr?», fragte er.

«Ich könnte Euch auch an den Knöcheln hochhalten und Euch schütteln, bis die Neuigkeiten herausfallen», schlug ich vor.

«Es ist nur, dass Edward … also», er zögerte, dann beschloss er, mir doch lieber alles zu erzählen, damit ich ihn nicht tatsächlich an den Knöcheln hochhob. «Es ist nur, dass er ein Mädchen aus Cent heiraten wollte und sein Vater die Zustimmung verweigert hat. Aber das ist vollkommen unwichtig.»

Ich lachte. Also war der junge Edward doch nicht der vollendete Thronfolger. «Und Edward platzt vor Wut, oder?»

«Nein, nein! Das war nur eine jugendliche Schwärmerei und ist inzwischen längst vergessen. Sein Vater hat ihm verziehen.»

Ich fragte nichts mehr, obwohl ich dieser Tratschgeschichte viel mehr Aufmerksamkeit hätte widmen müssen. «Und wie lautet nun die Nachricht von Edward?», fragte ich. Wir standen auf der unteren Weide meines Besitzes in Buccingahamm, das im östlichen Mercien lag. Eigentlich gehörte dieser Grund und Boden Æthelflæd, aber sie hatte mir die Abgaben der Bauern überlassen, und das Anwesen war groß genug, um dreißig Hausmacht-Krieger zu ernähren, von denen die meisten an diesem

«Sankt-Alnoths-Tag», sagte er, als wäre das ein ganz besonders wunderbares Ereignis. «Aber ich wollte Euch finden!» Er klang aufgeregt. «Ich habe eine Nachricht von König Edward für Euch. Jeder Tag ist ein gewöhnlicher …»

«Bis er es nicht mehr ist», unterbrach ich ihn schroff.

«Ja, Herr», kam es lahm von ihm. Dann runzelte er die Stirn. «Was tut Ihr eigentlich hier?»

«Ich sehe mir die Schafe an.» Und das stimmte. Ich hatte zweihundert oder mehr Schafe vor mir, die zu mir zurückstarrten und erbärmlich blökten.

Willibald drehte sich zu der Herde um. «Schöne Tiere», sagte er, als ob er wüsste, wovon er redete.

«Einfach nur Fleisch und Wolle», sagte ich, «und ich lege fest, welche leben und welche sterben sollen.» Es war die Jahreszeit zum Töten, die grauen Tage, während der unsere Tiere geschlachtet werden. Wir lassen ein paar am Leben, damit sie sich im Frühling vermehren, aber die meisten müssen sterben, weil wir nicht genügend Futter haben, um ganze Herden über den Winter zu bringen. «Man muss auf ihre Rücken achten», erklärte ich Willibald, «der Reif schmilzt nämlich zuerst auf der Wolle der gesündesten Tiere. Das sind diejenigen, die man am Leben lässt.» Ich zog ihm den Wollhut vom Kopf und zerzauste ihm das Haar, das langsam grau wurde. «Kein Reif auf Eurem Kopf», sagte ich fröhlich, «andernfalls hätte ich Euch die Kehle durchschneiden müssen.» Ich deutete auf ein Mutterschaf mit einem abgebrochenem Horn. «Behalt das da!»

«Gemacht, Herr», antwortete der Schäfer. Er war ein

«Der Gerichtstag», sagte Willibald und zog sich seinen Hut bis über die Ohren.

«Wie viele sind es jetzt?», fragte ich den Schäfer.

«Jiggit und mumph, Herr», sagte er.

«Reicht das?»

«Das reicht, Herr.»

«Dann töte den Rest», sagte ich.

«Jiggit und mumph?», kam es fragend von Willibald, der immer noch vor Kälte zitterte.

«Zwanzig und fünf», sagte ich. «Yain, tain, tether, mether, mumph. So zählen die Schäfer. Ich weiß nicht, warum. Die Welt ist eben voller Rätsel. Man hat mir sogar erzählt, dass es Leute gibt, die einen drei Tage alten Säugling als Heiligen verehren.»

«Man spottet nicht über Gott, Herr», sagte Pater Willibald in einem Versuch, mich zu rügen.

«Ich schon», sagte ich. «Also, was will der junge Edward?»

Die zwei Schäferhunde knurrten. Beide drückten sich flach auf den Boden und hatten den Blick südwärts auf ein Wäldchen gerichtet. Inzwischen fiel Eisregen. Ich starrte zu den Bäumen hinüber, konnte aber zwischen den schwarzen Winterästen und dem Stechpalmengebüsch nichts Bedrohliches entdecken. «Wölfe?», fragte ich den Schäfer.

«Hab seit dem Jahr, in dem die alte Brücke eingestürzt ist, keinen Wolf mehr gesehen, Herr», sagte er.

Die Hunde sträubten das Nackenfell. Der Schäfer schnalzte mit der Zunge, damit sie ruhig blieben, dann pfiff er einmal kurz, und einer der Hunde raste auf das Wäldchen zu. Der andere winselte, weil auch er losjagen wollte, aber der Schäfer machte ein leises Geräusch, und der Hund wurde wieder still.

Der andere Hund rannte in einem Bogen auf die Bäume zu. Es war eine Hündin, und sie verstand ihr Geschäft. Sie setzte über einen eisüberzogenen Graben hinweg und verschwand zwischen den Stechpalmenbüschen, bellte unvermittelt, tauchte wieder auf und sprang erneut über den Graben. Einen Moment lang verharrte sie, den Blick auf die Bäume gerichtet, dann rannte sie wieder los, und in demselben Augenblick zischte ein Pfeil aus dem Dunkel des Wäldchens. Der Schäfer pfiff schrill, die Hündin jagte zu uns zurück, und der Pfeil ging hinter ihr zu Boden, ohne Schaden anzurichten.

«Geächtete», sagte ich.

«Oder Männer, die auf Wild aus sind», sagte der Schäfer.

«Mein Wild», sagte ich. Noch immer ruhte mein Blick

Der Eisregen hatte mittlerweile noch zugenommen und wurde von einem kalten Ostwind übers Land getrieben. Ich trug einen dicken Pelzumhang, hohe Stiefel und eine Fuchsfellmütze, also spürte ich die Kälte nicht, Willibald aber, in seinem priesterlichen Schwarz, zitterte trotz seines Wollumhangs und seines Hutes. «Ich muss Euch in den Palas bringen», sagte ich. «In Eurem Alter solltet Ihr im Winter nicht draußen sein.»

«Ich habe nicht damit gerechnet, dass es regnet», sagte Willibald. Er klang elend.

«Bis heute Mittag wird Schnee draus», sagte der Schäfer.

«Hast du hier in der Nähe eine Hütte?», fragte ich ihn.

Er deutete Richtung Norden. «Gleich hinter dem kleinen Wald», sagte er. Er zeigte auf dichtstehende Bäume, zwischen denen ein Pfad hindurchführte.

«Gibt es dort Feuer?»

«Ja, Herr.»

«Bring uns hin», sagte ich zu ihm. Ich würde Willibald dort ans Feuer setzen und ihm einen ordentlichen Umhang und ein gutmütiges Pferd holen, um ihn in den Palas zu bringen.

Als wir nordwärts gingen, knurrten die Hunde wieder. Ich drehte mich nach Süden um, und da waren Männer am Rand des Wäldchens. Eine auseinandergezogene Reihe von Männern, die uns nachstarrten. «Kennst du die?», fragte ich den Schäfer.

«Sie sind nicht aus der Gegend, Herr, und es sind

«Was …», fing Pater Willibald an.

«Still», sagte ich. Die beiden Hunde des Schäfers fletschten nun die Zähne. «Geächtete», äußerte ich noch einmal meine Vermutung, ohne den Blick von den Männern abzuwenden.

«Sankt Alnoth wurde von Geächteten ermordet», sagte Willibald sorgenvoll.

«Also ist nicht alles schlecht, was die Geächteten tun», sagte ich, «aber die hier sind Holzköpfe.»

«Holzköpfe?»

«Weil sie uns angreifen», sagte ich. «Dafür werden sie gejagt und gevierteilt werden.»

«Wenn wir nicht als Erste sterben», sagte Willibald.

«Geht weiter!» Ich schob ihn auf den Wald im Norden zu, und berührte meinen Schwertknauf, bevor ich ihm folgte. Ich trug nicht Schlangenhauch, mein großes Kampfschwert, sondern eine kleinere, leichtere Klinge, die ich früher im Jahr einem Dänen in Beamfleot abgenommen hatte, nachdem er im Kampf mit mir umgekommen war. Es war ein gutes Schwert, aber in diesem Moment wünschte ich mir dennoch, ich hätte Schlangenhauch an meiner Hüfte. Ich warf einen Blick über die Schulter. Die dreizehn Männer überquerten den Graben, um uns nachzugehen. Zwei hatten Bögen. Die übrigen schienen mit Äxten, Messern oder Speeren bewaffnet zu sein. Willibald war langsam und keuchte schon vor Anstrengung. «Was hat das zu bedeuten?», stieß er hervor.

«Räuber?», stellte ich eine Vermutung an. «Vagabunden? Ich weiß nicht. Lauft schneller!» Ich schob ihn zwischen die Bäume, dann zog ich das Schwert aus der

Ich ließ ihnen ein gutes Stück Vorsprung, dann folgte ich ihnen. Ich hatte sie reden hören, als sie an mir vorbeikamen, und so wusste ich, dass es Sachsen waren, und, ihrer Aussprache zufolge, vermutlich aus Mercien. Räuber, dachte ich. Eine Römerstraße führte in der Nähe durch tiefe Wälder, und dort trieben Männer ohne Herren ihr

Ich bewegte mich vorsichtig, als ich zum Saum des Waldes kam, dann sah ich die Männer neben der Schäferhütte, die einem Grashügel glich. Der Schäfer hatte den Unterschlupf aus Zweigen gebaut, mit Torfsoden bedeckt und in der Mitte ein Loch als Rauchabzug gelassen. Von dem Schäfer selbst war nichts zu sehen, doch Willibald war gefangen genommen worden, immerhin war er bislang unverletzt; vielleicht schützte ihn sein Stand als Priester. Einer der Männer hielt ihn fest. Den anderen musste klargeworden sein, dass ich immer noch in dem Wäldchen war, denn sie starrten zu den Bäumen herüber, die mich verbargen.

Dann tauchten unvermittelt links von mir die beiden Hunde des Schäfers auf und rannten mit lautem Kläffen auf die dreizehn Männer zu. Sie rannten schnell und leichtfüßig, kreisten die Gruppe ein und sprangen ab und zu mit schnappenden Zähnen auf die Männer zu, um ihnen dann wieder auszuweichen. Nur einer der Männer hatte ein Schwert, doch er war ungeschickt im Umgang damit. Als er es gegen die Hündin schwang, verfehlte er sie um Armeslänge. Einer der Bogenschützen spannte die Sehne. Er zog den Pfeil zurück, und dann fiel er plötzlich rücklings um, wie von einem unsichtbaren Hammer

Der zweite Bogenschütze hob seine Waffe, dann zuckte er zurück, ließ den Bogen fallen und schlug sich die Hände vors Gesicht. Ich sah Blut spritzen, Blut, so hellrot wie die Beeren der Stechpalmen. Ein Farbspritzer jagte in den grauen Wintermorgen, und der Mann hielt sich das Gesicht und krümmte sich vor Schmerzen. Die Hunde bellten, dann sprangen sie zurück zwischen die Bäume. Der Eisregen wurde noch dichter und trommelte laut auf die kahlen Zweige. Zwei der Männer gingen näher zu der Schäferhütte, wurden aber von ihrem Anführer zurückgerufen. Er war jünger als die anderen und sah wohlhabender oder wenigstens nicht ganz so ärmlich aus, hatte ein schmales Gesicht, einen durchdringenden Blick und einen kurzen hellen Bart. Er trug ein verschrammtes Lederwams, doch darunter erkannte ich ein Kettenhemd. Also musste er entweder ein Krieger sein, oder er hatte die Rüstung gestohlen. «Herr Uhtred!», rief er.

Ich antwortete nicht. Ich war gut versteckt, jedenfalls für den Moment, wusste aber, dass ich meinen Platz verlassen musste, falls sie das Wäldchen durchkämmten. Doch was auch immer zu dem Blutvergießen geführt hatte, machte sie unruhig. Was war es? Es mussten die Götter gewesen sein, dachte ich, oder vielleicht der christliche Heilige. Alnoth, der Geächtete hassen musste, wenn er von ihnen umgebracht worden war, und ich bezweifelte nicht, dass diese

«Herr Uhtred!», rief der junge Mann erneut, doch die einzige Antwort war ein jähes, panisches Blöken.

Die Schafe strömten den Pfad durch den Wald herunter,

Ich trat zwischen den Bäumen hervor. «Ihr sucht mich?», rief ich.

Zur Antwort wollte der junge Mann auf mich zugehen, aber die dicht aneinandergepressten Schafe behinderten ihn. Er trat nach ihnen, dann hieb er mit seinem Schwert auf sie ein, doch je mehr er kämpfte, desto verängstigter wurden die Tiere, und die ganze Zeit trieben sie die Hunde weiter zusammen. Der junge Mann fluchte, dann griff er sich Willibald. «Lasst uns gehen oder wir töten ihn», sagte er.

«Das ist ein Christ», sagte ich und hob den Thorshammer, der um meinen Hals hing, «warum sollte es mich stören, wenn du ihn umbringst?»

Willibald starrte mich fassungslos an, und dann drehte er sich um, weil einer der Männer vor Schmerz aufschrie. Erneut war in dem Eisregen ein leuchtend roter Strahl Blut aufgeblitzt, und dieses Mal entdeckte ich seine Ursache. Es waren weder die Götter noch der ermordete Heilige,

In Panik wandten sie sich zur Flucht, und ich gab dem Schäfer ein Zeichen, damit er sie laufenließ. Er pfiff die Hunde zurück, und Männer und Schafe stoben auseinander. Die Männer rannten davon, bis auf den ersten Bogenschützen, der betäubt am Boden lag, seitdem der Stein ihn am Kopf getroffen hatte. Der jüngere Mann war tapferer als die anderen und kam auf mich zu. Vielleicht dachte er, seine Begleiter würden zu seiner Unterstützung kommen, dann aber stellte er fest, dass er allein war. Angst kroch über sein Gesicht. Er drehte sich um, und in demselben Augenblick sprang ihn die Hündin an und grub ihre Zähne in seinen Schwertarm. Er schrie auf, versuchte das Tier abzuschütteln, doch schon kam der zweite Hund, um ihn ebenfalls anzufallen. Der Mann schrie immer noch, als ich ihm die flache Seite meines Schwertes auf den Hinterkopf schlug. «Du kannst die Hunde jetzt wegrufen», erklärte ich dem Schäfer.

Der erste Bogenschütze lebte noch, allerdings war das Haar oberhalb seines rechten Ohrs blutverklebt. Ich versetzte ihm einen kräftigen Tritt in die Rippen, und er stöhnte, war jedoch bewusstlos. Ich nahm seinen Bogen und seinen Köcher und gab sie dem Schäfer. «Wie heißt du?»

«Egbert, Herr.»

«Jetzt bist du ein reicher Mann, Egbert», sagte ich zu ihm. Ich wünschte, das wäre wahr. Ich würde Egbert für

Die Geächteten waren Richtung Norden verschwunden. Willibald zitterte. «Sie waren auf der Suche nach Euch, Herr», sagte er mit klappernden Zähnen, «sie sind bezahlt worden, um Euch zu töten.»

Ich beugte mich über den Bogenschützen. Der Stein des Schäfers hatte seinen Schädel durchschlagen, und ich konnte ein gesplittertes Stück Knochen zwischen den blutigen Haarsträhnen erkennen. Einer der Hunde kam, um an dem verwundeten Mann zu schnuppern, und ich tätschelte sein dichtes, drahtiges Fell. «Das sind gute Hunde», stellte ich an Egbert gewandt fest.

«Wolfstöter, Herr», sagte er, dann hob er abwägend die Schleuder hoch. «Aber das hier ist noch besser.»

«Du bist gut darin», sagte ich. Das war noch schwach ausgedrückt, denn der Mann war tödlich.

«Hab fünfundzwanzig Jahre Übung, Herr. Gibt nichts Besseres als einen Stein, um einen Wolf zu vertreiben.»

«Sie wurden also bezahlt, um mich zu töten?», fragte ich Willibald.

«Das haben sie gesagt. Dass sie bezahlt worden sind, um Euch zu töten.»

«Geht in die Hütte», sagte ich. «Wärmt Euch auf.» Dann drehte ich mich zu dem jüngeren Mann um, der von dem größeren Hund bewacht wurde. «Wie heißt du?»

Er zögerte, dann sagte er unwillig: «Wærfurth, Herr.»

«Und wer hat dich bezahlt, um mich zu töten?»

«Das weiß ich nicht, Herr.»

«Ein Sachse, Herr.»

«Und du kennst ihn nicht?»

«Nein, Herr.»

Ich nahm ihn weiter ins Verhör, doch er konnte mir nichts anderes sagen, als dass der Mann mager, kahlköpfig und einäugig gewesen war. Diese Beschreibung sagte mir nichts. Ein einäugiger Kahlkopf? Das konnte beinahe jeder sein. So sehr ich Wærfurth auch ausquetschte, es kamen nur noch unnütze Antworten, also knüpfte ich ihn und den Bogenschützen auf.

Und Willibald zeigte mir den magischen Fisch.

 

Eine Abordnung erwartete mich in meinem Palas. Sechzehn Männer waren von Alfreds Hauptstadt Wintanceaster gekommen, und unter ihnen befanden sich nicht weniger als fünf Priester. Zunächst Willibald, dann zwei, die wie er aus Wessex kamen und schließlich zwei Mercier, die sich offenkundig in Ostanglien niedergelassen hatten. Ich hatte die beiden schon früher kennengelernt, wenn ich sie

«Und sie bewundert», endete der andere. Ich hatte sie als Kind nicht auseinanderhalten können, und es gelang mir immer noch nicht. Sie beendeten gegenseitig ihre Sätze.

«Widerwillig», sagte einer.

«Bewundert», sagte sein Zwilling.

«Widerwillig?», fragte ich unfreundlich.

«Es ist allseits bekannt, dass Alfred enttäuscht ist.»

«Weil Ihr den wahren Glauben nicht anerkennen wollt, aber …»

«Wir beten jeden Tag für Euch!»

Die zwei anderen Priester, beide Westsachsen, waren Alfreds Männer. Sie hatten ihm bei der Zusammenstellung der Texte für seinen Gesetzeskodex geholfen, und nun sollten sie mir anscheinend gute Ratschläge erteilen. Die übrigen elf Männer waren Krieger, fünf aus Ostanglien und sechs aus Wessex, und waren zum Schutz der Priester auf der Reise abgestellt worden.

Und sie hatten den magischen Fisch mitgebracht.

«König Eohric», sagte Ceolnoth oder Ceolberht.

«Wünscht ein Bündnis mit Wessex», endete der andere Zwilling.

«Die christlichen Königreiche, versteht Ihr?»

«Und König Alfred und König Edward», nahm Willibald den Faden auf, «haben für König Eohric ein Geschenk mitgesandt.»

«Lebt Alfred noch?», fragte ich.

«Ja, durch Gottes Gnade», sagte Willibald, «allerdings ist er krank.»

«Und zwar todkrank», warf einer der westsächsischen Priester ein.

«Er ist schon todkrank geboren worden», sagte ich, «und er liegt im Sterben, seit ich ihn kenne. Er wird noch zehn Jahre leben.»

«Bitten wir Gott, dass es ihm vergönnt ist», sagte Willibald und bekreuzigte sich. «Allerdings ist er schon fünfzig Jahre alt und wird zusehends schwächer. Diesmal liegt er wohl tatsächlich im Sterben.»

«Und eben deshalb will er dieses Bündnis», fuhr der westsächsische Priester fort, «und aus demselben Grund bittet der Herr Edward um Eure Unterstützung.»

«König Edward», berichtigte Willibald seinen Priesterkollegen.

«Und wer bittet in Wahrheit um meine Unterstützung?», fragte ich. «Ist es Alfred von Wessex oder Edward von Cent?»

«Edward», sagte Willibald.

«Eohric», kam es von Ceolnoth und Ceolberht im Chor.

«Alfred», sagte der westsächsische Priester.

«Sie alle», ergänzte Willibald. «Es ist für sie alle von Bedeutung, Herr!»

Edward oder Alfred oder beide wollten, dass ich zu König Eohric von Ostanglien ging. Eohric war Däne, aber er

«Mit uns als Ratgebern», warf einer der westsächsischen Priester hastig ein.

«Warum ich?», fragte ich die Zwillinge.

Willibald antwortete für sie. «Wer kennt Mercien und Wessex so gut wie Ihr?»

«Da gibt es viele», antwortete ich.

«Und wenn Ihr die Führung übernehmt», sagte Willibald, «werden Euch diese Vielen Gefolgschaft leisten.»

Wir saßen an einem Tisch mit Ale, Brot, Käse, Gemüsesuppe und Äpfeln. In der großen Feuerstelle in der Mitte des Raumes loderten die Flammen und ließen Schatten und Licht über die rauchgeschwärzten Balken zucken. Der Schäfer hatte recht behalten, und der Eisregen hatte sich in Schnee verwandelt, und nun rieselten ein paar Flocken durch die Rauchabzugsöffnung im Dach herein. Draußen, jenseits der Palisade, baumelten Wærfurth und der Bogenschütze am kahlen Ast einer Ulme, ihre Leichen dienten den hungrigen Vögeln als Futter. Die meisten meiner Männer waren im Palas und hörten unserem Gespräch zu. «Es ist eine merkwürdige Jahreszeit, um Verträge auszuhandeln», sagte ich.

«Alfred bleibt nicht mehr viel Zeit», sagte Willibald, «und er will dieses Bündnis, Herr. Wenn alle Christen Britanniens vereint sind, wird der Thron Edwards geschützt sein, wenn er die Krone erbt.»

Das ergab Sinn, aber warum sollte Eohric dieses Bündnis anstreben? Eohric von Ostanglien hatte, solange ich

«Es ist wegen Cnut Ranulfson», erklärte einer der Zwillinge, als ich die Frage stellte.

«Er hat Männer in den Süden gebracht», sagte der andere Zwilling.

«Auf die Besitzungen Sigurd Thorssons», sagte ich. «Das weiß ich, darüber habe ich Alfred ja selbst benachrichtigen lassen. Und Eohric fürchtet Cnut und Sigurd?»

«Das tut er», sagte Ceolnoth oder Ceolberht.

«Cnut und Sigurd werden jetzt nicht angreifen», sagte ich, «aber möglicherweise im Frühling.» Cnut und Sigurd waren Dänen aus Northumbrien, und ihr immerwährender Traum, den sie mit allen Dänen teilten, war es, alle Gebiete zu erobern, in denen Englisch gesprochen wurde. Die Eindringlinge hatten es wieder und wieder versucht, und wieder und wieder waren sie gescheitert, doch der nächste Anlauf war unvermeidlich, denn das Herz von Wessex, dem stärksten Bollwerk des sächsischen Christentums, schlug immer schwächer. Alfred starb, und sein Tod würde mit Sicherheit die Schwerter und Feuersbrünste der Heiden nach Mercien bringen. «Aber warum sollten Cnut oder Sigurd Eohric angreifen?», fragte ich. «Sie wollen Ostanglien nicht, sie wollen Wessex.»

«Sie wollen alles», gab Ceolnoth oder Ceolberht zurück.

«Und der wahre Glaube wird mit Geißeln aus Britannien vertrieben werden, wenn wir ihn nicht verteidigen», sagte einer der westsächsischen Priester.

«Beim Weihnachtsfest», fügte einer der Zwillinge hinzu.

«Und Alfred hat ein Geschenk für Eohric mitgesandt», fuhr Willibald begeistert fort. «Alfred und Edward! Sie haben sich überaus großzügig gezeigt, Herr!»

Das Geschenk lag in einem Silberkästchen, das mit wertvollen Edelsteinen besetzt war. Auf dem Deckel sah man eine Christusgestalt mit erhobenen Armen, um die geschrieben stand ‹Edward mec heht Gewyrcan›, was bedeutete, dass Edward dieses Reliquiar in Auftrag gegeben hatte, oder noch eher hatte sein Vater das Geschenk bestellt und die Freigiebigkeit dann seinem Sohn zugeschrieben. Willibald hob ehrfürchtig den Deckel, und das mit rotgefärbtem Tuch ausgeschlagene Innere des Kästleins wurde sichtbar. Ein kleines Kissen von der Länge und Breite einer Männerhand füllte es aus, und auf dem Kissen lag ein Fischskelett. Es war ein vollständiges Fischskelett, bis auf den Kopf, nur ein langes weißes Rückgrat mit einem Rippenkamm auf jeder Seite. «Seht nur», hauchte Willibald kaum hörbar, als könnte zu lautes Sprechen die Gräten stören.

«Ein toter Hering?», fragte ich ungläubig. «Das soll Alfreds Geschenk sein?»

Die Priester bekreuzigten sich allesamt.

«Braucht Ihr noch mehr Gräten?», fragte ich. Dann sah ich zu Finan hinüber, meinem engsten Freund und dem Befehlshaber meiner Hauskrieger. «Toten Fisch können wir zur Verfügung stellen, was?»

«Fässerweise», sagte er.

«Herr Uhtred!» Willibald brauste wie immer bei

«Dann muss der andere ja ein verflucht großer Fisch gewesen sein», sagte ich. «Was für einer war’s denn? Ein Wal?»

Der ältere der westsächsischen Priester blickte mich finster an. «Ich habe König Edward davon abgeraten, Euch diese Aufgabe zu übertragen», sagte er. «Ich habe ihm gesagt, er soll einen Christen entsenden.»

«Dann sucht Euch jemand anderen», gab ich zurück. «Ich verbringe das Julfest ohnehin lieber in meinem eigenen Palas.»

«Er wünscht, dass Ihr hingeht», sagte der Priester scharf.

«Alfred wünscht es auch», warf Willibald ein. Dann fügte er mit einem Lächeln hinzu: «Er glaubt, dass Ihr Eohric Angst einflößen werdet.»

«Warum will er Eohric Angst einflößen?», fragte ich. «Ich dachte, es geht um ein Bündnis.»

«König Eohric erlaubt seinen Schiffsführern, Jagd auf unsere Handelsfahrer zu machen», sagte der Priester, «und er muss Entschädigungen zahlen, bevor wir ihm Schutz zusagen. Der König meint, Ihr werdet sehr überzeugend auf ihn wirken.»

«Wir müssen frühestens in zehn Tagen los», sagte ich und sah die Priester missmutig an, «wird von mir erwartet, dass ich Euch alle bis dahin durchfüttere?»

«Ja, Herr», sagte Willibald fröhlich.

Das Schicksal ist unerforschlich. Ich hatte das Christentum abgelehnt und die Götter der Dänen vorgezogen,

Und deshalb sah es danach aus, dass ich das Julfest in Ostanglien verbringen würde.

 

Osferth kam mit zwanzig weiteren Männern aus meiner Hausmacht nach Buccingahamm. Ich hatte sie gerufen, weil ich von einer starken Truppe nach Ostanglien begleitet werden wollte. König Eohric mochte ein Bündnis vorgeschlagen haben, und er mochte sich sämtlichen Forderungen Alfreds beugen, aber Verträge werden am besten von einer Warte der Stärke ausgehandelt, und ich war entschlossen, mit einer beeindruckenden Begleitmannschaft in Ostanglien zu erscheinen. Osferth und seine Männer hatten Ceaster beobachtet, ein altes Römerlager an der Nordwestgrenze Merciens, in das sich Haesten geflüchtet hatte, nachdem seine Truppen bei Beamfleot geschlagen worden waren. Osferth grüßte mich ernst, wie es seine Art war. Er lächelte nur selten, und sein üblicher Gesichtsausdruck drückte Missbilligung über alles aus, was ihm vor die Augen kam, aber ich glaube, er freute sich, wieder mit uns allen zusammen zu sein. Er war Alfreds Sohn, gezeugt mit einer Dienerin, bevor Alfred die zweifelhaften Freuden christlichen Gehorsams entdeckt hatte. Alfred hatte seinen Bastardsohn zum Priester ausbilden lassen wollen, doch Osferth zog ein Dasein als Krieger vor. Das war eine seltsame Wahl, denn er empfand kaum Freude am Kampf und sehnte sich nicht nach dem wilden Rausch, in dem der Grimm und eine Klinge alles andere trist erscheinen lassen. Allerdings brachte Osferth die Fähigkeiten seines Vaters mit in den Kampf. Er war ernsthaft, nachdenklich und

«Haesten leckt immer noch seine Wunden», berichtete er mir.

«Wir hätten ihn töten sollen», murrte ich. Haesten hatte sich nach Ceaster zurückgezogen, nachdem ich seine Flotte und seine Armee bei Beamfleot zerstört hatte. Mein Gefühl hatte mir geraten, ihn nach Ceaster zu verfolgen und seinen Narreteien ein für allemal ein Ende zu bereiten. Doch Alfred hatte seine Haustruppen zurück in Wessex haben wollen, und ich hatte nicht genügend Männer, um die Römerfestung bei Ceaster zu belagern, und deshalb lebte Haesten noch. Wir beobachteten ihn und suchten nach Hinweisen, dass er wieder Männer anwarb, doch Osferth war eher der Ansicht, Haesten würde immer schwächer und nicht stärker werden.

«Bald ist er gezwungen, seinen Stolz hinunterzuschlucken und jemandem den Treueid zu schwören», lautete Osferths Meinung.

«Und zwar Sigurd oder Cnut», sagte ich. Sigurd und Cnut waren zu dieser Zeit die mächtigsten Dänen in Britannien, auch wenn keiner von ihnen ein König war. Sie hatten Land, Vermögen, Schafe, Rinderherden, Silber, Schiffe, Männer und Ehrgeiz. «Warum sollten sie Ostanglien wollen?», überlegte ich laut.

«Warum nicht?», fragte Finan.

«Weil sie Wessex wollen», sagte ich.

«Sie wollen ganz Britannien», sagte Finan.

«Sie warten», sagte Osferth.

«Auf was?»

«Auf Alfreds Tod», sagte er. Er bezeichnete Alfred nur

«Oh, was es danach für ein Durcheinander geben wird», bemerkte Finan genüsslich.

«Edward wird ein guter König sein», sagte Osferth vorwurfsvoll.

«Er wird darum kämpfen müssen», sagte ich. «Die Dänen werden ihn auf die Probe stellen.»

«Und werdet Ihr für ihn kämpfen?», fragte Osferth.

«Ich mag Edward», sagte ich unverbindlich. Ich mochte ihn tatsächlich. Als Kind hatte er mir leidgetan, weil ihn sein Vater unter die Aufsicht glühend frommer Priester gestellt hatte, deren Aufgabe es war, aus Edward einen fehlerlosen Erben für Alfreds christliches Königreich zu machen. Als ich ihm später wieder begegnete, kurz vor der Schlacht bei Beamfleot, hatte er überheblich und engstirnig auf mich gewirkt, doch dann hatte er das Zusammensein mit den Kriegern genossen, und seine Überheblichkeit war verschwunden. Bei Beamfleot hatte er gut gekämpft, und nun, wenn man Willibalds Klatschgeschichten glauben durfte, hatte er auch mit der Sünde seine ersten Erfahrungen gemacht.

«Seine Schwester würde wollen, dass Ihr ihn unterstützt», sagte Osferth spitz und brachte Finan damit zum Lachen. Jedermann wusste, dass Æthelflæd meine Geliebte war, genauso wie jeder wusste, dass Æthelflæds Vater auch Osferths Vater war, doch die meisten Menschen gaben aus Höflichkeit vor, es nicht zu wissen, und Osferths spitze Bemerkung war das Äußerste, was er wagte, um auf meine Beziehung zu seiner Halbschwester hinzuweisen. Ich hätte das Weihnachtsfest am liebsten mit Æthelflæd verbracht, doch Osferth erklärte mir, sie sei nach Wintanceaster

Sigurd und Cnut waren im Sommer zuvor südwärts gesegelt, um ihre Schiffe an die Südküste von Wessex zu bringen, während Haestens Armee in Mercien plünderte. Die beiden northumbrischen Dänen hatten Alfreds Truppen ablenken wollen, während Haesten an der Nordgrenze von Wessex wütete. Doch Alfred hatte mir seine Armee trotzdem geschickt, Haesten hatte seine Machtstellung verloren, und Sigurd und Cnut hatten festgestellt, dass sie außerstande waren, auch nur eine von Alfreds Wehrstädten zu erobern, die mit Festungsanlagen gesicherten Städte, die überall auf sächsischem Gebiet verteilt lagen. Und so waren sie auf ihre Schiffe zurückgekehrt. Ich wusste, dass sie keine Ruhe geben würden. Sie waren Dänen, was bedeutete, dass sie Böses im Schilde führten.

Also nahm ich am nächsten Tag bei tauendem Schnee Finan, Osferth und dreißig Männer mit Richtung Norden zu Aldermann Beornnoth. Ich mochte Beornnoth. Er war alt, grau, lahm und hitzköpfig. Seine Besitzungen lagen genau an der Grenze des sächsischen Merciens, und alles nördlich von ihm gehörte den Dänen, weshalb er in den Jahren zuvor gezwungen gewesen war, seine Felder und Dörfer gegen die Angriffe von Sigurd Thorrsons Männern zu verteidigen. «Gott der Allmächtige», begrüßte er mich, «sagt nur nicht, dass Ihr auf eine Weihnachtsfeier in meinem Palas hofft.»

«Ich ziehe gutes Essen vor», sagte ich.

«Keine Viehdiebstähle?»

«Nur ein- oder zweimal», sagte er schulterzuckend. Seit unserer letzten Begegnung hatte er den Gebrauch seiner Beine verloren und musste sich überallhin auf einem Stuhl tragen lassen. «Das ist das Alter», sagte er. «Ich sterbe von unten nach oben. Vermutlich wollt Ihr ein Ale, oder?»

Im Palas tauschten wir Neuigkeiten aus. Er brüllte vor Lachen, als ich ihm von dem Anschlag auf mein Leben erzählte. «Setzt Ihr neuerdings Schafe ein, um Euch zu verteidigen?» Dann sah er seinen Sohn in den Palas kommen und rief ihn zu sich. «Komm her und hör dir an, wie der Herr Uhtred die Schafsschlacht gewonnen hat!»