Thomas Mann
Essays VI 1945-1950
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung der
Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe
(GKFA)
Mit Daten zu Leben und Werk
Textgrundlage: Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 19.1: Essays VI (1945-1950), herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Herbert Lehnert. Frankfurt am Main 2009.
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ISBN 978-3-10-401461-6
Lieber Herr Monty Jacobs,
Sie haben mir geschrieben, und an Sie wende ich mich mit meinem Dank, – bitte Sie der Dolmetsch meiner herzlichen Erkenntlichkeit zu sein bei allen, die diese rührende Feier ausdachten und ins Werk setzten, bei den Rednern, den Vortragenden, bei allen, die kommen werden, meine 70 Jahre zu ehren.
Was soll ich sagen? – August 1826, den 28., als Mickiewicz von Weimar schied, schrieb J. W. Goethe ihm ins Album:
»Von äußerm Drang unangefochten
Bleibt Freunde so in Eins verflochten,
Dem Tage gönnet heitern Blick!
Das Beste schaffet unverdrossen,
Wohlwollen unsrer Zeitgenossen
Das bleibt zuletzt erprobtes Glück.«
Ich liebe das Ewigkeits-Biedermeier dieser Verse, und ich führe sie an besonders um der Zeile willen, die vom Wohlwollen handelt, dem »Wohlwollen unsrer Zeitgenossen«. Daß ich dies Glück auf meine alten Tage so reichlich, so überschwänglich fast, erfahre, hat viel zu tun mit den gemeinsamen Schicksalen, die uns, meine Freunde, während der letzten anderthalb Jahrzehnte in Eins verflochten und eine neue Kameradschaft stifteten, indem sie unser moralisches Leben aufs ernstlichste verstärkten und vertieften. Wir haben alle durch unseren Haß, den Haß auf das Schlechte, Verworfene, das schäbig Teuflische, das wir erlebten, diesen Haß, der heiß, unbedingt, unversöhn{26}lich und fast unerwartet aus uns hervorbrach, – unsere Liebe erfahren, die wir auch so recht nicht gekannt hatten, die Liebe zum Rechten, zum Guten und Menschenwürdigen. Wenn ich Veranstaltungen zeitgenössischen Wohlwollens für mich und mein Werk, wie dieser, nicht widerstehe und sie mir nicht aus natürlicher Bescheidenheit verbitte, so eben nur darum nicht, weil ich ihnen einen völlig überpersönlichen Sinn beilege und Kundgebungen darin sehe dieser neuen sozialen Kameradschaft im Haß auf das Widermenschliche, in der Liebe zu einem Guten, das nicht nur aesthetischer Art. Viel Ehre, viel Glück, daß man in meinem privaten Festtage einen Anlaß zu solcher Kundgebung sieht!
Meine Damen und Herren,
Wir haben uns an einer Reihe vortrefflicher Reden erfreut, Reden von einer heiter-gewandten Formvollendung, wie nur eine alte oratorische Kultur und Übung, der diskursive Geist der Demokratie sie zeitigt, und ich bin mir melancholisch bewußt, daß das Schlußwort, zu dem ich mich gemeldet habe, verurteilt ist, auf eine Anti-Climax hinauszulaufen. Aber es ist ja ganz unmöglich, daß wir auseinander gehen, ohne daß ein Wort des Dankes aus meinem Munde gekommen wäre für dieses schöne Fest, das die Nation-Associates uns bereitet haben, und dessen äußerer Anlaß mein jüngst begangener siebzigster Geburtstag ist.
Der äußere Anlaß – man kann es nicht genug betonen; und wenn ich an den glänzenden Reden dieses Abends etwas auszusetzen habe, so ist es nur dies, daß mein Name zu oft darin vorkam. Nie hätte ich dem Plan dieser Veranstaltung zugestimmt, wenn ich ihr nicht von Anfang an einen völlig überpersönlichen Sinn und Zweck hätte beilegen dürfen: den Sinn einer Kundgebung zu Ehren und zugunsten des liberalen Gedankens in Amerika, dessen klarster und vornehmster publizistischer Ausdruck die Zeitschrift ist, der wir diesen Abend danken: die »Nation« unter der klugen, begeisterten Leitung einer typisch amerikanischen und dabei doch seltenen, außerordentlichen Frau: Freda Kirchwey’s. Es ist mir selbstverständlich: der moralische wie auch der materielle Gewinn dieses Abends soll der »Nation« und ihrer Sache zugute kommen. Es ist ja die Sache der Freiheit, des Friedens, des sozialen Fortschritts, der Zusammenarbeit der Völker, mit einem Worte: die {28}gute Sache, die in diesem vielleicht entscheidenden Augenblick mehr als je der Stärkung und Anfeuerung bedarf, überall in der schwachen und für das Böse anfälligen Menschenwelt und auch in diesem Lande, meiner neuen Heimat, die so wenig wie die übrige Welt frei ist von der Bedrohung durch hemmende, dem Alten verbundene und an der Verhinderung des Fortschrittes interessierte Mächte.
Es ist ein großes, gutes und liebenswertes, ein zu allem Guten und Zukünftigen williges Volk, dieses Volk von Amerika; ich habe es in den sieben Jahren meines Aufenthaltes in diesem Lande kennen und ihm vertrauen gelernt und bin stolz, als Bürger von ihm aufgenommen zu sein. Es ist dieses Volk, das, unbetört von aller Gegenpropaganda, die ein anderes betäubt und irre geführt hätte, vier Mal dem großen Staatsmann die Macht anvertraut hat, den wir betrauern und nie aufhören werden, in Dankbarkeit zu betrauern: Franklin Roosevelt. Ich habe ihn gekannt, geliebt und verehrt, und ganz unwillkürlich und unvermeidlich wird auch diese meine kleine Dankesansprache zu einer Huldigung für ihn, der uns allen die Hoffnungen der Menschheit in einer großen Persönlichkeit verkörperte. Ich denke zurück an die erste Begegnung mit ihm, die schon zehn Jahre zurückliegt. Wir Flüchtlinge aus den dem Faszismus verfallenen Ländern fanden damals in den Ländern unseres Exils, so freundlich wir individuell aufgenommen sein mochten, geringes Verständnis für unsere Sorgen, unseren Gram, unseren Abscheu vor dem, was uns vertrieben hatte; was der Welt drohte, wenn diese Mächte dauerten und siegten, verstanden wenige damals; und nun, bei meinem ersten Besuch im Weißen Haus, begegnete ich einem Mann, der alles wußte, alles verstand, der vollkommen mit uns empfand, und dieser Eine war zufällig der mächtigste Mann der Welt. Das war ein ungeheurer Eindruck und eine ungeheuere Versicherung. {29}Der Gang der Dinge war damals nicht abzusehen, aber in dem Präsidenten der Vereinigten Staaten erkannte ich den geborenen Gegenspieler des europäischen Diktatoren-Typs, ausgestattet mit den Fähigkeiten der Massenlenkung, die jene zum Bösen benutzten und die er zum Guten zu nutzen entschlossen und berufen war. Hitler, das wußte ich, bedeutete den Krieg, und dieser Krieg würde sich bestimmt nicht auf Europa beschränken. Eines Tages mußte Amerika in ihn eintreten. Als ich, meine Damen und Herren, zum ersten Mal das Weiße Haus verließ, wußte ich, daß Hitler verloren sei.
Der europäische Krieg ist beendet, ein ungeheuerer Sieg ist erfochten, und Amerika, diese in tiefster Seele friedliebende große Demokratie, hat dabei streitbare Kräfte entwickelt, deren sie sich bis dahin kaum bewußt gewesen war, sie hat sich als militärische Macht allerersten Ranges, zu Land, zu Wasser und in der Luft, eigentlich erst recht entdeckt. Heute steht sie, neben Rußland, als die entscheidende Weltmacht da, und eine ungeheuere Verantwortung für die Zukunft der Menschheit ist diesem Lande zugefallen. Amerika steht am Scheideweg. Denn verhehlen wir es uns nicht: ein solches ungeheueres militärisches Potential bedeutet immer eine große Gefahr und eine große Versuchung. Sie kann gebraucht werden im alten egoistischen Geist der wirtschaftlichen Ausbeutung und Unterdrückung, das heißt im imperialistischen Geist, oder sie kann verstanden werden als Verpflichtung zur Führung und zum Dienst an der gemeinsamen Sache der Menschheit. Amerika steht am Scheideweg. Es ist sich des entscheidenden Charakters der Stunde bewußt und ist sich bewußt vor allem des Zusammenhanges zwischen innerer und äußerer Politik, der Tatsache, daß keine Führerschaft ins Neue und Zukünftige möglich ist ohne eine weise und behutsame Umgestaltung der inneren sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, ohne eine {30}Anpassung der Idee der Demokratie an die Forderungen der Zeit. Alles, was heute die Menschheit als ihre vom Weltgeist vorgeschriebene Aufgabe ins Auge faßt und ins Auge zu fassen gezwungen ist; die Conzeption ihrer Einheit, die Conzeption wirtschaftlicher Zusammenarbeit der Völker, einer ökonomischen und politischen Weltföderation, die der Ausdruck ist des Zusammenwachsens der nationalen Kulturen zu einer Weltcivilisation; alles dieses, was der politische Genius Roosevelts mit vorwegnehmender Intuition erkannte, und wozu die Conferenz von San Francisco den ersten, vorbereitenden Schritt bedeuten sollte, alles dies geht seinem Wesen nach weit hinaus über die vom Gedanken des souveränen Nationalstaates beherrschte und rein politische Formal-Demokratie des neunzehnten Jahrhunderts, des bürgerlichen Zeitalters.
Die Mächte, die im Inneren den sozialen Fortschritt, die Weiterentwicklung und Vervollkommnung der politischen Formal-Demokratie in eine wirtschaftliche Demokratie, einen demokratischen Sozialismus zu verhindern suchen, sind unvermeidlich dieselben, die damit auch die menschliche Führerschaft Amerikas hintertreiben und das Land in die Bahnen eines veralteten Imperialismus lenken. Man kennt die verführerischen und verwirrenden Argumente und Schlagworte, mit denen sie ihre reaktionäre Sache führen. Sie sprechen von Freiheit, aber sie meinen ihr Interesse. Sie sprechen von »Free enterprise«, ein slogan, der längst in einer durch Trusts und Monopole gebundenen Wirtschaft jeden Sinn verloren hat. Sie geben vor, die Rechte des Individuums zu verteidigen in einer technischen und wirtschaftlichen Welt-Situation, in der die Werte der Persönlichkeit nur noch durch freiwillige und rechtzeitige Zugeständnisse an die kollektivistischen Notwendigkeiten zu erhalten sind. Man kann sich ihren Widerstand gegen jede Schmälerung ihrer Vorrechte nicht zäh und ent{31}schlossen genug vorstellen und braucht nicht zu zweifeln, daß sie fähig wären, sich der gleichen Mittel zu bedienen, vor denen die europäische Reaktion nicht zurückgeschreckt ist, und in diesem Lande eine fürchterliche Wiederholung des Grauens zu veranstalten, für dessen Austilgung das Blut von so vielen von Amerikas besten Söhnen geflossen ist.
Aber ich glaube nicht an den Sieg der Repräsentanten des Alten, das durch den Wechsel der Zeiten zum Bösen geworden ist. Ich glaube an das amerikanische Volk und seine tiefe Freundlichkeit, seinen Willen zum Guten. Die amerikanische Geschichte, die im Vergleich mit den tragischen Verwicklungen der europäischen eine glückliche, von menschheitlichen Ideen besonnte Geschichte ist, bietet weit stärkere Garantien für die Vermeidung politischer und moralischer Verirrungen, wie die düstere Seelenlage Europas sie gezeitigt hat. Die ungeheuren natürlichen Hilfsquellen des Landes erlauben ihm ein furchtloses Verhältnis zum Experiment, berufen es zu der Rolle des Pioniers der Zukunft.
Der Glaube an Amerika und seine Führerschaft ist mir zur persönlichen Ehrensache geworden. Ich bin kein bloßer Gast mehr in diesem Lande, ich bin sein Bürger; ich sage »wir«, wenn ich von Amerika spreche, und ich sage es mit Ehrgeiz. Ich leide darunter, wenn »wir« den Anschein erwecken, als wollten wir den Fascismus, den wir geschlagen haben, im Grunde bewahren – als Bollwerk gegen die fällige Sozialisierung der Demokratie, vor der wir uns fürchten. Ich weiß, daß ein solcher gelegentlicher Anschein nicht nach dem Willen des amerikanischen Volkes ist, des Volkes Roosevelts, das nicht zurück will hinter die Demokratie, sondern vorwärts in ihrer Entwicklung und Erfüllung. Und nach dem Willen des Volkes wird es gehen.
Wenn wir diesen Saal verlassen, bestärkt in unserem Glauben an die Sache Amerikas, die Sache der Demokratie, der Frei{32}heit und des Friedens, bestärkt in dem Vorsatz, dieser Sache, ein jeder nach seinen Mitteln und Kräften weiter zu dienen, dann hat dieses Zusammensein seinen Zweck erfüllt. Viel Ehre, viel Glück für mich, daß mein privater Festtag als gute Gelegenheit zu einer solchen Herzstärkung betrachtet werden konnte!
Das Herz ist mir schwer, und schwer fällt es mir, zu schreiben. Bruno Frank ist tot, ein lieber, guter und um das Gute tief ernstlich bemühter Mensch, ein hochbedürftiger Schriftsteller, der Schätzenswertestes erreichte und in seiner Reife Schöneres noch zu geben versprach, ein Mann, dessen unbedingte Liebe und Treue, dessen rein bejahende und unerschütterliche Freundschaft und Hingebung eine Zierde meines Lebens waren. Ich möchte lieber in stillem Schmerz meinem Verlust, der Erinnerung an die lange Geschichte dieser Freund- und Kameradschaft nachhängen, in der er es niemals – und ich gewiß nur allzu oft – fehlen ließ, als Worte setzen. Aber es ist traurig genug, daß ich fern sein mußte, auf dieser einem eigenen Lebensfest geltenden und nicht gerade notwendigen Reise, als er schied; daß ich von seiner Hülle nicht Abschied nehmen, an seinem Sarge für ihn und seinen Wert nicht zeugen konnte. Über seinem schon geschlossenen Grabe wenigstens will ich das tun, so recht und so schlecht, wie die Umstände es erlauben, und sagen, daß ich ihm von Herzen gut war, daß ich ihn ehrte, daß ich ihn und seinen heiteren, zuverlässigen, freundlichen Beistand vermissen werde in den Jahren, die mir, dem zwölf Jahre Älteren, noch vorgeschrieben sein mögen.
Einmal konnte ich ihm Gutes tun: das war, als eine einflußreiche liberale Zeitung Deutschlands, in dem Zustande von Verwirrung und Vorbeugungsangst, von dem damals die große Presse des Landes schon befallen war, eine seiner besten Erzählungen, die »Politische Novelle«, eine ebenso moralisch tapfere und klarsichtige wie poetisch freie, rührend symbolische Dichtung, sinn- und ruchlos kritisch zerstört hatte. Damals sprang ich ein und stellte nach bestem Vermögen das {34}sündlich Verderbte öffentlich wieder her. Auf diesen Artikel, der ein Beispiel menschlich eingehender, positiver und förderlicher Kritik sein wollte, und worin ich Brunos Wesensbild in seiner Redlichkeit und seinem Ringen, seiner Sonntagskindlichkeit und seiner Melancholie zu geben versuchte, muß ich mich heute berufen, wo es mir an Ruhe und Kräften fehlt, ihm den Nekrolog zu schreiben, den ich unserer Freundschaft schuldig wäre. Ich habe damals von seinem Werk, soweit es vorlag, seiner schlichten, feinfühligen Verskunst, seiner lauteren und gesittungsvollen Prosa, der »Fürstin«, dem »Trenck« gesprochen. Aber noch nicht eingeschlossen war der farbenreiche, um die Varietäten des Schöpferischen aufregend wissende Cervantes-Roman, zu dessen Stockholmer Neu-Ausgabe ich ein Vorwort geschrieben habe; nicht eingeschlossen war der unter unseren Augen entstandene, in den Rang eines Meisterwerks reichende Roman von der »Tochter«, mit dem zärtlichen Bildnis seiner Frau, der Tochter der Massary, unserer Liesl. Und zu dem erstaunlichen Heft, mit dem soeben die »Neue Rundschau« ihr Leben wieder aufnahm, hat er noch, mir zum Geburtstag, das Einleitungskapitel eines Chamfort-Romanes beigesteuert, dessen Plan ich kannte und von dem ich überzeugt bin, daß er mit ihm sein Höchstes, Geistigstes, Vortrefflichstes gegeben hätte.
Er wuchs, er stieg, er, der glücklich Begabte, arbeitete mit unablässigem Ernst an sich und griff mit reinstem Ehrgeiz nach immer höheren Kränzen: Das machte mich stets unserer Freundschaft froh, die er, 35 Jahre ist es her, unternehmend inaugurierte, als er, enthusiastischer Jüngling, gesegnet mit der Gabe der Bewunderung, zu mir, in die erste Wohnung des jungen Ehemannes, kam. Bald war er selbst einer, und durch die Jahrzehnte und all ihr Geschehen hat der Zusammenhalt unserer Häuser, haben Nachbarschaft, vertraulicher Umgang, {35}literarischer Austausch fast ohne Unterbrechung gewährt: in München bis zum Ausbruch des Unsinns, dann im Exil, in Lugano, Zürich, seit Jahren nun schon an der Westküste hier, wo sich wie von selbst eine ganz verwandte Situation herstellte, wie im Münchener Herzogpark. Ich werde zurückkehren, und ich werde ihn nicht mehr finden.
Hätte die Republik in Deutschland und damit der heitere Glanz seines Lebens als gefeierter Bühnenautor und atmosphärisch begünstigter Erzähler gedauert, gewiß hätte sein organisches System, obgleich von Anfälligkeit niemals frei, länger ausgehalten. Eine Neigung zur Gicht trat zeitig auf, auch ein nervöses Asthma, das sein Herz ermüdete. Die Entwurzelung, anfangs als Episode verstanden, nahm mehr und mehr Endgültigkeitscharakter an. Das deutsche Elend währte zu lange, fraß zu tief; es zehrte an ihm wie an uns allen. Nicht daß sein Leben das angeborene Freundlichkeitsgepräge ganz verloren hätte: auch die Fremde, deren Bürger er wurde, wollte ihm wohl; seine Bücher erschienen in Übersetzungen, der Film bediente sich seiner Dialog- und Erfindungskunst. Er hielt sich tapfer, froh und tätig, überzeugt von des verhaßten Greuels Untergang, den er noch mit Augen sah. Aber ist dieser Untergang jemandem von uns mehr, als eine verspätete, überholte, arg getrübte Genugtuung? Das Ausbleiben der deutschen Selbstbefreiung, von der man geträumt, die völlige Zerrüttung und Entfremdung der Heimat, das wilde Geheimnis ihres Seelenzustandes nach diesem Kriege, die dunkle Frage, ob es dort überhaupt noch Willen und Fähigkeit gäbe, die Sprache seiner gütigen Menschlichkeit zu verstehen, – das alles und so manches andere Fragwürdige, ja Entmutigende im allgemeinen politischen Aspekt war nicht danach angetan, ihn zu heben, zu halten. Er begann, zu versagen. Eine Coronar-Trombose, vor Jahresfrist, brachte ihn schon dem Tode nahe. Er überstand sie, {36}verurteilt, fortan mehr oder weniger als Patient, mit unerfreulicher Vorsicht, zu leben. Eine lange Zeit unerklärliche und quälende Krankheit seiner geliebten Gefährtin setzte seinem beschädigten Herzen weiter zu. Es kam die Lungenentzündung, von der er noch einmal künstlich und scheinbar genaß. Sie war schon die Todeskrankheit. Über Nacht nun, im Schlaf, unvermerkt, wie es scheint, und nicht ohne sein stilles Einverständnis, wie ich glaube, ist er erloschen.
Mir werden deine Liebe und Treue, dein reiches Gespräch, dein inniges Zuhören, dein kluger und produktiver Kommentar fehlen, guter Bruno, solange ich noch atme. Dich zu beklagen, ist nicht viel Grund.
»Zum Scheiden du, zum Bleiben ich erkoren,
Gingst du voran – und hast nicht viel verloren.«
Lake Mohonk, Ulster County
den 24. Juni 1945
Thomas Mann
Chicago, June 29, 1945.
To the Editor of PM
New York City.
Dear Sir:
In the excellent interview by Frank Harriot, »Thomas Mann talks on Germany« which you published in your issue of June 18, there is a passage which could give occasion to an unpleasant misunderstanding. Even the best interviewer cannot be expected to report all the details and shades of a conversation. He must necessarily, at least to some extent, simplify and condense. In the particular case I am sure that, while Mr. Harriot and I were speaking about the difficulties of translating literary works from the original language into another, I did not omit to mention the extraordinary fortunate situation in which I personally happen to find myself. Indeed, I have repeatedly expressed on many an occasion my thankfulness and satisfaction for the good luck that has allowed me to entrust my books to the care of an exceptional translator, Mrs. Helen Lowe Porter. Her gift of tongues is as philologically conscientious as it is artistically inspired, and without her help it would have been impossible for my books to reach audiences as relevant and as favorably disposed as those to which Mrs. Lowe Porter conveyed with so passionate brilliancy their intentions and meanings. True, I said that to translate artistic prose into another language is as difficult as to translate poetry. This was, however, a general and theoretical statement, with whose truthfulness I know full well that Mrs. Lowe Porter fully agrees.
{38}I shall appreciate it very much if you will publish this clarification, to which I want to add once more my expression of thanks to Mr. Frank Harriot and to PM.
Sincerely,
Thomas Mann.
Ladies and gentleman, this is a real adventure and a very risky one. I simply rose for a speech without having any idea, what the outcome may be. It is my first improvisation in English – I never did it before; and my address – or whatever it may be called, is bound to become a terrific anti-climax after the masterly and thoughtful speeches we listened to. The situation is made the more serious by the fact, that my English rapidly deterriorates in the course of the day. If I could have spoken to you in the morning everythink would be much more favorable. But the decline of my English begins already at one o’clock in the afternoon, and exactly at this hour, after dinner, it is approaching its lowest point.
How that may be, it is unthinkable that we should part tonight without a word of thanks from my lips for this charming occasion arranged for us by outstanding members of the University of Chicago and other friends, and for this simple purpose even my linguistic possibilities should be sufficient.
I think, this is a wonderful evening, and I personally enjoyed it immensely. We had a testimonial dinner in New York, too, a very official one, in the big hall of the Waldorf Astoria, a political dinner with a Secretary of State and a member of the Supreme Court and a Spanish minister and crowded galleries, and it was all very solemn and high-brow. This is different, this is nice and intimate and gemütlich, a gathering of friends, adorned by the sensitiv and tasteful hands of a highly gifted artist, Miss Joan Barnes who composed so excellent illustrations of my Joseph novels and together with James Frank, the great scientist, with the most efficient support of Mrs. Mulli{40}can who contributed so much to the success of this evening. So art and science cooperated to make me feel happy, and you may believe me that I am deeply moved.
I am gratefully receptiv for all your kindniss, but at the same time I have the distinct feeling that you are bestowing much to much honor on me. I always did and said and wrote only what was natural to be; and because it was natural, it was easy, even when it was difficult. For that I see no reason to praise me.
If I am receiving to many signs of sympathy at the occasion of my entrance into the patriarchal age, – I think that has littly to do with my purely literary, artistic achievements. Far more it is the result of a common experience that very definitely deepened and intensified the moral life of all of us. It was the experience of evil and of our hatred of evil, a hatred which we had not really known, which unexpectedly and surprisingly exploded out of our hearts. But this unknown hatred was only the reverse-side of our love, of which we had not been aware either, of our love for the good, for human decency, for such simple and rather trivial things as freedom and justice and truth. This, my friends, is a very remarkable event, which will have important consequences for our future life, for the devellopment of art and literature. Each time, when I am questioned by an interviewer about the auspices of art in literature in the decades to come, I tell him: This is the decisive thing: a new and experienced distinction between good and evil; another words: a new religious feeling will dominate the artistic and spiritual life of the future. Purely aesthetic values will not be of the first importance and dignity any longer; we are entering a moral, a religious epoch, an epoch of passionate distinction between good and evil.
That means a certain simplification of the spirit, created and provoced by the crisis of humanity we are going through. At {41}the end of the 19. century there was in the intellectual circles of Paris a slogan for reactionary snobs, new catholics and so on: »Piété sans la foi«. Let us transfer this frivolous aesthetic slogan into the moral sphere of our days: let us be pious even if we cannot believe. Even if we are sceptics and if we do not believe in the capacity of the human race for betterment, for the good – let us behave, let us act and speak as if a new and better world, a world of freedom and justice could come into existence. Perhaps, then, we will make at least some steps forward to a perfection which is of course never attainable, perhaps, then, in spite of all human weakness we will come a little closer to the fulfillment of the will of God.
Einleitung zu einem amerikanischen Auswahlbande Dostojewskischer Erzählungen
Die Aufforderung der Dial Press, zu einer Ausgabe von Dostojewskis kürzeren Romanen, den sechs Erzählungen, die dieser Band umfaßt, die Einleitung zu schreiben, hatte sogleich viel Anziehendes für mich. Es liegt etwas Beruhigendes in der verlegerischen Mäßigung, von der diese Ausgabe bestimmt ist, etwas Ermutigendes für den Kommentator, der davor zurückschrecken, um nicht zu sagen: zurückschaudern würde, den ganzen ungeheuerlichen Kosmos des Dostojewski-Werkes zum Gegenstand seiner Betrachtung und Besprechung zu machen, und der wohl überhaupt in diesem Leben nicht mehr dazu gelangt wäre, dem großen Russen seinen kritischen Tribut darzubringen, ohne diese Gelegenheit, es sozusagen mit leichter Hand, auf zugemessenem Raum, zu bestimmtem Zweck und mit jener Selbstbeschränkung zu tun, die der Zweck ihm wohltätig vorschreibt.
Merkwürdig genug: mein Schriftsteller-Leben hat ausführliche Studien über Tolstoi sowohl wie über Goethe mit sich gebracht, – mehrere über jeden von ihnen. Über zwei andere Bildungserlebnisse, denen ich nicht weniger schuldig bin, die mindestens ebenso tief meine Jugend erschütterten und die zu erneuern und zu vertiefen meine höheren Jahre nicht müde geworden sind, habe ich nie zusammenhängend geschrieben: über Nietzsche nicht und nicht über Dostojewski. Ich bin den Nietzsche-Aufsatz schuldig geblieben, den Freunde oft von mir gefordert haben, und der auf meinem Wege zu liegen schien. Und nur momentweise, rasch wieder verschwindend, {43}steigt in meinen Schriften das »tiefe, verbrecherische Heiligenantlitz Dostojewskis« (dies war einmal mein Ausdruck) empor. Woher dies Ausweichen, dies Vermeiden und Schweigen – im Gegensatz zu der gewiß unzulänglichen, aber freudigen Beredsamkeit, die die Größe jener beiden anderen Meister und Sterne mir erweckte? Ich weiß es wohl. Vertrauliche Huldigungen, enthusiastisch und mit zärtlicher Ironie durchsetzt, wurden mir leicht vor den Bildern der Göttlichen und Gesegneten, der Kinder der Natur in ihrer hohen Einfalt und prangenden Gesundheit: dem autobiographischen Aristokratismus des Bildners einer majestätischen persönlichen Kultur, Goethes, und der epischen Bärenkraft, der ungeheueren Naturfrische des »großen Schriftstellers des Russenlandes«, Tolstois, mit seinen gewaltig ungeschickten und nie gelungenen Versuchen zur moralistischen Vergeistigung seiner heidnischen Leiblichkeit. Meine Scheu, eine tiefe, mystische, zum Schweigen anhaltende Scheu, beginnt vor der religiösen Größe der Verfluchten, vor dem Genie als Krankheit und der Krankheit als Genie, vor dem Typus des Heimgesuchten und Besessenen, in welchem der Heilige und der Verbrecher Eines werden …
Vom Dämonischen, so fühle ich, soll man dichten, nicht schreiben. Es möge, tunlichst in humoristischer Verhüllung, aus der Tiefe eines Werkes reden; ihm kritische Essays zu widmen, erscheint mir, gelinde gesagt, als Indiskretion. Vielleicht, ja wahrscheinlich, ist das nur eine Beschönigung meiner Trägheit und Feigheit. Es ist unvergleichlich leichter und zuträglicher, über die göttlich-heidnische Gesundheit zu schreiben, als über die heilige Krankheit. Über jene, die gesegneten Kinder der Natur und ihre Naivität nämlich, kann man sich amüsieren, über die Kinder des Geistes, die großen Verfluchten und Sünder, die heiligen Kranken aber nicht. Es wäre mir ganz unmöglich, über Nietzsche und Dostojewski zu scherzen, wie {44}ich es gelegentlich, im Roman, über das egoistische Sonntagskind Goethe und, im Essay, über die Riesentölpelei von Tolstois Moralismus getan habe. Woraus hervorgeht, daß meine Ehrfurcht vor den Vertrauten der Hölle, den großen Religiösen und Kranken im Grunde weit tiefer – und nur darum schweigsamer – ist als die vor den Söhnen des Lichts. Es ist gut, daß sie einmal von außen zu einiger Gesprächigkeit – einer praktisch begrenzten und gezügelten jedoch – angehalten wird.
»Vom bleichen Verbrecher« – ich kann diese Kapitel-Überschrift im »Zarathustra«, einem notorisch unter krankhafter Inspiration stehenden Genie-Werk, nicht lesen, ohne daß die leidvoll-unheimliche Physiognomie Fjodor Dostojewskis, wie wir sie aus einer Reihe guter Bilder kennen, mir erschiene. Mehr noch, ich hege die Vermutung, daß sie dem trunkenen Migräniker von Sils Maria selbst dabei vorgeschwebt hat. Denn Dostojewskis Werk spielte eine außerordentliche Rolle in seinem Leben; er erwähnt ihn oft, in den Briefen wie in seinen Büchern (während ich nicht wüßte, daß er Tolstois auch nur mit einem Worte gedächte); er nennt ihn den tiefsten Psychologen der Weltliteratur und, aus einer Art von bescheidenem Enthusiasmus, seinen »großen Lehrer«, – obgleich in Wahrheit kaum von Schülerschaft in seinem Verhältnis zu dem östlichen Bruder im Geiste die Rede sein kann. Dies vielmehr eben waren sie: Brüder im Geiste und über alles Mittelmaß ins Tragisch-Groteske hinaussteigende Schicksalsgenossen, trotz grundlegender Unterschiede ihrer Herkunft und Überlieferung, – der deutsche Professor, dessen luziferisches Genie sich (unter Krankheits-Stimulation) aus den Voraussetzungen klassischer Bildung, philologischer Gelehrsamkeit, der idealistischen Philosophie und des musikalischen Romantismus entwickelte, und der byzantinische Christ, der von vornherein mancher humanistischen Hemmung entbehrte, die jenen be{45}dingte, und gelegentlich als der »große Lehrer« empfunden werden konnte, einfach weil er nicht deutsch war (denn aus seinem Deutschtum loszukommen war Nietzsches heftigstes Bestreben); weil er als Befreier aus moralischer Bürgerlichkeit wirkte und den Willen zum psychologischen Affront, zum Verbrechen der Erkenntnis bestätigte.
Es scheint unmöglich, von Dostojewskis Genius zu sprechen, ohne daß das Wort »verbrecherisch« sich aufdrängte. Der bedeutende russische Kritiker Mereschkowski gebraucht es in seinen verschiedenen Studien über den Dichter der »Karamasows« ein über das andere Mal, und zwar in doppeltem Sinn: indem er es einmal auf Dostojewski selbst und die »verbrecherische Neugier seiner Erkenntnis« bezieht, das andere Mal auf das Objekt dieser Erkenntnis, das menschliche Herz, dessen verborgenste und verbrecherischste Regungen jener bloßlege. »Wenn man ihn liest«, sagt er, »erschrickt man manchmal vor seinem Allwissen, vor diesem Eindringen in ein fremdes Gewissen. Wir begegnen bei ihm unseren eigenen geheimen Gedanken, die man nicht nur einem Freunde, sondern auch sich selbst niemals eingestehen würde.« Dabei aber handelt es sich nur scheinbar um ein objektives und gleichsam ärztliches Forschen und Erraten, – in Wirklichkeit vielmehr um psychologische Lyrik im weitesten Sinn dieses Wortes, um Bekenntnis und ein schauerliches Gestehen, um die schonungslose Enthüllung der eigenen verbrecherischen Gewissenstiefen, – und daher die furchtbare moralische Wucht, die religiöse Schrecklichkeit von Dostojewskis Seelenkunde. Man braucht nur Proust und die psychologischen nouveautés, Überraschungen und Bijouterien, von denen sein Werk wimmelt, zum Vergleich heranzuziehen, um des Unterschiedes im Akzent, in der moralischen Färbung gewahr zu werden. Die psychologischen Funde, Neuheiten und Keckheiten des Franzosen sind das rei{46}ne Amüsement, verglichen mit den bleichen Offenbarungen Dostojewskis, eines Menschen, der in der Hölle war. Hätte Proust den »Raskolnikow« (»Schuld und Sühne«) schreiben können, diesen größten Kriminal-Roman aller Zeiten? An Wissen fehlte es ihm nicht dazu, aber an Gewissen … Was Goethe betrifft, der auch ein Psycholog ersten Ranges war, vom »Werther« bis zu den »Wahlverwandtschaften«, so erklärt er frank und frei, er habe nie von einem Verbrechen gehört, dessen er selbst sich nicht fähig gefühlt hätte. Das ist das Wort eines Zöglings pietistischer Gewissenserforschung; aber das Element griechischer Unschuld überwiegt darin. Es ist ein gelassenes Wort, – eine Herausforderung an die bürgerliche Tugend, das ist wahr, aber eher kühl und stolz als christlich zerknirscht, mehr kühn als im religiösen Sinne tief. Tolstoi war wesentlich seinesgleichen, trotz aller christlichen Velleitäten. »Ich habe nichts vor den Menschen zu verheimlichen«, pflegte er zu sagen; »mögen sie alle wissen, was ich tue!« Man vergleiche damit die Geständnisse des Helden von »Memoiren aus einem Kellerloch«, dort, wo er von seinen geheimen Ausschweifungen spricht. »Schon damals«, sagt er, »trug ich in meinem Innern die Liebe zur Heimlichkeit. Ich fürchtete mich entsetzlich, daß man mich sehen, mir begegnen, mich erkennen könnte.« In seinem Leben, das letzten Freimut, letzte Preisgabe vor den Augen der Welt nicht ertrug, herrscht das Geheimnis der Hölle.
Es ist kein Zweifel, daß allezeit das Unterbewußtsein und selbst das Bewußtsein dieses gigantischen Schöpfers von einem schweren Schuldgefühl, dem Gefühl des Verbrecherischen belastet – und daß dies Gefühl keineswegs nur hypochondrischer Art war. Es hing zusammen mit seiner Krankheit, die die »heilige« Krankheit war, die mystische katexochen, nämlich die Epilepsie. Er litt daran von jungauf, aber durch den Prozeß, {47}den man ihm, sehr ungerechtfertigter Weise, im Jahre 1849, als er achtundzwanzigjährig war, wegen politischer Verschwörung machte, und durch den Choc des Todesurteils (er stand schon am Exekutionspfahl und sah dem Tod ins Auge, als, im letzten Augenblick, die Begnadigung zu vierjähriger Zwangsarbeit in Sibirien kam) wurde die Krankheit verhängnisvoll verstärkt, die nach seiner Meinung mit der Erschöpfung seiner geistigen und körperlichen Kräfte, mit Tod oder Wahnsinn enden mußte. Die Anfälle traten durchschnittlich einmal im Monat, aber auch öfter, zuweilen sogar zweimal in der Woche auf. Er hat sie oft beschrieben: in direkter Mitteilung und auch, indem er das Leiden auf psychologisch bevorzugte Figuren seiner Romane, den fürchterlichen Smerdjakow, den Helden des »Idioten«, Fürst Myschkin, den Nihilisten und Ekstatiker Kirillow in den »Dämonen« übertrug. Zwei Charakteristika sind nach seiner Schilderung der Fallsucht eigen: das unvergleichliche Gefühl des Entzückens, der inneren Erleuchtung, der Harmonie, der höchsten Wonne, das für einige Augenblicke dem mit einem unartikulierten, nicht mehr menschlichen Schrei einsetzenden Krampfanfall vorhergeht, – und der Zustand furchtbarer Depression und tiefen Grames, der geistigen Zerrüttung und Öde, der ihm folgt. Diese Reaktion scheint mir für das Wesen der Krankheit noch kennzeichnender als die Verzückung, die den Anfall einleitet. Diese beschreibt Dostojewski als so stark und süß, »daß man für die Seligkeit einiger solcher Sekunden zehn Jahre seines Lebens oder auch das ganze hingeben könnte«. Der nachfolgende extreme Katzenjammer aber bestand nach dem Bekenntnis des großen Kranken darin, daß er sich »als Verbrecher fühlte«, daß es ihm schien, als ob eine unbekannte Schuld, eine schwere Untat auf ihm lastete.
Ich weiß nicht, wie die Nervenärzte über die »heilige Krankheit« denken, aber nach meiner Meinung hat sie ihre Wurzeln {48}unverkennbar im Sexuellen und ist eine wilde und explosive Erscheinungsform seiner Dynamik, ein versetzter und transfigurierter Geschlechtsakt, eine mystische Ausschweifung. Ich wiederhole, daß mir dafür der nachfolgende Reue- und Verelendungszustand, das geheimnisvolle Schuldgefühl, noch beweisender scheint als die vorangehenden Sekunden einer Wonne, »für die man sein Leben hingeben könnte«. Gewiß ist, daß, so sehr die Krankheit Dostojewskis Geisteskräfte bedrohte, sein Genie aufs engste mit ihr verbunden und von ihr gefärbt ist, daß seine psychologische Initiiertheit, sein Wissen um das Verbrechen und um das, was die Apokalypse »satanische Tiefen« nennt, vor allem seine Fähigkeit, geheimnisvolle Schuld zu suggerieren und sie den Hintergrund der Existenz seiner zum Teil entsetzlichen Geschöpfe bilden zu lassen, untrennbar mit ihr zusammenhängen. So gibt es in der Vergangenheit Swidrigailows (im »Raskolnikow«) »eine kriminelle Sache mit einem Beigeschmack von tierischer und sozusagen phantastischer Roheit, für die er mit größter Wahrscheinlichkeit nach Sibirien geschickt worden wäre«. Es bleibt der mehr oder weniger willigen Phantasie des Lesers überlassen, zu erraten, um was es sich handelt: allem Anschein nach um ein Vergehen auf dem Gebiet der Wollust, wahrscheinlich um eine Kinderschändung, – denn das ist auch das Geheimnis oder ein Stück des Geheimnisses im Leben jenes eisigen und verachtungsvollen, von schwächeren Naturen im Staube angebeteten Herrenmenschen Stawrogin in den »Dämonen«, vielleicht der unheimlich anziehendsten Figur der Weltliteratur. Ein ungedruckter Abschnitt aus diesem Roman ist vorhanden, die »Beichte Stawrogins«, worin dieser unter anderem die Schändung eines kleinen Mädchens erzählt. Nach Mereschkowski soll es ein gewaltiges Bruchstück sein, voll eines furchtbaren, die Grenzen der Kunst überschreitenden Realismus. Offenbar hat dies {49}schändliche Vergehen seine moralische Phantasie dauernd beschäftigt. Man will wissen, daß er eines Tages seinem berühmten Kollegen Turgenjew, den er seiner westeuropäischen Sympathien wegen haßte und verachtete, eine eigene Versündigung dieser Art einbekannt habe, – eine sicherlich erlogene Beichte, mit der er den klar-humanen und gänzlich unsatanischen Turgenjew nur erschrecken und verwirren wollte. In Petersburg, als ein Mann von einigen vierzig und gefeiert als Verfasser von einem Buch, über das der Zar selbst geweint hatte, erzählte er einmal im Kreis einer Familie, in dem sich Kinder, ganz junge Mädchen, befanden, von einem dichterischen Plan seiner Jugend, einem Roman, worin ein Gutsbesitzer, ein wohlsituierter, ehrbarer und behaglicher Mann, sich plötzlich erinnern sollte, daß er vor zwanzig Jahren einmal, nach einer durchzechten Nacht, von betrunkenen Freunden aufgehetzt, ein zehnjähriges Mädchen vergewaltigt hatte.
»Fjodor Michailowitsch!« rief die Mutter des Hauses, indem sie die Hände über dem Kopf zusammenschlug. »Haben Sie doch Erbarmen! Die Kinder hören ja zu!«
Ein befremdlicher Zeitgenosse muß er schon gewesen sein, dieser Fjodor Michailowitsch. –
Nietzsches Krankheit war nicht die Fallsucht, obgleich man sich den Verfasser des »Zarathustra« und des »Antichrist« sehr wohl als Epileptiker vorstellen kann. Er teilte das Schicksal vieler Künstler und im besonderen auffallend vieler Musiker (unter diese kann man ihn ja gewissermaßen rechnen): er ging an progressiver Paralyse zugrunde, einem Leiden, das klar und eindeutig sexueller Herkunft ist, da längst die Wissenschaft ein Ergebnis luetischer Ansteckung darin erkannt hat. Unter dem naturalistisch-medizinischen Gesichtswinkel angeschaut, einer freilich sehr beschränkten Perspektive, ist Nietzsches geistige Entwicklung nichts anderes als die Geschichte einer {50}paralytischen Enthemmung und Entartung, – das heißt des Hinaufgetriebenwerdens aus hochbegabter Normalität in eisige und groteske Sphären tödlicher Erkenntnis und moralischer Vereinsamung, einem entsetzlichen und verbrecherischen Grade des Wissens, für den der zarte und gütige, in jedem Sinn auf Schonung angewiesene Mann garnicht geboren, sondern zu dem er, wie Hamlet, nur berufen war.
»Verbrecherisch« – ich wiederhole das Wort, um die psychologische Verwandtschaft der Fälle Nietzsche und Dostojewski zu kennzeichnen. Nicht umsonst fühlte jener zu diesem sich so mächtig hingezogen, daß er ihn seinen »großen Lehrer« nannte. Der Exzeß, die trunkene Entfesselung der Erkenntnis, dazu ein religiöser, i.e. satanischer Moralismus, der sich bei Nietzsche Anti-Moralismus nannte, ist ihnen gemeinsam. Das mystische Schuldbewußtsein des Epileptikers, wovon wir hörten, hat Nietzsche wohl nicht gekannt. Aber daß sein persönliches Lebensgefühl ihn mit dem des Verbrechers vertraut machte, geht aus einem seiner Aphorismen hervor, den ich im Augenblick nur nicht auffinden kann, an den ich mich aber bestimmt erinnere. Er sagt darin, daß jede geistige Absonderung und Entfremdung vom bürgerlich Anerkannten, jede denkerische Selbständigkeit und Rücksichtslosigkeit der Existenzform des Verbrechers verwandt sei und erlebnismäßigen Einblick in sie gewähre. Ich finde, man darf weitergehen und sagen, daß überhaupt jede schöpferische Originalität, jedes Künstlertum im weitesten Sinn des Wortes das tut. Es war der französische Maler und Bildhauer Degas, der die Äußerung tat, ein Künstler müsse an sein Werk in derselben Verfassung herangehen, in der der Verbrecher seine Tat begehe.
»Es sind die Ausnahme-Zustände«, hat Nietzsche selbst gesagt, »die den Künstler bedingen: alle die mit krankhaften Erscheinungen tief verwandt und verwachsen sind: sodaß es {51}nicht möglich scheint Künstler zu sein und nicht krank zu sein.« – Der deutsche Denker hat den Charakter seiner Krankheit wahrscheinlich nicht gekannt, aber genau gewußt, was er ihr verdankte, und seine Schriften, die Briefe sowohl wie das Werk, sind voll von heroischen Lobpreisungen des Wertes der Krankheit für die Erkenntnis. Der Paralyse ist es eigen, daß sie, vermutlich durch Hyperämie der ergriffenen Gehirnteile, Wellen rauschhaften Glücks- und Kraftgefühls, einer subjektiven Erhöhung der Lebenskräfte und einer tatsächlichen, wenn auch, ärztlich gesprochen, pathologischen Steigerung der produktiven Leistungsfähigkeit mit sich bringt. Bevor sie ihr Opfer in geistige Nacht versenkt und tötet, spendet sie ihm trügerische – im Sinne der Gesundheit und der Normalität trügerische – Erfahrungen der Macht und souveränen Leichtigkeit der Erleuchtung und beseligenden Inspiriertheit, die ihn mit Schauern der Ehrfurcht vor sich selbst, mit der Überzeugung erfüllen, so etwas sei seit Jahrtausenden nicht dagewesen, und ihn sich als ein göttliches Mundstück, als ein Gefäß der Gnade, ja selber als einen Gott empfinden lassen. Wir haben Beschreibungen solcher euphorischen Heimgesuchtheit und der Überwältigung durch die Inspiration in den Briefen Hugo Wolfs, bei dem Perioden der geistigen Leere und künstlerischen Impotenz darauf zu folgen pflegten. Die großartigste Schilderung aber der paralytischen Erleuchtung findet sich, ein stilistisches Glanzstück, in Nietzsches »Ecce Homo«, im 3. Abschnitt des Kapitels über den »Zarathustra«. »Hat jemand«, fragt er, »Ende des neunzehnten Jahrhunderts einen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten? Im andern Fall will ich’s beschreiben.« Man sieht, er empfindet sein Erlebnis als etwas Atavistisches, Dämonisch-Rückschlägiges, anderen, »stärkeren« und gottnäheren Zuständen der Menschheit Angehöriges und aus den psychi{52}schen Möglichkeiten unserer schwächlich-vernünftigen Epoche Herausfallendes. Und dabei beschreibt er »in Wahrheit« – aber was ist Wahrheit: das Erlebnis oder die Medizin? – einen verderblichen Reizungszustand, der dem paralytischen Kollaps höhnend vorangeht.
Wahrscheinlich ist seine Konzeption der »Ewigen Wiederkunft«, auf die er so ungeheures Gewicht legte, ein Produkt der Euphorie, intellektuell wenig kontrolliert und nicht einmal sein Eigentum, sondern eine Reminiszenz. Auf die Tatsache, daß der Gedanke des »Übermenschen« bereits bei Dostojewski vorkommt, nämlich in den Reden des vorerwähnten Epileptikers Kirillow in den »Dämonen«, hat schon Mereschkowski hingewiesen. »Dann wird ein neuer Mensch sein«, sagt Dostojewskis nihilistischer Seher, »alles wird neu werden. Die Geschichte wird in zwei Abschnitte zerfallen: vom Gorilla bis zur Vernichtung Gottes, von der Vernichtung Gottes bis zur physischen Umwandlung der Erde und des Menschen«, – also bis zur Erscheinung des Menschgottes, des Übermenschen. – Aber unbeachtet scheint mir geblieben zu sein, daß sich auch die Idee der Ewigen Wiederkehr bei Dostojewski findet und zwar in den »Karamasows«, in Iwans Gespräch mit dem Teufel. »Ja, du denkst immer an unsere jetzige Erde!« sagt der Teufel. »Aber unsere jetzige Erde hat sich vielleicht selber billionenmal wiederholt; nun, sie ward altersschwach, sie vereiste, sprang entzwei, fiel auseinander, zersetzte sich in ihre Elemente, wiederum war da das Wasser ›über dem Festen‹, darauf wiederum der Komet, wiederum die Sonne, wiederum aus der Sonne die Erde – diese Entwicklung wiederholt sich ja vielleicht schon unendlich oft, und alles auf eine und dieselbe Weise bis zum kleinsten Strichelchen … das ist ja die allerunanständigste Langeweile!«
Dostojewski, durch den Mund des Teufels, nennt »unanständigste Langeweile«, was Nietzsche mit dionysischer Beja{53}hung segnet und wozu er sein »denn ich liebe dich, o Ewigkeit!« spricht. Aber der Gedanke ist derselbe, und während ich im Falle des Übermenschen an geistesbrüderliche Koinzidenz glaube, bin ich geneigt, die »Ewige Wiederkehr« für eine Lesefrucht, eine unbewußte euphorisch gefärbte Erinnerung an Dostojewski zu halten.
Übrigens mag das ein chronologischer Irrtum von mir sein; ich überlasse den Fall den Literarhistorikern zur Prüfung. Worauf es mir ankommt, ist erstens ein gewisser Parallelismus im Denken der beiden großen Kranken und ferner das Phänomen der Krankheit als Größe oder der Größe als Krankheit, – es ist die Verschiedenheit der Perspektiven, unter der die Krankheit gesehen werden kann: als Lebensminderung oder als Lebenssteigerung. Vor der Krankheit als Größe, der Größe als Krankheit erweist der bloß medizinische Gesichtspunkt sich als philiströs und unzulänglich, zum mindesten als einseitig-naturalistisch: die Sache hat ihre geistige und kulturelle Seite, die mit dem Leben selbst und seiner Erhöhung, seinem Wachstum zu tun hat, und auf die der bloße Biologe und Mediziner sich nur mangelhaft versteht. Wir wollen es aussprechen: Eine Humanität reift heran oder stellt sich aus der Vergessenheit wieder her, die den Begriff des Lebens und seiner Gesundheit der Biologie, die ein besonderes, ein ausschließliches Anrecht darauf zu haben glaubt, aus den Händen nimmt und ihn auf freiere sowohl wie frömmere, vor allem auf wahrheitsgemäßere Weise zu verwalten sich anheischig macht. Denn der Mensch ist kein bloß biologisches Wesen.
Krankheit – vor allen Dingen kommt es ja darauf an, wer krank, wer wahnsinnig, wer epileptisch oder paralytisch ist: ein Durchschnittsdummkopf, bei dem die Krankheit des geistigen und kulturellen Aspektes freilich entbehrt, – oder ein Nietzsche, ein Dostojewski. In ihren Fällen kommt bei der Krank{54}heit etwas heraus, was für das Leben und seine Entwicklung wichtiger und förderlicher ist als irgend eine ärztlich approbierte Normalität. Die Wahrheit ist, daß ohne das Krankhafte das Leben seiner Lebtage nicht ausgekommen ist, und es gibt schwerlich einen dümmeren Satz, als den, daß »aus Krankem nur Krankes kommen kann«. Das Leben ist nicht zimperlich, und man mag wohl sagen, daß schöpferische, Genie spendende Krankheit, Krankheit, die hoch zu Roß die Hindernisse nimmt, in kühnem Rausch von Fels zu Felsen sprengt, ihm tausendmal lieber ist, als die zu Fuße latschende Gesundheit. Das Leben ist nicht heikel, und irgend welchen moralischen Unterschied zwischen Gesundheit und Krankheit zu machen, liegt ihm sehr fern. Es ergreift das kühne Krankheitserzeugnis, verspeist, verdaut es, und wie es sich seiner nur annimmt, so ist’s Gesundheit. Eine ganze Horde und Generation empfänglich-kerngesunder Buben stürzt sich auf das Werk des kranken Genies, des von Krankheit Genialisierten, bewundert, preist, erhebt es, führt es mit sich fort, wandelt es unter sich ab, vermacht es der Kultur, die nicht vom hausbackenen Brote der Gesundheit allein lebt. Auf den Namen des großen Kranken werden sie alle schwören, die dank seiner Tollheit es nicht mehr nötig haben, toll zu sein. Von seiner Tollheit werden sie in Gesundheit zehren, und in ihnen wird er gesund sein.
{55}SchwächeLebenwie viel von Krankhaftem er auf sich nehmen und überwinden kannmachengroßen