Dr. Martin Dornes
Die Seele des Kindes
Entstehung und Entwicklung
FISCHER E-Books
Martin Dornes, geb. 1950, promovierte in Soziologie, habilitierte sich in psychoanalytischer Psychologie und arbeitete in Psychiatrie, Psychosomatik, Sexualmedizin und Medizinischer Psychologie. Von 2002 bis 2014 war er Mitglied im Leitungsgremium des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Im Fischer Taschenbuch Verlag ist u.a. von ihm erschienen ›Der kompetente Säugling‹ (16. Aufl. 2015), ›Die emotionale Welt des Kindes‹ (6. Aufl. 2014), ›Die Modernisierung der Seele. Kind-Familie-Gesellschaft‹ (2012), sowie zuletzt ›Macht der Kapitalismus depressiv?‹ (2016).
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Im Zeitalter von Genetik und Hirnforschung droht der Psychologie die Gefahr, unter die Räder einer naturalistischen Konzeption des Menschen zu geraten. Es ist jedoch ein zentrales Merkmal des Menschen, daß er sich nicht für die Gehirne oder Gene seiner Mitmenschen interessiert, sondern für ihre Geüfhle und Wünsche. Die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern ist in erheblichem Maße von den psychologischen Einstellungen ihrer Bezugspersonen zu ihnen abhängig, und Kinder möchten verstehen, was andere fühlen und über sie denken. Ihre Seele und ihr Wohlbefinden entwickeln sich im Dialog mit anderen, in der Regel den engsten Bezugspersonen. Die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen für die seelische Entwicklung von Kindern ist zentrales Thema dieses Buches.
Erschienen bei FISCHER E-Books
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ISBN 978-3-10-491002-4
In der Regel arbeiten die ersten in wissenschaftlichen Institutionen, die zweiten in der Praxis. Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Die Besonderheiten der verschiedenen Tätigkeitsfelder lassen die dort Tätigen unterschiedliche Dinge als relevant einschätzen.
Wolff (1996), mit Kommentaren von Tyson, Barrat, Fonagy, Osofsky, Seligman, Shapiro, Wilson und einer Antwort von Wolff. Zwei Jahre später gab es eine kürzere Fortsetzung (s. Silverman 1998, Nahum 1998 und Wolff 1998). Zepf (2006) hat diese Debatte jüngst fortgesetzt und der Kleinkindforschung – wie Green und Wolff – Unwissenschaftlichkeit und Irrelevanz für die Psychoanalyse attestiert.
Die Teile des Buchs, die sich mit der Kleinkindforschung befassen, sind ins Deutsche übersetzt (s. Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, Heft 4/2000 und Heft 1/2001). Der erste Teil des Buchs enthält die im Newsletter der International Psychoanalytic Association 1996 abgedruckte Diskussion zwischen Wallerstein und Green über die (Ir)Relevanz der Psychotherapieforschung für die Psychoanalyse und einen einleitenden Essay von Riccardo Steiner.
In der deutschen Übersetzung ist aus der »Deckausbildung« etwas freundlicher ein »Grundkurs in Psychoanalyse« geworden (S. 443).
Freud spricht von indifferenter Energie (1923, S. 272f.).
Erkenntnistheoretisch ist Green erkennbar von Bion beeinflußt. »Forschungsrelevant sind für Bion nur die in der Sitzung mit psychoanalytischen Mitteln beobachteten Phänomene, alle anderen Mittel (z.B. Tonbandaufzeichnungen) lehnt er ebenso ab wie die Auswertung außerklinischer Phänomene, etwa mit Hilfe statistischer Erhebungen« (Engel 2000, S. 19; ähnlich S. 13f., 18). Man kann nun versuchen, die in einer solchen Festlegung implizit enthaltene Auffassung von der Unübersetzbarkeit bestimmter Daten in andere »Frameworks« und die daraus resultierende Selbstbezüglichkeit der Überprüfung respektive Unmöglichkeit oder Unnötigkeit einer externen Überprüfung wissenschaftstheoretisch durch Rekurs auf den sog. »Theorieholismus« von Duhem, Quine und Davidson zu rechtfertigen. Ich habe mich andernorts mit diesem Problem ausführlicher befaßt (Dornes 2001) und dort meiner Skepsis Ausdruck gegeben, ob dies eine wirklich durchzuhaltende Strategie ist. Wissenschaftspolitisch halte ich sie derzeit für fatal, wissenschaftstheoretisch wäre sie legitim, wenn sich ein wahrheitstheoretischer Kohärentismus oder die Idee inkommensurabler Begriffsschemata widerspruchsfrei begründen ließe. Dem kann ich hier nicht weiter nachgehen. Für Leser, die mehr an Psychoanalyse als an Philosophie interessiert sind, verweise ich auf eine ebenso umfangreiche wie vorzügliche Arbeit von Raguse (1998), in der differenziert dargestellt wird, was »Spezifität der Psychoanalyse« heißen kann. Raguse vertritt m.E. eine Konzeption von Psychoanalyse, die der von Green stellenweise ähnelt, ist allerdings an einem entscheidenden Punkt etwas zurückhaltender. Er räumt nämlich ein, daß es »möglich sein (dürfte), Erkenntnisse der analytischen Situation so zu transformieren, daß sie naturwissenschaftlich untersucht und verstanden werden können. Damit solche Untersuchungen Relevanz haben, ist allerdings zu fordern, daß die Transformationen so geschehen, daß die spezifisch analytische Erkenntnis nicht zerstört wird« (ebd., S. 690). Ob und wie das möglich ist, bleibt ein offenes Problem. Laplanche (z.B. 1987, S. 54ff.) diskutiert ebenfalls das Problem der Spezifität der Psychoanalyse. Er teilt mit Green das Bestreben, eine solche nachzuweisen, steht allerdings der (Entwicklungs-)Psychologie wesentlich aufgeschlossener gegenüber als Green. Wer auf die Bewahrung der Spezifität der Psychoanalyse Wert legt und dennoch keine Chinesische Mauer zwischen ihr und den Nachbardisziplinen errichten will, kann bei Laplanche gute Argumente finden. Für weitere Ausführungen zu seiner Theorie siehe Kapitel 6.
Dieser Punkt ist auch Gegenstand der Debatte um Wolffs (1996) Artikel gewesen. Wolff (ebd., S. 374) wirft der Säuglingsforschung »enumerativen Induktivismus« vor. Darunter versteht er, daß sie selektiv einzelne Belege anführt und darauf (zu) weitreichende Schlußfolgerungen aufbaut. Dies mag in einzelnen Fällen zutreffen, ist aber, wie Seligman (1996, S. 432f.) in seiner Antwort auf Wolff darstellt, für den gesamten Theoriekorpus der Säuglingsforschung nicht zutreffend.
Gergely unterscheidet noch zwischen Wahrnehmung von Zielgerichtetheit/Teleologie (ab neun Monaten) und Wahrnehmung von Absichtlichkeit/Intentionalität (ab 18 Monaten). Diese subtile Unterscheidung kann hier nicht weiter gewürdigt werden (für Details s. Dornes 2004 und hier Kapitel 5).
Eine umfassende Diskussion dieses Problems würde weit über das hinausgehen, was hier geleistet werden kann. Es gibt nämlich Unterschiede zwischen a) sich selbst oder anderen Intentionen als mentale Gebilde zuschreiben und sich dieser Zuschreibung auch bewußt sein (wahrscheinlich ab vier Jahren); b) sich selbst oder anderen Intentionen als mentale Gebilde ohne explizites Bewußtsein zuschreiben (strittig, ob ab neun Monaten oder ab eineinhalb Jahren; eher letzteres); c) sich selbst oder andere als intentionale Subjekte erleben (wahrscheinlich ab neun Monaten); d) intentional kommunizieren (wahrscheinlich ab neun Monaten, eventuell früher); e) intentional handeln (wahrscheinlich ab Geburt). Ich gebe im folgenden eine unterkomplexe, rein intuitive Darstellung.
Die offene Frage ist, ob dieses Haben einer Intention für den Säugling schon damit einhergeht, sich als intentionales Subjekt zu erleben.
Es bleibt ein weiterer Vorbehalt: Ob der Säugling – selbst wenn er Absichten auf irgendeinem rudimentären Niveau und in irgendeiner rudimentären Gestalt hat – auch (unbewußte?) Erstickungs- oder Zerstörungsabsichten hat, scheint mir letztlich eine mit empirischen Mitteln nicht mehr klärbare Frage (s. Dornes 1997, S. 257ff.).
In diesem Sinne unterscheidet Zima (2000, S. 389) zwischen intersubjektiver und interkollektiver Überprüfung. Die entscheidende Frage lautet: »Welche Theoreme, die intersubjektiv innerhalb einer Wissenschaftlergruppe überprüft wurden, gelten auch interkollektiv, d.h. zwischen heterogenen Wissenschaftlergruppen?« Darauf gibt es keine eindeutige Antwort, aber an der Anstrengung der Interkollektivität sollte, wie Zima zeigt (ebd., S. 397ff.), festgehalten werden. Eine ausführliche Behandlung dieses Problems mit umfassenden Kommentaren findet sich bei Zima (1999).
Ein Rezensent kleinianischer Literatur hat unlängst trocken bemerkt, daß die Kleinianer nicht an empirische Untersuchungen glauben und nicht daran interessiert sind (Fink 2000, S. 1183). Das ist im großen und ganzen richtig. Es gibt allerdings Ausnahmen. Ich komme weiter unten darauf zurück.
Säuglingsforschung steht hier stellvertretend für das übrige Weltwissen.
Buchholz (1997, 1999) hat dieses Entweder-Oder vermieden. Er beschreibt die klinische Psychoanalyse als eine Profession, die in der Berufspraxis erworbenes professionelles Wissen verwendet, das sich von wissenschaftlichem Wissen strukturell unterscheidet. Allerdings findet im Umfeld der Profession Wissenschaft statt, die nicht ignoriert werden sollte, auch wenn man ihre Ergebnisse nicht direkt auf den Patienten »anwenden« kann. Das kommt Sterns Position ziemlich nahe.
Stern zieht sie durchaus in Betracht (2000 a, S. 469), kommt aber hinsichtlich des Wissens über kleine Kinder zu dem Schluß, daß in diesem Fall die Entwicklungspsychologie die relevanteste externe Disziplin ist.
Die Geschichtswissenschaft ebenso (s. z.B. Evans 1997).
Orientierende Sekundärliteratur: Diederich (1974), Bernstein (1983), Stegmüller (1987 b), Andersson (1988), Bohman (1991), Schneider (1991), Balzer (1997, Kap. 1), Döring (1998), Hacking (1999) und Fuller (2000).
Eine gute Einführung in die Entwicklung von Tustins Denken gibt Spensley (1995).
Eine ähnliche Sequenz findet sich auch in der Entwicklung des Greifens (Alvarez 1992).
Einer der größten Pessimisten nach Freud war interessanterweise der Ich-Psychologe Kurt Eissler. Er war der schul- und stilbildende Verfasser einer ultraorthodoxen ich-psychologischen Abhandlung zur psychoanalytischen Behandlungstechnik (Eissler 1953). Gleichzeitig war er zutiefst skeptisch, was die Zukunft der Psychoanalyse (Eissler 1965) und die des Menschen (Eissler 1971, 1975) angeht. Dies illustriert zumindest, daß Ich-Psychologie nicht notwendigerweise mit Optimismus einhergehen muß.
Zu Mord und Totschlag im Tierreich siehe die instruktiven Darstellungen von Vogel (1989) und Paul (1998). Im sechsten Kapitel stelle ich dar, daß auch die Relativierung der psychoanalytischen Sexualtheorie durch die Säuglingsforschung keine Verharmlosung ist.
Weitere Versuche zur Umformulierung des Symbiosekonzepts sind bei Dornes (2000 b) und Gergely (2000) dargestellt.
Eine differenziertere Analyse als sie im Rahmen dieses Kapitels möglich ist, gibt Schramme (2000) in seinem umfassenden und stilistisch vorzüglichen Buch über philosophische Implikationen des Krankheitsbegriffs. Die Arbeit von Kubie (1954) ist nach wie vor die psychoanalytische Zentralreferenz für die qualitative Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit.
Auf einer grundlagentheoretischen Ebene hat beispielsweise Henningsen (1998, 2000, 2003; Henningsen/Kirmayer 2000) gezeigt, wie ein nicht-reduktionistischer Kontakt zwischen Psychoanalyse, psychologischer Medizin und Kognitionswissenschaften aussehen kann.
Piaget noch am wenigsten, vor allem deshalb, weil er sich vorwiegend mit der kognitiven Entwicklung befaßt hat. Aber auch er hielt an Vorstellungen von der »Unreife« kognitiver Strukturen fest, welche die Säuglingsforschung teilweise erheblich revidiert hat (Überblicke bei Gopnik/Meltzoff 1997, Haith/Benson 1998, Mandler 1998, Bremner 2001, Baillargeon 2002, Lamb et al. 2002 und Pauen 2003).
Ebenso überschätzt die kleinianische und die lacanianische Theorie die ursprüngliche Fragmentierung des Säuglingserlebens und unterschätzt die Potentiale für Integration und Integriertheit (s. Dornes 2000 a, S. 226 mit weiterer Literatur sowie ausführlich Rochat 2001 a, Kap. 2; 2001 b, S. 198ff.).
Eine ausführlichere Stellungnahme zu Cushmans Kritik findet sich in der neuen Einleitung zur amerikanischen Taschenbuchausgabe von Sterns Buch (Stern 2000 c).
Insgesamt kann man mit Zima (1997, S. 369) darauf hinweisen, daß jede Theorie aus einer Ideologie im Sinne bestimmter Wertsetzungen hervorgeht – die Kritische Theorie Adornos ebenso wie der Kritische Rationalismus Poppers. Ersterer aus dem Marxismus, der bei Adorno allerdings vielfach »gebrochen« ist und nicht mehr auf ein Kollektivsubjekt setzt; letzterer aus dem liberalen Individualismus. Das sagt weder etwas über den Wert dieser Theorien aus, noch taugt es zu ihrer Widerlegung. Problemlos, aber etwas platt, könnte man auch den oben erwähnten Sozialkonstruktivismus als Ideologie bezeichnen, nämlich als Ideologie der Technokratie, denn er bevorzugt das Gemachte vor dem Gegebenen. Der Ideologieverdacht ist allerdings fast immer unfruchtbar, weil er bekanntlich meistens darauf hinausläuft, daß nur die anderen Ideologen sind, aber nie man selbst. Dadurch wird regelmäßig die Grundlage jeder weiteren sachlichen Auseinandersetzung zerstört.
Will man die Betonung des erreichbaren Glücks in den Kontext der Debatte um die »revidierte Psychoanalyse« (Adorno 1952) stellen, so läßt sich diese Betonung mehr mit den Ideen Fromms und Blochs als mit denen Adornos und Marcuses vereinbaren. Während Bloch in den auffindbaren Glücksmomenten in einer unglückproduzierenden Gesellschaft nicht Ideologie, sondern Utopie sah, nämlich den Vorschein einer besseren Zukunft, betrachtete Fromm die von Adorno kritisierte Praktizierung von Menschenfreundlichkeit und Güte in einer menschenfeindlichen Gesellschaft als »den lebendigsten Akt der Rebellion« und nicht als Predigt von Anpassung (zit. in Görlich et al. 1980, S. 76). Marcuse und insbesondere Adorno waren hingegen der Auffassung, wahre Menschenfreundlichkeit bestünde in der Zertrümmerung der Illusion von Menschenfreundlichkeit – was Fromm als radikal maskierten Nihilismus betrachtete (in: Görlich et al., ebd.). Für weitere Informationen zu dieser Kontroverse siehe den informativen Aufsatz von Schmid-Noerr (2001). In zwei weit ausgreifenden neueren Arbeiten hat Honneth (2005 a, b) jedoch gezeigt, daß sich aus Adornos Werk die Idee einer vorsprachlichen nachahmenden Vernunft gewinnen läßt, die zum einen sehr gut mit dem dialogischen Geist der Säuglingsforschung zusammenpaßt, zum anderen eine Vorstellung geglückter Kindheit enthält, die als normativer Maßstab seiner Kapitalismuskritik dient.
Für empirische Daten zur Häufigkeit von interaktiven Mikrobrüchen und deren Korrektur siehe Dornes (1997, S. 167). Mit ausgeprägteren Formen des Dissenses und des interaktionellen Mißlingens befaßt sich die klinische Säuglingsforschung. Hierzu gibt es eine eigene Zeitschrift (»Infant Mental Health Journal«) und mittlerweile auch mehrere Handbücher (s. z.B. Zeanah 1993; Osofsky/Fitzgerald 1999). Eine Ausweitung des gelegentlich etwas »harmonistischen« Intersubjektivitätsbegriffs mancher Säuglingsforscher auf konflikthafte Formen von Intersubjektivität schlagen Beebe et al. vor (2003 a, b, c; erweitert in Beebe et al. 2005). Ebenso diskutieren sie Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zu klinisch-psychoanalytischen Konzepten von Intersubjekvität bei Autoren wie Aron, Benjamin, Jacobs, Ogden und Stolorow et al.
Eine Kritik der Konzeption des primären Neids findet sich bei Joffe (1969), eine entwicklungspsychologische Chronologie von Stufen und Spielarten des Neides zwischen einem und fünf Jahren bei Frankel/Sherick (1977).
Einen historischen Überblick zu psychoanalytischen Autismustheorien bis Ende der 80er Jahre gibt Hobson (1990 b); für neuere Überblicke siehe Perner (1998), Frost (1999) und Epstein (2000 b). Hobson (1993, 2002) ist einer der Psychoanalytiker, die auch systematische, extraklinische Forschung zu den möglichen Ursprüngen des frühkindlichen Autismus durchgeführt haben. (Ich stelle seine Theorie im vierten Kapitel dar.) Der erste war meines Wissens Anthony (1958). Von ihm stammt auch eine respektvolle Kritik an Tustins frühem Werk (Anthony 1973). Andere ebenfalls experimentell arbeitende Psychoanalytiker sind Shapiro (2000) und Volkmar (2000).
Die Debatte zwischen Golse (1994) und Klin/Cohen (1994) ist ein gutes Beispiel für eine solche sachbezogene und informative Auseinandersetzung. Ebenso die Bücher von Trevarthen et al. (1998), Alvarez/Reid (1999) und das Themenheft über »Autistic Spectrum Disorders« der Zeitschrift »Psychoanalytic Inquiry« (Epstein 2000 a).
Einen Überblick über philosophische Intersubjektivitätstheorien verschiedener Provenienz geben Theunissen (1977), Ziegler (1992), Crossley (1996), Avramides (2001) und Honneth (2003 a).
Die Vorstellung einer Parallelität von ego- und alterozentrischer Weltwahrnehmung befindet sich in Übereinstimmung mit einem Trend im psychoanalytischen Denken, der zunehmend die Synchronie seelischer Zustände gegenüber ihrer Diachronie betont. Die kleinianische Theorie etwa geht mittlerweile stärker als früher davon aus, daß die depressive Position die paranoid-schizoide nicht »überwindet«, sondern daß beide nebeneinander existieren und sich abwechseln. Bion spricht ausdrücklich von einer »Ko-Präsenz« paranoid-schizoider und depressiver Elemente in psychischen Akten (s. Eigen 1985, S. 461). Ähnlich hat die psychoanalytisch inspirierte Säuglingsforschung gezeigt, daß Symbiose und Individuation keine aufeinander folgenden, sondern schon in den ersten Lebenswochen koexistierende Zustände sind (Pine 1992; Dornes 1997, Kap. 5). Auch für Primär- und Sekundärprozeß wurde Parallelität statt Nacheinander behauptet (Dornes 1993, Kap. 8). Fonagy/Target, die sich mit der Mentalisierungsfähigkeit von Kindern befassen, vertreten die Auffassung, daß sich diese Fähigkeit aus der Integration von zwei zunächst parallel laufenden »Modalitäten« entwickelt, dem Modus psychischer Äquivalenz und dem Als-ob-Modus (s. hier Kapitel 5). Bråtens Theorie ist ein weiterer Baustein in dieser stärker synchronen Sicht der menschlichen Entwicklung. In ihr wird, nachdrücklicher als in einer diachronen Sicht, das Fluktuierende, Zyklische, Koexistierende, nicht endgültig Festgelegte psychischer Konfigurationen betont und weniger, wie früher, die definitiven Entwicklungserrungenschaften. Man könnte vermuten, daß diese Verflüssigung der Betrachtungsweise durch eine Verflüssigung des Gegenstandes nahegelegt wird und somit eine Auflockerung psychischer Strukturen anzeigt (s. dazu den Epilog).
Auch das Gefühl eines einheitlichen Ich ist ja keine Phantasie, sondern ein unmittelbares Erleben.
Möglicherweise ist der virtuelle Andere auch ein präverbales Analogon zu Habermas’ idealer Sprechsituation, insofern beide operativ wirksame Fiktionen sind. Außerdem gibt es Parallelen zu ganz anderen philosophischen Richtungen, etwa zur leibphänomenologischen Philosophie von Hermann Schmitz (siehe dazu Fuchs 2000, S. 73ff.).
Andeutungen finden sich bei Bråten (1993, S. 27, 29f., 35), Ausarbeitungen dieses Themas aus der Sicht der Säuglingsforschung bei Tronick (1989), Beebe et al. (1997, 2000) und Joffe et al. (2001).
Nur am Rande sei angemerkt, daß Bions Theorie stärker als die von Melanie Klein das Sensorische berücksichtigt, nämlich in Gestalt der sogenannten Beta-Elemente. Diese sind »rohe« Körperempfindungen, die der Säugling zunächst loswerden möchte und in die Mutter projiziert. Ihr kommt die Aufgabe zu, diese Empfindungen zu verstehen und zu modulieren und sie so in Alpha-Elemente, also psychisch bedeutsame Erfahrungen oder Gedanken zu verwandeln. Mißlingt dieser Containmentprozeß, in dessen Verlauf die Beta-Elemente in Alpha-Elemente verwandelt werden, so bleiben erstere als unverdaute Brocken in der Seele zurück und müssen erneut ausgestoßen werden. Diese Konzeptualisierung ermöglicht es auf einer allgemeinen Ebene, psychosomatische Symptome als »Evakuierung« von Beta-Elementen in Organe statt in Objekte zu begreifen (Lüders 1997, S. 93), etwa weil sich die Objekte als ungeeignet für das Containment erwiesen haben. Eine spezifische Theorie psychosomatischer Erkrankungen, die erklären würde, wieso bestimmte Patienten somatisieren und keine andere Symptomatik entwickeln, findet sich indes bei Bion so wenig wie bei Melanie Klein (Rothhaupt 1997). Was die Vernachlässigung des Realtraumas in der kleinianischen Psychoanalyse angeht, so liegt der zentrale Grund dafür in der (Über)betonung der Rolle der Phantasie. Folgendes Fallbeispiel ist hierfür illustrativ. Ein vierjähriges Mädchen beobachtet, wie der Vater die Mutter schlägt, die Mutter anschließend einen Selbstmordversuch unternimmt und entwickelt daraufhin Symptome. Dieses Ereignis stellt im kleinianischen Konzept deswegen ein Trauma dar, weil das Kind schon vorher aggressiv-mörderische Phantasien in bezug auf die Mutter hatte – etwa weil es die Mutter beim Vater ersetzen wollte oder weil es ihr die Ankunft eines Geschwisterrivalen nicht verziehen hat –, die durch das äußere Ereignis nun Realität werden. Ohne solche Phantasien hätte das Ereignis keine (oder nicht dieselbe?) traumatisierende Wirkung. Deshalb muß die Deutung die Beteiligung des Subjekts, seine Schuld, ansprechen, denn solange der unbewußte Anteil der eigenen Täterschaft im Objekt lokalisiert wird, kann man sich von diesem Objekt nicht trennen. Scharff (2002), der dieses Beispiel von Britton ausführlich kommentiert, weist zu Recht daraufhin, daß man den Vorfall auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten kann. Nicht die innere furchtbare Realität mörderischer Aggressivität, die für die Kleinianer der Ausgangspunkt ist, muß angesprochen, anerkannt und ausgehalten werden, sondern (zuerst, auch, oder vorwiegend) die »Tatsache, daß die Eltern sich … destruktiv schuldhaft verhalten haben. Diese Realität gilt es, psychisch zu halten, als eine Wahrheit, die es in der Welt geben kann – gegen alle Versuche, das Selbst vor dieser Einsicht zu schützen«. Die Kleinianer würden das Ansprechen der äußeren Realität als Versuch verstehen, die Beteiligung des Subjekts zu verleugnen. Scharff macht deutlich, daß die Betonung dieser Beteiligung vor der Erkenntnis schützen kann, daß es in der äußeren Welt furchtbare Dinge geben kann, die ihr eigenes ontologisches Gewicht haben. Er arbeitet überzeugend die Patt-Situation heraus, in die man bei der Diskussion der Frage nach dem Primat von Phantasie oder Realität immer wieder gerät und optiert konsequenterweise dafür, die Primatfrage beim klinischen Vorgehen in der Schwebe zu halten und sich nicht auf eine der beiden Möglichkeiten festzulegen, sondern zu oszillieren.
Verblüffend ähnliche Ideen sind schon von Theodor Lipps (1903) in seiner Theorie der motorischen Mimikry als Basis der Einfühlung formuliert worden (s. dazu vorzüglich Körner 1998) und von Adam Smith (1759) in seiner »Theory of Moral Sentiments« (s. Bråten 1996, S. 455f.).
Vor dem Alter von neun Monaten werden meistens nur Gesichtsausdrücke nachgeahmt oder Bewegungen, die schon Bestandteil des motorischen Repertoires sind, aber keine neuen, unbekannten Bewegungen.
Körner (1998, S. 3f.) erwähnt in einem lesenswerten, auch die geistesgeschichtlichen Bezüge herausarbeitenden Aufsatz über Empathie, daß ähnliche Ideen bereits in der deutschen Romantik, etwa bei Lotze (1858) virulent waren. Dieser beschreibt Einfühlung als einen Weg, »das Fremdartige selbst zu erleben – nicht als Projektion, sondern als eine Art Teilhabe (!), als ein Sich-Ansprechen-Lassen, als ›mitträumen‹«. R. Vischer (1873) hat diese Ideen auf die ästhetische Erfahrung ausgedehnt, in der wir uns sowohl von der Beschaffenheit kultureller Erzeugnisse als auch von der natürlicher Ereignisse »ansprechen« lassen. Adorno hat solche Gedanken aufgenommen und eine ästhetische gefärbte Persönlichkeitstheorie entwickelt, in der die Freiheit des Menschen in seiner Fähigkeit zur unverzerrten Hingabe an die Natur besteht und der Sündenfall des Menschen mit dem Ersetzen dieser Hingabe durch Naturbeherrschung beginnt (Honneth 1987, S. 42f.). Ich halte es für einen anthropologischen beziehungsweise sozialisationstheoretischen Grundirrtum, die Persönlichkeitsbildung, die in der Interaktion mit anderen Menschen stattfindet, nach dem Modell des hingabebereiten Umgangs mit Natur zu begreifen. Eher schon wird die Hingabe, die in menschlichen Primärbeziehungen erfahren wird, später auf kulturelle oder auch natürliche Erscheinungen übertragen und die Transformationserfahrungen, die wir in der Begegnung mit Kunstwerken und Naturereignissen machen, sind ein später Nachhall früherer Transformationserfahrungen mit den ersten belebten Objekten. Bollas (1987 a, b) hat diese Theorie ästhetischer Erfahrung in zwei großartigen Aufsätzen genauer ausgeführt.
Zur Aufrechterhaltung des Gefühls, ein abgegrenzter Körper im Raum zu bleiben, auch wenn man sich dem Anderen in der Imitation maximal körperlich angleicht siehe ausführlich Gallagher/Meltzoff (1996). Trevarthen ist der Auffassung, daß nicht nur die Nachahmung, sondern auch die Protokonversation einen gemeinschaftsstiftenden Charakter hat. Die Stiftung von Gemeinschaft durch Imitation und Protokonversation kann man als Vorläufer späterer gemeinschaftsstiftender Praktiken betrachten (Bråten 1997; Trevarthen 1992, S. 113ff.; 1998, S. 37). Gemeinsames Essen, Tanzen, Singen, die Aufführungen von Ritualen – all das findet sich in der frühen Interaktion zwischen Mutter und Kind, wenn sie sich füttern, miteinander bewegen, vokalisieren und miteinander spielen. Schon die frühesten Interaktionsspiele wie »guck-guck-da-da« und andere sind »rituelle« Formen des Austauschs insofern hier mit Hilfe von Gesten, die innerhalb kürzester Zeit zu Konventionen dieses Mutter-Kind-Paares werden, gemeinsame »Aufführungen« dargeboten werden, deren Besonderheiten ein Außenstehender nicht versteht. Diese im Mikroraum der Familie stattfindende Gemeinschaftsbildung ist vielleicht die erste Form von Sittlichkeit im Sinne geteilter Sitten und Gebräuche (mores), auf die spätere Formen von Moral aufbauen können.
Zu den Unterschieden dieser Konzeptionen siehe ausführlich Hirsch (1997, S. 92ff.).
Diese Theorie folgt der Intuition Freuds (1920), daß der Wiederholungszwang letztlich ein biologisch fundiertes Phänomen ist, auch wenn er hier nicht im Todestrieb, sondern in einer Art Resonanztheorie verankert wird. Andere Versuche zur Neukonzeptualisierung des Wiederholungszwanges als einem subsymbolischen Prozeß werden bei Dornes (1993, S. 148ff; 1997, S. 307ff.) dargestellt.
(Ab-)Spaltung heißt in Bråtens Konzeption, daß Ego den Zugang zu seinem virtuellen Alter blockiert mit der Folge, daß sowohl das eigene Leid als auch das des realen Anderen nicht mehr von innen gefühlt, sondern eher von außen betrachtet wird, psychoanalytisch gesprochen also eine Art Affektisolierung stattfindet. Bråten ventiliert die aufregende Idee, daß man auch den frühkindlichen Autismus nach diesem Modell verstehen kann, nämlich als mentale oder neurologische »Blockierung« des Eintretens des tatsächlichen Anderen in den virtuellen. Deshalb kann das autistische Kind am Erleben des Anderen nicht im Modus alterozentrischer Teilhabe partizipieren (s. Bråten 1988, S. 200f.; 1993, S. 30f.; 1998, S. 115f.; ähnlich Aitken/Trevarthen 1997, S. 669). Was das heißt, läßt sich durch den Befund veranschaulichen, daß manche autistischen Kinder den expressiven Gehalt menschlicher Gesichtsausdrücke entweder nicht verstehen oder aber darauf nicht reagieren können. Sie sehen das menschliche Gesicht eher wie einen Gegenstand. Wenn man sie in bezug auf eine Gesichtsabbildung, die ein lachendes Kind zeigt, fragt, was das Kind wohl fühle, so antworten sie: es hat den Mund geöffnet. Sie sehen also nicht die expressiven, sondern nur die figurativen beziehungsweise behavioralen Qualitäten des Gesichtsausdrucks, »wissen« beziehungsweise »fühlen« entsprechend nicht, wie andere sich fühlen und sind in ihrem eigenen Fühlen eingeschlossen. Das ist gemeint, wenn gesagt wird, daß sie sich in andere nicht »von innen« einfühlen, sondern sie nur »von außen« sehen können. Wenn wir hingegen ein lachendes Gesicht wahrnehmen, sehen und fühlen wir unmittelbar dessen Freude. Autobiographische Berichte von Autisten illustrieren beeindruckend, wie die Beeinträchtigung dieser Fähigkeit zu einer grundlegenden Fremdheit in bezug auf die innere Welt anderer führt, die dann mit Hilfe komplizierter kognitiver Operationen erschlossen werden muß, ohne daß dadurch das Gefühl von Fremdheit verschwindet (s. z.B. Grandin 1995). Bråtens Theorie unterscheidet sich erheblich von der derzeit prominentesten psychologischen Autismustheorie, der sogenannten Theory of Mind-Hypothese. Ihr zufolge hat das autistische Kind zum Erleben des Anderen keinen Zugang, weil es auf Grund eines kognitiven Defizits nicht in der Lage ist, menschliches Verhalten als Ausdruck dahinterliegender seelischer Zustände zu verstehen (näheres dazu in Kapitel 4). Im übrigen scheint mir Bråtens »Gefährtenraum« (1996, S. 450f.), in den der reale Andere »eintritt«, eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Winnicotts »Übergangsraum« aufzuweisen, insofern beide sich auf einen Übergangsbereich zwischen intrapsychischem und interpersonellem Geschehen beziehen.
Es sollte klar geworden sein, daß Bråtens Theorie über die Annahmen der »Theory of Mind« weit hinausgeht. Der virtuelle Andere ist nicht eine denkend vollzogene Realisierung der Weltsicht des Anderen, sondern eine fühlend vollzogene. Das Verhältnis seiner Theorie zur Theory of Mind beschreibt Bråten in 1998 d. Für weitere Ausführungen zum Thema Intersubjektivität siehe Dornes (2004, S. 319ff.).
Zu wichtigen diesbezüglichen Unterscheidungen siehe ausführlich Bieri (2001).
Auch bei Bion (1965) spielt der Transformationsbegriff und -prozeß eine bedeutende Rolle; siehe Krejci (1997), Reerink (1997, S. 103ff.), Darmstädter (2001, S. 41ff.) und Haas (2001).
Das Streben, komplexere Strukturen aufzubauen verdankt sich übrigens nicht nur, wie bei Piaget und in der Psychoanalyse, der Erfahrung des Ungleichgewichts, sondern kommt auch und gerade in Gang, wenn die Erfahrung des Gleichgewichts gemacht worden ist, was sich auch an Hand einschlägiger empirischer Untersuchungen zeigen läßt (Hoppe-Graff/Edelstein 1993, S. 17; Schmid-Schönbein 1993). Dies wird auch von psychoanalytischer Seite zunehmend anerkannt (Dornes 1993, S. 71ff., 158ff.; Alvarez 1999 b).
Brazelton et al. (1974) und Trevarthen (1974) haben als erste die Behauptung einer sehr frühen Person-Ding-Unterscheidungsfähigkeit aufgestellt. Sie datierten deren Beginn auf drei bis sechs Wochen. In anderen Arbeiten wird sie auf den Zeitraum zwischen zwei und vier Monaten datiert (Legerstee 1994, 1997 a, b; Tarabulsy et al. 1996, Rakison/Poulin-Dubois 2001).
Psychoanalytiker (z.B. Britton 1989) haben sich schon seit langem mit dem möglichen Zusammenhang von (ödipaler) Triangulierung und der Fähigkeit zur Symbolbildung beschäftigt. Dabei ist das dritte Objekt aber kein unbelebtes, sondern eine Person. Inwieweit es Berührungspunkte zwischen dieser Theorie und der von Hobson gibt, ist offen. »Ich bin mir zwar unsicher, welche Rolle dieses Beziehungsdreieck für die Entwicklung des Denkens spielt, aber ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß sich nur eine verarmte Form des Denkens entwickelt, wenn ein Kind erheblich gestörte Beziehungen zwischen Mutter, Vater und sich selbst erlebt« (Hobson 2002, S. 118). Ich beschränke mich im folgenden auf die Rekonstruktion von Hobsons Theorie. Andere Triangulierungstheorien werden im achten Kapitel dargestellt.
Neuere Forschungen zur Triangulierung haben ergeben, daß schon drei Monate alte Säuglinge der Kopfbewegung eines mit ihnen interagierenden Erwachsenen folgen und ein Objekt ansehen, sofern es innerhalb ihres Blickfeldes liegt. Dies zeigt ein gewisses Maß an Fähigkeit zur triadischen Aufmerksamkeit (Muir/Haines 1999, Nadel/Tremblay-Leveau 1999). Tomasello (1995 b) betrachtet solche Formen des gemeinsamen Anblickens jedoch nicht als »joint attention«, sondern als »cued looking«, weil das wesentliche Kriterium für Gemeinsamkeit fehlt, nämlich das Wissen beider Beteiligter, daß sie dasselbe anschauen (wollen). Als Indikator dafür wird der rückversichernde Blick des Kindes betrachtet, mit dem es überprüft, ob der Erwachsene dasselbe anschaut. Andere Forschungen (Fivaz-Depeursinge/Corboz-Warnery 1999, von Klitzing 2002 a; s. hier Kapitel 8) haben klargemacht, daß Säuglinge bereits mit drei Monaten die emotionale Qualität der Kommunikation zweier Erwachsener (z.B. Vater und Mutter) erfassen können und unterschiedlich darauf reagieren und daß es bereits bei fünf Monate alten Säuglingen Vorformen des social referencing gibt (Fivaz-Depeursinge 2002). Die offene Frage ist, ob diese Wahrnehmung auch schon die Wahrnehmung einer Einstellung zum Anderen und deren Übernahme impliziert oder nur global die Stimmung des Säuglings beeinflußt. Ich vermute letzteres.
Stein Bråten geht in seiner Theorie des virtuellen Anderen davon aus, daß Säuglinge schon von Geburt an, und nicht erst ab neun Monaten, über zwei Perspektiven auf ein Objekt verfügen und postuliert damit eine Gleichursprünglichkeit von egozentrischer und alterozentrischer Weltwahrnehmung (s. hier Kapitel 3). Auch Tiere können unterschiedliche Perspektiven auf einen Gegenstand haben. Ein hungriger Schimpanse sieht einen Baum als Nahrungsquelle, ist er müde, so sieht er ihn als Schlafstätte, wird er bedroht, als Zufluchtsort. Aber er hat diese verschiedenen Perspektiven auf den Baum nacheinander, unter dem Druck der jeweils aktuellen Bedürfnisse, nicht gleichzeitig nebeneinander – und er kann nicht die Perspektive anderer auf das Objekt einnehmen (Tomasello 1999 a, S. 151, 195). Zu Formen erlernbarer Perspektivenübernahme bei enkulturierten Schimpansen siehe Byrne (1995, S. 106f.) und Mitchell (1997, S. 43f.).
An anderer Stelle habe ich die Affektspiegelungstheorie von György Gergely ausführlich dargestellt. In dieser Theorie spielt die Interaktion zwischen Eltern und Kind ebenfalls eine entscheidende Rolle für die Symbolbildung und auch die Prozesse der referentiellen Entkoppelung und Verankerung werden dafür in Anspruch genommen, allerdings auf eine etwas andere Weise als bei Hobson (für Details s. Dornes 2000 a, Kap. 5 und hier Kapitel 5). Die Entkoppelung von Bedeutung wird bei Gergely wie bei Hobson in der Eltern-Kind-Interaktion erlernt, wohingegen Leslie (1987, 1994) sie in einem reifungsabhängigen »Entkoppelungsmechanismus« verortet. Zur Leslie-Hobson-Kontroverse siehe die Zusammenfassung bei Hobson (1993, S. 207ff., mit weiterer Literatur).
Die Alternative wäre, daß das Kind ab einem bestimmten Zeitpunkt symbolische Handlungen für sich selbst erfindet und spontan ausführt.
Freuds (1920) berühmte Vignette zum Kinderspiel, in der ein Kind die an einem Bindfaden befestigte Garnrolle mit dem begleitenden Kommentar »fort – da« verschwinden und wieder erscheinen läßt, ist ein Beispiel für unbewußte Objektsubstitution. Die Garnrolle steht für die verschwundene Mutter und im Spiel wird das mütterliche Verschwinden dargestellt und bewältigt. Die Garnrolle steht aber nicht nur für die Mutter wie die Banane für den Telefonhörer, sondern dieses »Stehen für« ist unbewußt. Ähnlich verhält es sich mit Winnicotts (1953) Konzept des Übergangsobjekts, bei dem ein Stofftier oder eine Decke an die Stelle der Mutter tritt. Die so entstehenden unbewußten Bedeutungen bzw. unbewußten Aspekte symbolischer Objekte und Handlungen können in einem Deutungsprozeß verstanden werden. Ich beschränke mich im folgenden auf die bewußte Dimension der Objektsubstitution.
Man kann kommunikative Gesten wie nonverbales Loben oder Drohen als Metahandlungen betrachten, weil sie für etwas über sie Hinausweisendes einstehen, nämlich für eine wohlwollende oder mißbilligende Einstellung (Honneth 2003 a, Kap. 1). Möglicherweise stehen sie aus Sicht des Säuglings jedoch noch nicht für etwas ein, sondern kündigen nur etwas an, nämlich eine weitere Handlung der Zu- oder Abwendung. Dann wären die Gesten keine symbolischen (Meta-)Handlungen, sondern nur Signale für eine zu erwartende Handlung. Auch Tomasello (1999 a, S. 107f., 128) unterscheidet kommunikative Signale als »Verfahren zur Erreichung bestimmter Ziele« von kommunikativen Symbolen »als Konventionen zur Mitteilung von Erfahrung«. Üblicherweise wird der Begriff des Zeichens als Oberbegriff verwendet, um diese zwei Arten von Zeichen zu unterschieden: Signale und Symbole. Der kanonischen Definition von Langer (1942) zufolge künden Signale Objekte, Situationen oder Handlungen an (etwa Rauch das Feuer, der Ruf »Vorsicht« Gefahr, die erhobene Hand einen Schlag) oder stehen für Objekte, während Symbole nicht für Objekte stehen (oder sie repräsentieren), sondern für Begriffeund diesen