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NULLI PARVUS EST CENSUS
CUI MAGNUS EST ANIMUS

… auch einmal wieder einer,
der aus seiner Haut steigt,
während die übrigen
nur daraus fahren möchten!

– Wilhelm Raabe –

1

Der Nordweststurm heulte von den Bergen des Peloponnes über die Ägäis, trieb Regenschauer vor sich her, die wie gigantische nasse Lappen gegen das Aluminiumblech klatschten und in Sturzbächen von den Cockpit-Scheiben abliefen. Bei plötzlichen Böen schien das Flugzeug unkontrollierte Bocksprünge nach vorn zu machen, die Tragflächen vibrierten, große, vor Angst zitternde Hände, und wenn die Böen verebbt waren, sackte das Flugzeug, in allen Nähten, Nieten und Verstrebungen ächzend, manchmal wie ein Stein durch, fiel der tobenden, weiß schäumenden See entgegen, wurde aber jedes Mal vom Piloten wieder auf Kurs und Höhe gebracht. Das gleichmäßige, beruhigende Dröhnen der drei Motoren drang nur ganz selten durchs Toben und Prasseln, und obwohl sich Pilot und Kopilot brüllend verständigten, konnte man im Laderaum ihre Worte nicht verstehen.

Die Sitze in der Kabine waren ausgebaut worden, um mehr Stauraum zu gewinnen. Johann Martens kauerte zwischen Säcken, Stoffballen und festgezurrten Munitionskisten, krallte sich mit beiden Händen an einer Metallverstrebung fest, aber wenn die Ju 52 durchsackte, schnitt ihm der Haltegurt dennoch in die Achsel. Er würgte, spürte den süßsauren Geschmack von Erbrochenem auf der Zunge, schluckte, würgte wieder und wunderte sich,

Johann reckte den Kopf vor und starrte durch die Sturzbäche des Regens ins graue Getöse. Erkennen konnte er nur eine der fünf Schlepp-Jus der Staffel, die sich in einiger Entfernung vor ihnen durch den Sturm kämpfte. Der Lastensegler, den sie zog, tanzte wie ein Papierspielzeug im Wind, lag für ein paar Augenblicke ruhiger in der Luft als die Schleppmaschine, begann aber gleich wieder zu schlingern und zu torkeln, bäumte sich gegen den Sog. Johann konnte noch von Glück sagen, dass man ihm einen Platz in der Ju zugewiesen hatte und er jetzt nicht in dem Segler saß. Auf der linken Seite schob sich einer der beiden ME-109-Jäger, die als Begleitschutz mitflogen, ins Blickfeld, rüttelte mit den Tragflächen einen Abschiedsgruß, zog eine weite Schleife und verschwand in der kochenden Regenwand Richtung Festland.

»Wo?«, brüllte Johann zurück.

Der Kopilot klopfte mit den Knöcheln der geballten Faust ans Cockpitfenster, deutete dann mit dem Daumen nach unten. Johann richtete sich schwankend auf und drückte das Gesicht gegen die Scheibe. In diesem Moment

»Wir gehen runter!«, schrie der Pilot.

Johann kroch zurück in die Kabine und schnallte sich an, während das Flugzeug im Sinkflug, von Böen gerüttelt, als stolpere es, einen weiten Bogen schlug, um gegen den Wind zu landen. Ein scharfer Ruck ging durch die Maschine, als der Kopilot den Lastensegler, den die Ju im Schlepp hatte, ausklinkte. Wenige Augenblicke später berührte das Fahrwerk die Piste, die Maschine schwankte leicht, vollführte ein paar Hüpfer, holperte über den schadhaften Asphalt, rollte aus und stand. Die Motoren wurden abgestellt, die Propeller liefen noch eine Weile surrend nach.

»Maleme, Endstation!«, rief der Kopilot durchs Prasseln des Regens auf das Aluminiumblech.

2

Der Fahrer, ein stämmiger, unrasierter Mann in Kakiuniform, legte nachlässig eine Hand gegen den Mützenschirm und stellte sich als Hauptfeldwebel Sailer vor. »Sailer mit a i«, sagte er grinsend. »Herr Martens?«

Johann nickte.

»Willkommen auf Kreta«, sagte Sailer, nahm Johanns Gepäck und verstaute es auf den Rücksitzen. »Ich habe Befehl, Sie nach Chania in Ihre Unterkunft zu bringen.«

»Danke.« Johann winkte den Piloten zu, die in der Kabinentür standen, und stieg neben Sailer auf den Beifahrersitz.

Während sich der Kübelwagen ruckend in Bewegung setzte, riss im Nordwesten die Bewölkung auf, und letzte Strahlen der untergehenden Sonne schimmerten wie

»Kreta also«, sagte Johann und stieß den Rauch gegen die Windschutzscheibe.

Sailer warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Ja, Kreta. Winter gibt’s hier leider auch. Zum Ausgleich keine Heizungen.«

»Na ja«, sagte Johann, »ich werd’s hier schon aushalten.«

Sie schwiegen eine Weile. »Sind Sie«, fragte Sailer plötzlich und zögerte einen Moment, »Zivilist?« In der Art und Weise, mit der er das Wort aussprach, bekam es einen merkwürdigen Klang. Eine Art Misstrauen schwang darin mit, aber auch Neid auf eine Normalität, die immer unerreichbarer zu werden schien.

Johann wunderte sich nicht, dass ein dreißigjähriger, offensichtlich gesunder Mann ohne Uniform, der trotz des knappen Transportraums im Januar 1943 nach Kreta eingeflogen wurde, für etwas Ungewöhnliches gehalten werden musste, wahrscheinlich für einen Parteibonzen,

»Und Sie kommen also«, Sailer sog an der Zigarette und warf die glühende Kippe aus dem Wagen, »direkt aus«, er schluckte und spuckte durchs Seitenfenster auf die Straße, »aus Deutschland?«

»Mehr oder weniger. Bin von München über Rom nach Thessaloniki geflogen und …«

»Wie sieht es in Deutschland aus?«, unterbrach Sailer ihn hastig. »Gibt es immer noch Bombenangriffe? Ich meine, verstehen Sie mich nicht falsch, aber wir bekommen hier nur sehr«, wieder zögerte er, »sehr wenig Informationen. Und ob die stimmen, weiß man nicht so recht. Mit der Feldpost ist das auch eher eine Lotterie, und es gibt praktisch keinen Urlaub mehr. Transportprobleme. Alle Kapazität wird für Versorgung und Nachschub frei gehalten. Ich komme aus Dortmund. Meine Eltern leben da, meine Verlobte …«

»Ihre Verlobte«, echote Johann und dachte an den Brief

»Ja, ja«, sagte Sailer. »Dortmund.«

»Es ist etwas besser geworden«, murmelte Johann zögernd. »Jedenfalls hat es seit dem Sommer kaum noch Angriffe gegeben. Man hat auch die Flak weiterentwickelt, und es gibt bessere Nachtjäger. Zuletzt hat es noch Düsseldorf erwischt, Ende Juli, glaube ich.«

»Und Dortmund?«

»Soviel ich weiß, ist da bislang nichts passiert. Köln muss schlimm gewesen sein, Rostock, Bremen. Und Lübeck. Lübeck hat gebrannt wie, wie …« Er fand das Wort nicht.

»Bislang ist also nichts passiert«, sagte Sailer, »bislang …«

»Ja«, sagte Johann, »bislang«, starrte in die Nacht, die von den auf und ab tanzenden Scheinwerfern des Kübelwagens zerschnitten wurde. »Es kommt aber noch mehr, fürchte ich.«

Die Straße musste jetzt unmittelbar am Ufer entlangführen, weil sich manchmal das Rauschen und Schlagen von Brandung ins Motorengeräusch mischte. Der Sturm war abgeflaut. Hin und wieder strich noch eine verspätete Böe vom Meer herüber, griff durch die offenen Seiten ins Wageninnere und ließ das Persenningdach des Kübelwagens knattern. Im Norden blinkten Sterne am Himmel, und manchmal konnte man im Süden hinter den eilig ausdünnenden Wolkenbahnen schon einen niedrigen Mond erkennen.

»Und Russland?«, fragte Sailer plötzlich. »Wir hören hier immer nur Offensive, Offensive, Offensive. Und Sieg an allen Fronten.«

Sailer war abrupt auf die Bremse getreten, brachte den Kübelwagen zum Stehen, schaltete Motor und Scheinwerfer aus. »Da vorn auf der Straße bewegt sich was«, flüsterte er, lauschte in die Dunkelheit und zog unter seinem Sitz eine Maschinenpistole hervor. »Können Sie damit umgehen?«

»Ich fürchte nein«, sagte Johann entsetzt. »Aber was soll da denn sein?«

»Weiß ich nicht«, zischte Sailer. »Vielleicht Banden.«

»Was für Banden?«

Sailer gab keine Antwort, ließ den Motor wieder an, fuhr im Schritttempo weiter, lenkte den Kübelwagen mit der linken Hand und klemmte sich die Maschinenpistole unter den rechten Arm, den Finger am Abzug. Im Mondlicht, das wie aus einem schwankenden Bullauge hinter Wolkenfetzen hervorbrach, erkannte Johann einen wippenden Schatten auf dem hellen Schotterbelag der Straße. Sailer schaltete plötzlich die Scheinwerfer wieder ein. Der Lichtkegel riss grell aus der Dunkelheit, was sich da vor ihnen bewegte. Auf einem Esel hockte eine Gestalt, die so weit nach vorn gekrümmt war, dass sie fast auf Hals und Kopf des Tieres lag. Als der Kübelwagen nur noch wenige Meter entfernt war, trat eine in Schwarz gekleidete Frau, die den Esel an einem Strick führte, heftig gestikulierend auf die Fahrbahn und versperrte den Weg. Sailer musste bremsen, um die Frau nicht zu überfahren, und brachte fluchend die Maschinenpistole in Anschlag, als sie

»Warten Sie«, sagte Johann, »ich glaube, die Frau hat gesagt, dass sie ihren Mann ins Krankenhaus bringen muss.«

»Können Sie etwa Griechisch?« Sailer sah Johann staunend an, stoppte aber nicht, sondern drückte ihm die Maschinenpistole in die Hand, beschleunigte den Kübelwagen und jagte so schnell weiter, wie die von Schlaglöchern übersäte Straße es zuließ.

»Wollen Sie den Leuten denn nicht helfen? Wir könnten doch zumindest den Mann mitnehmen.« Johann hielt sich am Türrahmen fest, streckte den Kopf aus dem Wagen und sah hinter sich die Gruppe in der Nacht verschwinden. »Halten Sie doch an, Mensch!«

»Ich habe Befehl, Sie in Ihr Quartier zu bringen«, sagte Sailer ruhig. »Und sonst gar nichts.«

»Aber das ist doch ein Notfall und …«

»Das kann genauso gut ein Hinterhalt sein«, knurrte Sailer durch zusammengebissene Zähne. »Diese Scheißbanden sind schon seit Wochen wieder aktiv.«

»Welche Banden?«

»Partisanen«, sagte Sailer. »Nennen sich selbst Andarten. Dreckschweine.«

Sie schwiegen. Johanns Hilfsbereitschaft wich einer diffusen Angst. Auf Kreta, hatte Professor Lübtow zu ihm gesagt, sei man in diesen Zeiten wahrscheinlich sicherer als in Deutschland. Da könne Johann sich einen feinen Lenz machen. Von Partisanen war keine Rede gewesen. Und jetzt saß er hier auf dem Weg nach Chania mit einer Maschinenpistole auf dem Schoß, die er im Notfall

»Sie können Griechisch?«, fragte Sailer plötzlich. »Dann sind Sie also Dolmetscher?«

»Nein, nein«, Johann schüttelte den Kopf, »mit meinem Griechisch ist es nicht sehr weit her, aber ohne mein Griechisch wäre ich jetzt wohl auch nicht hier.«

»Verstehe«, nickte Sailer und warf Johann einen verständnislosen Seitenblick zu.

Sie hatten inzwischen den westlichen Vorort durchquert, fuhren an der venezianischen Mauer entlang, die Chanias Altstadt umgab, passierten einen Platz vor einer großen Markthalle, durch deren erleuchtetes Portal Menschen ein- und ausströmten, bogen aber gleich wieder in eine stillere Straße ab. Im Schein von Straßenlaternen, die in weiten Abständen trübes Licht warfen, erkannte Johann in Gärten und Parks weiß gekalkte Villen, Häuser im klassizistischen und venezianischen Stil.

»Chalepa«, sagte Sailer, »das Diplomatenviertel. Ganz so nobel ist Ihr Quartier nicht, aber ich würde jederzeit mit Ihnen tauschen.«

Schließlich kamen sie in eine schmale, weiter ostwärts führende Straße. Die Häuser waren bescheidener als in Chalepa, wirkten aber im vorbeihuschenden Licht der Scheinwerfer sauber und gepflegt. Vor einem schlichten,

»Da wären wir«, sagte er, blickte die Straße auf und ab, sah auf seine Armbanduhr und schüttelte den Kopf. »Eigentlich sollten Sie von Leutnant Hollbach empfangen werden, aber sein Wagen ist nicht da. Ich habe lediglich Befehl, Sie hier abzusetzen.«

Sie stiegen aus. Johann nahm seinen Rucksack, Sailer trug den Koffer. Die Haustür öffnete sich, bevor sie die Schwelle erreicht hatten, und eine dunkelhaarige Frau in einem knöchellangen, blauen Wollkleid trat heraus.

»Kalos orisate«, sagte sie und streckte Johann die Hand entgegen. »Welcome in Chania. Mr. Martens, I presume? I am Mrs. Xenakis.«

»Ja, also yes beziehungsweise efcharisto«, stammelte Johann, gab der Frau die Hand und verbeugte sich knapp.

»O! Do you speak Greek?«

Nur ein bisschen, erklärte Johann auf Griechisch, eigentlich lerne er es noch. Altgriechisch könne er besser.

Die Frau lachte. Leider spreche sie kein Deutsch, aber mit Griechisch, Altgriechisch und Englisch werde man wohl irgendwie eine gemeinsame Sprache finden.

Sie führte die beiden Männer durch einen gefliesten Flur. Sailer stieß Johann an, als sie an einer offen stehenden Tür vorbeikamen, und Johann warf einen Blick in den Raum, der wie das Behandlungszimmer eines Arztes aussah.

Ihr Mann, sagte Frau Xenakis, der das nicht entgangen war, sei Arzt, und sie hoffe sehr, dass er bald wieder nach Hause kommen möge.

Sie gelangten in ein geräumiges Esszimmer, von dem ein offener Durchgang zur Küche führte. In der Mitte des Raumes stand ein runder Tisch aus dunklem Olivenholz.

»Leutnant Hollbach?«, sagte Sailer und tippte auf seine Armbanduhr.

»O yes, excuse me.« Frau Xenakis nahm einen Briefumschlag von einer Kommode und reichte ihn Johann. Der Herr Leutnant werde erst morgen erscheinen können, und der Brief sei vor zwei Stunden von einem Kradmelder abgegeben worden.

Johann öffnete den Umschlag, auf dem sein Name stand, und las, was offenbar in Eile handschriftlich notiert worden war.

Sehr geehrter Herr Martens!

Wichtige Dienstverpflichtungen machen es mir leider unmöglich, Sie heute Abend in Ihrem Quartier zu begrüßen und Sie über Ihre kommenden Aufgaben zu instruieren. Ich werde Sie morgen Vormittag um 9 Uhr aufsuchen, um alles Weitere zu besprechen. Sobald Sailer Sie bei Frau Xenakis abgesetzt hat, soll er sich unverzüglich bei seiner Einheit zurückmelden.

Hollbach

PS: Frau Xenakis ist vertrauenswürdig.

Johann reichte Sailer den Brief, der ihn überflog, mit einem Blick auf Wein, Brot, Käse, Tomaten, Oliven und Äpfel, die auf dem Tisch standen, leise »Scheiße« sagte, die Hand an die Mütze legte, auf dem Absatz kehrtmachte und das Haus verließ. Das meckernde Geräusch des Boxermotors, als der Kübelwagen anfuhr. Verlegene Stille.