Maeve Binchy
Sommerleuchten
Roman
Aus dem Englischen von Heinz Tophinke und Ursula Wulfekamp, Kollektiv Druck-Reif
Knaur e-books
Maeve Binchy wurde in Dublin geboren, studierte Geschichte und arbeitete als Lehrerin. 1969 ging sie als Kolumnistin zur Irish Times. Sie hat zahlreiche Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke geschrieben. Ihre Romane, darunter »Die irische Signora« und »Ein Haus in Irland«, wurden in England, den USA und in Deutschland zu Bestsellern. Auch »Cathys Traum«, »Wiedersehen bei Brenda« und »Insel der Sterne« landeten gleich nach Erscheinen sofort ganz oben auf den internationalen Bestsellerlisten.
In dem verschlafenen irischen Dorf Mountfern geht stets alles seinen gewohnten Gang – bis eines Tages der reiche, attraktive Patrick O’Neill mit ehrgeizigen Plänen aus Amerika zurückkehrt: Er möchte aus dem verfallenen Gutshof Fernscout ein Luxushotel machen. Schon bald stehen sich die Dorfbewohner in zwei feindlichen Lagern gegenüber, und ihre Freundschaften und Beziehungen werden auf eine harte Probe gestellt …
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Firefly Summer« bei Hodder Stoughton Ltd., London.
eBook-Ausgabe 2012
Knaur eBook
© 1987 Maeve Binchy
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 1996 Knaur Taschenbuch
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München
Coverabbildung: Gettyimages © Ed Freeman; Gettyimages © Cartier
ISBN 978-3-426-41398-2
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Irischer Dichter (1779–1852), der vor allem durch seine Irish melodies berühmt wurde [A. d. Ü.]
Zwanzig Shilling sind ein Pfund. [A. d. Ü.]
Kleeblatt als Wahrzeichen Irlands
Irisch: Eichenknüttel
Irischer Kobold
Irischer Ausruf: »Bei Gott!«
Britisch: plädierender Rechtsanwalt (vor höheren Gerichten)
Britisch: Anwalt, der nur vor niederen Gerichten plädieren darf.
Die Sonnenstrahlen fielen schräg durch die Fenster und machten alle Ränder und Flecken auf der Theke deutlich sichtbar. Kate Ryan wischte sie mit einem Tuch weg, gleichzeitig streifte sie ihre Hausschuhe ab und zog die Gummistiefel an. Dann verstaute sie ihre Handtasche unter der Theke, und mit fast derselben Bewegung öffnete sie die Küchentür, um nachzusehen, ob Eddie und Declan nicht schon wieder das neue Mädchen quälten. Die Neue hatte rote Augen und ein trauriges Gesicht; sie vermißte den heimatlichen Bauernhof. Wenn Eddie und Declan sich von ihrer schlimmsten Seite zeigten, würde sie möglicherweise zu ihrem Hof zurücklaufen. Aber Gott sei Dank hatte die Schildkröte auch nach drei Wochen noch nicht ihren Reiz verloren. Die beiden Knaben lagen auf dem Bauch vor ihr, fütterten sie mit Kohlstrünken und kreischten vor Freude, wenn sie das Fressen annahm.
»John«, rief Kate nach oben, »stell dich doch mal hinter die Theke. Ich muß über den Fluß hinüber und nach den Zwillingen schauen. Sie müssen sich für das Konzert feinmachen, und ich habe noch keine Spur von ihnen gesehen.«
John Ryan stöhnte. Wieder einmal war eine Idee wie weggeblasen. Er hatte gedacht, ihm seien ein oder zwei Stunden Alleinsein vergönnt, in denen er sich seinen Gedichten widmen könnte. »Eine Minute noch«, antwortete er in der Hoffnung, sein guter Gedanke würde ihm wieder einfallen und nicht völlig verschwinden.
»Nein, die beiden sind sowieso schon zu spät dran. Hör zu, bring deine Schreibsachen mit herunter. Wahrscheinlich kommt sowieso niemand, aber es muß jemand hinter der Theke sein.«
Die Tür fiel ins Schloß, und durch das Schlafzimmerfenster konnte John Ryan seine Frau über den kleinen Steg gegenüber dem Pub laufen sehen. So wie sie über das Gatter kletterte, sah sie eher wie ein Mädchen als eine Frau in den Dreißigern aus. Überhaupt wirkte sie in ihrem Sommerkleid und ihren Stiefeln wie ein Mädchen, als sie auf der Suche nach den Zwillingen leichtfüßig zur Ruine von Fernscourt hinüberlief.
Seufzend ging er in den Pub hinunter. Er wußte, daß es dichtende Barkeeper gab und Männer, die inmitten übelriechender Schützengräben ätherische Verse schreiben konnten. Aber er gehörte nicht zu dieser Sorte.
John Ryan war ein eher langsamer und bedächtiger Mann, kräftig gebaut und mit einem Bierbauch, der ihm im Lauf der Jahre, die er hinter dem Tresen verbracht hatte, gewachsen war, und mit Wangen, die in derselben Zeit schlaff geworden waren. Auf seinem Hochzeitsfoto sah er völlig anders aus; es zeigte einen viel schlankeren, tatkräftig wirkenden Mann. Doch sein jungenhaftes Aussehen hatte er noch nicht ganz verloren. Sein sandbrauner Haarschopf hatte nur wenige graue Strähnen, und trotz der buschigen Augenbrauen gelang es ihm nie, wütend auszusehen, auch wenn er sich darum bemühte – etwa zur Sperrstunde oder wenn er sich mit einer Katastrophe auseinandersetzen mußte, die die Kinder angeblich angerichtet hatten.
Kate hatte sich seit ihrer Hochzeit kaum verändert; das sagte er häufig, und es gefiel ihr. Trotzdem meinte sie, das sei alles nur albernes Gerede und er gebe es nur von sich, um nicht hinter dem Tresen stehen zu müssen.
Aber es war die Wahrheit; er betrachtete die Braut auf dem Foto mit ihren langen dunklen Locken, die von einer cremefarbenen Schleife zusammengehalten wurden, und dem cremefarbenen Kleid sowie dem dazu passenden Mantel. An jenem Regentag in Dublin hatte sie so schick ausgesehen, daß er sich kaum vorstellen konnte, daß sie mit ihm in Mountfern leben würde. Kate hatte keinen Bauch davon bekommen, daß sie anderen Drinks servierte, wie sie ihm oft spitz ins Gedächtnis rief. Sie sagte, es gebe kein Gesetz dafür, daß man jedes Bier, das einem angeboten werde, auch annehmen oder sich bei jeder Runde, die man für Gäste zapfte, auch selbst ein Glas genehmigen müsse. Aber für Frauen war es eben anders.
John war das jüngste der sieben Ryan-Kinder gewesen, das verwöhnte Nesthäkchen, über dessen Ankunft seine Mutter ebenso erstaunt wie erfreut gewesen war, hatte sie doch geglaubt, ihre Familie sei längst vollzählig. Soweit er zurückdenken konnte, hatte man ihn überfüttert und ihm zum Kuchen auch noch Brause zu trinken gegeben. Als Junge war er nur durch seinen großen Bewegungsdrang schlank geblieben, vor allem durch die meilenweiten Radfahrten zu Tanzveranstaltungen. Jetzt hingegen spielte sich sein Leben zwischen dem Gedichteschreiben und dem Bedienen an der Theke hauptsächlich im Sitzen ab.
Er war sich nicht sicher, ob er seinen Söhnen dieses Leben wünschte. Er erhoffte sich so vieles für sie – sie sollten sich die Welt ansehen, vielleicht zur höheren Schule und dann auf die Universität gehen. Dieser Gedanke übertraf die kühnsten Träume seiner Eltern; deren Hauptanliegen war es gewesen, ihren Kindern eine leichte Auswanderung zu ermöglichen. Natürlich hatte die Kirche dabei geholfen; sie hatte dafür aus der Ryan-Familie zwei Nonnen und zwei Priester bekommen. Doch bei seinen eigenen Kindern konnte John keinerlei Gefühl von Berufung entdecken. Michael war verträumt und nachdenklich – vielleicht ein Eremit? Oder würde Dara einmal eine tatkräftige Mutter Oberin abgeben? Eddie war praktisch veranlagt, möglicherweise ein Missionar, der Heiden im Bauen von Hütten und im Graben von Kanälen unterwies. Und dann Declan, das Baby. Vielleicht konnten sie ihn irgendwo in der Nähe als Hilfsgeistlichen unterbringen, damit sie immer ein wachsames Auge auf ihn werfen konnten.
Das war natürlich alles Unsinn. Keiner von ihnen würde auch nur im entferntesten irgendwo irgend etwas mit der Kirche zu tun haben wollen. Trotzdem, wenn John Ryan an die Zukunft dachte, sah er sich nie im Kreis seiner drei Söhne oder sogar seiner Tochter in der Kneipe stehen.
Dafür reichte schon die Kundschaft nicht aus. Wie in vielen irischen Ortschaften hatte man auch in Mountfern den Eindruck, als gebe es sowieso schon zu viele Pubs. Wenn man die Bridge Street, die Hauptstraße, entlangging, kam man an nicht weniger als drei Lokalen vorbei. Zum einen Foley’s am Ortsanfang, obwohl man das eigentlich gar nicht mehr als einen Pub bezeichnen konnte; er bestand im Grunde nur aus einer Theke, wo abends ein paar Freunde von Matt Foley herumstanden und tranken; dort wußte keiner mehr so recht, wie man einen richtigen Gast bediente. Dann gab es Conway’s, das im Grunde mehr ein Lebensmittelgeschäft war mit einer Bar dahinter. Die Stammkundschaft von Conway’s bestand aus heimlichen Trinkern, aus Leuten, die öffentlich nicht unbedingt zugeben wollten, daß sie tranken. Sie kamen, um eine Packung Cornflakes oder ein Pfund Mehl zu kaufen, und kippten sich nebenbei der Gesundheit zuliebe einen Brandy hinter die Binde. Oft gingen auch Trauergesellschaften dorthin, weil der alte Barry Conway zugleich der Leichenbestatter war, und es schien nur recht und billig, in seine Kneipe zu gehen, wenn man oben am Berg jemanden begraben hatte. Und Dunne’s stand immer kurz davor zu schließen. Paddy Dunne wußte nie, ob er Getränke nachbestellen sollte; er sagte immer, es werde sich kaum lohnen, weil er demnächst zu seinem Bruder ziehen werde, der in Liverpool einen Pub hatte. Aber dann ging es mit dem Geschäft im Liverpooler Pub plötzlich bergab, oder aber es ging bergauf mit den Trinkgewohnheiten der Einwohner von Mountfern. Seine Kneipe hatte etwas Ungewisses an sich, und ständig wurden Spekulationen darüber angestellt, wieviel er bekommen würde, wenn er seine Lizenz verkaufte.
John Ryans Pub hatte also seine Konkurrenz – drei in einem kleinen Ort wie Mountfern. Andererseits hatte John die ganze Kundschaft von der River-Road-Seite des Ortes. Zu ihm kamen die Bauern von dieser Seite des Ortes. Außerdem war sein Pub größer und besser als die anderen drei und hatte ein größeres Angebot an Getränken. Und es gab viele, die gerne den Fluß entlang zu Fuß hierherkamen.
John Ryan wußte, daß das Schicksal gnädig zu ihm gewesen war. Ihn hatte niemand der Obhut eines religiösen Ordens unterstellt, als er noch im Kindesalter und leicht beeinflußbar gewesen war. Und er war auch nicht zu einem Leben harter Arbeit nach Amerika verschickt worden wie zwei seiner älteren Brüder. Gemessen an deren Los, hatte er ein friedliches, leichtes Leben, das es ihm eigentlich ermöglichen sollte, sein Geschäft zu führen und Gedichte zu schreiben.
Aber er war eben ein Mensch, der eins nach dem anderen tun mußte, beinahe schon zu eingeübt, zu vorhersagbar für seine Frau, die in dem Gefühl lebte, daß ein Mensch in der Lage sein sollte, in einem Aufwasch gleich mehrere Dinge zu erledigen.
John brauchte Zeit, um zu schreiben, und Zeit, um Drinks zu servieren. Er konnte nicht blitzartig von einer Betätigung auf die andere umschalten, wie zum Beispiel Kate es konnte. Er konnte sich auch nicht so wie sie auf die raschen Stimmungsumschwünge der Kinder einstellen. Entweder sie waren brav, oder sie waren es nicht. Er konnte nicht wütend sein und ein paar Minuten später schon wieder lächeln. Wenn er wütend war, dann war er wütend. Das passierte selten, aber wenn es vorkam, war seine Wut gewaltig. An einen einzigen von Daddys großen Zornesausbrüchen erinnerte man sich lange; Mammy dagegen wurde pro Woche ein dutzendmal wütend, aber es war auch schnell wieder vergessen.
John seufzte noch einmal wegen der Flinkheit seiner Frau und wegen seines Unmuts darüber, daß er seine Arbeit, seine eigentliche Arbeit, genau in diesem Augenblick unterbrechen mußte. Er wußte, daß das Schicksal ihm mit diesem Pub etwas beschert hatte, um das ihn viele Männer in Irland sehr beneideten. Die Kneipe brachte zwar nicht genug Geld ein, um noch eine Arbeitskraft einzustellen, aber andererseits ging das Geschäft auch nicht so schlecht, daß er am Tresen sitzen und ungestört schreiben konnte. Er hatte weder Papier noch einen Stift mit nach unten gebracht – und auch keinen guten Einfall. Wenn Kunden einen mit Papier und Stift dasitzen sahen, dachten sie doch nur, man sitze über den Rechnungsbüchern und mache ein kleines Vermögen. Und es wäre ohnehin sinnlos gewesen, denn soeben kam Jack Coyne von der Autowerkstatt, der einem ahnungslosen Bauern gerade einen Rosthaufen verkauft hatte, und nun wollten die beiden den Handel mit einem Bier besiegeln.
Jack Coyne hatte ein Gesicht wie ein Wiesel und zwei scharfe Augen, die ständig nach einem Schnäppchen oder einem Geschäft Ausschau hielten. Er war ein kleiner, drahtiger Mann, der sich ebenso wohl fühlte, wenn er ölverschmiert unter einem Auto lag und laut schreiend über das Ausmaß des Schadens Auskunft gab, als wenn er, in einen Anzug gekleidet, seine neu erworbenen Fahrzeuge vorführte, wie er seine Wagen aus zweiter Hand immer nannte. Alles an ihm schien ständig in Bewegung, er konnte nie stillstehen. Sogar jetzt an der Theke trat er unablässig von einem Fuß auf den anderen.
»Schöner Tag, John«, sagte Jack Coyne.
»Es ist schon den ganzen Tag lang schön«, antwortete John, während er die Biere zapfte.
»Schlecht für die Ernte«, meinte der Bauer.
»Wann seid ihr schon mal mit dem Wetter zufrieden?« lachte Jack Coyne; es war das zufriedene Lachen eines Mannes, der seine Gebrauchtwagen unabhängig von jedem Wetter verkaufen konnte.
Die Kinder von Mountfern hatten einen Spielplatz, wie ihn keine anderen Kinder in Irland kannten: Fernscourt, das zerfallene Haus am Ufer der Fern. Vor vierzig Jahren war es während der Unruhen von 1922 niedergebrannt. Die Fern-Familie war am Tag des Feuers nicht dagewesen; sie war schon seit Monaten nicht mehr dagewesen.
Oft fragten die Kinder ihre Großeltern über das große Feuer aus, aber sie stießen dabei jedesmal auf eine seltsame Gedächtnislücke. Im Lauf der Zeit hatten die Gefühle, die damals so hohe Wellen geschlagen hatten, sich gelegt. Die Ferns waren vergessen und mit ihnen alles, wofür sie standen. Ihr Haus war eine wunderschöne Ruine, so wie es früher einmal eine wunderschöne große, leere Hülse gewesen war. Und jetzt war es ein perfekter Ort für die langen Sommertage.
Die Obstgärten, die die Ferns damals von ihren Gärtnern hatten anlegen lassen, waren zwar ziemlich verwildert, aber die Pflanzen wuchsen noch immer kräftig. Die Apfelbäume wußten nicht, daß die Ferns fort waren. Ihre alten, knorrigen Äste beugten sich zur Erde hin und boten so den Kindern manchmal noch mehr Möglichkeiten zum Spielen.
An den stehengebliebenen Mauern rankte überall üppig der Efeu. Die Außengebäude, die früher den Scheunenhof umgeben hatten, waren in einem besseren Zustand als das Haupthaus. Hier gab es noch Zimmer, durch die man laufen konnte; hier gab es Bögen und massive Steinmauern. In den Tagen, als Fernscourt erbaut worden war, hatte man den Stallungen große Bedeutung beigemessen; die damaligen Gäste erwarteten, daß sie ebenso solide und großartig waren wie das Wohnhaus selbst.
Als Kate Ryan durch die Lorbeerbüsche schritt, die rechts und links des Pfads vom Fluß hinauf wucherten, konnte sie Schreie und Gelächter hören. Sie dachte zurück an ihre eigene Kindheit in dem kleinen, stillen Haus in Dublin, in dem sie mit ihrer stets kränklichen Mutter gelebt hatte. Sie selbst hatte keine Brüder und Schwestern zum Spielen gehabt; Freundinnen waren nicht erwünscht gewesen und vom Haus ferngehalten worden.
Im Vergleich dazu hatten diese Kinder ein wildes, freies Leben. Fernscourt gehörte der Clique, die heute hier war. Denen, die das richtige Alter für diese Ruine hatten. So war es immer schon gewesen. Die Kleineren, wie Eddie und Declan, waren noch zu jung dafür; die Kinder dieser Altersgruppe wurden weggejagt und bekamen zu hören, sie sollten sich um ihren eigenen Kram kümmern und der sei überall, aber nicht hier. Und die älteren Jungen und Mädchen gingen zur Brücke und gaben voreinander an. Die Jungen sprangen zu bewundernden Ooohs und Aaahs vom Geländer, und die Mädchen wurden im Scherz in den Fluß gestoßen und mußten dann mit nassen Kleidern, die am Körper klebten, wieder ans Ufer klettern.
Aber wenn man in Fernscourt war, existierte nichts anderes mehr. Es war ein schöner Sommer, und sobald die älteren Kinder die tägliche Arbeit, die getan werden mußte, beendet hatten, versammelten sie sich hier, kamen grüppchenweise über die Felder oder die River Road entlang und über den Steg vor Ryan’s; manche bahnten sich einen Weg durch das Gestrüpp auf dem Leinpfad am anderen Ufer, der heute nicht mehr benutzt wurde.
Fernscourt gehörte vielen Kindern, aber für Dara und Michael war es ihr zweites Zuhause. Die Zwillinge hatten ihren eigenen Platz hier, eine Art Heim. Sie spielten hier, auch wenn keine anderen Kinder da waren. Sie hatten einen alten Tisch und zwei kaputte Hocker aus dem Pub. Es gab sogar Besteck – eine verbogene Gabel, ein rostiges Messer und einige angeschlagene Teller. Die waren für private Feste. Seitdem die Zwillinge alt genug waren, um alleine nach Fernscourt hinüberzugehen, sagten sie, wenn sie einmal erwachsen seien, würden sie hier leben.
Es sei schön nah an zu Hause, erklärten sie beschwichtigend, und trotzdem sei es ihr eigenes Heim. Sie würden einfach das ganze Gelände aufkaufen und dazu ein Boot, damit sie alles auf dem Fluß erreichen konnten und keine Straße brauchten.
Dann würde es ihr Palast sein, ihr Schloß, ihr Zuhause.
Sie hatten das Gefühl, Fernscourt gehöre ihnen, weil sie so nah daran wohnten, weil sie die Ruinen von ihren Fenstern über dem Pub aus sehen und, egal ob Winter oder Sommer, jeden Tag hierhergehen konnten.
Aber natürlich wollten sie es nicht nur für sich allein besitzen. Fernscourt war für alle da, vor allem während der großen Sommerferien, wenn der Tag nicht lang genug war für die ganzen Spiele, die sie dort spielten.
Diese Spiele hatten keine festen Regeln, aber die riesigen, moosüberwachsenen Steine, die verfallenen Mauern, die wuchernden Efeugewächse, die wie Vorhänge herabfielen, und die Öffnungen in den verwitterten Mauern, die früher einmal Fenster und Türen gewesen waren, boten genügend Plätze, an denen man klettern, sich verstecken, springen, sitzen und lachen konnte.
In dem alten Glockenturm, der noch im Hof stand, hatten die Mädchen ein behelfsmäßiges Zuhause eingerichtet, wenn auch die Glocke und die Kuppel längst fehlten. Die langen, flachen Stufen, die kaum mehr zu erkennen waren, so überwachsen waren sie mit Unkraut und Moos, benutzten die Jungen für Sprungwettbewerbe, eine Art Mischung aus Weitspringen und Mutprobe. Es ging darum, wer sich die meisten Stufen auf einmal hinunterzuspringen traute; wer es beim waghalsigsten Sprung mit der Angst zu tun bekam, wurde zum Feigling erklärt.
Aber natürlich konnte man sich immer irgendwie herausmogeln. Entweder mußte man gerade in dem Moment nach Hause gehen oder die Kühe melken oder wollte genau jetzt im Fluß schwimmen. Schließlich hatte keiner der Jungen aus Mountfern Lust, sich beim Spielen in ihrer eigenen herrlichen Ruine das Genick zu brechen.
Kate sah, daß sich zwar ein paar Kinder schon auf den Heimweg machten, aber auch sie würden wegen der Vorbereitungen für das Konzert mit Schelte empfangen werden. Tommy Leonard rannte gerade zum Treidelpfad hinunter, das war für ihn der kürzeste Weg nach Hause. Leonard’s Schreibwarenladen befand sich in der Nähe der großen Brücke, deshalb war der Leinpfad für Tommy schneller, als über die River Road zu gehen. Und Kindern seines Alters macht es offenbar nichts aus, wenn sie sich Kleidung oder gar Gesicht und Arme an Dornbüschen aufreißen und zerkratzen, dachte Kate verwundert. Die kleine Maggie Daly, Daras Busenfreundin, kam soeben auf die Lorbeerbüsche und Kate zugelaufen.
»Wir sind schon unterwegs, Mrs. Ryan«, rief sie, denn sie wußte nur zu gut, daß die Mutter der Zwillinge nicht gekommen war, um ihnen einen netten Besuch abzustatten. »Ich glaube, Dara und Michael sind auch schon fertig.«
»Das hoffe ich auch«, erwiderte Kate grimmig. Maggie Daly hatte große ängstliche Augen und erschrak bei jeder Kleinigkeit. Sogar Leopold, der große, aber völlig harmlose Hund der Ryans, machte ihr angst. Wenn er sich nur in der Sonne rekelte, packte Maggie gleich das Entsetzen, als würde der arme Leopold ihr im nächsten Augenblick an die Kehle springen.
Auch Maggies ältere Schwester Kitty, die schon fast erwachsen genug für die Clique an der Brücke war, schlenderte den Lorbeerpfad hinunter. Kitty war bereits zu alt, um noch zu rennen, den ganzen Sommer über war ihr schon langweilig. Fernscourt langweilte sie und die Spiele dort, und auch, daß sie nach Hause gehen und sich für das Konzert schönmachen mußte. Und daß sie nicht mehr zu den einen und noch nicht zu den anderen gehörte, ödete sie ebenfalls an – daß sie mit fünfzehn noch nicht zu den richtigen Erwachsenen gehörte, einen schicken roten Badeanzug tragen und auf dem Floß sitzen konnte, um von den anderen bewundert zu werden; aber zu alt war, um noch Spaß daran zu finden, jeden Tag in dieses schäbige Spielzimmer im alten Glockenturm hinaufzusteigen oder sich durch die Ritzen und Spalten in den moosbewachsenen Wänden zu zwängen. Kitty Daly seufzte schwer, als sie an Kate vorbeiging.
»Wahrscheinlich werden Sie ihnen gleich die Köpfe einschlagen«, sagte sie, so als sei dies für Eltern, die in Fernscourt auftauchten, gang und gäbe.
»Ganz und gar nicht«, antwortete Kate fröhlich, »ich wollte nur mal nachsehen, ob sie etwas haben wollen. Ein Täßchen Tee oder so, würde ich ihnen doch gerne … meinen herzallerliebsten Zwillingen …«
Kitty machte sich flugs aus dem Staub.
Dara und Michael waren ganz ihrer Mutter nachgeraten. Keine sandfarbenen Augenbrauen wie John Ryan – die schien nur Eddie geerbt zu haben. Wie Kate waren auch die Zwillinge dünn und drahtig, aber als Junge war ihr Vater natürlich auch nicht anders gewesen. Kate bemerkte, daß den markanten dunklen Gesichtszügen der beiden die typischen Lachfalten der Ryans fehlten und dieses anscheinend stete Lächeln, selbst wenn niemand zugegen war. Alle anderen Ryans hatten dieses Lächeln – sogar Kates alte mißbilligende Schwiegermutter, die der Ansicht gewesen war, das Mädchen aus Dublin sei nicht gut genug für ihren Lieblingssohn. Dara und Michael hingegen wirkten oft sehr ernst, ihre Augen waren groß und dunkel und vermittelten den Eindruck, als ob die beiden zu sehr in Gedanken vertieft seien. Wie Kate. Immer wenn sie ein Foto von sich sah, schrie sie entsetzt auf und sagte, sie sehe aus wie eine Hexe oder ein Racheengel. Sie schien innerlich immer vor Anspannung zu platzen, anstatt in die Kamera zu lächeln.
Aber außer ihr fiel das niemandem auf.
Und immer wieder sagten alle, die Zwillinge seien ein wohlgeratenes Paar, vor allem im Sommer, wenn sie braungebrannt in ihren kurzen Hosen und bunten Hemden über die ganze Gegend ausschwärmten und jeden Winkel von Mountfern und Umgebung erforschten.
Kate fragte sich, wie die beiden die Schelte, die ihnen heute noch bevorstand, aufnehmen würden. Sie hätten schon vor gut einer halben Stunde zu Hause sein sollen, um sich für das Schulkonzert in Schale zu werfen. Kate war verärgert, aber sie wollte es nicht zeigen, weil die beiden sonst beim Waschen und Kämmen hektisch werden und womöglich die auswendig gelernten Texte vergessen würden. Dara sollte ein irisches Gedicht aufsagen, und Michael würde mit seinen Mitschülern Lieder von Moore singen. Miss Lynch, die junge Lehrerin, hatte sich so sehr für das Konzert eingesetzt und so viel Freizeit darauf verwendet, daß alle in Mountfern praktisch unfreiwillig in die Sache mit hineingezogen worden waren. Normalerweise hielten das Nonnenkloster und die Brüder getrennte Veranstaltungen ab, aber der alte Stiftsherr Moran hatte gedacht, es sei doch viel besser, nur ein Konzert zu organisieren anstatt zwei. Dieser Vorschlag hatte allgemeine Zustimmung gefunden, und deshalb konnte Nora Lynch sich durchsetzen. Das Konzert fand in der Kirche statt; alle Teilnehmer hatten im Sonntagsstaat um fünf Uhr dazusein. Der Beginn war genau auf sechs festgesetzt und das Ende für spätestens acht Uhr versprochen.
Kate war nun fast an dem ehemaligen Wohnhaus angelangt.
Früher mußte es ein beeindruckender Bau gewesen sein: nur drei Stockwerke, aber ganz hohe Zimmer, große Räume mit riesigen Fenstern. Sicher hatte die Fern-Familie, die über mehrere Generationen hinweg gut hundert Jahre lang hier gelebt hatte, dieses Zuhause sehr geliebt. Kate fragte sich, ob wohl je einer aus dieser Familie sich vorgestellt hatte, daß das elegante Haus eines Tages eine Ruine sein würde, in der die Dorfkinder spielten, die zu ihrer Zeit das Haus nie betreten hätten – es sei denn, um Eimer mit Kohle oder große Krüge mit Wasser hineinzuschleppen.
Die anderen Kinder hatten sich bereits aus dem Staub gemacht, nur ihre beiden waren noch da. Was trieben sie bloß, daß sie immer noch hier waren, obwohl sonst schon alle gegangen waren? Kate spürte, wie die Gleichgültigkeit der beiden gegenüber jeglicher Ordnung sie zornig machte. Sie kämpfte sich durch eine Wand aus Efeu, und da waren sie: Sie saßen auf einer umgestürzten Säule und starrten durch einen Wandspalt auf etwas in der Ferne.
In ihrem Blick lag eine Vorsicht, die mehr Angst als Neugier verriet.
Dort unten standen zwei Männer mit Instrumenten, die auf Stative montiert waren, und machten dazu Eintragungen in ein Notizbuch.
Kate stellte sich hinter die Zwillinge.
»Was machen die da?« fragte Michael sie flüsternd.
»Das sind Theodolite«, erklärte Kate. »Ich kenne das Wort auch nur aus Kreuzworträtseln.«
»Und was tun die da?« wollte Dara wissen.
»Irgend etwas vermessen. Aber ehrlich gesagt, genau weiß ich es auch nicht.«
»Die haben hier nichts zu suchen, diese Theodalisten«, wisperte Michael aufgebracht. »Sag ihnen, das ist Privateigentum. Los, Mam, sag ihnen, sie sollen verschwinden.«
»Nein, die Instrumente heißen Theodolite, nicht die Männer. Die Männer sind Landvermesser, glaube ich. Aber auf jeden Fall ist dieses Grundstück hier kein Privatbesitz. Wenn es das wäre, dürften wir gar nicht hier sein.«
»Kannst du sie nicht fragen … ob sie irgendwann wiederkommen oder ob sie nur heute fotografieren oder was sie da tun. Frag sie doch, Mam«, bettelte Dara. »Du kannst das doch, Leute peinliche Sachen fragen. Bitte.«
»Ich habe im Augenblick nur eine peinliche Frage, und zwar folgende: Warum ist es jetzt halb fünf, und wir sind hier, wo ich euch doch meinen besten Wecker gegeben und unmißverständlich gesagt habe, daß ihr um vier zu Hause sein sollt? Das ist meine unangenehme Frage für heute, und darauf will ich eine Antwort haben.« Die Zwillinge schienen die wachsende Ungeduld ihrer Mutter nicht zu bemerken, sie hörten ihr kaum zu.
»Wir haben nicht einmal richtig gespielt, weil wir uns die ganze Zeit gefragt haben …« erklärte Dara.
»Und gehofft haben, daß sie gehen würden«, ergänzte Michael die Bemerkung seiner Schwester. Die Zwillinge beendeten oft gegenseitig ihre Sätze.
»Und wir verstehen überhaupt nicht, was …«
»Und es gefällt uns auch gar nicht …«
Kate faßte sie entschlossen an den Schultern, ließ sie den Wecker und ihre ungegessenen Brote einpacken, und dann machten sie sich zu dritt auf den Weg zum Steg. Am anderen Ufer passierte offenbar etwas Aufregendes. Eddie und Declan lagen auf dem Bauch direkt am Wasser und versuchten, etwas zu erreichen, das auf einem Stück Holz flußabwärts schwamm.
Die Jungen schrien, und Carrie, das neue Mädchen, stand hilflos daneben und rang die Hände. Und plötzlich sah Kate, daß es Maurice war, die Schildkröte, die auf dem Holz im Wasser trieb.
»Holt den Rechen und den großen Besen«, befahl sie. Michael und Dara rannten los, um die Geräte zu suchen; sie freuten sich, dem Griff und dem Zorn ihrer Mutter zu entkommen. Eddie mit seinen acht Jahren war puterrot im Gesicht, weil er wußte, daß er für diese Geschichte die Verantwortung zu übernehmen hatte; Declan war ja erst sechs und das Nesthäkchen – er kam immer ungeschoren davon.
Kate manövrierte die Schildkröte ans Ufer und trug sie mit finsterem Gesicht in den Torfschuppen zurück. Unter den Augen der Kinder und der entsetzten Carrie trocknete sie Maurice ab und bettete das Tier auf eine Handvoll Heu. Dann sagte sie in einem Ton, der keinerlei Widerspruch duldete, daß es ihr recht sei, wenn Carrie Eddie und Declan dabei helfen würde, sich am Spülbecken in der Küche Gesicht und Hände zu waschen. Und Michael und Dara sollten sofort ins Badezimmer verschwinden und in fünf Minuten mit blitzblankem Hals, Ohren und Knien wieder erscheinen. Hals, Ohren und Knie erwähne sie nur deshalb extra, weil sie beabsichtige, diesen Körperteilen bei der Begutachtung besondere Aufmerksamkeit zu schenken, aber natürlich habe auch alles andere tadellos sauber zu sein. Diesen Worten folgte unverzüglich ein großes Reinigungsritual, und nach der Inspektion durften sich Dara und Michael in den Flur begeben. Eddie und Declan saßen ungewohnt ruhig da und warteten auf den Urteilsspruch ihrer Mutter. Sie wußten nicht, ob sie nun nicht mehr ins Konzert durften … was aber vielleicht gar nicht so schlimm wäre. Oder ob sie gar mit Schlägen zu rechnen hatten – was nicht sehr wahrscheinlich war, denn wenn es Schläge gesetzt hätte, dann gleich an Ort und Stelle.
Die Schwere des Urteils traf sie völlig unvorbereitet.
»Diese Schildkröte gehört nicht mehr euch, Edward und Declan. Ab jetzt ist sie meine Schildkröte. Habt ihr mich verstanden?«
Wenn Eddie als Edward angesprochen wurde, dann war es ernst.
»Aber du meinst doch nicht …«
»Jawohl, sie gehört jetzt mir. Und ich kann mit ihr tun, was ich will. Ich kann sie in den Laden zurückbringen, wo ich sie gekauft habe, weil ich so dumm war zu glauben, ihr würdet euch über ein Haustier freuen. Oder ich kann sie aufessen. Ich könnte Carrie sagen, daß sie sie morgen zum Mittagessen kochen soll.«
Die Jungen waren entsetzt.
»Na ja, warum denn nicht?« fuhr Kate unbekümmert fort. »Ihr habt versucht, sie zu ersäufen, warum soll ich sie dann nicht kochen? Eine Schildkröte hat kein leichtes Leben.«
Eddie schossen Tränen in die Augen. »Mam, wir wollten Maurice nicht ersäufen. Wir wollten nur sehen, ob er schwimmen kann, und als wir feststellten, daß er es anscheinend nicht so gut kann, haben wir ihn auf ein Floß gesetzt, und das ist dann abgetrieben.«
»Vielen Dank, Edward. Du willst mir also sagen, daß es nur ein kleiner Unfall war, oder?«
»Ja … schon?« Eddie dachte, er könne sich womöglich auf diese Weise aus der Affäre ziehen, aber wirklich sicher war er sich nicht.
»Also gut, jetzt, wo Maurice mir gehört, könnten noch andere kleine Unfälle geschehen. Er könnte mir zum Beispiel in den Ofen fallen. Aber darum braucht ihr euch ja nun nicht mehr zu kümmern. Ich verbiete euch, ihm auch nur nahe zu kommen, egal ob im Torflager oder am Herd oder sonstwo!«
»Mami«, brüllte Declan, »du darfst Maurice nicht verbrennen! Bitte, er ist meine Schildkröte!«
»Meine«, korrigierte Kate.
»Aber man darf keine Tiere töten!« schrie Eddie. »Wenn du das tust, dann gehe ich zur Polizei. Ich sage es Sergeant Sheehan!«
»Nur zu, dann sage ich ihm, daß du sie ersäufen wolltest.«
Darauf wurde es still.
»Nun seid nicht so dumm«, sagte Kate nach einer Pause. »Ich werde Maurice nichts tun, aber er gehört ab jetzt mir, und ihr werdet nicht mehr mit ihm spielen. Und heute abend nach dem Konzert gibt’s kein Eis bei Daly’s.«
Das war eine schlechte Nachricht, aber die Strafe hätte ja auch noch schlimmer ausfallen können, und deshalb nahmen sie sie widerspruchslos hin.
»Komm schon, Carrie«, meinte Kate, denn plötzlich tat ihr das Mädchen leid, das mit seinen siebzehn Jahren zum erstenmal am Samstagabend nicht zu Hause sein durfte. »Mach dir ein bißchen die Haare zurecht, und dann gehen wir.«
»Soll ich denn mitkommen?« Carries Gesicht hellte sich auf.
»Aber natürlich, du dachtest doch wohl nicht, wir würden dich allein zu Hause sitzenlassen?« Aber Kate war der Gedanke, das Mädchen mitzunehmen, wirklich erst gekommen, weil Carrie bei der Schilderung des eventuellen Schicksals der Schildkröte ganz betroffen dreingeblickt hatte.
»Das ist wirklich nett von Ihnen, Mam«, sagte Carrie und beeilte sich, eine saubere Bluse anzuziehen und zwei neue Spangen in ihr Haar zu stecken.
Kanonikus Moran war klein und betulich, ein netter Mann mit hellblauen Augen, mit denen er allerdings weder sehr weit noch sehr viel sehen konnte. Er war davon überzeugt, daß die meisten Menschen im Grunde herzensgut sind. Durch diesen Glauben unterschied er sich angenehm von vielen anderen Priestern mit einer Pfarrgemeinde, die davon ausgingen, daß die Menschen in ihrer innersten Seele böse sind. Bei den jungen Vikaren machte deshalb das Wort die Runde, daß Mountfern eine angenehme Stelle war. Und auch der junge Pfarrer Hogan wußte, daß er wirklich Glück gehabt hatte. Wenn der Stiftsherr Moran beim Konzert nur in einem schönen großen Stuhl sitzen und seine Füße auf einen Hocker stellen konnte – weil er manchmal einen Krampf bekam –, dann würde er ganz zufrieden sein. Er würde jeden Vortrag enthusiastisch beklatschen und die Nonnen und Mönche alle namentlich loben; und er würde wissen, daß der alte Anwalt Mr. Slattery einen finanziellen Beitrag dazu geleistet hatte, daß sie die alten Trennwände endlich durch richtige Vorhänge ersetzen konnten. Dafür würde der Kanonikus Mr. Slattery in kurzen Worten danken, denn das war alles, was die Slatterys brauchten, und dann etwas länger beim Dank an Daly’s Molkerei verweilen, die großzügig die Kuchen für den Tee um acht Uhr gestiftet hatte, und die hervorragende Qualität der von Leonard’s Bürobedarf gratis gedruckten Programme loben. Samstags begann der Kanonikus die Beichte schon immer um fünf, und er würde auch dafür sorgen, daß jeder rechtzeitig zum Konzertbeginn von seinen Sünden freigesprochen sein würde. Wie Pfarrer Hogan wußte, war der Stiftsherr davon überzeugt, daß ein frommes Wort der Ermutigung und die Aussicht auf baldige Besserung für viele seiner Gemeindemitglieder eine große Hilfe darstellte. Und die Gemeindemitglieder ihrerseits waren sich wegen seiner hellblauen Augen sicher, daß er halb taub war und die Stimmen nicht erkannte, die ihm im Halbdunkel des Beichtstuhls ihre Sünden vortrugen.
Pfarrer Hogan betrachtete Mountfern als einen guten, freundlichen Ort zum Leben, und wenn sich hier auch nicht die große Herausforderung stellte, von der er einst im Priesterseminar geträumt hatte, so folgte er doch der Überzeugung seines Kanonikus, daß es überall Seelen zu retten gibt und daß die Organisation eines Konzerts für die hier lebenden Menschen im großen Schöpfungsplan vielleicht ebenso wertvoll war wie die Arbeit in der Mission oder die Leitung eines Heims für schwer erziehbare Jugendliche in einer heruntergekommenen Großstadtgemeinde.
Miss Lynch war mehr oder weniger mit dem jungen Mr. Slattery liiert, weshalb er zur moralischen Unterstützung zum Konzert kommen mußte. Er saß neben Kate Ryan, den beiden Jungen und dem Mädchen mit den geröteten Augen, das Carrie hieß.
»Und wie schafft es der Herr des Hauses Ryan, diesem großen kulturellen Ereignis zu entkommen?« fragte Fergus Slattery neidisch.
»Irgend jemand muß ja hinter dem Tresen stehen. Ich weiß, es sieht aus, als sei die halbe Grafschaft hier, aber Sie würden sich wundern, wie viele Männer den Umstand, daß ihre Kinder hier auf der Bühne stehen, dazu nutzen, um einen trinken zu gehen«, erklärte Kate.
»Dann hat er ja eine richtige Entschuldigung.« In Fergus’ Worten lag echte Bewunderung. »Ich kann zwar nicht sagen, daß ich samstags abends arbeiten muß – Anwälte arbeiten ja angeblich sowieso nie –, aber mein Büro ist einfach zu nah. Die Leute müssen mich wirklich durch das Fenster am Schreibtisch sitzen sehen, sonst glaubt es mir keiner.«
Fergus grinste spitzbübisch. Wie ein großer schlaksiger Junge, dachte Kate, obwohl er jetzt schon Mitte oder Ende Zwanzig sein mußte. Sie hatte in ihm immer ein wenig einen ewigen Studenten gesehen, der für die Semesterferien nach Hause gekommen war. Obwohl Fergus die Kanzlei seines Vaters mittlerweile praktisch selbständig führte, fiel es ihr schwer, ihn als Erwachsenen zu betrachten. Vielleicht lag es daran, daß er unordentlich aussah; seine Haare standen immer kreuz und quer vom Kopf ab, gleichgültig, ob er gerade erst beim Friseur gewesen war oder nicht. Und seine Hemden wurden zwar perfekt und liebevoll von der treuen Haushälterin der Slatterys, Miss Purcell, gebügelt, aber dennoch saß sein Kragen selten richtig. Es hätte Kate nicht gewundert, wenn er seine Hemden in der falschen Größe gekauft oder sie verkehrt geknöpft hätte. Er hatte dunkle Augen, und wenn er anders dahergekommen wäre und lange feine dunkle Mäntel getragen hätte, hätte man ihn wirklich für gutaussehend und sogar elegant halten können.
Aber es gehörte zu seinem Charme, daß er nie elegant sein würde; er war sich seines gutaussehenden beeindruckenden Äußeren ebensowenig bewußt wie der Tatsache, daß er in Mountfern und Umgebung schon manche Sehnsucht entfacht und einige ganz bestimmte Hoffnungen geweckt hatte.
»Sie meinen, eigentlich wollten Sie gar nicht kommen? Obwohl Nora Lynch sich abmüht, um bei Ihnen Eindruck zu schinden?«
Kate konnte ihm nicht recht glauben.
»Bei mir Eindruck schinden!« gab er zurück.
»Aber natürlich. Warum sonst würde dieses junge Mädchen alles tun, nur um Ihnen zu zeigen, daß sie auch in so ein kleines Nest wie Mountfern paßt und sich hier wohl fühlen würde?«
»Aber warum sollte sie das gerade mir beweisen wollen?«
»Gehen Sie denn nicht mit ihr?« Kate wunderte sich oft über die Männer. Sie konnten schließlich nicht alle so schwer von Begriff sein, wie es oft den Anschein hatte.
»Ja, sicher, wir gehen mal zusammen ins Kino oder tanzen, aber da ist doch nichts dabei.« Fergus’ Verwirrung war ehrlich.
»Wie meinen Sie denn das – da ist nichts dabei? Das ist doch alles andere als nett von Ihnen, sie hinters Licht zu führen und dann zu sagen, da ist nichts dabei? Also wirklich, je älter ich werde, desto mehr glaube ich, daß die Nonnen recht haben und daß die Männer im Grunde ihrer Seele alle wilde Tiere sind.«
»Aber da ist wirklich nichts dabei«, betonte Fergus. »Ich meine, wir lieben uns nicht oder so, und wir haben keine gemeinsamen Pläne oder Hoffnungen. Über derlei haben wir nie gesprochen. Wirklich!«
»Das glaube ich Ihnen!« erwiderte Kate zynisch. »O Gott, bewahre mich und die Meinen davor, daß wir uns je in einen Anwalt vergucken. Ihr sichert euch doch ab, wie es nur geht.«
»Aber sie glaubt nicht …« begann Fergus, doch in diesem Augenblick trat Nora Lynch auf die Bühne mit einer schicken neuen Frisur von Rosemarys Salon und in einem neuen gelben Kleid, das kurz genug war, um modern zu sein, aber nicht so kurz, daß es den Kirchenvertretern mißfallen hätte. Sie brachte ihre Hoffnung zum Ausdruck, daß diese Veranstaltung, dieser erste gemeinsame Versuch, allen Freude bereiten möge; dann bedankte sie sich beim Stiftsherrn, bei den Brüdern und Nonnen, den Sponsoren, den Kindern und Eltern und versicherte, daß alle einen wunderbaren Abend haben würden. Da sie ja nicht aus Mountfern stamme, betrachte sie es als große Ehre, sich an einer derartigen Veranstaltung des Ortes überhaupt beteiligen zu dürfen. Aber andererseits habe sie das Gefühl, schon immer hierhergehört zu haben, und das werde wohl auch so bleiben.
»Wie alt sind Sie, Fergus Slattery?« flüsterte Kate plötzlich.
»Siebenundzwanzig«, erwiderte er verwundert.
»Sie leben seit siebenundzwanzig Jahren in dieser Welt und wollen mir sagen, daß diese junge Frau sich keine Hoffnungen Ihretwegen macht. Möge Gott Ihnen vergeben, Fergus, wirklich, möge er Ihnen vergeben und Sie mit ein wenig Verstand segnen.«
»Vielen Dank, Kate«, antwortete er, ohne zu wissen, ob ihre Bemerkung als Spitze oder als Ausdruck des Mitleids gemeint war. Aber wie auch immer, beides behagte ihm nicht.
»Ich schaffe es nie, das aufzusagen«, sagte sie zu Maggie Daly.
»Das war etwas anderes.« Dara hüpfte auf einem Bein herum und lugte durch den Spalt in der Tür, die eigentlich fest geschlossen bleiben sollte, um nachzusehen, wie viele Zuschauer da waren.
»Es wird ihnen bestimmt gefallen.« Maggie hielt fest zu ihr.
»Aber es klingt wirklich gut.«
Maggie kicherte. Wenn Dara anfing, komische Dinge zu erfinden, dann war alles in Ordnung.
Ave MariaCill Cais
Maggie Daly umarmte ihre Freundin, wünschte ihr Glück und beobachtete Dara, wie sie auf die Bühne ging.
Cill Cais,
[1]
Unterbrecht nicht die Stille, ihr fahrenden Winde.«
Im Eintrittspreis waren Tee, belegte Brote und Kuchen enthalten. Die belegten Brote waren unter der Ägide von Mrs. Whelan entstanden, die das Postamt leitete und allgemein als die freundlichste Person von ganz Mountfern galt. Sheila Whelan war eine kleine, drahtige Frau mit ungewöhnlich sonnengebräunter, vom ständigen irischen Wind gegerbter Haut, und sie hatte drei Gemmen, die sie von einem Kesselflicker erstanden hatte: eine rosafarbene, eine grüne und eine in Beige. Diesen Schmuck trug sie am Ausschnitt ihrer weißen Bluse – und zwar schon immer, solange man in Mountfern zurückdenken konnte. Außerdem besaß sie ungefähr drei Röcke, die sie schon seit einer Ewigkeit trug, und mehrere Strickjacken, die sie selbst angefertigt haben mußte. Normalerweise strickte sie für andere Leute, etwa für die Babies, die in Mountfern und Umgebung mit verläßlicher Regelmäßigkeit zur Welt kamen, oder Schals für die Älteren und manchmal sogar Schulpullover für Kinder, die einen brauchten. Sie hatte irgendwie immer ein paar Wollreste, von denen sie meinte, es sei schade, sie einfach wegzuwerfen. Ihr Gesicht war freundlich, mit verträumten blauen Augen, die sich nie zu sehr auf etwas konzentrierten, das einer eingehenden Prüfung eventuell nicht standhalten würde.
Sie sei die Sorte Frau, zu der man geht, wenn man einen Mord begangen hat, pflegte Fergus Slattery immer zu sagen. Seltsamerweise hatte sich in der Nähe von Mountfern tatsächlich einmal ein Mord ereignet – der Sohn eines Bauern war in betrunkenem Zustand auf seinen Vater losgegangen. Und tatsächlich war er mit der Mordwaffe, einer Mistgabel, nicht ins Pfarrhaus oder zum Garda-Revier gegangen, sondern zum Postamt.
Es wußte auch niemand, daß Mrs. Whelan die Frauen, die die belegten Brote machten, gebeten hatte, die Kruste wegzuschneiden und jeweils nur einen Teller zu füllen. Dadurch konnte sie sichergehen, daß sie auch bekam, was man ihr versprochen hatte, wenngleich es für sie viel mehr Arbeit bedeutete. Nur Fergus wußte Bescheid, weil Miss Purcell aufgeregt und laut überlegt hatte, ob sie ihre Brote mit Hähnchenpastete oder mit Eiern in Mayonnaise belegen solle, was zu mindestens drei Anrufen bei Mrs. Whelan geführt hatte.
»Was kann ich für Sie tun, Fergus?« fragte sie ohne Umschweife.
»Aber nein.« Doch sie wartete.
»Warum fragen Sie?« hielt sie dagegen.
»Na ja, falls es da irgendein Mißverständnis geben sollte, werden Sie es sicherlich aus der Welt schaffen.«
gibt
»Ich frage Sie doch nur etwas über mich, nichts über andere Leute.«
»Indem ich etwas geradeheraus sage, meinen Sie? Zum Beispiel ›Ich will dich nicht heiraten‹?«
»Andere Leute kommen mit ihren Anliegen zu Ihnen, Fergus; Sie sind jetzt ebenso gefragt wie früher Ihr Vater, und schließlich ist das Ihr Beruf. Und wenn ein Bedarf an richtigen Worten besteht, dann werden Sie sie finden.«
Wenige Tage nach dem Konzert unternahmen Fergus und Nora Lynch eine kleine Ausfahrt. Es war ein sonniger frühsommerlicher Abend. Fergus holte Nora vor ihrem Haus ab und wartete, bis sie auf die Straße trat und auf ihn zugelaufen kam.
»Ich dachte, wir könnten den Berg hinauffahren«, schlug er ihr vor, als sie ihre weiße Jacke mit dem kleinen gelben Besatz anzog, die so gut zu ihrem Kleid paßte.
»Es ist schön ruhig da oben, gut zum Reden, und ich muß dir etwas sagen.«
Ein unangenehmes Gefühl im Magen sagte Fergus, daß diese nette hohlköpfige zwitschernde kleine Lehrerin, die er ein dutzendmal geküßt hatte, dachte, er sei im Begriff, ihr einen Heiratsantrag zu machen.