Lucinda Flynn
Die Erbin
des Windes
Roman
Knaur e-books
Lucinda Flynn ist seit ihrer Kindheit Geschichtenerzählerin und Weltenweberin. Mit 17 Jahren vollendete sie ihren ersten Fantasyroman. Im November 2019 veröffentlichte sie eine Kurzgeschichte in der Berlin Authors Anthologie »Großstadtgefühle«, in deren Netzwerk sie Mitglied ist.
© 2021 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Li-Sa Vo Dieu
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
Coverabbildung: Collage von Nele Schütz Design unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com
Illustration im Innenteil: Shmakova Ksenia / Shutterstock.com
ISBN 978-3-426-46054-2
Für meine Mutter
Die Adlerwacht
Nachts war die beste Zeit für einen Diebstahl. Das dichte Blätterdach der Bäume verdunkelte den Wald, nur die Lichtung zeigte sich im blassen Mondschein. Auf dem festgetretenen Erdboden stand eine Kutsche, präsentiert wie das Prachtstück einer Auktion. In ihrem Schatten schliefen zwei Männer in Schlafsäcken mit teurer Fellauskleidung, geschützt von einer straff gespannten Plane, die Regen und Witterung abhielt. Einer von ihnen war breit und muskulös und hatte seine Waffen zur Nacht niedergelegt, sodass er sie innerhalb eines Wimpernschlages greifen konnte, wenn er aufwachte. Der andere Mann war unbewaffnet. Eine weiße Rose steckte in der Tasche seines Jacketts. Die Segensrose. Er war auf dem Weg zu einer Hochzeit, um dem Paar seinen Segen für die Trauung zu überbringen. In der Kutsche befand sich all der kostbare Tand als Geschenk für die künftigen Eheleute.
Likah war nicht wohl dabei, die Kinder mit dabeizuhaben. Am liebsten hätte sie die Zwillinge sofort zurück in die Baumreihen geschickt. Aber ohne sie gab es keinen Weg in das Innere der Kutsche, denn die Tür war mit einem dicken Metallschloss versehen. Likah passte nicht durch die schmalen Fenster, die Kinder hingegen schon.
Sie schlichen an den Schlafenden vorbei, während der schnaufende Atem der Zuchtpferde das Geräusch ihrer Schritte übertönte. Vor der Kutsche blieben sie stehen. Likah ging leicht in die Hocke und half zuerst Gem, dann Alia hinauf zum Kutschenfenster. Die Kleinen schlüpften hindurch.
Es rumpelte, als sie im Inneren aufkamen. Ein gehetzter Blick hinüber zu den Männern. Sie bewegten sich nicht.
Likah wartete. Mit jeder Sekunde, die die Kinder im Inneren der Kutsche verbrachten, wurde sie ungeduldiger. Sie spürte ihren Herzschlag deutlich bis in ihre Fingerspitzen pulsieren.
In der Kutsche schepperte es. Likah zuckte heftig zusammen und prüfte alarmiert, ob das laute Geräusch die Männer geweckt hatte. Der Mann, der ihr näher lag, drehte den massigen Oberkörper und gähnte mit weit aufgerissenem Mund. Für einige Sekunden herrschte eine Stille, die Likah nicht einmal mit ihrem Atem zu durchbrechen wagte. Doch die beiden Männer schliefen seelenruhig weiter.
»Beeilt euch«, flüsterte Likah.
Alia steckte den Kopf aus dem Kutschenfenster. Likah spürte das Gewicht von Gold und Schmuck, als sie dem Mädchen hinunterhalf. Ihr Bruder ließ sich nicht blicken.
»Gem«, zischte Likah. »Komm jetzt.«
Wie viel länger konnten sie ihr Glück noch herausfordern? Ein Schatten, der das stetige Mondlicht durchbrach, das zu laute Krächzen einer Eule, und die Männer würden aufwachen.
Endlich kletterte Gem aus dem Fenster und ließ sich von Likah zurück auf den Waldboden helfen. Sie überprüfte nicht, was die Kinder in ihre Taschen gestopft hatten, sondern schob die beiden rasch vor sich her Richtung Bäume. Sie wollte nichts lieber als die beiden in Sicherheit bringen und mit dem gestohlenen Gut so schnell wie möglich nach Kathasia kommen.
Gem drehte sich zu ihr um, die klimpernde Tasche eng an seine Brust gedrückt. »Likah!«, stieß er entsetzt aus. »Deine Haarspange!«
Automatisch hob sie die Hand zu ihrem schwarzen Haar. Wo sonst die silberne Spange die Strähnen zurückhielt, die aus dem geflochtenen Zopf fielen, war nichts mehr. Sie warf einen Blick zurück auf die Lichtung, blieb aber nicht stehen.
»Lass sie liegen«, sagte sie sanft, nahm Gems Hand und zog ihn weiter, doch er stemmte sich in den Boden und entwand sich ihrem Griff.
»Aber das ist deine Lieblingsspange. Die von deiner Mutter.«
»Das ist jetzt egal«, sagte Likah nachdrücklich. »Wir müssen weg.«
Doch da war Gem schon losgelaufen. Likah wollte ihm nicht nachrennen, aus Angst, der Lärm könnte die Männer wecken.
»Gem, komm zurück!«, rief sie gepresst, doch er lief weiter, bis er wieder auf der Lichtung angekommen war.
Ihn so nahe bei den Männern zu sehen, hielt Likahs Atem flach, ihr Herz raste, als Gem sich bückte und das Schmuckstück aus dem Gras aufhob. Seine Tasche rutschte ihm von der Schulter, sodass das Gold darin schepperte und ein Echo durch den ganzen Wald jagte. Likah erstarrte. Das Geräusch fuhr ihr durch die Knochen, während Gems erschrockener Blick ihren kreuzte.
Wegzurennen schaffte er nicht mehr. Die Männer waren erwacht, der Kräftigere von ihnen hatte Gem am Kragen gepackt und hielt ihm einen Dolch an die Kehle. Likahs rechte Hand ertastete das Messer, das sie sonst benutzte, um erlegte Kaninchen zu häuten. Sie hatte es noch nie gegen einen Menschen gezogen.
»Soso«, sagte er breite Mann gedehnt und hob gemächlich die Axt auf, die neben ihm lag. »Ein kleiner nächtlicher Ausflug, bei dem sich unser Gold in eure Taschen verirrt hat, nehme ich an?« Seine Stimme knarzte wie ein rostiges Drahtseil.
Likah machte einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu. »Lassen Sie ihn frei.« Sie schluckte. Das Mondlicht spiegelte sich entlang der scharfen Klinge. »Er ist nur ein Kind.«
»Euch einfach gehen lassen?« Der Mann gab ein trockenes Lachen von sich. »Das glaubst du doch wohl selbst nicht.«
»Bitte«, flehte Likah und trat mit ausgestreckter Hand auf Gem zu. »Wir lassen alles Gestohlene hier. Lassen Sie uns nur gehen.«
Mit einem Ruck zerrte der Mann an Gems Haar und presste die Klinge eng an seinen Hals. »Stehen bleiben«, warnte er. Sie hielt inne und starrte das Messer an, das so kurz davor war, Gems Haut zu durchtrennen.
»Wir bringen sie zur Adlerwacht«, beschloss der andere Mann. »Soll das Gericht doch entscheiden, ich mache mir bestimmt nicht die Hände schmutzig.«
Das Gericht. Likahs Gedanken begannen zu rasen. Sie wusste nicht, was man in Kathasia mit ihnen tun würde, aber sie wollte es nicht herausfinden. Die Zwillinge durften nicht verurteilt werden.
Hinter Likah ertönte ein Schrei. Alia hatte einen Stein aufgehoben, warf ihn zielsicher in Richtung des Mannes, der Gem festhielt, und traf diesen im Gesicht.
Likah hechtete vor und riss Gem aus dem nun gelockerten Griff frei. Als Likah ihn zu sich zog, holte der Mann mit dem Dolch aus, und die Klinge riss einen langen Schnitt über Gems Gesicht. Aus Angst, der Mann würde ein weiteres Mal angreifen, zog Likah ihr eigenes Messer und stach zu. Die Klinge bohrte sich tief in die Schulter des Mannes, und der Schmerz ließ ihn laut aufbrüllen. Blut sprudelte aus der Stichwunde hervor und tränkte die reine Waldluft mit einer bitteren Note. Vor Schreck ließ Likah das Messer los, dann stolperte sie mit Gem zurück.
Ein schmerzhafter Ruck an ihrer Kopfhaut. Der zweite Mann hatte sie im Haar gegriffen und zerrte sie an ihrem Zopf zu sich. Grobe Hände umschlossen ihren Nacken und zwangen sie nach unten. Likahs Halsmuskeln brannten, als sie sich dem Druck entgegenstemmte, doch sie konnte ihm nicht standhalten. Dann ließ er sie ohne Vorwarnung los und fuhr zurück, als hätte er sich die Hände an ihr verbrannt. Sie stolperte weg von ihm und blickte in seine entgeisterte Miene.
»Diese Tätowierung, wieso –«, stieß er hervor, doch noch ehe er weiterreden konnte, griff sie nach einer Handvoll Laub vom Boden, warf sie ihm ins Gesicht, packte die Zwillinge und rannte.
Es war ihr egal, dass die beiden kaum mit ihr Schritt halten konnten und sie sie ziehen musste. Sie mussten weg von hier, in Sicherheit. Äste und Dornen schlugen Kratzer in ihr Gesicht, als sie tief in das Unterholz drangen, nur weg von den Männern und ihren Waffen. Laub und Wurzeln knackten unter ihren Füßen. Likah blieb erst stehen, als die Kinder völlig außer Atem waren. Um sie herum herrschte tiefe Dunkelheit, die nur von spärlichem Mondschimmer aufgeweicht wurde.
Likah und die Kinder stützten die Hände auf die Oberschenkel und rangen nach Atem. Alia hustete, Gem fiel auf die Knie. Likah ließ sich neben ihn sinken und zog Alia zu sich heran.
»Geht es euch beiden gut?«, fragte Likah zwischen Keuchen.
»Ja.« Alia drückte das Gesicht an Likahs Schulter, aber Gem schwieg und wandte sich ab. Likah legte ihm sachte eine Hand auf die Schulter. »Gem, deine Wunde. Tut es weh? Lass mich mal sehen.«
Er schüttelte den Kopf, sah aber nicht auf.
Eine Weile war nur das Knacken der Blätter und Äste unter ihren Füßen zu hören. Der harzige Geruch der Fichten tränkte die Luft, und nun, da sich Likahs Herzschlag wieder normalisierte, fröstelte sie unter dem Wind, der durch die Baumreihen streifte.
»Ich hatte so Angst«, sagte Alia und drückte Likahs Hand. »Als er Gem gepackt hat. Ich dachte, jetzt stirbt er, wie Mama und Papa.« Ihre Stimme wurde leise.
»Meinst du, ich hätte sie dann wiedergesehen?« Gems Augen blieben auch im Licht der Sterne matt. Er sah wehmütig aus.
»Sag so was nicht«, entgegnete Alia.
»Du willst doch auch Mama und Papa wiedersehen«, sagte er noch immer ohne Blickkontakt.
»Ja«, erwiderte Alia. »Aber doch nicht so, ohne dich und Likah. Wir sind eine Familie. Wir bleiben zusammen, oder?« Alia wandte sich ihrem Bruder zu. »Likah ist wie eine echte Schwester.«
»Ja, klar.« Er nestelte an seinem Wams und sah sie gar nicht an. Likah wollte ihm etwas sagen, doch sein Blick war so weit weg, dass sie keine Worte wusste, die ihn zurückgeholt hätten.
Auf einer kleinen Lichtung blieb Likah stehen. Sie warf einen Blick zurück, aber die Männer waren ihnen nicht gefolgt. »Lasst uns hier übernachten. Morgen gehen wir weiter nach Seran, einverstanden? Alia, kannst du die Betten vorbereiten? Ich möchte mich nur schnell um Gems Wunde kümmern.«
Alia nickte, hockte sich hin und begann, Äste aus dem Weg zu räumen.
Likah nahm Gem bei der Schulter. Am Rand der Lichtung lag ein umgestürzter Baumstamm. Nachdem sie sich darauf niedergelassen hatten, kramte Likah eine Paste aus ihrer Tasche, befeuchtete ein Tuch und säuberte den Schnitt, der sich von Gems Ohr bis zu seiner Nase zog. Er war nicht tief.
»Das ist nicht deine Schuld«, sagte Likah und rieb die Salbe aus Bienenwachs und Wundbeeren auf den Schnitt.
Wortlos öffnete er die Faust. Darin lag Likahs Haarspange. Sein Griff war so fest, dass die Spange Abdrücke in seiner Handfläche hinterlassen hatte. Likah nahm sie an sich und strich ihm über die Hand.
»Du hast nichts falsch gemacht.«
»Das ist nur passiert, weil ich nicht auf dich gehört habe. Ich habe uns in Gefahr gebracht.«
»Es ist alles gut. Mach dir keine Vorwürfe.«
»Likah? Kommen eigentlich auch böse Menschen in das Nachleben?«
Likah strich ihm durch die widerspenstige kleine Locke, die immer sein linkes Ohr offenbarte. »Im Nachleben ist niemand böse. Es bringt nur die guten Seiten der Menschen zum Vorschein.«
»Das bedeutet, egal, was ich …«
»Du bist kein böser Mensch, Gem«, unterbrach Likah sanft. »Du bist der fürsorglichste Bruder, den ich kenne. Achtest immer darauf, niemanden zu verletzen, und tust alles für die Menschen, die dir wichtig sind. Denk so etwas nicht. Du hast ein gutes Herz.«
»Obwohl ich stehle, obwohl ich keine Eltern mehr habe, und keine Arbeit, und auch kein Zuhause?«
Likah legte den Arm um seine Schultern, sodass er sich an sie anlehnen konnte. »Das ist nicht böse. Ich weiß, unser Leben ist nicht, wie du es dir gewünscht hast, aber ich verspreche dir, das wird sich bald ändern.«
»Ich will nur bei euch beiden sein. Mehr wünsche ich mir gar nicht.«
Likah lächelte, dann deckte sie Gems Wange mit einem Pflaster ab. »Na komm. Geh jetzt zu deiner Schwester.«
Gem rutschte vom Baumstamm und ging mit nachdenklich gesenktem Kopf zurück zu Alia, die immer noch damit beschäftigt war, das Laub beiseitezuschieben, damit nicht allzu viel Ungeziefer in ihre Lumpendecken kroch.
Likah blieb zurück, und für einen Moment überkamen sie die Zweifel. Wo hatte sie die Kinder mit hineingezogen? Sie versuchte sich zu sagen, dass das Leben als Diebin ihre einzige Wahl war, wusste aber, dass es gelogen war. Sie hätte die Kutsche ziehen lassen können. Aber dann würden die Zwillinge das Leben auf der Straße niemals verlassen. Alia und Gem hatten ein Zuhause verdient, und ohne Likahs Hilfe würden sie es nie bekommen.
Sie musste den Kleinen ein gutes Leben ermöglichen. Sicherheit, ein Zuhause, Freunde. Die Möglichkeit, zu lachen und zu weinen. In diesem Leben war für beides kein Raum. Mit dem, was sie gestohlen hatten, konnte das bald Wirklichkeit werden. Von diesem Gedanken erheitert, kehrte Likah zu den Zwillingen zurück.
Lauf, Likah, und schau nicht zurück. Du darfst nicht stehen bleiben, niemals, verstehst du das?
Das hatten ihre Eltern ihr gesagt, als sie Likah von zu Hause fortgeschickt hatten. Aber Likah wollte nicht mehr weglaufen. Sie hatte nie zurückgeschaut, sondern immer nach vorne geblickt. Dort sah sie sich und die Zwillinge in einer Heimat, wie auch immer diese aussah.
»Likah?« Alia zeigte auf den Fisch, den sie am Tag zuvor gefangen und eingelegt hatte. »Soll ich Sonnenkraut dazumischen?«
»Zwei Prisen. Vorsicht, das ist scharf«, antwortete Likah, setzte sich zu ihr und entzündete ein kleines Lagerfeuer, über dem sie ihr Abendessen braten konnten. Das noch leicht feuchte Feuerholz knackte und zischte ein wenig, doch dann übernahmen es die Flammen, und die Wärme schmiegte sich angenehm an die Haut. Alia reichte Likah eine gebogene Metallschale mit improvisiertem Griff, um das Essen zuzubereiten.
Während Likah den Fisch briet, setzte sich Gem hinter sie und zupfte an ihrem Haar herum. Er hatte über die Jahre zahllose Flechtfrisuren an ihrem Haar ausprobiert und protestierte dagegen, dass sie es kürzer schnitt. Ihm zuliebe ließ Likah das Haar lang. Sie mochte das sanfte Ziepen an der Kopfhaut, wenn er ihre Haare flocht.
»Wenn wir in Seran ankommen, was machen wir dann?«, fragte Gem.
»Land kaufen natürlich«, sagte Likah. »Da können wir dann in einem richtigen Haus wohnen.«
»Gibt es eigentlich auch Pflanzen, die Haare seidig machen?«, fragte Gem, der ihren Zopf löste, um noch einmal von vorn zu beginnen.
»Sicher«, antwortete Likah. »Pflanzen kann man für fast alles benutzen: Krankheiten, Schminke, Körperpflege, …«
Alia stocherte in der Pfanne herum, die Likah über das Feuer hielt. »Du wirst eine tolle Botanikerin. Und alle Leute werden in deinem Laden kaufen.«
»Bald.« Likah lächelte. »Sobald wir in Seran sind, finden wir ein nettes kleines Grundstück mit Garten.«
»Und ein Haus«, fügte Gem hinzu. »Ein echtes, eigenes Haus mit Dach. Und richtigen Betten.«
»Mit ganz dicken Decken für den Winter. Und einem Kamin!« Alia hielt die Hände vor sich, als könne sie die Wärme des Feuers schon spüren.
»Und ihr werdet in die Schule gehen und immer brav eure Hausaufgaben erledigen.« Likah legte eine gespielte Strenge in ihre Stimme. Alle drei lachten.
Gem ließ ihr Haar los, drückte die Stirn an ihren Rücken und umarmte sie. »Und danach helfen wir dir bei der Arbeit. Und du bringst uns alles über Botanik bei, was du weißt.«
Als sie den verträumten Ausdruck auf Alias Gesicht sah, wusste sie, dass sie das Richtige tat. Sie würde diesen beiden Kindern eine Zukunft aufbauen, egal, was sie dafür opfern musste.
Nach dem Essen legten sie sich endlich zur Ruhe. Die Zwillinge hielten sich an den Händen und schliefen mit einem entspannten Ausdruck auf den Gesichtern. Nur Likah war wach. Sie lag bäuchlings, den Kopf auf beiden Armen, und starrte in das Lagerfeuer, das zu einer schwachen Glut geschrumpft war. Ihre Augen juckten vor Müdigkeit, aber ihr Geist ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder dachte sie an die Männer, die sie bestohlen hatten, und an den Stämmigen, der sie nach dem Symbol gefragt hatte. Likah tastete nach ihrem Nacken. Sie wusste um das Muttermal, das sie dort trug, auch wenn sie es nie in Gänze gesehen hatte. Warum hatte der Mann so geschockt reagiert?
Etwas raschelte zwischen den Bäumen.
Sie hielt den Atem an und lauschte, doch außer dem zaghaften Zirpen von Zikaden und dem Rauschen von Geäst war nichts zu hören. Lautlos kam sie auf die Knie und stand auf. Die Dunkelheit verschwamm vor ihren müden Augen. Sie ging ein paar Schritte, dann knackte ein Ast. Ruckartig drehte sie sich um.
»Wir haben sie«, ertönte eine barsche Stimme. Dann schlug Likah eine Welle grellen Lichts entgegen, und sie wurde für einen Moment blind. Sie zuckte und hielt sich eine Hand vor die Augen, als sie direkt mit der Sylhfanlampe angeleuchtet wurde. Die Zwillinge regten sich, Gem rieb sich die Augen, und Alia war schon auf den Knien, um aufzustehen.
»Wir sind die Adlerwacht. Wehrt euch nicht. Es zielen drei Schützen auf euch.«
Langsam bewegte Likah sich auf die Zwillinge zu, um sie abzuschirmen. Sie sah sich um. Es waren tatsächlich drei Bogenschützen, in grau-weißer Tracht, auf deren Brust Kathasias Wappen prangte: die schwarze Silhouette eines dunklen Falken auf blauem Grund, dem drei Kringel als Symbol für den Wind auf die Brust gemalt waren. Die Uniform der Adlerwacht, Schwerter des Gerichts von Kathasia und Wahrende der inländischen Sicherheit.
»Wir sind nur Reisende auf dem Weg nach Seran«, sagte Likah und zwang sich zur Ruhe. Ihre Brust schien ihr Herz nicht viel länger in sich halten zu können, so fest schlug es. »Wir wehren uns nicht. Was wollen Sie?«
»Ist sie das?« Eine Frau der Adlerwacht mit rasiertem Schädel. Neben ihr stand ein Mann ohne Uniform, dafür in Lederrüstung. Likah erkannte ihn.
»Ja. Sie haben uns bestohlen«, sagte der Mann mit der Drahtseilstimme.
Der Herr des Windes
Ruppige Hände schnürten Fesseln eng um Likahs Handgelenke, bis die groben losen Fäden des Seils auf ihrer Haut scheuerten. Vier Jahre. Vier Jahre Reisen, vier Jahre mit den Zwillingen, vier Jahre mit einem festen Ziel vor Augen. Sie wollte sich verteidigen, sagen, dass der Mann log und sie unschuldig waren. Aber sie hätte nicht gewusst, wie sie die Lüge über die Lippen bringen sollte. Die Hilflosigkeit lähmte Likah, ihr Körper fühlte sich taub an. Sie konnte nicht fassen, dass es hier enden sollte. Vier Jahre für nichts.
»Nein!«, schrie Alia, als ihr Bruder von ihr weggezogen wurde. Vergeblich streckte sie die kleinen Hände nach ihm aus. Gem biss auf seine Unterlippe, aber die Tränen drangen dennoch aus seinen Augen.
»Hören Sie auf!« Likah kam wieder zu sich. »Die beiden haben nichts getan.«
»Das wird sich zeigen.« Die Anführerin versetzte Likah einen Stoß in den Rücken, dessen Wucht sie vorwärtsstolpern ließ.
»Das sind noch Kinder!«
»Ruhe jetzt«, befahl die Frau.
»Sehen Sie doch hin! Das sind keine Verbrecher! Jeder halbwegs vernünftige Mensch würde verstehen –«
Ihre Zähne knallten aufeinander, als die Anführerin der Adlerwacht ihr ins Gesicht schlug. Likahs Halswirbelsäule knackte, und sie wäre gestürzt, hätte sie nicht jemand von hinten gepackt. Ihre linke Gesichtshälfte summte. Mit Mühe hob sie den Blick, auch wenn die Haut über ihrer Wange schmerzte.
»In den Käfig mit ihnen. Jetzt.« Auf dem kahl rasierten Schädel der Anführerin raste das Blut durch eine hervortretende Ader.
»Wohin bringen Sie uns?«, wollte Likah erstickt wissen. Sie bekam keine Antwort.
Ihr Herz rollte sich zusammen. Sie schluckte und biss sich auf die Unterlippe. Als ihr Blick den von Gem kreuzte, lächelte sie, um ihn zu beruhigen. Gem war zwar jung, aber er durchschaute sie. Sie drückte ihre Fingernägel in die Handballen. Der Schmerz hielt die Tränen zurück.
Die Kutsche, zu der sie geführt wurden, erinnerte mit den Segeln an den Seiten an ein Schiff auf Rädern. Vom Kutschbock stieg herber Pfeifenrauch auf, das Prusten der Pferde schallte im Wald. Hinter dem Gefährt war ein Käfigwagen eingehakt. Robuste Stäbe aus Eisenbuchenholz bildeten ein unausweichliches Gefängnis. Als Likah in den Käfig gestoßen wurde, knallte sie mit dem Schienbein gegen die Stufe und konnte sich wegen der Fesseln nicht mit den Händen abfangen. Ungebremst kam sie mit dem Gesicht zuerst auf und biss die Zähne zusammen, als Holzsplitter ihre Wange zerkratzten. Sie blieb liegen, bis der erste Schmerz pochend nachließ. Das eiserne Schloss quietschte. Die Anführerin der Truppe wandte sich um, ohne ihnen einen weiteren Blick zuzuwerfen, als wären sie Gesindel. Alia krabbelte bis ans Ende des Wagens.
»Beeilung«, rief die Anführerin. »Wir bringen sie noch zur morgigen Verurteilung.«
»Das werden wirklich immer mehr«, knurrte ein Mann, der an der Kutsche vorbeimarschierte. »Da wird sich der Windherr ja freuen … So viele Verbrechen in Kathasia.«
Likah unterdrückte das Wimmern, das sich in ihrer Brust anstaute. Seran war so nahe. So kurz vor ihrem Ziel. Die Kutsche ruckelte, und sie fuhren der Hauptstadt Kathasias entgegen. Der Stadt, in der sich ihre Träume hätten erfüllen sollen. Likah schauderte und presste die Ellbogen zusammen. So plötzlich war alles umgeschlagen.
Die Kutsche rauschte dahin, Wind zog durch die Gitterstäbe und prickelte durch Likahs Hemd hindurch auf ihrer Haut. Durch das hintere Fenster starrte ein grobschlächtiger Mann der Adlerwacht sie an, als warte er darauf, dass sie irgendetwas Dummes anstellte.
Gem zog die Knie an seine Brust. Seine schokoladenbraunen Augen glänzten unter den sich anstauenden Tränen. »Werden wir jetzt eingesperrt?«
»Oder Schlimmeres?«, schluchzte Alia.
Likah wusste nicht, was sie antworten sollte. Die Worte gefroren ihr in der Kehle. Sie schüttelte den Kopf und brachte ein kleines Lachen hervor.
»Ihr Dummerchen. Uns passiert nichts«, erwiderte sie. Sie hätte die beiden gern umarmt, aber ihre Hände waren gefesselt, und so drückte sie ihnen nur einen Kuss auf den Haarschopf. Sie trugen den Duft von violettem Enzian mit sich, der im Frühling überall in Kathasia wuchs. »Ich sage ihnen, was geschehen ist. Habt keine Angst.«
Die Holzstäbe drückten gegen Likahs Hinterkopf. Gefertigt aus Eisenbuche, würde sich jeder Versuch, sie zu zerbrechen, jedoch als Biss auf Granit erweisen. Sie schloss die Augen, um die Verzweiflung zu verbergen, die sich darin auftat.
»Ich hab Angst …« Der Wind jagte Alias Tränen quer über ihre Wangen. »Es ist kalt hier.«
»Komm her«, sagte Likah und streckte die Beine, sodass Alia den Kopf auf ihren Schoß legen konnte. »Lass uns einander wärmen.«
Gem lehnte sich an sie. »Keine Angst. Likah passt auf uns auf. Wie immer.« Er zitterte immer noch, aber seine Stimme war mit Mut veredelt. Es gab Likah keine Hoffnung. Nur die Furcht, dass sie ihn enttäuschen würde. Dass sie die Zwillinge dieses Mal nicht beschützen konnte. Sie fuhren keiner Verhandlung entgegen. Sondern einer Verurteilung.
Alia lächelte. »Du hast recht. Es wird alles wieder gut. Nicht, Likah?«
Likah erwiderte ihr Lächeln, aber ihre Stimme fühlte sich schwer an. »Natürlich. Wie damals mit dem Schneekaninchen, das dem Fuchs entkommen ist, richtig?«
»Das war knapp«, sagte Gem.
»Schlaft jetzt ein bisschen.« Likah legte die Wange auf Gems Kopf. Sie konnte ihnen nicht sagen, wie viel Glück das Schneekaninchen gehabt hatte.
Schallendes Lachen weckte sie. Die Stille des Waldes war gewichen, fröhliche Stimmen und Musik begleiteten nun das Hufgetrappel der Pferde. Der Wind schlug in die Segel der Kutsche, und der Duft von gemahlenen Chilischoten schwebte auf weißem Nebel. Sie hatten Seran erreicht.
Anders als in Likahs Heimat, wo die Häuser aus Kalkstein und Marmor erbaut wurden, waren die Gebäude aus Holz: lackierte Fensterrahmen aus Birke, filigran geschnitzte Baumstämme als Stützsäulen für die Dächer und Eichentüren mit feinsten Ornamenten. Die Dächer ragten stolz in die Höhe. Seran hatte dieselbe Farbenvielfalt wie ein Canyon, Holzarten mit verschiedenen Farbtönen ergaben Muster und bildeten eine ganz eigene Kunst. Ein Mann schöpfte Wasser aus Kanälen, die durch die ganze Stadt flossen, eine Frau schmückte mit zwei Kindern einen riesigen Baum, der aus dem Pflaster der Straße inmitten eines eckigen Platzes hervorbrach. Zwei Mädchen tanzten und warfen ihre Röcke zu schneller Musik.
»Alia, Gem, wacht auf! Seht euch das an.« Sie rüttelte die Kleinen vorsichtig. »Das ist es, Seran!«
Die Kinder blinzelten, dann drückten sie die Gesichter an die Holzstäbe. Nur flüchtig blickten die Stadtbewohner sie an, ehe sie sich wieder ihren Aufgaben zuwandten.
»Da wächst ein Baum aus dem Steinpflaster!« Begeisterung spiegelte sich in Alias Augen. Die Freude der Kinder sprang auf Likah über und brachte ein Lächeln auf ihre Lippen. Die Kleinen waren so aufgeregt. Sie hob den Blick in die Wolken, die wie Wattebäusche über den Himmel zogen. Am Ende der Stadt ragten Türme auf, als wollten sie die Wolken mit ihren Dächern kitzeln.
Likahs Herz wurde schwer. Schloss Falkenschwinge war die Residenz des Fürsten von Kathasia, und die unbeschwerte Zeit würde nur anhalten, bis sie ihm gegenüberstanden. Ihr Magen verhärtete sich zu einem eisigen Klumpen. Sie ließ den Kopf auf die Knie sinken. Was sollte sie tun? Sie hatten diese Männer bestohlen. Alia und Gem vertrauten darauf, dass Likah alles wieder zurechtbiegen würde. Wie sollten sie es verkraften, wenn sie es diesmal nicht konnte?
Sie verdrängte den Gedanken. Sie musste nur überzeugend genug sein. Überzeugend genug, die Kinder aus der Sache herauszureden. Alles andere würde sich ergeben – musste sich ergeben. Sie musste den Kindern das Leben ermöglichen, das sie ihnen versprochen hatte. Likah hatte erwartet, dass die Straßen leerer werden würden, je weiter sie fuhren. Stattdessen gingen immer mehr Menschen neben ihrer Kutsche her, Geplauder erfüllte die Luft, neugierige Blicke glitten zu ihnen hinein. Sie steuerten auf ein Gebäude zu, das wie ein gigantischer Pavillon über ihnen aufragte, mit einer Spitze, die dem Himmel nacheiferte. Die Wände des Gebäudes bestanden nur aus hölzernen Balken. Die Sonne ließ ihr Licht hineinsegeln, und der Wind fegte über das Holz. Sie hielten. Der Ruck erschütterte Likahs Herz. Ihre Miene wurde steif, als Gems Blick ihrem begegnete. Sie betete zum Ersten Wesen, dass Gem ihre Furcht nicht erkannte.
Die Tür des Käfigs knarzte, als ein Mann der Adlerwacht sie öffnete. Er griff nach Likah, bohrte seine Finger in ihren Oberarm und zerrte sie aus dem Wagen, hinein in einen von Stoffen verdeckten Zugang.
»Keine Angst«, rief sie Alia und Gem zu. Doch die Kinder starrten sie entsetzt an.
Alles erschien ihr zu langsam. Ihr Herzschlag, das Gebrabbel der Menge. Der Stoffvorhang glitt hinter ihr zu und tauchte alles in Dunkelheit, und Likah hörte kaum mehr als ihren eigenen Atem. Die dicke Luft schmeckte wie Staub auf ihrer Zunge, ihre Zehen kribbelten bei jedem Schritt, den sie gezwungen war, zu tun. Sie blieb stehen und bohrte die Hacken in den Boden. Sie wollte das nicht. Sie wollte sich nicht dem Urteil einer fremden Person ausliefern, die sie gar nicht kannte.
»Vorwärts.« Der Mann der Adlerwacht packte Likah fester und schob sie weiter.
Der Weg in den Gerichtssaal war quälend lang. Das Rascheln des Stoffes, wenn ihn von der anderen Seite Menschen streiften, der lange Atem des Mannes, der sie führte. Als sie den Eingang erreichten, wusste sie nicht, ob Angst oder Erleichterung die Oberhand gewann.
Likah wurde in den riesigen, kreisförmigen Saal hineingestoßen, dessen hölzerne Balken weit über ihrem Kopf zum Mittelpunkt zusammenkamen. Terrakottafliesen bildeten den Boden des Gerichts, und an den runden Wänden standen Zuschauertribünen, auf denen sich die Menschen tummelten. Weiße, blaue und graue Gewänder dominierten die Menge, die Menschen trugen ihr langes Haar offen.
Auf einem erhöhten Podium saß der ausgemergelte Richter und rümpfte abschätzig die Nase, während er die Falten in seinem Gewand glatt zog. Sein Blick hinter der runden Brille lag auf den Gefangenen, in deren Reihe Likah sich nun einfand. Sie fühlte sich fehl am Platz: Sie war keine Kriminelle. Zumindest nicht wie die anderen. Sie hatte doch nur gestohlen und diesen Mann angegriffen, um Alia und Gem zu helfen. Ihr Herz pochte bis in ihren Kopf hinein, es fiel ihr schwer zu atmen. Denn ihre Aufmerksamkeit fiel auf einen Mann, der mit dem Richter am Pult saß, die Beine übereinandergeschlagen, eine Hand am Kinn, und sich auf seinem Sessel zurücklehnte.
Er musterte die Gefangenen, die feinen Lippen leicht spöttisch verzogen. Der Wind durchstreifte sein schwarzes Haar wie ein ständiger Begleiter, als spielte er mit den Strähnen. Auf seiner Schulter saß ein nussbrauner Falke, den Kopf unter einen Flügel gesteckt. Arkin Minnestra, der Fürst Kathasias, der schon mit Anfang dreißig ein Land regierte. Likah kam sich winzig vor.
Das ganze Publikum sah ihn ehrfurchtsvoll an, während er lediglich Augen für die Gefangenen hatte. Hinter Likah kamen Alia und Gem in die Reihe. Sie nickte ihnen zu. Gem zitterte, aber er erwiderte ihre Geste.
»Der Nächste, vortreten!«, befahl der Richter harsch.
Ein Mann stellte sich vor das Podium. Über seine linke Gesichtshälfte zogen sich drei lange, frische Striemen, die so aussahen, als hätte man ihm mit Fingernägeln über das Gesicht gekratzt. »Name: Myzam Furec, Alter sechsunddreißig, geboren in Lissan, Seva. Wohnhaft in Seran, Kathasia. Verheiratet und kinderlos. Vorgeworfen wird Ihnen der Mord an Ihrem Bruder.«
Myzam schnaubte, sein Gesicht glich einer geplatzten Tomate. »Mord? Ihr wollt mich doch verarschen.«
»Es wurde der Tod durch einen stumpfen Schlag auf den Hinterkopf festgestellt.«
»Er war selbst schuld! Hat sich immer für was Besseres gehalten, und als er dann so rumgeprahlt hat, da hatte er das eben davon. Wenn ich es nicht getan hätte, hätte es irgendjemand auf der Straße gemacht. Wer sich so zur Schau stellt, bettelt ja fast danach. Wenn ihr mich fragt, hab ich den Leuten einen Gefallen getan.«
Likah starrte ihn an. Seine breiten Lippen waren vor Wut verzogen unter dem sorgsam gestutzten Bart. Da war keine Reue in dem Blick des Mannes. Das Publikum wurde still, dann kochten das Entsetzen und die Wut hoch. Die Leute standen auf und schrien auf den Mann herunter. Trampeln ließ das Gebäude erbeben. Likah konnte die Wut in der Luft schmecken. Übelkeit schlug säuerliche Wurzeln in ihrem Rachen. Würden sie genauso auf sie runterschreien, wenn der Richter ihre Tat verkündete? Bei diesem Mann war die Wut berechtigt, aber bei ihr?
Die schmalen Augen des Richters verengten sich. »Ich übergebe den Angeklagten den Masken zur Todesstrafe.«
Das Publikum verstummte. Alle Blicke waren auf Arkin gerichtet. Dieser betrachtete den Angeklagten noch einen Moment, dann hob er die Hand. Auf sein Winken hin eilten vier Gestalten über den Platz, gewandet in weiße Roben mit Kapuzen und kalkweißen Gesichtsbedeckungen, die Löcher für die Augen schwarz umrandet.
Die Masken waren eine Gruppe Unerkannter, die jene, welche Verbrechen begangen hatten, ihrer Strafe zuführten – was auch immer das genau bedeuten mochte. Zum ersten Mal sah Likah sie von Nahem. Ihre beängstigende Ausdruckslosigkeit ließ sie einen Schritt zurückweichen. Sie ergriffen den Mörder. Ihm entschlüpfte ein schriller und gebrochener Schrei. Er wollte sich losreißen, aber die Gestalten hielten ihn fest und schleiften ihn mit sich.
»Nein! Das war nicht meine Schuld! Lasst mich los!« Er schnappte nach Atem, als ihm bewusst wurde, dass der Tod nahe war.
Likah hörte Alias erschrockenes Keuchen hinter sich, wagte aber nicht, sich zu ihr umzudrehen. Ihr erbleichtes Gesicht würde das Mädchen nur noch mehr verschrecken. Was würde ihr Urteil sein? Likah holte tief Luft, verdrängte das Entsetzen und hob den Blick.
Du musst nur überzeugend genug sein.
Nacheinander wurden alle Gefangenen aufgerufen. Zwei Diebinnen, ein Mörder, ein Betrüger, eine Schlägerin. Likah und die Zwillinge mitten unter ihnen. Alia und Gem gehörten nicht hierher unter all die Kriminellen. Sie musste die beiden hier rausschaffen – egal, wie. »Die Nächste!«
Die gelangweilten Augen des Richters deuteten in ihre Richtung. Likah trat vor und hob zögerlich den Blick. Sie fürchtete sich davor, jenen des Windherrschers zu treffen. Er bedachte sie mit derselben Miene wie alle anderen vor ihr. Prüfend, durchdringend, aber ohne zu urteilen. Likah fühlte sich entblößt. Es war, als könnte sie jeden Lufthauch auf ihrer nackten Haut spüren.
»Ich habe keine Personalien hier«, schnarrte der Richter. Sein Finger glitt über das Papier in seiner Hand, um ihren Namen zu suchen. Sein ungehaltener Blick fand die Adlerwacht, die hinter dem Richtertisch stand.
Likah sprach leise, aber mit so viel Kraft in ihrer Stimme, wie sie aufbringen konnte. »Mein Name ist Likah Laien, ich bin siebzehn Jahre alt und wurde in Lishol geboren.«
»Wo dort?«
»Almarek.«
»Ansässig?«
»Nirgends.« Sie reckte das Kinn. »Ich wollte mir hier ein Leben aufbauen.« Sie drehte sich nur halb zu den Zwillingen um.
»Die Anklage der Adlerwacht lautet: Raubüberfall mit anschließender Körperverletzung.«
Likah öffnete erschrocken den Mund. »Körperverletzung?«
»Sie haben dem Opfer ein Messer in die Schulter gerammt und die Muskelsehne durchtrennt.« Der Richter rümpfte die Nase. »Ich kann an der Stelle von besonderer Grausamkeit ausgehen.«
Likah sagte nichts. Sie hatte nur Gem beschützt. Aber sie wusste nicht, wie sie das dem Richter sagen sollte, ohne den Fokus auf den Jungen zu lenken. »In Ihrer blinden Gier haben Sie eine Sache gewiss nicht bedacht: Der Mann, den Sie angegriffen haben, war Naram Hescarl. Erster Vorsitzender der Schiffsgesellschaft Kathasias. Betraut mit großen Aufträgen von Arkin Minnestra höchstpersönlich. Wer weiß, ob er nach dieser Sache überhaupt noch in der Lage sein wird, zu segeln.«
Das Publikum tat einen einzigen scharfen Atemzug und rief wie im Chor hinab: »Lasst die Masken kommen!«
»Ruhe!« Der Richter schlug auf den Tisch.
Likah schluckte. Die vorwurfsvollen Rufe aus dem Publikum erdrückten sie beinahe, und ihr fiel nichts ein, das ihr hätte helfen können.
Als sie nichts sagte, fuhr der Richter fort: »Ich deute Ihr Schweigen als Geständnis.«
Schweiß trat auf Likahs Stirn. »Ich …« Sie schluckte. Ließ den Blick über die Menge schweifen. Sie starrte sie an, Verurteilung prasselte auf sie nieder, und obwohl Likah sich davon erdrückt fühlte, konnte sie sich nicht abwenden.
»Es gibt andere Angeklagte«, drängte der Richter.
Hastig drehte Likah sich um, zu den Zwillingen, die aneinandergeklammert hinter ihr standen. »Die Kinder haben nichts getan.«
»Die Adlerwacht hat sie mit hierhergebracht.«
»Sie sind unschuldig«, versuchte sie es noch einmal. »Ich habe sie dazu angestiftet. Ich habe diese Kinder glauben lassen, dass ich ihnen eine Zukunft bieten könnte, damit ich sie für diesen Diebstahl benutzen kann.« Ihre Knie wurden weich, und sie musste nicht spielen, dass sie jetzt darauf fiel. Ihre Hände zitterten, die Brise, die über ihren vom Haar freigelegten Nacken zog, war eisig. »Das hätte geklappt, wenn ich diese Männer wirklich getötet hätte.« Sie hob den Kopf und sah dem Richter direkt ins Gesicht. »Ja, ich stehe zu Recht hier, ich habe die Kinder benutzt, ihre Hilflosigkeit für meinen Vorteil ausgespielt. Werten Sie das als mein Geständnis, Herr Richter. Ich gestehe das Verbrechen – allein.« Beide Hände bohrten sich in den Boden, und sie kämpfte mit den Tränen. Betete, dass die Zwillinge freigelassen würden, während sie die Strafe entgegennahm, wie auch immer sie lauten mochte.
»Der Fall ist klar genug. Diese Kinder sind, unabhängig der Motive, definitiv schuldig. Wir haben Berichte von der Adlerwacht –«
»Nein, hören Sie mir zu, die beiden haben nichts mit alledem zu tun!«
»Ich verkünde daher folgendes Strafmaß …«
Likah spürte Hitze in sich aufwallen. Die Verzweiflung, dass ihr die Situation aus den Händen glitt, ließ sie zittern, panisch blickte sie sich zu den Zwillingen um. Alia und Gem hielten sich an den Händen und starrten den Richter an. Likah wusste nicht, was sie tun sollte. Sie musste die Kinder retten, aber der Richter verweigerte ihr jedes weitere Wort. Die Hitze in ihrem Körper brach in Zorn aus wie Flammen, die ihr Inneres zum Kochen brachten. Sie konnte das Schicksal der Zwillinge doch nicht diesem selbstgefälligen alten Mann überlassen!
»Nein!« Likahs Worte glühten.
Das Blatt Papier, von dem der Richter vorgelesen hatte, fing Feuer. Flammen fraßen das Papier, und kurz nachdem der Richter das verkohlende Stück hatte fallen lassen, blieben nichts als Rauch und Funken. Likah starrte den Qualm an, der über dem Gesicht des Richters in die Luft stieg.
Für einen Moment herrschte Stille. So fest, als könnte Likah die Hand ausstrecken und sie berühren. Sie wusste nicht, ob man von den Tribünen aus hatte sehen können, was geschehen war, oder ob das plötzliche Verstummen des Richters die Spannung hielt. Arkin Minnestra erhob sich von seinem Sitz neben dem Richter. Seine aquamarinblaue Robe raschelte auffallend laut in der Tonlosigkeit. Der Falke flatterte von seiner Schulter durch die offenen Verzweigungen des Gerichtssaales.
»Ich möchte die Verhandlungen für einen Moment unterbrechen«, sagte Arkin, »und mit dieser Frau sprechen. Unter vier Augen.«
Niemand sagte ein Wort. Dem Richter rutschte die Brille von der Nase. »Was? Ich meine … d-die Verhandlungen werden unterbrochen bis …« Fragend sah er seinen Herrn an, der Schweiß wellte seinen gräulichen Haaransatz.
»Nur ein paar Minuten.«
Likah war starr, als Arkin Minnestra auf sie zukam. Seine Schritte waren wie vom Wind gefiedert. Er deutete mit dem Kopf in Richtung einer schmalen Tür hinter dem Richterpodium. Ihre Knie zitterten, als sie sich erhob. Hunderte Augenpaare, die sie noch immer beobachteten, brannten sich in ihren Rücken, als der Fürst Kathasias ihr die Tür aufhielt. Sie betrat den Raum und versuchte vergeblich, ihren Herzschlag ruhig zu halten. Ihre dreckigen, ausgetragenen Stiefel quietschten bei jedem Schritt und hinterließen feuchte, schlammige Abdrücke auf dem Boden.
Sie befanden sich in einer Kammer, die stark nach altem Papier und tintengetränkten Schreibfedern roch. Ein Eichentisch voller Dokumente und Tintenkleckse und ein Hocker standen in der Mitte, und das Bücherregal an der Wand füllte die Kammer vollends. Die Fesseln schienen sich nun nicht mehr nur um Likahs Handgelenke zu schlingen, sondern auch um ihren Hals, als sie sich umwandte. Sie schluckte. Wartete.
Arkin indes schien alle Zeit der Welt zu haben. Er schloss die Tür, lockerte sein Haar, indem er mit den Fingern hindurchfuhr und schüttelte die luftigen Ärmel seines Gewandes aus.
»Das lange Sitzen liegt mir nicht.« Er seufzte und streckte sich. »Die Adlerwacht hat ein Messer bei dem Opfer gefunden. Es trägt das Zeichen der Armee von Lishol. Ich frage mich, wie du daran kommst«, sagte er beiläufig.
Likah war skeptisch, aber sie konnte nichts in seiner Miene ergründen. Sein Blick erinnerte sie an das Meer, klar, frisch und wach, aber dennoch tief. Die Art von Tiefen, in denen sich tückische Jäger aufhielten und arglose Fische mit Licht in die Falle lockten.
Likah entschied sich, bei der Wahrheit zu bleiben. Sie würde sich nicht von ihm in die Falle locken lassen, indem sie sich in Geschichten verstrickte. Es war nur diese eine Lüge, die sie aufrechterhalten musste, um die Kinder zu retten: dass sie allein schuldig war.
»Von meiner Mutter«, sagte sie rau.
»Deiner Mutter?« Arkin hob eine braune Feder vom Tisch auf und zwirbelte sie in schlanken Fingern. »Wie das?«
Likah wurde das Gefühl nicht los, dass er sich mit seinen spielerischen Gesten betont beiläufig gab.
»Sie …« Likah schluckte, weil sie lieber nicht an ihre Mutter denken wollte. Nicht jetzt. »Sie war eine Wissenschaftlerin und hat Waffen studiert und entworfen.«
»Eine Mechanikerin der Armee?«
»Ich weiß es nicht. Sie hat nie erzählt, für wen sie gearbeitet hat.« Als Kind war Likah so etwas nicht wichtig gewesen. Heute bereute sie es, nicht nachgefragt zu haben, als sie noch die Möglichkeit gehabt hatte.
»Bist du loyal den Göttlichen gegenüber, Likah?« Seine Frage kam wie aus dem Nichts. Sie blinzelte, verwirrt ob des plötzlichen Themenwechsels. »Wie meinen Sie das? Ich sorge für die Kinder, für Gebete haben wir wenig Zeit.«
Er nickte, als hätte er die Antwort bekommen, die er wollte. »Diese Kinder da draußen? Deine Geschwister?« Er lehnte sich rücklings an das Bücherregal und strich über die Feder in seiner Hand. »Man könnte meinen, du willst die eine Strafe, wenn du dafür die Kinder retten kannst. Naram Hescarl war mein bester Mann, wenn es um Schiffbau ging. Die größten Handelsflotten unterlagen seiner Aufsicht. Ich hätte ihm nicht gestattet, zur Hochzeit seiner Cousine zu fahren, wenn ich gewusst hätte, dass er vielleicht nicht mehr arbeiten kann.«
Likahs Magen verkrampfte sich. Sie wollte etwas sagen, doch die Worte fehlten ihr. Ihre Augen verrieten sie, zeichneten die Angst allzu deutlich in ihrem Gesicht ab. Was wollte er nur von ihr? Als ob sie nicht bereits wusste, dass es für ihr Verbrechen keine Entlastung geben konnte. Aber er illustrierte ihr noch einmal in aller Deutlichkeit die Schwere ihres Vergehens.
»Du hast großen Mut bewiesen. Gelogen, um das Leben dieser Kinder zu retten, selbst wenn du dich damit schuldig machst.«
»Ich habe nicht gelogen.«
»Vielleicht nicht, was die Tat anbelangt. Aber wie du die Tat geschildert hast … Ich habe zu viele falsche Geschichten gehört, um dir das abzukaufen.«
»Sie irren sich«, erwiderte Likah. Aber er hob die Augenbrauen, als kenne er die Wahrheit.
»Ich bewundere deine Entschlossenheit und Hingabe. Aber du wirst verstehen, dass niemand tolerieren würde, wenn du gingst und alles wäre wie zuvor. Besonders nicht nach dieser … aufbauschenden Geschichte.« Er sah ihr nun direkt ins Gesicht. »Und du weißt, es gibt keine Immunität vor dem Gesetz. Außer natürlich –«
»Für das Septimat und dessen Nachfolge«, beendete Likah seinen Satz.
»Korrekt.« Er schmunzelte. »Denn wir haben nur der Königin Rechenschaft abzulegen.«
Das war ihr bewusst. Alle sieben Mitglieder des Septimats waren über das Gesetz erhaben, und nur das Königshaus konnte sie gewissen Regeln unterwerfen und für Brüche zur Verantwortung ziehen.
»Du kannst nicht in dein altes Leben zurück, und du wirst auch nicht die Chance haben, dir ein Neues aufzubauen. Deshalb mein Angebot, Likah Laien: Tritt in meine Dienste. In die Dienste dieses Landes. Werde meine Schülerin.«
Arkin blickte sie erwartungsvoll an und lächelte. Ein echtes, offenes Lächeln, das so deplatziert wirkte, dass Likah ihn nur anstarrte.
So viele Fragen ertönten in ihrem Kopf, dass sie keine davon klar verstand, wie ein Orchester, das zu viele Melodien gleichzeitig spielte.
»W-wieso würden Sie so etwas tun …?«, brachte sie hervor. »Sind meine Gründe wichtig? Hier geht es um Leben oder Sterben. Für dich.« Er sagte das so unbekümmert, als spräche er von einem Kartenspiel.
»Ich verstehe nur nicht … Warum würden Sie jemandem wie mir dieses Angebot machen?«
Er lächelte, doch es war ein Lächeln, an dem Likah nicht teilhaben konnte. Als amüsiere er sich über etwas, das sie nicht verstand.
»Willst du es infrage stellen oder mir eine Antwort geben?«
Likah atmete so tief ein, dass ihr ganzer Körper sich aufrichtete. Es fühlte sich albern an mit den noch immer gefesselten Händen. »Was ist mit den Zwillingen, Alia und Gem?«
Arkin unterbrach das Spiel mit der Feder und legte sie zurück auf den Tisch, langsam. Er ließ sich Zeit mit einer Antwort. »Die Menschen brauchen immer einen Schuldigen.«
»Nein. Nicht sie. Ohne sie gehe ich nirgends hin.«
»Jetzt verhandeln wir?«
»Ich habe versprochen, auf sie aufzupassen. Das breche ich nicht.«
Er hob die Augenbrauen. »Auch nicht, um dein eigenes Leben zu retten?«
»Am allerwenigsten dafür. Sie sagten, ich sei mutig gewesen, mich zu stellen. Ich habe entschieden, es zu bleiben.«
»Da hattest du keine reelle Chance, dem Urteil zu entgehen. Ich biete sie dir. Du wählst trotzdem den Tod?«
Likahs Stimme zitterte, ihre Zähne rieben aufeinander. »Ja«, sagte sie. »Sie sind meine Familie. Nicht der Strick, mit dem ich mich aus dem Treibsand ziehe, um ihn dann liegen zu lassen.«
»Ist das deine Entscheidung?« Er besah sie sich prüfend, mit einem Schimmer von Bedauern in den Augen. Nicht die Art Bedauern, mit der man einem Leben gedachte. Sondern der Art, die einer Spielzeugeisenbahn galt, deren Achse unwiderruflich gebrochen war.
»Ja.« Likah nahm all ihren Mut zusammen und sah ihm in die Augen.
»Ich verstehe. Deine Entschlossenheit ist bewundernswert.«
Arkin erhob sich und öffnete die Tür. Der Lichtstrahl, der von draußen hereinbrach, ließ Likah sich abwenden. Ihre Brust schnürte sich enger, als sie hinter Arkin hinauslief. Getuschel empfing sie, wieder die geballte Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Arkin führte sie auf die Mitte des Platzes, dann winkte er die Masken heran und zeigte mit dem Kinn auf Likah. Er sagte kein Wort.
Die weiß gewandeten Gestalten kamen auf sie zu, ihre Maskengesichter allesamt gleich und ausdruckslos. Sie tauchte in eine Kälte, die ihr den Schrecken nahm. Sie würde sterben. Aber das Beängstigende an dieser Tatsache drang nur durch einen kalten Schleier zu ihr. Als wäre es gar kein Teil ihrer Realität.
»Nein! Nein, nein! Likah!«, schrie Gem schrill und panisch, während er zu ihr stürzte. »Das könnt ihr nicht, bitte!« Die Masken stießen ihn zurück. Gem schlug auf dem Stein auf. Alia fiel neben ihrem Bruder auf die Knie, nahm ihn in die Arme und sah flehend zu Likah. »Lass uns nicht allein, bitte!« Ein Laut, halb Schreien, halb Weinen, gellte gen Himmel.
Likah drangen Tränen aus den Augen, so heiß, dass sie auf ihrem kalten Körper brannten. Es tut mir so leid.
Die Masken nahmen sie zwischen sich. Dieses Mal gab es keine hoffnungstragenden Worte. Likah wehrte sich nicht. Ihr fehlte der Wille dazu. Wen würde ihr Schicksal denn kümmern? Die Zwillinge, sicher. Aber davon einmal abgesehen gab es niemanden, der ihren Tod auch nur bemerken würde.
»Das reicht.«
Die Masken hielten inne. Likah drehte sich zu Arkin um, der sie schelmisch anfunkelte.
»Ihr könnt gehen«, wies er die Masken an, die keinerlei Erstaunen zeigten und Likah losließen. Ohne weitere Reaktion. Sie starrte Arkin an. Das Publikum tat es ihr gleich.
»Diese Frau hat großen Mut bewiesen«, sagte er mit lauter Stimme. »Sie war bereit, sich für die beiden Kinder zu opfern. Doch sie ist unschuldig. Ich nehme sie in meine Dienste und werde sie unterrichten. Ab heute ist Likah Laien offiziell meine Schülerin.«
Stille. Likah hörte gar nichts mehr. Ihr schwindelte, in ihrem Kopf brodelte alles, als sie Arkins Hände an ihren Armen spürte.
»Keine Sorge«, flüsterte ihr Arkin ins Ohr. »Für die Kleinen werde ich sorgen. Und du hattest unrecht, was sie angeht: Sie sind deine Familie, aber sie sind auch dein Strick.«
Eine neue Welt
Bei den sechs Meeren, Thora! Komm runter da!«
Thora hielt die Augen geschlossen und die Nase in den Wind gestreckt, der über die kurz rasierten Seiten seines Kopfes fegte. Die Meeresluft jagte über seine braune Haut, und er schmeckte das salzige Gedicht der See. Thora lehnte sich über den Mast und grinste hinunter zu Kapitän Ross. Salzklumpen klebten in dessen Schnurrbart, den er wie immer zwirbelte, wenn er verärgert war.
»Im Traum nicht!«, rief Thora hinunter. »Ihr seid alle so winzig da unten.«
»Ich sollt dich das Ungeziefer fangen lassen, um dir die Flausen auszutreiben«, knurrte der Kapitän.
»Ach, Käpt’n, lass den Ratten doch die Bananen. Die sind sowieso fast leer.« Thora schwang sich hoch und balancierte auf dem Geländer des Ausgucks.
»Weil du kleiner Bengel nachts die Kombüse plünderst! Deine Großmutter wird’s dir vergelten, wenn wir zurückkommen. Dafür sorge ich. Jetzt runter da, sonst lass ich dich kielholen.«
Thora verdrehte die Augen, kletterte aber vom Mast hinunter und sprang aufs Deck, um dann direkt vor Kapitän Ross zu landen. Dieser seufzte.
»Du bringst dich noch um Kopf und Kragen, Bursche. Und die Crew gleich dazu. Wenn deine Großmutter nicht so eine herzensgute Frau wär, hätt ich dich daheim ans Dock fesseln lassen, damit du mir nicht mit an Bord springst.«
»Ich könnte segeln, wenn du mich lassen würdest, Käpt’n.«