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Diese Geschichte stammt von einer guten Freundin, Gloria Jiménez. An einem Strand in Trujillo im Norden Perus erzählte sie im Licht des Mondes und der Sterne ihren hingerissen lauschenden Nichten und Neffen wunderbare Märchen.
Danke, Gloria, daß du deine Geschichten auch mit mir geteilt hast.
Übersetzung aus dem Englischen von Barbara Röhl
Mit zehn Illustrationen von Heinke Both
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe
2. Auflage 2011
ISBN 978-3-492-95745-8
© Sergio Bambaren Roggero 2000
Titel der englischen Originalausgabe:
»Rainbow. A Christmas Fable«
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München, 2002
erschienen im Verlagsprogramm Kabel
Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München
Umschlagabbildung: Atelier Sanna, München
Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Ich weiß nicht, ob Sie mir zustimmen werden, aber ich bin mir sicher, daß das Paradies ein magischer Ort ist, an dem all die guten Seelen von Menschen, Tieren und Pflanzen wohnen.
Natürlich, ich weiß auch, was man uns in der Schule beibringt, nämlich, daß an diesem schönen Ort nur die menschlichen Seelen leben. Aber ich hege da arge Zweifel.
Hat etwa schon mal einer unserer Lehrer das Paradies besucht und ist zurückgekehrt, um davon zu erzählen?
Selbstverständlich nicht.
Woher wollen dann alle so genau wissen, daß im Himmel nur menschliche Seelen wohnen?
Ehrlich gesagt bin ich der Ansicht, daß im Paradies mehr verschiedene Wesen leben, als man sich vorstellen kann, von den fleißigen Bienen, die den Honig sammeln, an dem sich auf Erden einst die Jungfrau Maria erfreute, bis zu den eiligen Kolibris, die in den sonnendurchfluteten Weingärten Palästinas den Trauben Kühlung zufächelten – denselben Früchten, aus denen der Wein gekeltert wurde, den Jesus beim letzten Abendmahl ausschenkte, um die Menschheit auf ewig mit Gott zu vereinen.
Ich kann mir den Himmel nicht vorstellen ohne die sanftmütigen Giraffen, die einmal durch die afrikanische Savanne zogen, die verspielten Delphine, die unsere Ozeane bevölkert haben, oder die herrliche Vielfalt der Vögel, die einst den Himmel unserer herrlichen Welt durchstreiften.
Möglich, daß ich mich irre, aber ich glaube fest daran.
Können Sie sich vielleicht einen Garten Eden denken, in dem nicht im Frühling die Blumen ihre zarten Blütenblätter entfalten, wo die Bäche und Flüsse nicht voll wunderbarer Fische sind? Oder ohne grüne Auen, auf denen zahllose Tiere weiden und sich im kühlen Schatten eines Kiefernwaldes erfrischen?
Ich kann das nicht.
Und so kam ich eines Tages zu dem Schluß, daß der Himmel, so wie das Leben auf Erden, genau das sein kann, was wir uns erträumen.
Übrigens glaube ich auch nicht, daß die Engel Flügel haben – abgesehen natürlich von den Seelen der Vögel, die auf unserem blauen Planeten lebten und jetzt ins Paradies eingegangen sind. Mein Gefühl sagt mir, daß sie, genau wie die Seelen der guten Menschen, die in diesem magischen Reich wohnen, immer danach streben, uns zu behüten und zu besseren Wesen zu machen. Und ob Sie es glauben oder nicht, manchmal kehren sie zur Erde zurück und erteilen uns die eine oder andere Lektion.
Genau das begab sich vor mehr als zweitausend Jahren …
Eden war der Name einer kleinen, grünen Farm am Rande des Paradieses. Wie überall in dieser Himmelsgegend schien hier die Zeit stillzustehen, und eine Vielfalt von Tieren, groß und klein, teilte ihr Leben in Frieden und Harmonie mit den menschlichen Seelen, die einst auf der Erde gewohnt hatten. Und alle freuten sich ihres ewigen Lebens.
Eines der Wunder des Paradieses ist nämlich, daß jeder Tag ein neuer Anfang ist, eine einzigartige Gelegenheit, Neues zu entdecken und zu lernen. Obwohl man weiß, daß man ewig leben wird, lernt man so zugleich, jeden einzelnen Tag bewußt zu erleben und zu genießen.
Ein neuer herrlicher Tag im Paradies brach an. Während am Horizont die goldene Sonne aufging wie ein flammender Feuerball, machte sich Carmelo, der Hahn, dessen Aufgabe es war, die anderen Tiere zu wecken, an sein Tagwerk.
»Kikeriki! Kikeriki …«
Plötzlich verschlug es ihm das Krähen. Er sah in die hohe Eiche, die sich vor ihm erhob. Viele Vögel waren schon erwacht, saßen auf ihren Zweigen und zwitscherten angeregt. Auch die anderen Tiere waren auf den Beinen und versammelten sich nach und nach um den Baum: das Pferd Apollo, die Kuh Sally, der Stier Ferdinand und Leonardo, der Gänserich. Sogar Karl, der Schäferhund, war mit seinen Schafen gekommen und wartete schweigend darauf, daß Mutter Natur das zauberhafteste ihrer Wunder vollbrachte.
Warum sind nur alle so früh wach? dachte Carmelo.
Und dann erinnerte er sich wieder: Der langerwartete Moment war endlich gekommen. In ihrem Nest, das geschickt auf einem kräftigen Eichenast errichtet war, saßen erwartungsvoll Regina und Raphael, ein Turteltaubenpärchen. Raphael hatte tagelang damit zugebracht, das Nest zu bauen und Regina zu schützen und zu füttern, während sie zärtlich die Eier hütete, die Frucht ihrer Liebe.