Das Buch

Der pensionierte Schneider Joseph Schwartz schlendert an einem ganz gewöhnlichen Tag im Jahr 1949 eine Straße in Chicago entlang – und befindet sich von einer Sekunde auf die nächste an einem völlig anderen Ort zu einer völlig anderen Zeit. Nach langer und verzweifelter Suche trifft er endlich auf Menschen, doch niemand spricht seine Sprache, für Schwartz sind es nur völlig unverständliche Laute. Man hält ihn für geistig zurückgeblieben und unterzieht ihn unfreiwillig einem Experiment, das ihn klüger machen soll. Danach kann Schwartz sich endlich verständlich machen – doch was er erfährt, beunruhigt ihn noch mehr: Auf dieser Welt ist niemand älter als sechzig Jahre. Wer dieses Alter erreicht, hat keinen Nutzen mehr für die Gesellschaft und muss freiwillig das Zeitliche segnen. Und Schwartz ist zweiundsechzig Jahre alt …

In der sogenannten frühen Foundation-Trilogie, bestehend aus den Romanen Ein Sandkorn am Himmel, Sterne wie Staub und Ströme im All, erzählt Isaac Asimov die Vorgeschichte seiner berühmten Foundation-Trilogie und schafft damit die Grundlagen seiner Geschichte der Zukunft.

Der Autor

Isaac Asimov zählt gemeinsam mit Arthur C. Clarke und Robert A. Heinlein zu den bedeutendsten SF-Autoren, die je gelebt haben. Er wurde 1920 in Petrowitsch, einem Vorort von Smolensk, in der Sowjetunion geboren. 1923 wanderten seine Eltern in die USA aus und ließen sich in New York nieder. Während seines Chemiestudiums an der Columbia University begann er, SF-Geschichten zu schreiben. Seine erste Story erschien im Juli 1939, und in den folgenden Jahren veröffentlichte er in rascher Folge die Erzählungen und Romane, die ihn weltberühmt machten. Neben der SF hat Asimov auch zahlreiche populärwissenschaftliche Sachbücher zu den unterschiedlichsten Themen geschrieben. Er starb im April 1992.

Mehr über Isaac Asimov und seine Romane auf:

ISAAC ASIMOV

EIN
SANDKORN
AM HIMMEL

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.


Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.


Titel der amerikanischen Originalausgabe

PEBBLE IN THE SKY

Deutsche Übersetzung von Irene Holicki


Copyright © 1950 by Nightfall Inc.

Mit freundlicher Genehmigung der Erben des Autors

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von shutterstock 108364796

Umsetzung E-Book: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN 978-3-641-13209-5
V002


www.diezukunft.de

1   Von einem Schritt zum nächsten

Zwei Minuten, bevor Joseph Schwartz die Erde, wie er sie kannte, für immer verließ, schlenderte er noch, Browning-Gedichte rezitierend, die gepflegten Straßen eines Chicagoer Vororts entlang.

Das war an sich schon ungewöhnlich, denn auf den ersten Blick hätte niemand in Schwartz einen Browning-Kenner vermutet. Sein Aussehen entsprach vielmehr genau dem, was er tatsächlich war: ein pensionierter Schneider nämlich, und vollkommen unberührt von dem, was die siebengescheite Welt von heute unter »höherer Bildung« versteht. Allerdings war er von Natur aus wissbegierig und hatte viel Zeit mit Lektüre verbracht. In seiner Unersättlichkeit nicht wählerisch, hatte er auf praktisch jedem Gebiet ein paar Brocken aufgeschnappt, und sein überragendes Gedächtnis hatte ihm geholfen, die Übersicht nicht zu verlieren.

Robert Brownings Rabbi Ben Ezra etwa hatte er zweimal gelesen, als er noch jünger war, und seither kannte er das Gedicht natürlich auswendig. Obwohl er das wenigste davon verstanden hatte, waren ihm die ersten drei Zeilen in den letzten Jahren so vertraut geworden wie sein eigener Herzschlag. Und sie geisterten auch jetzt, an jenem strahlend schönen, sonni-gen Frühsommertag des Jahres 1949, durch die stummen Tiefen seines Denkens:

»Grow old along with me!

The best is yet to be,

The last of life, for which the first was made …«1

Das konnte Schwartz bis in die Fingerspitzen nachempfinden. Nach den stürmischen Jugendjahren in Europa und dem Existenzkampf der ersten Zeit in den Vereinigten Staaten war ein sorgenfreier, friedlicher Lebensabend nicht zu verachten. Er hatte sich ein Häuschen gebaut, ein kleines Vermögen geschaffen, nun konnte er sich Ruhe gönnen und tat es auch. Seine Frau war gesund, seine beiden Töchter waren gut verheiratet, und ein Enkelsohn verschönte ihm diese letzten, besten Jahre, worüber sollte er sich also Sorgen machen?

Die Atombombe war natürlich eine immerwährende Bedrohung, aber Schwartz glaubte fest an das Gute im Menschen und hielt einen weiteren Krieg für ausgeschlossen. Nie wieder würde die Erde erleben müssen, wie die Höllensonne einer nuklearen Explosion zornig vom Himmel strahlte. So lächelte er den Kindern, an denen er vorüberging, nachsichtig zu und wünschte ihnen im Stillen, sie möchten die Jugend rasch und ohne größere Probleme hinter sich bringen, um ebenfalls das Glück dieses späten Friedens genießen zu können.

Er hob den Fuß, um über eine Raggedy-Ann-Puppe2 hinwegzusteigen, die, ein bislang noch nicht vermisstes Findelkind, lächelnd mitten auf dem Gehsteig lag. Bevor er den Fuß wieder auf den Boden setzen konnte …

In einem anderen Teil von Chicago stand das Institut für Kernforschung. Manche der dort Beschäftigten mochten ebenfalls gewisse Theorien über das Gute beziehungsweise Böse im Menschen entwickelt haben, aber sie schämten sich, das einzugestehen, da bisher noch kein Instrument erfunden worden war, das diese Qualitäten exakt hätte bestimmen können. Genauere Überlegungen gipfelten nur zu oft in dem Wunsch, ein Blitz möge vom Himmel niederfahren und endlich damit aufräumen, dass die menschliche Natur (und der verdammte menschliche Erfindungsgeist) jede noch so harmlose und interessante Entdeckung in eine tödliche Waffe verwandelte.

Andererseits konnte ein und derselbe Mann, der ohne die geringsten Skrupel seine Nase immer tiefer in die Kernforschung steckte, um womöglich eines Tages die halbe Erde auszurotten, im Notfall sein Leben einsetzen, um irgendeinen völlig unwichtigen Mitmenschen vor dem Tod zu bewahren.

Der blaue Schein hinter dem Rücken des Chemikers war das Erste, was Dr. Smiths Aufmerksamkeit auf sich zog.

Er war zufällig an der halb offenen Tür vorbeigekommen und hatte einen Blick ins Innere geworfen. Ein junger Chemiker schüttelte, vergnügt vor sich hinpfeifend, einen Messkolben mit einer abgemessenen Lösung. Ein weißes Pulver schwebte träge durch die Flüssigkeit und löste sich allmählich auf. Mehr passierte zunächst nicht, doch derselbe Instinkt, der Dr. Smith ursprünglich hatte innehalten lassen, trieb ihn nun zur Tat.

Er stürmte in den Raum, schnappte sich einen Meterstab und fegte damit alles auf den Boden, was auf dem Tisch stand. Es zischte bedrohlich wie geschmolzenes Metall. Dr. Smith spürte, wie ihm ein Schweißtropfen bis zur Nasenspitze rann.

Das Bürschchen starrte verständnislos auf den Betonboden. Die silbrig glänzenden Metallspritzer waren bereits erstarrt, strahlten aber immer noch reichlich Wärme ab.

»Was ist passiert?«, hauchte er.

Dr. Smith zuckte die Achseln. Auch er hatte sich noch nicht ganz von dem Schrecken erholt. »Ich weiß es nicht. Das wollte ich gerade Sie fragen … Was geht hier vor?«

»Hier geht gar nichts vor«, jammerte der Chemiker. »Das war nur eine Rohuranprobe, und ich wollte mittels Elektrolyse den Kupfergehalt bestimmen … Ich kann mir nicht vorstellen, was dabei schiefgegangen sein könnte.«

»Wie auch immer, junger Mann, ich werde Ihnen jetzt sagen, was ich gesehen habe. Dieser Platintiegel hatte eine Korona. Das heißt, es hatte sich eine starke Strahlung entwickelt. Uran, sagten Sie?«

»Ja, aber Rohuran, und das ist nicht gefährlich. Ich meine, eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine Kernspaltung ist doch absolute Reinheit des Materials, nicht wahr?« Er fuhr sich rasch mit der Zunge über die Lippen. »Glauben Sie, das war eine Spaltung, Sir? Es handelt sich doch nicht um Plutonium, und es gab auch keinen Neutronenbeschuss.«

»Und«, fügte Dr. Smith nachdenklich hinzu, »selbst wenn es reines Plutonium gewesen wäre, hätte die Menge weit unter der kritischen Masse gelegen.« Er starrte den Labortisch mit der Specksteinplatte an, die Schränke, wo der verbrannte Lack dicke Blasen gebildet hatte, und die silbrigen Streifen auf dem Fußboden. »Andererseits schmilzt Uran bei etwa 1800° C, und wir sind noch längst nicht mit allen Erscheinungen der Nuklearchemie vertraut. Hüten wir uns also vor voreiligen Schlüssen. Immerhin muss das Strahlungsniveau in diesem Raum ganz beachtlich sein. Sobald das Metall abgekühlt ist, junger Mann, sollten Sie es abkratzen, einsammeln und gründlich untersuchen lassen.«

Er sah sich nachdenklich um, dann trat er an die gegenüberliegende Wand und betastete argwöhnisch eine Stelle etwa in Höhe seiner Schultern.

»Was ist das?«, fragte er den Chemiker. »Ist das schon immer dagewesen?«

»Was, Sir?« Der junge Mann trat nervös näher und sah sich an, worauf der Ältere zeigte. Es war ein winziges Loch, so als habe jemand einen dünnen Nagel in die Wand getrieben und wieder herausgezogen – wobei der Nagel allerdings die ganze Mauer samt Verputz und Ziegeln durchstoßen haben musste, denn jenseits des Lochs konnte man das Tageslicht sehen.

Der Chemiker schüttelte den Kopf. »Es ist mir bisher nicht aufgefallen. Ich habe allerdings auch nicht danach gesucht, Sir.«

Dr. Smith sagte nichts. Als er langsam zurücktrat, kam er am Thermostaten vorbei, einem zylinderförmigen Kästchen aus dünnem Eisenblech. Das Wasser darin brodelte, der motorbetriebene Quirl drehte sich wie verrückt, und die elektrischen Glühbirnen, die das Wasser von unten aufheizten, gingen im Rhythmus des klickenden Quecksilberrelais hektisch an und aus.

»Und was ist damit?« Dr. Smith kratzte mit dem Fingernagel vorsichtig über den oberen Rand der breiten Seite des Thermostaten, wo irgendetwas knapp über dem Wasserspiegel einen winzigen Kreis in das Metall gebohrt hatte.

Der Chemiker machte große Augen. »Nein, Sir. Das war ganz bestimmt noch nicht da. Dafür verbürge ich mich.«

»Hmm. Ist auf der anderen Seite auch ein Loch?«

»Der Teufel soll mich holen. Ich meine, ja, Sir!«

»Schön, kommen Sie hier herüber und schauen Sie durch die beiden Löcher … Schalten Sie bitte zuerst den Thermostaten ab. Jetzt bleiben Sie stehen.« Er legte den Finger auf das Loch in der Wand. »Was sehen Sie?«, rief er.

»Ich sehe Ihren Finger, Sir. Ist dort das Loch?«

Dr. Smith antwortete nicht, sondern verlangte mit einer Gelassenheit, die völlig im Widerstreit zu seinen wahren Gefühlen stand: »Schauen Sie in die andere Richtung … Was sehen Sie dort?«

»Nichts mehr.«

»Aber da stand zuvor der Tiegel mit dem Uran. Sie visieren genau diese Stelle an, nicht wahr?«

»Ich glaube schon, Sir«, lautete die zögernde Antwort.

Dr. Smith warf einen raschen Blick auf das Namensschild an der immer noch offenstehenden Tür und sagte kalt: »Mr. Jenkins, was hier geschehen ist, unterliegt strengster Geheimhaltung. Sie werden mit keinem Menschen je darüber sprechen. Haben Sie verstanden?«

»Vollkommen, Sir!«

»Und jetzt sehen wir zu, dass wir hier rauskommen. Wir lassen das Labor von den Strahlungsexperten untersuchen, während wir beide uns auf der Krankenstation verschanzen.«

»Sie denken an Strahlenschäden?« Der Chemiker wurde bleich.

»Wir werden sehen.«

Doch offenbar hatte keiner von beiden größere Schäden davongetragen. Die Blutwerte waren normal, und auch eine Untersuchung der Haarwurzeln ergab keinen Befund. Die Übelkeit, die sich nach einer Weile einstellte, wurde als psychosomatisch diagnostiziert, und andere Symptome traten nicht auf.

Und weder jetzt noch später fand sich im gesamten Institut ein Experte, der hätte erklären können, wie es zuging, dass eine Probe Rohuran weit unterhalb der kritischen Masse und ohne direkten Neutronenbeschuss plötzlich schmelzen und jene unverwechselbare, tödliche Korona entfalten konnte.

Die einzige Schlussfolgerung lautete, dass man wohl doch noch längst nicht jeden gefährlichen Winkel der Atomphysik erforscht habe.

Als Dr. Smith endlich seinen Bericht verfasste, konnte er sich nicht überwinden, die ganze Wahrheit zu sagen. Er erwähnte nichts von den Löchern im Labor und unterschlug auch die Tatsache, dass man das eine, dem Standort des Tiegels am nächsten liegende, kaum sehen konnte, während das zweite auf der anderen Seite des Thermostaten schon eine Spur größer war, und durch das dritte, das sich, dreimal so weit von der Unglücksstelle entfernt, in der Wand befand, sogar ein Nagel gepasst hätte.

Ein Lichtstrahl, der sich geradlinig fortpflanzte, müsste mehrere Meilen zurücklegen, bevor er sich, inzwischen auf einen Durchmesser von drei Metern angewachsen, infolge der Erdkrümmung so weit von der Oberfläche entfernt hätte, dass er keinen Schaden mehr anrichten konnte. Danach würde er sich, immer breiter und schwächer werdend, im Weltall verlieren, eine kleine Unregelmäßigkeit im kosmischen Gefüge.

Von diesem abstrusen Gedankenspiel sagte er niemandem ein Wort.

Er erwähnte auch nichts davon, dass er sich am nächsten Tag die Morgenzeitungen auf die Krankenstation kommen ließ und sie auf eine ganz bestimmte Nachricht hin durchsuchte.

Doch in einer Riesenmetropole werden jeden Tag eine Reihe von Menschen als vermisst gemeldet. Und niemand war schreiend zur Polizei gelaufen und hatte wirre Geschichten über einen (vielleicht auch nur einen halben?) Mann erzählt, der vor seinen Augen plötzlich verschwunden sei. Jedenfalls wurde kein solcher Fall gemeldet.

Und mit der Zeit gelang es Dr. Smith, den Vorfall zu vergessen.

Für Joseph Schwartz war alles von einem Schritt zum nächsten passiert. Er hatte den rechten Fuß gehoben, um über die Raggedy-Ann-Puppe hinwegzusteigen, und dann war ihm plötzlich schwindlig geworden – als sei er für den Bruchteil einer Sekunde in einen Wirbelwind geraten, der sein Innerstes nach außen kehrte. Als er den rechten Fuß wieder auf den Boden setzte, wurde ihm mit hörbarem Keuchen die Luft aus den Lungen gepresst, und er spürte, wie er langsam in sich zusammensackte und ins Gras fiel.

Lange hielt er die Augen geschlossen – und dann schlug er sie auf.

Tatsächlich! Er saß im Gras, während er doch vorher auf Beton gegangen war.

Die Häuser waren nicht mehr da! Die weißen Häuser, die, jedes mit seinem Vorgarten, Reihe um Reihe die Straßen gesäumt hatten, waren verschwunden!

Und er saß auch nicht etwa in einem gepflegten Vorgarten. Das Gras wucherte hier völlig wild und wurde sicher nie gemäht, ringsum wuchsen viele Bäume, und am Horizont zeichneten sich weitere Wipfel ab.

Die Bäume erschreckten ihn am meisten, denn ihr Laub hatte sich zum Teil schon rot verfärbt, und er selbst hielt ein dürres, trockenes Blatt in der Hand. Er mochte zwar ein Stadtmensch sein, aber er wusste doch immer noch, wie die Welt im Herbst aussah.

Herbst! Als er den rechten Fuß hob, war es Juni gewesen, und alles hatte in jungem, frischem Grün geprangt.

Bei dem Gedanken sah er unwillkürlich auf seine Füße hinab und streckte mit einem erschrockenen Aufschrei die Hand aus … Da lag die kleine Stoffpuppe, über die er hinweggestiegen war, ein winziger Fetzen Realität, ein …

Nein! Er drehte sie mit zitternden Händen um. Sie war nicht mehr heil. Aber sie war auch nicht verschlissen, sondern durchgeschnitten. Das war nun wirklich komisch! Der Länge nach durchgeschnitten, so glatt, dass nicht einmal die Putzwolle herausquoll, mit der sie gefüllt war. Die Fäden waren nur durchtrennt, sonst hatten sie sich nicht verändert.

In diesem Moment bemerkte Schwartz ein Glitzern an seinem linken Schuh. Ohne die Puppe loszulassen, hievte er den Fuß auf das angewinkelte rechte Knie. Die äußerste Sohlenspitze, die Kante, die über das Oberleder hinausragte, war abgeschnitten. So haarscharf, wie es kein irdisches Messer in der Hand eines irdischen Schusters jemals zuwege gebracht hätte. Die frische Schnittfläche glänzte, als wäre sie feucht.

Inzwischen war Schwartz die Verwirrung durch das Rückenmark nach oben gekrochen und hatte das Gehirn erreicht. Jetzt erst erfasste ihn das Grauen und ließ ihn erstarren.

Schließlich begann er laut zu sprechen, weil in einer Welt, die vollkommen verrückt geworden war, sogar der Klang der eigenen Stimme beruhigend wirken mochte. Doch die Worte klangen erstickt und atemlos.

»Erstens«, sagte er, »bin ich nicht verrückt. Innerlich empfinde ich genauso wie immer … Wobei ich natürlich auch verrückt sein könnte, ohne es zu merken, oder? Nein …« Entschlossen kämpfte er die aufsteigende Hysterie nieder. »Es muss eine andere Möglichkeit geben.«

Er überlegte. »Ein Traum vielleicht? Wie kann ich feststellen, ob ich träume oder nicht?« Er kniff sich in den Arm, spürte den Schmerz, schüttelte aber dennoch den Kopf. »Ich könnte immer noch träumen, dass ich das Kneifen spüre. Das ist kein Beweis.«

Verzweifelt sah er sich um. Konnte ein Traum so scharf, so detailliert sein, konnte er so lange dauern? Er hatte einmal gelesen, die meisten Träume dauerten nicht länger als fünf Sekunden und würden durch winzige Schlafstörungen ausgelöst. Die subjektiv empfundene Länge eines Traums sei nur Illusion.

Ein schwacher Trost! Er schob den Hemdsärmel zurück und sah auf seine Armbanduhr. Wieder und wieder umrundete der Sekundenzeiger das Zifferblatt. Wenn das ein Traum war, dann dehnte er die fünf Sekunden ins Unendliche.

Er hob den Kopf und wollte sich den kalten Schweiß von der Stirn wischen. Vergeblich. »Vielleicht habe ich das Gedächtnis verloren?«

Ohne seine eigene Frage zu beantworten, schlug er langsam beide Hände vor das Gesicht.

Wenn nun sein Verstand in dem Moment, als er den Fuß hob, aus den ausgefahrenen, gut geölten Geleisen gesprungen wäre, auf denen er sich so lange zuverlässig bewegt hatte … Wenn er nun drei Monate später, vielleicht auch ein Jahr und drei Monate oder zehn Jahre und drei Monate später im Herbst an diesem fremden Ort den Fuß auf den Boden gesetzt hätte und im gleichen Augenblick wieder zu sich gekommen wäre … Nun, dann würde es ihm so vorkommen, als habe er nur einen Schritt gemacht, und all das … Aber wo war er in der Zwischenzeit gewesen, was hatte er getan?

Ein Schrei entrang sich seiner Kehle. »Nein!« Das konnte nicht sein! Schwartz sah sich sein Hemd an. Es war dasselbe, das er heute Morgen – oder was er für heute Morgen hielt – angezogen hatte, und es war noch frisch. Er überlegte kurz, steckte eine Hand in die Jackentasche, zog einen Apfel heraus und biss kräftig hinein.

Auch der Apfel war frisch, ein wenig haftete ihm noch von der Kälte des Kühlschranks an, in dem er bis vor zwei Stunden – oder was Schwartz für zwei Stunden hielt – gelegen hatte.

Und was war mit der kleinen Stoffpuppe?

Er spürte, wie er allmählich durchdrehte. Es musste ein Traum sein, oder er war tatsächlich wahnsinnig geworden.

Jetzt erst fiel ihm auf, dass sich auch die Tageszeit verändert hatte. Es war später Nachmittag, zumindest wurden die Schatten länger. Plötzlich und eiskalt überfiel ihn die Erkenntnis, wie völlig still und einsam es hier war.

Mühsam rappelte er sich auf. Er musste zusehen, dass er Menschen fand, irgendwelche Menschen. Menschen wohnten natürlich in Häusern, und Häuser suchte man am besten an einer Straße.

Er wandte sich blindlings in die Richtung, wo die wenigsten Bäume standen, und marschierte los.

Der Abend war kühl geworden, er fröstelte unter seiner Jacke, und die Baumwipfel drohten bereits zu verschwimmen, als er vor sich einen schnurgeraden, unpersönlichen Asphaltstreifen erblickte. Schluchzend vor Dankbarkeit stürmte er darauf zu und spürte begeistert die Härte unter seinen Füßen.

Doch nach beiden Seiten gähnte völlige Leere, und wieder griff die kalte Hand nach seinem Herzen. Er hatte auf Automobile gehofft. Es wäre so einfach gewesen, eins anzuhalten und – in seinem Eifer sagte er es bereits laut – zu fragen: »Fahren Sie vielleicht nach Chicago?«

Und wenn Chicago nun gar nicht in der Nähe war? Nun, dann eben in irgendeine andere Großstadt; in irgendeinen Ort, wo es ein Telefon gab. Er hatte zwar nur vier Dollar und siebenundzwanzig Cent in der Tasche, aber wozu gab es schließlich die Polizei?

Er ging mitten auf der Fahrbahn die Straße entlang und schaute ständig nach beiden Richtungen. Der Sonnenuntergang interessierte ihn ebenso wenig wie etwas später die Tatsache, dass die ersten Sterne am Himmel erschienen.

Keine Autos. Nichts! Und bald würde es vollends dunkel sein.

Als der Horizont zu seiner Linken plötzlich zu flimmern begann, fürchtete er schon, abermals von diesem seltsamen Schwindel erfasst zu werden. Zwischen den Bäumen drang ein kalter, blauer Schein hervor. Kein hüpfendes, flackerndes Rot wie bei einem Waldbrand, sondern ein schwaches, geisterhaftes Glühen. Und der Straßenbelag unter seinen Füßen schien ein ganz klein wenig zu funkeln. Er bückte sich und strich mit der Hand darüber. Es fühlte sich an wie ganz normaler Asphalt. Aber da war wieder dieses winzige Flimmern, das er nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte.

Plötzlich begann er zu rennen wie ein Verrückter. Seine Schuhe trommelten einen dumpfen, ungleichmäßigen Rhythmus auf den Asphalt. Er spürte die beschädigte Puppe in seiner Hand und schleuderte sie mit einer heftigen Bewegung hinter sich.

Ein letzter Rest von Leben, der ihn verhöhnte und verspottete …

In heller Panik blieb er stehen. Die Puppe mochte ihn verspotten, aber sie bewies, dass er noch bei Verstand war. Und er brauchte diesen Beweis! Also kroch er auf den Knien herum und tastete um sich, bis er sie fand, ein dunkler Fleck auf dem ultraschwachen Leuchten. Inzwischen war auch die Füllung herausgequollen, und er stopfte sie geistesabwesend wieder zurück.

Dann ging er weiter – zum Laufen fühlte er sich zu elend.

Allmählich bekam er Hunger, und die Angst wurde immer stärker. Und dann sah er das Licht zu seiner Rechten.

Es war natürlich ein Haus!

Er stieß einen Freudenschrei aus. Niemand antwortete, aber es war immerhin ein Haus, ein Fünkchen Realität in der grässlichen, unbegreiflichen Wildnis der letzten Stunden, ein Fünkchen, das ihn freundlich anzwinkerte. Er bog von der Straße ab und stolperte querfeldein über Gräben, um Bäume herum, durch das Unterholz und über einen Bach.

Merkwürdig! Sogar über dem Bach lag ein phosphoreszierender Schimmer! Doch das registrierte er nur mit einem winzigen Teil seines Bewusstseins.

Dann war er am Ziel, streckte die Hände aus und berührte eine harte, weiße Wand. Sie bestand weder aus Ziegeln noch aus Stein oder Holz, doch das war ihm im Augenblick völlig egal. Was ging es ihn an, wenn sie aussah wie dickes, mattes Porzellan? Er suchte nur nach einer Tür, und als er eine fand, aber keine Klingel entdeckte, trat er mit dem Fuß dagegen und brüllte wie ein Dämon.

Drinnen regte sich etwas, und er hörte … wie wunderschön! – eine menschliche Stimme, die nicht seine eigene war. Wieder schrie er: »He, ist da jemand?«

Mit leisem Scharren bewegte sich die Tür in gut geölten Angeln. Eine Frau wurde sichtbar, groß und drahtig, Bestürzung im Blick. Hinter ihr stand ein hagerer Mann mit harten Zügen in Arbeitskleidung … Nein, keine Arbeitskleidung. Schwartz hatte solche Kleidungsstücke noch nie gesehen, doch irgendwie, er konnte es nicht beschreiben, sahen sie aus, als würden sie zur Arbeit getragen.

Aber Schwartz war kein Analytiker. Für ihn waren diese Menschen und ihre Kleidung einfach schön; schön wie Freunde, die man nach langer Zeit wiedersieht.

Die Frau begann zu sprechen, weiche, klingende Laute in gebieterischem Tonfall, und Schwartz musste sich am Türpfosten festhalten, um nicht umzusinken. Seine Lippen bewegten sich stumm. Alle seine alten Ängste waren zurückgekehrt, legten sich wie eine feuchte Decke auf ihn, schnürten ihm die Luft ab und pressten ihm das Herz zusammen.

Denn die Frau redete in einer Sprache, die er noch nie gehört hatte.

1 Etwa:

Komm, werde alt mit mir!

Das Beste liegt vor dir,

Des Lebens letztes Stück, des Anfangs Lohn …

2 Kinderbuchfigur – (Original Adventures of Raggedy Ann and Raggedy Andy) eine Puppe mit zerschlissener Kleidung – Anm. d. Übers.

2   Wie schafft man sich einen Fremden vom Hals?

Loa Maren und Arbin, ihr durch nichts zu erschütternder Ehemann, waren an diesem kühlen Abend beim Kartenspiel, als der Alte, der in seinem motorisierten Rollstuhl in der Ecke saß, zornig mit seiner Zeitung raschelte und »Arbin!« rief.

Arbin Maren antwortete nicht gleich. Er schob zuerst die dünnen, glatten Rechtecke sorgsam auseinander und überlegte sich in aller Ruhe, was er als Nächstes ausspielen sollte. Erst als er zu einer Entscheidung gelangt war, reagierte er mit einem zerstreuten: »Was ist denn, Grew?«

Der grauhaarige Grew funkelte seinen Schwiegersohn wütend an und raschelte noch einmal. Er empfand es als ungeheure Erleichterung, mit solchen Geräuschen seinen Gefühlen Luft zu machen. Ein Mann, der vor Tatendrang nur so strotzte, aber an den Rollstuhl gefesselt war, weil er anstelle von Beinen nur zwei tote Stecken hatte, beim endlosen All, der brauchte doch irgendetwas, um sich abzureagieren. Grew verwendete dazu seine Zeitung. Er raschelte damit, er gestikulierte damit, und notfalls schlug er damit auch zu.

Grew wusste, dass es anderswo Teleschreiber gab, Geräte, die die neuesten Nachrichten in Form von Mikrofilmrollen ausspuckten, die man wiederum in die normalen Buchfilmprojektoren einlegen konnte. Aber man war hier auf der Erde, und insgeheim hatte Grew für solch degenerierten Firlefanz nur Verachtung übrig.

»Hast du den Artikel über die archäologische Expedition gelesen, die sie auf die Erde schicken wollen?«, fragte Grew.

»Nein«, gab Arbin ruhig zurück.

Grew wusste genau, dass bisher niemand außer ihm die Zeitung zu Gesicht bekommen hatte, und den Videoanschluss hatte die Familie im vergangenen Jahr abgemeldet. Aber schließlich verfolgte die Frage ja auch nur den Zweck, ein Gespräch einzuleiten.

»Die Expedition ist jedenfalls geplant«, sagte er. »Noch dazu vom Imperium subventioniert, wie findest du das?« Und er begann in dem eigentümlich stockenden Tonfall, in den die meisten Leute bei lautem Lesen ganz automatisch verfallen, zu referieren: »Bel Arvardan, Erster Forschungsassistent am Kaiserlichen Institut für Archäologie, äußerte sich in einem Interview für die Agentur Galaxis Press sehr optimistisch. Man erwarte sich von den archäologischen Studien, die auf dem (s. Karte) am Rand des Sirius-Sektors gelegenen Planeten Erde geplant seien, wertvolle Erkenntnisse. ›Die Erde‹, so sagte er wörtlich, ›stellt mit ihrer archaischen Zivilisation und ihren einmaligen Lebensbedingungen ein zivilisatorisches Monstrum dar, das von unseren Sozialwissenschaftlern allzu lange vernachlässigt oder allenfalls als Beispiel für eine besonders schwierige Regionalverwaltung zitiert wurde. Ich bin überzeugt davon, dass wir in den nächsten ein bis zwei Jahren eine Revolution erleben werden, die einige unserer vermeintlich grundlegenden Vorstellungen über den Verlauf der sozialen Evolution und der Menschheitsgeschichte radikal verändert.‹ Und so weiter und so weiter«, endete Grew temperamentvoll.

Arbin Maren hatte nur mit halbem Ohr zugehört. »Was heißt hier ›zivilisatorisches Monstrum‹?«, murmelte er.

Loa Maren hatte gar nicht aufgepasst, und so bemerkte sie nur: »Du bist dran, Arbin.«

Grew ließ sich nicht einschüchtern. »Was ist los mit euch? Wollt ihr nicht wissen, warum die Tribune das gedruckt hat? Ihr wisst doch, dass sie niemals so ohne Weiteres eine Meldung von Galaxis Press bringen würde, nicht für eine Million Imperial-Credits.«

Er wartete vergeblich auf eine Antwort. »Sie haben nämlich auch einen Leitartikel darüber«, sagte er endlich. »Eine volle Seite lang prügeln sie auf diesen Arvardan ein. Da will der Bursche hierherkommen, um wissenschaftliche Forschungen zu betreiben, und sie laufen knallrot an und wollen ihn nicht reinlassen. Sieh dir das an. Die pure Volksverhetzung. Sieh’s dir an!« Er schüttelte die Zeitung. »Warum liest du es nicht selbst?«

Loa Maren legte die Karten nieder und presste die schmalen Lippen fest zusammen. »Vater«, sagte sie. »Wir hatten heute einen schweren Tag und wollen im Moment von Politik nichts wissen. Vielleicht später, ja? Bitte, Vater.«

Grews Gesicht verfinsterte sich. »›Bitte, Vater!‹«, äffte er sie nach. »›Bitte, Vater.‹ Dein alter Vater hängt dir wohl schon gründlich zum Hals heraus, wenn du nicht einmal bereit bist, dich in Ruhe mit ihm über das Tagesgeschehen zu unterhalten. Ich weiß ja, ich bin euch nur eine Last. Ich sitze hier untätig in der Ecke, und ihr beiden müsst für drei arbeiten … Aber ist das denn meine Schuld? Ich bin rüstig, und ich will arbeiten. Du weißt genau, ich bräuchte nur meine Beine kurieren zu lassen, dann wäre ich so gut in Form wie eh und je.« Während er sprach, traktierte er seine Beine mit harten, klatschenden Schlägen, die er zwar hörte, aber nicht spürte. »Und alles scheitert daran, dass ich schon zu alt bin, sodass sich eine ärztliche Behandlung angeblich nicht mehr rentiert. So viel zum Thema ›zivilisatorisches Monstrum‹. Wie sonst willst du eine Welt bezeichnen, die einen Mann, der arbeiten kann, nicht arbeiten lässt? Bei den Sternen, es ist wirklich höchste Zeit, dass wir mit dem Unsinn aufhören. Wir reden immer von unseren ›besonderen‹ Institutionen, aber die sind gar nichts Besonderes, die haben ganz einfach einen Knall! Wenn ihr mich fragt …«

Er war vor Zorn rot angelaufen und fuchtelte hektisch mit den Armen in der Luft herum.

Arbin war aufgestanden und hatte den Alten mit festem Griff an der Schulter gepackt. »Kein Grund zur Aufregung, Grew«, sagte er gelassen. »Wenn du mit der Zeitung fertig bist, werd ich den Leitartikel lesen.«

»Sicher, aber was nützt mir das? Du bist bestimmt der gleichen Meinung. Ihr jungen Leute seid doch alles Schlappschwänze; wie Schaumgummi in den Händen der Ahnen.«

»Das reicht, Vater«, fuhr Loa scharf dazwischen. »Fang nicht wieder damit an.« Sie lauschte einen Moment lang, ohne genau sagen zu können, worauf, aber …

Arbin überlief ein kalter Schauer, wie immer, wenn die »Gesellschaft der Ahnen« erwähnt wurde. Grews Gerede war gefährlich, sein Spott über die uralte Kultur der Erde, sein … sein …

Ja, sein krasser Assimilationismus. Bei dem Gedanken musste er tatsächlich schlucken; auch wenn man es nicht laut aussprach, war es ein hässliches Wort.

Als Grew noch jung war, hatte natürlich alle Welt die törichte Meinung vertreten, man müsse die alten Sitten ablegen, aber heute waren die Zeiten anders. Das sollte auch Grew wissen – und vermutlich wusste er es auch, aber es war eben nicht leicht, ausgeglichen und vernünftig zu sein, wenn man an einen Rollstuhl gefesselt war und nur noch auf den nächsten Zensus warten konnte.

Grew ließ sich von dieser Stimmung vielleicht noch am wenigsten anstecken, aber er sagte nichts mehr. Er wurde zusehends ruhiger, die Schrift verschwamm ihm immer mehr vor den Augen. Er war noch nicht einmal dazu gekommen, sich ausgiebig und kritisch mit der Sportseite auseinanderzusetzen, als ihm das Kinn unaufhaltsam auf die Brust sank und er leise zu schnarchen begann. Mit einem letzten, diesmal unbeabsichtigten Rascheln entglitt die Zeitung seinen Fingern.

Loa zischte besorgt: »Vielleicht sind wir tatsächlich zu hart zu ihm, Arbin. Für einen Mann wie Vater ist es ein schweres Schicksal. Verglichen mit seinem früheren Leben könnte er genauso gut tot sein.«

»Nichts ist so schlimm wie der Tod, Loa. Er hat seine Zeitungen und seine Bücher. Lass ihn nur! Es bringt ihn in Schwung, sich hin und wieder ein bisschen aufzuregen. Jetzt ist er sicher wieder tagelang glücklich und zufrieden.«

Arbin wandte sich abermals seinen Karten zu und wollte gerade ziehen, als jemand heftig an die Tür hämmerte und heisere Schreie ausstieß, die sich nicht so recht zu Worten zusammenfügen wollten.

Arbins Hand stockte mitten in der Bewegung. Loa riss erschrocken die Augen auf, und ihre Unterlippe begann zu zittern.

»Bring Grew hinaus«, befahl Arbin. »Rasch!«

Loa war schon am Rollstuhl und schnalzte leise mit der Zunge, um den Alten nicht zu erschrecken.

Doch schon die erste Berührung des Stuhls riss Grew aus dem Schlaf. Keuchend richtete er sich auf und tastete automatisch nach seiner Zeitung.

»Was ist los?«, fragte er gereizt und viel zu laut.

»Pst. Alles in Ordnung«, murmelte Loa unbestimmt und schob den Rollstuhl in den Nebenraum. Dann schloss sie die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Ihre schmale Brust hob und senkte sich krampfhaft, ängstlich suchte sie den Blick ihres Gatten. Wieder wurde an die Tür geschlagen.

Sie stellten sich dicht hintereinander, als wollten sie eine Mauer bilden, und öffneten. Dem kleinen, dicken Mann, der ihnen unsicher zulächelte, schlug eine Welle fast greifbarer Feindseligkeit entgegen.

»Was können wir für Sie tun?«, fragte Loa steif und förmlich und zuckte erschrocken zurück, als der Mann nach Luft rang und die Hand ausstreckte, um nicht umzufallen.

»Ist er krank?«, fragte Arbin verstört. »Komm, hilf mir, wir bringen ihn ins Haus.«

Stunden später waren Loa und Arbin endlich allein in ihrem Schlafzimmer und machten sich für die Nacht fertig.

»Arbin«, sagte Loa.

»Was ist?«

»Können wir es wirklich riskieren?«

»Riskieren?« Er schien sie bewusst missverstehen zu wollen.

»Den Mann ins Haus zu nehmen, meine ich. Wer ist er überhaupt?«

»Woher soll ich das wissen?«, kam es gereizt zurück. »Aber wir können einen Kranken doch nicht draußen stehen lassen. Wenn er keine Papiere bei sich hat, melden wir ihn morgen der örtlichen Sicherheitsbehörde, und damit ist der Fall für uns erledigt.« Er wandte sich ab, ein deutliches Zeichen, dass er das Thema nicht weiterverfolgen wollte.

Schweigen trat ein, doch die Frau ergriff abermals das Wort. Jetzt klang ihre dünne Stimme noch flehentlicher. »Du glaubst doch nicht, dass er ein Agent der Gesellschaft der Ahnen sein könnte? Du weißt schon, wegen Grew?«

»Weil er heute Abend so dummes Zeug geredet hat? Das ist eine so abwegige Idee, dass mir dafür jedes Wort zu schade ist.«

»Das habe ich nicht gemeint, und du hast mich auch genau verstanden. Schließlich halten wir Grew nun schon seit zwei Jahren verbotenerweise hier versteckt, und du weißt so gut wie ich, dass wir damit so ziemlich gegen das strengste Sittengesetz verstoßen, das es gibt.«

»Wir schaden niemandem«, murrte Arbin. »Schließlich erfüllen wir immer unser Plansoll, obwohl es für drei Personen berechnet ist – für drei Arbeitskräfte! Und wer sollte Verdacht schöpfen, solange wir das schaffen? Wir lassen ihn ja nicht einmal aus dem Haus.«

»Der Rollstuhl könnte uns verraten. Du musstest damals schon den Motor und die Beschläge außerhalb kaufen.«

»Nun komm mir nicht wieder damit, Loa. Ich habe dir schon hundertmal erklärt, dass ich für diesen Stuhl nichts anderes gekauft habe als ganz normales Küchenzubehör. Außerdem ist es vollkommen absurd, in unserem Gast einen Agenten der Bruderschaft zu vermuten. Glaubst du, die würde sich wegen eines armen, alten Mannes im Rollstuhl ein so kompliziertes Täuschungsmanöver ausdenken? Wenn sie am hellen Tag und mit einem richterlichen Durchsuchungsbefehl das Gleiche erreichen könnte? Ich bitte dich, gebrauche doch wenigstens einmal deinen Verstand.«

»Aber dann, Arbin …« – ihre Augen glänzten vor Eifer –, »… wenn du wirklich so denkst – ich hatte es ja so sehr gehofft –, dann muss er ein Außenweltler sein. Dann kann er nicht von der Erde stammen.«

»Was soll das heißen, er kann nicht? Das ist doch noch absurder. Was hätte ein Bürger des Imperiums ausgerechnet hier zu suchen, hier auf der Erde?«

»Das weiß ich doch nicht! Oder vielleicht doch: Er könnte da draußen ein Verbrechen begangen haben.« Sie spann die Idee sofort weiter. »Warum nicht? Es passt alles zusammen. Die Erde wäre genau der richtige Zufluchtsort. Hier würde kein Mensch nach ihm suchen.«

»Falls er ein Außenweltler ist. Was hast du für Anhaltspunkte dafür?«

»Spricht er etwa unsere Sprache? Nein, das musst du zugeben. Oder konntest du ein einziges Wort verstehen? Er muss also aus irgendeinem entlegenen Winkel der Galaxis stammen, wo man einen ganz eigenen Dialekt spricht. Angeblich müssen die Leute von Fomalhaut die Sprache praktisch neu lernen, um sich am Kaiserlichen Hof auf Trantor verständigen zu können … Begreifst du denn nicht, was das bedeuten kann? Wenn er hier auf der Erde fremd ist, ist er auch bei der Zensusbehörde nicht registriert, und er wird sicher nicht scharf darauf sein, sich dort zu melden. Wir könnten ihn auf der Farm arbeiten lassen, anstelle von Vater, dann sind wir in der nächsten Anbauperiode wieder zu dritt und brauchen nicht zu zweit das Plansoll für drei zu erfüllen … Er könnte gleich jetzt bei der Ernte mithelfen.«

Nervös sah sie ihren Gatten an. Der war unsicher geworden und überlegte lange. Endlich sagte er: »Komm, Loa, wir gehen jetzt schlafen. Bei Tageslicht sieht alles anders aus, dann reden wir weiter.«

Damit verstummte das Geflüster, das Licht wurde gelöscht, und nach einer Weile lagen das Zimmer und das ganze Haus in tiefem Schlaf.

Am nächsten Morgen war Grew an der Reihe, sich den Kopf zu zerbrechen. Voller Hoffnung legte ihm Arbin Loas Frage vor, denn er setzte sehr viel mehr Vertrauen in das Urteil seines Schwiegervaters als in sein eigenes.

»Eure Probleme, Arbin«, begann Grew, »sind ganz eindeutig darauf zurückzuführen, dass ich weiterhin als Arbeitskraft registriert bin und folglich das Produktionssoll für drei Personen bemessen wurde. Ich habe es satt, ein Problem zu sein. Seit zwei Jahren lebe ich nun schon über meine Zeit. Das ist wirklich genug.«

Arbin war verlegen geworden. »Aber darum geht es doch überhaupt nicht. Ich wollte dir wahrhaftig nicht vorhalten, du seist ein Problem für uns.«

»Im Grunde kommt es doch gar nicht mehr darauf an. In zwei Jahren findet der nächste Zensus statt, dann bin ich sowieso dran.«

»Zumindest kannst du dich noch zwei Jahre länger in Ruhe an deinen Büchern erfreuen. Warum solltest du darauf verzichten?«

»Weil andere auch verzichten müssen. Du musst an dich und Loa denken. Wenn sie mich holen kommen, nehmen sie auch euch beide fest. Wer bin ich denn, dass ich wegen ein paar lausiger Jahre auf Kosten anderer …«

»Hör auf damit, Grew. Kein Theater. Wir haben dir oft genug erklärt, wie wir vorgehen wollen. Eine Woche vor dem Zensus werden wir dich der Behörde melden.«

»Und der Arzt wird sich von euch zum Narren halten lassen?«

»Den Arzt werden wir bestechen.«

»Hm. Und jetzt dieser neue Mann – mit ihm verdoppelt sich euer Verbrechen. Schließlich müsstet ihr ihn ebenfalls verstecken.«

»Wenn es so weit ist, lassen wir ihn einfach frei. Um der Erde willen, warum müssen wir darüber heute schon nachdenken? Dafür ist auch in zwei Jahren noch Zeit. Die Frage ist, was fangen wir jetzt mit ihm an?«

»Ein Fremder«, überlegte Grew. »Klopft einfach an die Tür. Niemand weiß, woher er kommt. Man versteht kein Wort von dem, was er sagt … Ich weiß nicht, wie ich dir raten soll.«

»Bösartig scheint er nicht zu sein«, sagte der Farmer. »Sieht eher so aus, als fürchtet er sich zu Tode. Was kann er uns schon anhaben?«

»Fürchtet sich, wie? Und wenn er nun schwachsinnig ist? Wenn sein Kauderwelsch gar kein fremder Dialekt wäre, sondern nur das Gestammel eines Idioten?«

»Das halte ich für unwahrscheinlich.« Dennoch trat Arbin unruhig von einem Fuß auf den anderen.

»Jedenfalls redest du dir das ein, weil du Nutzen aus ihm ziehen willst … Schön, ich will dir sagen, was du tun sollst. Bring ihn in die Stadt.«

»Nach Chica?« Arbin war entsetzt. »Das wäre eine Katastrophe.«

»Keineswegs«, sagte Grew gelassen. »Dein Fehler ist, dass du keine Zeitungen liest. Ein Glück für diese Familie, dass ich noch da bin. Wie es der Zufall will, hat das Institut für Kernforschung einen Apparat entwickelt, der den Menschen das Lernen leichter machen soll. In der Wochenendbeilage stand darüber ein ganzseitiger Artikel. Und jetzt suchen sie Freiwillige als Versuchspersonen. Bring den Mann dorthin. Er soll sich freiwillig melden.«

Arbin schüttelte entschieden den Kopf. »Du bist verrückt, Grew. Das ist ganz ausgeschlossen. Sie würden als Erstes seine Kennnummer verlangen. Wenn mit ihm irgendetwas nicht in Ordnung ist, provozieren wir, dass sie Nachforschungen anstellen, und dann stoßen sie auf dich.«

»Nein, Arbin, du hast wieder mal keine Ahnung. Das Institut sucht deshalb Freiwillige, weil sich das Gerät noch im Erprobungsstadium befindet. Wahrscheinlich hat es bereits etliche Leute umgebracht, und deshalb werden sie mit Sicherheit keine Fragen stellen. Falls der Fremde nicht überlebt, ist er vermutlich auch nicht schlechter dran als jetzt … Hör zu, Arbin, gib mir den Buchfilmprojektor und stell ihn auf Spule sechs ein. Und bring mir bitte sofort die Zeitung, wenn sie kommt.«

Als Schwartz die Augen öffnete, war es bereits nach Mittag. Auf seinem Herzen lastete jene dumpfe Trauer, die keine Nahrung braucht, Trauer um eine Frau, die beim Aufwachen nicht mehr neben einem liegt, um eine vertraute Welt, die nicht mehr ist …

Diese Trauer hatte er schon einmal verspürt. Eine Erinnerung blitzte auf, erhellte eine längst vergessene Szene, ließ sie in scharfen Umrissen hervortreten. Er sah sich selbst als jungen Burschen in einem winterlich verschneiten Dorf … der Schlitten stand schon bereit … am Ende der Fahrt wartete der Zug … und danach das große Schiff …

Die deprimierende, mit Sehnsucht vermischte Angst vor dem Verlust der vertrauten Welt vereinte ihn für einen Augenblick mit jenem Zwanzigjährigen, der nach Amerika ausgewandert war.

Die Trauer war zu schmerzlich. Es konnte kein Traum sein.

Als das Licht über der Tür zu blinken begann und sein Gastgeber in tiefem Bariton sinnlose Laute von sich gab, sprang Schwartz auf. Die Tür wurde geöffnet, es gab Frühstück – einen graubraunen Brei, den er nicht identifizieren konnte, der aber ein wenig wie Maisgrütze schmeckte (allerdings etwas pikanter), und Milch.

Er sagte: »Danke«, und nickte nachdrücklich mit dem Kopf.

Der Farmer erwiderte etwas, griff nach Schwartz’ Hemd, das über der Stuhllehne hing, und untersuchte es eingehend von allen Seiten. Besonders die Knöpfe hatten es ihm angetan. Dann legte er es zurück und riss die Schiebetüren eines Schranks auf. Zum ersten Mal bemerkte Schwartz die warme, milchige Beschaffenheit der Wände.

»Plastik«, murmelte er, ein Pauschalbegriff, den jeder Laie im Brustton der Überzeugung zu verwenden pflegt. Weiterhin fiel ihm auf, dass der Raum keinerlei Ecken und Winkel hatte. Alle Ebenen flossen in sanfter Rundung ineinander.

Sein Gastgeber hielt ihm verschiedene Dinge hin und vollführte Handbewegungen, die nicht misszuverstehen waren. Schwartz sollte sich waschen und anziehen.

Er gehorchte, und der andere stand ihm mit Rat und Tat zur Seite. Nur Rasierzeug gab es nicht, und als Schwartz auf sein Kinn deutete, bekam er lediglich ein unverständliches Knurren und einen Blick voll tiefen Abscheus zur Antwort. Seufzend kratzte er sich die grauen Stoppeln.

Dann führte ihn der Mann zu einem kleinen, länglichen, zweirädrigen Wagen und bedeutete ihm einzusteigen. Schon glitt der Boden unter ihnen weg, und zu beiden Seiten raste die leere Straße vorbei. Irgendwann wurden am Horizont flache, strahlend weiße Gebäude sichtbar, und dahinter sah Schwartz blaues Wasser glänzen.

Eifrig wies er mit dem Finger darauf. »Chicago?«

Es war ein letzter Hoffnungsfunke, denn er konnte sich keinen Ort vorstellen, der weniger Ähnlichkeit mit dieser Stadt gehabt hätte.

Der Farmer gab keine Antwort.

Und der Funke erlosch.