Schicksalsfreundin

Renate Ahrens

Schicksalsfreundin

Roman

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Renate Ahrens

Renate Ahrens wurde 1955 in Herford geboren, studierte Anglistik und Romanistik und war einige Jahre als Lehrerin tätig, bevor sie 1986 als freie Autorin zu arbeiten begann. Sie schreibt Romane, Kinderbücher und Theaterstücke. Nach Lebensstationen in Frankreich, Südafrika, Italien und Irland lebt sie heute mit ihrem Mann in Hamburg. Renate Ahrens ist Mitglied des P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

 

Von Renate Ahrens sind bereits folgende Romane erschienen:
Der Wintergarten
Zeit der Wahrheit
Fremde Schwestern
Ferne Tochter
Seit jenem Moment
Das gerettete Kind
Alles, was folgte
Der andere Himmel

 

 

 

 

Alle handelnden Personen sind frei erfunden.

 

 

 

 

Für Alan

1.

Das Klingeln des Weckers reißt mich aus dem Schlaf. Zehn vor vier. Peter rührt sich nicht. Ich wünschte, ich hätte Herbstferien wie er und die Kinder und könnte mich auf die Seite drehen und weiterschlafen. Stattdessen werde ich jetzt aufstehen und mich vor dem Frühstück drei oder vier Stunden lang auf meine Übersetzung konzentrieren. Nachher wollen wir mit den Kindern einen Ausflug machen. Wir haben es ihnen versprochen.

Ich klettere die Leiter vom Hochbett herunter, ziehe meinen Fleecepulli und Wollsocken an und öffne leise die Tür. Auf Zehenspitzen gehe ich durch den dunklen Flur in die Küche. Ohne einen Kaffee brauche ich gar nicht erst anzufangen. Ich mache mir einen doppelten Espresso und esse eins der Nussplätzchen, die Marie und ich gestern Abend gebacken haben.

Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer stoße ich mit dem Fuß gegen einen harten Gegenstand. Er rollt über die Dielen und prallt gegen die Fußleiste. Wieder mal ein Spielzeugauto von Paul. Ich lausche. Aus den Zimmern ist kein Mucks zu hören. Meine Familie hat einen festen Schlaf.

Peter stört es auch nicht, wenn ich unter dem Hochbett meine Schreibtischlampe anknipse, den Laptop aufklappe und anfange zu tippen. Es war seine Idee, hier zwei Arbeitsplätze für uns einzurichten, statt nach einer größeren Wohnung zu suchen, für die wir die Miete sowieso nicht bezahlen könnten. Peter weiß immer einen Ausweg.

Bis zum Sonnenaufgang gelingt es mir, an nichts anderes zu denken als an meine Übersetzung. Seit drei Monaten arbeite ich an dem Text und komme viel langsamer voran als geplant. Der Roman ist sprachlich anspruchsvoll, aber ich mag solche Herausforderungen. In Frankreich war das Buch ein Bestseller.

Mein Blick fällt auf das Bild von Franz Marc, das über meinem Schreibtisch hängt. Der Turm der blauen Pferde. Wie immer, wenn ich diese vier blauen Pferde vor dem leuchtend gelb-orange-roten Hintergrund betrachte, breitet sich Zuversicht in mir aus. Opa hat mir den gerahmten Druck zu meinem zwölften Geburtstag geschenkt. Und seitdem hat er mich überallhin begleitet.

Gleich Viertel vor acht. Ich höre Peters gleichmäßige Atemzüge, und auch die Kinder scheinen noch zu schlafen. Oder sie spielen friedlich in ihrem Zimmer, was allerdings ungewöhnlich wäre.

Ich habe gerade mit einem neuen Abschnitt begonnen, als es im Flur rumort.

Im nächsten Augenblick wird die Schlafzimmertür aufgerissen. »Mama, Papa, Fridolin ist ausgebüxt!«

Vor mir steht Marie im Nachthemd und weint.

»Oje.« Ich nehme sie in die Arme und lasse meine Finger durch ihre wuscheligen, hellblonden Haare gleiten. »Der wird schon wiederauftauchen.«

»Was ist denn los?«, brummt Peter schlaftrunken von oben.

»Paul hat wahrscheinlich die Käfigtür nicht richtig zugemacht«, schluchzt Marie.

»Hab ich wohl!«, ruft Paul und kommt ins Zimmer gerannt. »Immer bin ich schuld.«

»Kleine Brüder haben es schwer«, murmelt Peter.

»Große Schwestern haben es noch viel schwerer«, protestiert Marie und wischt sich die Tränen ab.

»Wollen wir drei ein Willi-Wiberg-Buch lesen, und Mama sucht den Hamster?«

»Jaaa!«

»Nur weil ich ihn die letzten drei Male gefunden habe, heißt das noch lange nicht, dass ich …«

»Doch!«, rufen die Kinder und klettern hinauf zu Peter ins Bett.

»Na gut.« Ich klappe den Laptop zu.

»Wo habe ich denn bloß meine Brille?«, höre ich Peter sagen.

»Sie ist hier, im Regal«, antwortet Marie.

»Tatsächlich.« Dann fängt er an vorzulesen.

Wenn es um den erfinderischen Willi Wiberg und seinen zerstreuten Vater geht, vergessen Marie und Paul jeden Streit.

Als Erstes gehe ich ins Kinderzimmer, aber dieses Mal hat Fridolin sich nicht unter dem Kleiderschrank versteckt. Und auch nicht hinter der Heizung oder in der Kiste mit den Legosteinen. Im Flur kommt nur das Regal mit den Schuhen infrage. Ich fasse in jeden einzelnen kleinen und großen Schuh, ohne Erfolg. Aus dem Schlafzimmer ertönen Peters ruhige Stimme und dazwischen das Lachen der Kinder. Wo kann dieser Hamster bloß sein? Seit zwei Monaten lebt er bei uns und hält uns auf Trab. Noch nie hat Marie sich so über ein Geschenk gefreut. »Den habe ich von meiner Patentante Zofia zu meinem achten Geburtstag bekommen«, verkündet sie jedem, der Fridolin noch nicht kennt. Wir hatten alle keine Ahnung, wie viel Arbeit so ein winziges Haustier macht. Endlich entdecke ich ihn: Er sitzt im Badezimmer hinter der Waschmaschine und zittert. Als ich die Hand nach ihm ausstrecke, rutscht er ein Stück weiter in die Ecke. Nein, so werde ich ihn nicht erwischen.

Von meiner letzten Suche habe ich in unserer Abstellkammer noch ein Papprohr, das an einer Seite geschlossen ist. Ich hole eine Möhre aus der Küche, lege das Rohr mit der Möhre darin vor die Waschmaschine und ziehe die Tür hinter mir zu.

»Ich habe Fridolin gefunden!«, rufe ich den dreien auf dem Hochbett zu.

Marie strahlt. »Toll, Mama. Wo ist er?«

»Im Badezimmer. Ihr dürft jetzt nicht reingehen. Vielleicht lässt er sich mit einer Möhre ködern, und wir können ihn nachher in seinen Käfig zurücktragen.«

»Und was ist, wenn ich mal muss?«, fragt Paul.

»Dann finden wir auch eine Lösung«, antwortet Peter.

»Aber wehe, du piescherst wieder in meinen Puppenwagen«, droht Marie.

»Das habe ich noch nie gemacht!«

»Doch. Als du klein warst.«

»Du bist gemein!«

»Ist ja gut, ihr zwei. Wollt ihr hören, wie Willi Wiberg morgens trödelt und seinen Vater damit zur Verzweiflung bringt?«

»Jaaa!«

Im Flur fällt mein Blick in den Spiegel. Blass bin ich, und unter den Augen habe ich dunkle Schatten. Zu wenig Sport, zu wenig Schlaf, denke ich, während ich meine dünnen, blonden Schnittlauchhaare zu einem Pferdeschwanz binde und wie immer froh und dankbar bin, dass die Kinder Peters Locken geerbt haben. Ich atme tief durch und beschließe, den Frühstückstisch zu decken.

Ein paar Minuten später klingelt das Telefon. Auf dem Display sehe ich die Nummer des Pflegeheims. Ich schlucke. Ist wieder was mit Mama passiert?

»Tiedtke.«

»Guten Morgen, Carola Bruns hier. Frau Tiedtke, Ihre Mutter ist heute Nacht im Heim herumgeirrt. Einer der Pfleger hat sie zusammengekauert im Flur gefunden, sie war völlig unterkühlt.«

»Ach, du meine Güte. Hoffentlich bekommt sie nicht wieder eine Blasenentzündung. Wie geht es ihr jetzt?«

»Sie ist ziemlich durcheinander.«

Ich sinke auf den Küchenstuhl.

»Das war der dritte Zwischenfall in zehn Tagen.«

»Ja.«

»Dabei habe ich nicht mitgezählt, wie oft sie andere Patienten belästigt, wenn sie in ihre Zimmer geht und sie anpöbelt.«

Meine Mutter, die auf Höflichkeit immer so viel Wert gelegt hat.

»Aufgrund ihrer fortgeschrittenen Demenzerkrankung müssen wir dringend eine Höherstufung des Pflegegrads beantragen. Wäre es möglich, dass Sie heute zu einem Gespräch vorbeikommen?«

»Ja, natürlich.«

»Um elf?«

Ich denke an den Ausflug mit den Kindern. »Passt es Ihnen auch am Nachmittag?«

»Ja. Um vier?«

»Das schaffe ich. Danke.«

»Bis nachher.«

Mein Mund ist ganz trocken. Ich schenke mir ein Glas Wasser ein und trinke es in einem Zug aus. Geht es Frau Bruns wirklich nur um den Antrag für einen höheren Pflegegrad? Oder darum, dass das Heim mit Mamas Betreuung überfordert ist? Dann müsste ich eine neue Bleibe für sie suchen.

Manchmal kann und will ich es nicht begreifen, dass sie so krank ist. Bis vor sechs Jahren hat sie noch mit Leidenschaft ihre Buchhandlung geführt, Französisch gelernt und Salsa getanzt. Dann begannen auf einmal die Probleme: Sie fand den kurzen Weg vom Geschäft nach Hause nicht mehr, obwohl sie ihr Leben lang in Eimsbüttel gewohnt hat. Und immer häufiger fehlten ihr die Worte, ausgerechnet ihr, die so redegewandt gewesen war. Irgendwann haben Marie und ich sie besucht, sie begrüßte uns, und zehn Minuten später begrüßte sie uns noch einmal, so als seien wir gerade erst angekommen. Spätestens da wusste ich, dass wir etwas unternehmen mussten.

»Wir haben ihn! Wir haben ihn!«, höre ich Marie im Flur rufen. »Und jetzt trägt Papa ihn in den Käfig zurück.«

»Super!« So haben wir wenigstens ein Problem gelöst, und das Badezimmer ist auch wieder frei.

Als Nächstes stürmen die Kinder in die Küche. »Hunger! Hunger! Hunger!«

Ich stelle die Müslischälchen auf den Tisch, hole die Milch aus dem Kühlschrank und schneide einen Apfel in kleine Stücke.

Peter streicht sich über den Bart. »Ist irgendwas?«, fragt er und sieht mich besorgt an.

»Ich muss heute Nachmittag zu einer Besprechung ins Pflegeheim.«

»Hat Oma Ursel wieder was angestellt?« Marie fängt an zu kichern.

»Das ist leider gar nicht lustig. Oma Ursel ist krank.«

Paul runzelt die Stirn. »Warum ist sie krank?«

»Das wüsste ich auch gern«, murmele ich.

Marie zuckt mit den Achseln. »Sie ist eben alt.«

»Einundsiebzig ist nicht so alt.«

»Doch, uralt.«

Peter lächelt mir aufmunternd zu. »Kaffee?«

Ich nicke. Mal sehen, was der Tag noch an Überraschungen bereithält. Zum Glück habe ich heute Morgen schon mein halbes Pensum geschafft.

»Wie gut, dass wir Fridolin wiedergefunden haben. Sonst denkt Tante Zofia noch, dass ich nicht gut auf ihn aufpasse.«

»Nein, das würde sie nicht. Ich habe ihr erzählt, wie schnell so ein Hamster ausbüxen kann.«

»Kommt sie bald nach Hamburg zurück?«

»Ja, ihre Tournee ist nächste Woche zu Ende.«

»Freust du dich?«

»Und wie.«

»Ich auch. Wart ihr immer beste Freundinnen?«

»Seit unserem achten Lebensjahr, als sie in meine Klasse gekommen ist.«

»Ich hätte auch gern so eine gute Freundin.«

»Du wirst bestimmt irgendwann eine finden.«

»Aber nicht, wenn du so blöd bist wie vorhin«, keift Paul.

»Ich bin nicht blöd!«, schreit Marie, den Tränen nahe.

»Lukas und ich sind schon seit dem Kindergarten beste Freunde.«

»Nun lass Marie mal in Ruhe«, sage ich und lege Paul die Hand auf den Arm.

Wie kommt es, dass er es mit seinen sechs Jahren im Leben so viel leichter hat als seine Schwester?

»Ihr zwei, wisst ihr, was wir heute machen?«

Die beiden halten inne und schauen Peter an.

»Wir fahren an die Elbe und lassen dort euren Drachen steigen.«

»Jaaa!«

Peter ist nicht nur ein Problemlöser, sondern auch ein Meister der Ablenkung.

 

Wir stehen am Falkensteiner Ufer und blicken auf den breiten Strand.

»Wusstest du, dass jetzt Ebbe herrscht?«, frage ich Peter.

Er nickt.

»Papa weiß alles«, meint Paul.

Peter fährt grinsend mit der Hand durch Pauls braune Locken. »Nein, ich weiß nur, wo ich’s nachgucken kann.«

Die Sonne ist herausgekommen und lässt das Wasser der Elbe silbrig glitzern. Über uns kreisen die Möwen, es riecht nach Meer. Der Wind hat etwas zugenommen; perfektes Wetter für den Drachen.

Die Kinder staunen über die Schilder, auf denen vor gefährlichen Wellen gewarnt wird, die durch die großen Frachtschiffe entstehen. Peter erklärt ihnen, dass Menschen schwer verletzt werden oder sogar ertrinken können, wenn plötzlich solche Wellen auf den Strand schwappen.

Marie sieht sich ängstlich um. »Dürfen wir denn hier Drachen steigen lassen?«

»Klar dürfen wir das!«, ruft Paul.

»Ja, aber sobald wir ein großes Schiff sehen, laufen wir zum Uferweg hinauf.«

Die Kinder packen ihren Regenbogen-Drachen mit den langen Fransen aus, und wir prüfen, aus welcher Richtung der Wind weht. In dem Moment klingelt mein Handy.

»Och, nee, Mama!«, stöhnt Marie. »Ausgerechnet jetzt.«

»Vielleicht ist es das Pflegeheim.«

Nein. Auf dem Display erscheint Zofias Name. Seltsam. Um diese Uhrzeit. Ich gehe ein Stück weiter auf die Mole und gebe den dreien ein Zeichen, dass sie schon mal loslegen sollen.

»Hallo?«

»Miriam, kannst du gerade reden?«

Ich stutze. Zofias sonst so klangvolle Stimme hört sich ganz flach an. »Ja.«

»Meine Mutter ist heute Morgen gestorben.«

»Was?« Mir ist, als ob mein Herz einen Moment lang aussetzt.

»Mein Vater hat mir eben Bescheid gesagt. Aniela war übel, dann ist sie zusammengebrochen … Als der Notarzt kam, konnte er nur noch ihren Tod feststellen … Es war ein Herzinfarkt.«

Ich schlucke. »Oh, Zofia, das tut mir so leid.«

»Ich … ich kann es noch gar nicht fassen.« Sie beginnt zu weinen.

Mir schießen auch die Tränen in die Augen. »Hatte sie Beschwerden in der letzten Zeit?«

»Nein, überhaupt nicht. Es ging ihr so gut … Gestern Nachmittag haben wir noch miteinander telefoniert … Dariusz und sie hatten beschlossen, im Dezember nach Hamburg zu reisen, weil sie bei meiner Hedda Gabler-Premiere dabei sein wollten.«

Ich kann und will das einfach nicht glauben. »Wo bist du jetzt?«

»In Köln. Ich muss alle Vorstellungen absagen und werde so schnell wie möglich nach Krakau fliegen. Mein Vater steht unter Schock. Das macht mir große Sorgen.«

»Die beiden waren sich so nah.«

»Ja.«

»Weißt du schon, wann die Beerdigung sein wird?«

»Vermutlich Anfang nächster Woche.«

Blitzschnell treffe ich eine Entscheidung. »Ich komme.«

»Wirklich?«

»Ja, natürlich.«

»Ach, Miriam … ich danke dir.«

»Das ist doch selbstverständlich.«

»Es tröstet mich so, dass du bei mir sein wirst, wenn wir sie begraben.«

»Sobald du den Termin weißt, buche ich meinen Flug.«

»Ich rufe dich heute Abend wieder an.«

»Gibt es irgendetwas anderes, was ich für dich tun kann?«

»Nein, im Moment nicht.«

»Ich umarme dich.«

»Ich dich auch.«

»Melde dich, wann immer du willst.«

»Danke.«

Ich drehe mich um und sehe den fliegenden Drachen. Peter hält die Spule mit der Leine. Paul hüpft ungeduldig neben ihm auf und ab. Und Marie juchzt vor Freude, als der Drachen immer höher steigt.

2.

Ich ahne, dass es mir nicht gelingen wird, meine Bestürzung vor Peter und den Kindern zu verbergen. Als Marie auf mich zugelaufen kommt, zwinge ich mich zu einem Lächeln. Aber sie sieht mir offenbar an, dass etwas Schlimmes geschehen ist, denn sie greift sofort nach meiner Hand.

»Warum bist du traurig? Ist es wegen Oma?«

»Nein … Zofia hat mich eben angerufen. Ihre Mutter ist heute Morgen gestorben.«

»Oh!« Maries Augen füllen sich mit Tränen.

Ich streiche ihr über die Stirn und drücke sie an mich. Auch sie kannte Zofias zierliche Mutter, die so schön Klavier spielen konnte.

»Arme Tante Zofia«, schluchzt sie. »War ihre Mama sehr krank?«

»Überhaupt nicht. Es ging ihr gut.«

»Wie kann sie dann auf einmal tot sein?«

»Ihr Herz hat aufgehört zu schlagen.«

»Und warum?«

»Wahrscheinlich war irgendetwas damit nicht mehr in Ordnung, ohne dass sie’s gemerkt hat.«

»Das ist so traurig.«

Ich halte Marie fest in den Armen und kämpfe mit meinen eigenen Tränen.

»Fliegt Tante Zofia jetzt zu ihrem Papa nach Polen?«

»Ja, und ich werde zur Beerdigung nach Krakau fahren, um Zofia zu helfen.«

»Soll ich mitkommen?«

»Nein, die Reise mache ich besser allein.«

»Aber ich kann eine Karte für sie malen.«

»Ja. Darüber würde sie sich bestimmt freuen.«

Ich sehe, wie Peter den Drachen auf dem Strand landen lässt. Paul steht schmollend daneben.

»Komm, wir gehen zu den beiden zurück«, sage ich. »Sie wundern sich wahrscheinlich schon, was mit uns los ist.«

»Ich habe jetzt keine Lust mehr zum Drachensteigen.«

»Lass uns erst mal mit Papa und Paul reden, und dann sehen wir weiter.«

Es ist Marie, die ihnen erzählt, was passiert ist. Ihre Stimme zittert. Paul hört ihr mit weit aufgerissenen Augen zu.

Peter nimmt beide Kinder in die Arme. »Für Zofia und ihren Vater ist es sehr hart, dass sie so plötzlich einen geliebten Menschen verloren haben. Aber Aniela ist ganz schnell gestorben, und zum Glück war sie vorher nicht krank.«

»So wie Oma«, murmelt Marie.

»Muss Oma denn auch bald sterben?«, fragt Paul erschrocken.

»Das wissen wir nicht«, antworte ich. »Es kann sein, dass sie noch lange leben wird.«

Ich sage nicht, wie oft ich mir in den letzten Monaten gewünscht habe, dass sie von ihrer Demenz erlöst würde.

Eine Weile sind wir ganz still und schauen aufs Wasser. Es ist das erste Mal, dass die Kinder von dem Tod eines ihnen bekannten Menschen erfahren haben.

Dann fragt Peter, ob wir noch einmal den Drachen steigen lassen wollen.

Paul nickt. »Vorhin ist er so schön geflogen.«

Auch Marie lässt sich überreden.

Ein paar Minuten später fliegt der Drachen wieder hoch über uns, und diesmal halten die Kinder nacheinander die Spule. Sie sind so aufgeregt, dass für den Moment alle Traurigkeit vergessen ist.

 

Als wir wieder zu Hause sind und Marie und Paul in ihrem Zimmer mit Fridolin spielen, bespreche ich mit Peter die Planung für die nächste Woche. Er hat noch Ferien und wird die Kinder betreuen. Sonst hätte ich mich niemals so schnell entscheiden können, zur Beerdigung nach Krakau zu fahren.

»Liegst du mit deiner Übersetzung einigermaßen in der Zeit?«

»Geht so. Bis zu meiner Abreise werde ich wieder jeden Morgen um vier aufstehen müssen.«

Peter schüttelt den Kopf. »Das kommt überhaupt nicht infrage. Du weißt doch, wie das ist, wenn du ständig zu wenig schläfst. Irgendwann wirst du krank, und dann bricht alles zusammen.«

»Das klingt, als ob ich überhaupt nichts aushalten könnte.«

»Ich erinnere nur an letzten Herbst, als du schließlich eine Lungenentzündung bekommen hast, weil du nicht auf mich hören wolltest.«

»Ach, Peter …«

»Nichts ›ach, Peter‹. Ich werde morgen und übermorgen mit den Kindern Ausflüge machen, damit du genug Ruhe hast, um zu arbeiten.«

»Aber wir wollten doch in den Ferien gemeinsam was unternehmen.«

»Die Kinder werden verstehen, warum du nicht mitkommen kannst.«

»Ich hatte mich auf die Ausflüge gefreut.«

»Ich auch.« Peter gibt mir einen Kuss. »Manchmal geht eben nicht alles auf einmal.«

Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden, auch wenn ich weiß, dass er recht hat.

 

Um kurz vor vier betrete ich das Pflegeheim. Die resolute Frau Bruns erwartet mich schon. Sie bittet mich, auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen. Ich bin auf alles gefasst.

»Wie ich Ihnen heute Morgen am Telefon sagte, hat sich die Situation Ihrer Mutter verschlechtert. Vorhin beim Mittagessen ist es zu einem weiteren Zwischenfall gekommen. Sie hat plötzlich ihre Tischnachbarin mit einer Gabel angegriffen.«

»Oh, nein!«

»Zum Glück konnte eine Pflegerin schnell dazwischengehen und Schlimmeres verhindern.«

Ich seufze. »Meine Mutter war ihr Leben lang ein friedfertiger Mensch. Dass die Demenz sie so verändert hat!«

»Wir mussten ihr eine Beruhigungsspritze geben«, fährt Frau Bruns fort, ohne auf meinen Kommentar einzugehen. »Wundern Sie sich also nicht, dass sie kaum ansprechbar ist.«

»Aber das kann doch nicht gut für sie sein«, wende ich ein.

»Frau Tiedtke, wir können das Risiko nicht eingehen, dass Ihre Mutter anderen Patienten etwas antut.«

Ich schließe einen Moment lang die Augen. Dass Mama heute Nacht wer weiß wie lange im Flur auf dem Boden gesessen hat, hätte natürlich auch nicht passieren dürfen. Ist sie hier noch richtig aufgehoben?

»Ich habe den Antrag auf Höherstufung des Pflegegrads vorbereitet. Die Chancen für eine Bewilligung stehen meiner Meinung nach nicht schlecht.«

»Und was würde diese Höherstufung bedeuten?«

»Dass Ihre Mutter zusätzliche Hilfeleistungen beim Waschen und Anziehen erhält. Und auch beim Essen braucht sie zunehmend Unterstützung.«

In meinem Innern zieht sich etwas zusammen; ich spüre wieder mein schlechtes Gewissen. Vielleicht ginge es ihr besser, wenn ich mehr Zeit und Kraft hätte, mich um sie zu kümmern.

»Was das aggressive Verhalten Ihrer Mutter angeht, werden wir den Arzt fragen, ob er ihr zur Beruhigung etwas verschreiben kann, das nicht so müde oder apathisch macht.«

»Im Grunde müsste wahrscheinlich immer jemand bei ihr sein.«

Frau Bruns zieht die Augenbrauen hoch. »Eine Eins-zu-eins-Betreuung können wir nicht gewährleisten. Die werden Sie in keinem Pflegeheim finden.«

Hat sie mir angemerkt, dass ich unsicher bin, ob Mama hier noch gut versorgt ist?

Ich habe einen Kloß im Hals, als ich auf die verschiedenen Formulare schaue, die vor mir liegen und die ich unterschreiben soll. Bevor ich weiß, wie mir geschieht, fange ich an zu weinen.

»Frau Tiedtke, ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist«, höre ich Frau Bruns sagen. Ihre Stimme klingt auf einmal sanft. »Es ist sehr schwer zu ertragen, wenn einem die eigene Mutter auf diese Weise verloren geht.« Sie reicht mir eine Schachtel mit Papiertaschentüchern. »Dazu kommt, dass Sie als ihr einziges Kind die alleinige Verantwortung für sie tragen.«

Ich will mich zusammenreißen, aber es gelingt mir nicht. Bin ich so dünnhäutig, weil ich zu wenig geschlafen habe? Weil Zofias Mutter gestorben ist? Weil ich das Gefühl habe, nicht allen gerecht werden zu können?

»Möchten Sie ein Glas Wasser?«

Ich nicke. Wie durch einen Schleier sehe ich, dass Frau Bruns eine Flasche öffnet und mir einschenkt.

»Vielleicht machen Sie sich Vorwürfe, dass Sie die Heimunterbringung Ihrer Mutter veranlasst haben«, fährt sie fort. »Aber ich kann Ihnen versichern, dass sie nicht mehr in der Lage wäre, allein in ihrer Wohnung zu leben, auch nicht mithilfe verschiedener Pflegedienste.«

»Meine Mutter hat immer alles für mich getan«, bricht es aus mir heraus. »Und sie hatte es nicht leicht. Mein Vater starb, als ich acht Jahre alt war … Hätte ich nicht einen Weg finden müssen, sie zu betreuen?«

»Frau Tiedtke, wie hätte jemand wie Sie, die zwei kleine Kinder hat und voll berufstätig ist, das bewerkstelligen sollen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Die meisten Angehörigen, die so etwas versuchen, scheitern früher oder später, weil es ungeheuer kräftezehrend ist, rund um die Uhr für einen demenzkranken Menschen zu sorgen. Es sei denn, eine Familie hat ausreichend Platz und unbegrenzte finanzielle Mittel, um drei Pflegekräfte einzustellen, die im Schichtwechsel arbeiten.«

»Das wäre bei uns nicht möglich gewesen.«

»Na, sehen Sie. Sie haben getan, was Sie konnten. Und auch wir tun, was wir können.«

»Danke, Frau Bruns.« Ich putze mir die Nase und unterschreibe die Formulare.

Beim Abschied wünscht sie mir alles Gute und lächelt mir aufmunternd zu. Sie war noch nie so herzlich zu mir. Aber ich habe ihr auch noch nie gezeigt, wie sehr Mamas Krankheit mich aufwühlt.

Ich bin wieder etwas zuversichtlicher, als ich den breiten Gang entlanggehe, zwei Pflegerinnen begrüße und den Aufzug in den dritten Stock nehme. Mama hat immer oben gewohnt, in lichten Räumen mit schrägen Wänden. Es hat etwas Tröstliches, dass sie auch hier ein helles Zimmer beziehen konnte. Ich klopfe an ihre Tür. Keine Antwort. Vorsichtig drücke ich die Klinke herunter. Mama sitzt in ihrem Sessel und hat die Augen geschlossen. Ihr Kopf ist leicht geneigt. Sie scheint beinahe zu lächeln. Vielleicht träumt sie gerade etwas Schönes.

»Ich bin’s, Miriam«, sage ich leise.

Keine Reaktion.

Ich ziehe meine Jacke aus und setze mich auf den Stuhl neben ihrem Bett. Ist sie noch dünner geworden? Seit dem Ausbruch ihrer Krankheit hat sie stetig abgenommen; sie sieht viel älter aus, als sie ist. Ein Sonnenstrahl fällt auf ihre Hände, die regungslos in ihrem Schoß liegen. Wie lange wirkt so eine Beruhigungsspritze? Vielleicht habe ich Glück, und sie wacht in der nächsten halben Stunde auf. Länger werde ich nicht bleiben können. An ihren Angriff mit der Gabel wird sie sich bestimmt nicht erinnern. Aber ich will sie fragen, ob ihre Tischnachbarin sie angerempelt oder beleidigt hat. Es muss einen Grund dafür geben, warum Mama heute Mittag so aggressiv geworden ist. Mein Blick fällt wieder auf ihre Hände. Sie ähneln Opas Händen; das habe ich früher nie bemerkt. Schmal, mit schlanken Fingern und länglichen Fingernägeln.

Ich sehe ihn noch genau vor mir, wie er in seiner Goldschmiedewerkstatt am Werkbrett saß und mit einer winzigen Feile einen goldenen Ring bearbeitete.

 

»Wie war’s in der Schule?«

»Gut.«

»Hast du Hunger?«

»Ja.«

»Heute gibt’s Möhreneintopf.«

»Lecker.«

Opa griff nach seiner Lupe und prüfte, wo er weiterfeilen musste. »Hat deine Mutter die Buchhandlung gestern wieder aufgemacht?«

»Ja.«

»Und wie geht es ihr?«

»Schlecht. Sie weint immerzu, weil sie Papa so vermisst.«

»Und du?«

»Ich versuche, tapfer zu sein. Sonst ist es für Mama noch schlimmer.«

Opa legte seine Werkzeuge beiseite und stand auf. »Meine kleine Miriam.« Er schloss mich in die Arme.

Nun liefen mir doch Tränen über die Wangen.

»Ein Schlaganfall mit vierundvierzig Jahren«, murmelte er. »Und ganz ohne Vorwarnung. Wie soll ein Mensch das begreifen?«

Ich spürte Opas warme Hände auf meinem Rücken. Seine Weste roch nach Pfeifentabak. Papas Jacken hatten immer nach Zigaretten gerochen.

»Wissen deine Lehrer und die Kinder in deiner Klasse, was passiert ist?«

»Ja. Sie haben mir eine Karte gemalt. Und unsere Lehrerin hat gesagt, wie leid es allen tut, dass ich meinen Papa verloren habe.«

Opa strich mir über den Rücken.

»Mama fragt, ob ich morgen nach der Schule wieder zu dir kommen kann. Sie hat im Laden so viel zu tun.«

»Ja, natürlich. Es ist schön, wenn wir zusammen essen. Und ich koche etwas mehr, dann kannst du eine Portion für deine Mutter mit nach Hause nehmen.«

»Sie sagt, dass ihr ein Butterbrot genügt.«

»Unsinn. Sie ist sowieso zu dünn, und die letzten Wochen haben sehr an ihr gezehrt.«

Wie gut, dass es Opa gibt, dachte ich. Sonst müsste ich vielleicht in ein Heim.

 

»Warum hast du geweint?«

Ich schrecke hoch. »Was?«

Mama schaut mich ruhig an. »Deine Augen sind rot und geschwollen.«

»Ich war traurig vorhin. Frau Bruns hat mir erzählt, was heute Mittag vorgefallen ist.«

»Heute Mittag?« Mamas Blick wandert im Zimmer hin und her. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Hat deine Tischnachbarin etwas Hässliches zu dir gesagt?«

»Nein. Sie hat mir von ihrem Sohn erzählt. Er ist als Regisseur sehr erfolgreich.«

Plötzlich ahne ich, warum sie die Frau angegriffen hat. Mama kann es nur schwer ertragen, wenn von Söhnen die Rede ist. Sie war im sechsten Monat schwanger, als Vater gestorben ist. Eine Woche später hat sie das Kind verloren. Einen Jungen. Meinen Bruder.

 

Später, als ich im Supermarkt mit meinem vollen Einkaufswagen an der Kasse stehe, denke ich darüber nach, wie sehr ich mich damals darauf gefreut hatte, bald große Schwester zu werden. Mama und Papa suchten nach einer neuen Wohnung, in der wir alle vier Platz haben würden. Aber dann waren wir auf einmal nur noch zu zweit.

»Sie sind dran!«, sagt eine harsche Stimme hinter mir.

Ich schaue mich um. Eine ältere Frau wedelt ungeduldig mit der Hand.

»Entschuldigung. Ich war gerade …«

»Nun machen Sie schon.«

Mechanisch lege ich meine Einkäufe aufs Band. Opa war wirklich unsere Rettung. Ohne ihn wäre ich noch mehr allein gewesen. Mama kam oft erst gegen sieben oder halb acht von der Buchhandlung nach Hause. Wenn ich mir vorstelle, dass Marie jeden Tag so viele Stunden allein verbringen müsste wie ich damals, bevor ich Zofia kennenlernte, wird mir ganz schwindelig.

Ich packe alles ein, bezahle und verlasse den Supermarkt. Auf dem Parkplatz stoße ich beinahe mit einem Cabrio zusammen, das gerade aus einer Lücke biegt.

»Passen Sie doch auf!«, schreit der Fahrer und fährt mit quietschenden Reifen davon.

Ich atme einmal tief ein und aus, dann schließe ich den Wagen auf und lade meine Taschen ein.