Fahrtwind

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Fußnoten

Textauszug aus: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften in 20 Bänden. Band 11: Noten zur Literatur. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2003. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.

Friedrich Schlegel
Lucinde

[*]

Theodor W. Adorno
Zum Gedächtnis Eichendorffs

 

Die Geschichte – genauer gesagt: die Idee zu der Geschichte –, die jetzt endlich erzählt werden soll, ist fast ein halbes Jahrhundert alt. Sie stammt aus einer Zeit, die in den Dateien meiner Erinnerung als märchenhaft oder jedenfalls romantisch gespeichert ist. Lebendig geworden ist sie, plötzlich und unerwartet, als ich wieder einmal Ordnung in meiner Bibliothek schaffen wollte. Zwar waren auch frühere Versuche gescheitert, das Chaos in den Regalen einzudämmen, aber immerhin hatte sich dabei eine gewisse Struktur herauskristallisiert.

Es gibt nämlich, erstens, jene Bücher, bei deren Lektüre mir das Herz aufging, die mich bewegten, mir galten und immer gelten werden, egal, ob ich sie noch einmal lese oder nur im Regal stehen lasse, wo sie eine freundliche Aura verströmen. Sie bilden den unveräußerlichen Bestand, das Herzstück meiner

Und schließlich gibt es die verstellten, verschollenen, verrutschten Exemplare, die im Zwielicht zweiter Reihen davon träumen, wiederentdeckt zu werden. Zwischen fetten Staubmäusen stieß ich hinter der Hamburger Goethe-Ausgabe auf Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts – ein zerfleddertes Reclam-Bändchen, aus dem ein paar vergilbte Zigarettenblättchen ragten, die wohl als Lesezeichen gedient hatten. Der Text war übersät mit Anstreichungen, und an den Rändern wimmelte es von gekritzelten Stichworten und kaum lesbaren Bemerkungen. Beim Blättern rieselten Tabakkrümel und Grasfitzelchen heraus, und die angebräunten Seiten verströmten einen leicht stockigen Muff, der in mir etwas längst Vergessenes weckte.

Denn plötzlich ich mich in einem von Zigarettenrauch durchwaberten Seminarraum wieder – Universität Hamburg, Philosophenturm, 4. Stock.

Draußen vor den Fenstern hängt nasskalt und grau die Nebelsuppe eines norddeutschen Winters, während in die funktionale Hässlichkeit des Philosophenturms Eichendorffs Taugenichts Einzug hält, um mit der Geige im Arm als Troubadour zu einer Tournee ins Blaue und Helle aufzubrechen. Ich bin begeistert von dem namenlosen, abenteuerlustigen, schlagfertigen Bruder Leichtfuß, der gegen stumpfsinnige Arbeit und Nützlichkeitsethos opponiert, sich selbst nicht allzu wichtig nimmt und respektlos-ironische Blicke auf das Leben, die Leute und die Liebe wirft. Das kommt daher wie ein von Musik durchzogener Traum, ein sanfter Trip, ziel- und zügellos, voller Fernweh und sinnlicher Sehnsucht, durch nächtliche, wie halluziniert wirkende Parks, durch Landschaften, wie von einem bekifften Caspar David Friedrich

Doch so leicht und hell und zauberhaft der Text auch sein mag, so bleibt er immer nur ein Text, schwarze Buchstaben auf weißem Papier. Und so anregend das Seminar auch sein mag, es ist und bleibt ein Seminar. Viel lieber würde ich aus dem überheizten, verqualmten und überfüllten Übungsraum fliehen und auf den Spuren des Taugenichts nach Süden ziehen. Mitnehmen würde ich nur meine Gitarre, und unterwegs würde ich Gedichte und Songs schreiben für die Studentin, die mir schräg gegenübersitzt und mindestens so hübsch ist, wie ich mir »die schöne Frau« des Taugenichts vorstelle. Leider himmelt sie, wie fast alle Studentinnen, den Professor an, der, zugegeben, clever und ironisch ist.

Wegen solcher Eigenschaften gilt der Mann bei den diversen Parteien, Gruppen, Grüppchen und Zellen, die im Dienst der Weltrevolution durch die Universität geistern, als scheißliberal, wenn nicht gar konterrevolutionär. Einmal, als vermummte Reiter den Taugenichts gerade zwingen, sich ihnen anzuschließen, platzt eine Handvoll revolutionär Gesinnter in den Raum und erklärt das Seminar für »gesprengt«. Ich weiß gar nicht mehr, zu welcher Partei, Gruppe oder Fraktion sie gehörten und ob sie den Lehren Lenins oder Trotzkis, Maos, Hodschas oder Kim

Und da melde ich mich schließlich zu Wort und sage, das Seminar befinde sich in einer intensiven Debatte über poetischen Anarchismus am Beispiel eines antikapitalistischen Arbeits- und Prosperitätsverweigerers im vorindustriellen Italien, von wegen Rote Brigaden, Arte Povera und Bella Ciao, und diese notwendige Diskussion erfordere den Respekt und die Solidarität aller revolutionären Kräfte und müsse nun endlich ungestört fortgesetzt werden.

Zur allgemeinen Verblüffung nimmt der Wortführer der Revolte diesen Blödsinn mit nachdenklichem Kopfnicken zur Kenntnis und räumt samt seiner Putztruppe das Feld. Und in genau diesem Augenblick trifft mich von schräg gegenüber jenes Lächeln, das man zu Eichendorffs Zeiten vermutlich hold, wenn nicht gar bezaubernd genannt hätte.

 

Damals, in dem überheizten und verräucherten Seminarraum, glaubte ich zu wissen, was ich sagen wollte. Aber mir fehlten die treffenden Worte oder, wie es bei Eichendorff heißt: »Ich hatte noch gar nicht daran gedacht, dass ich eigentlich den rechten Weg nicht wusste.«

Vielleicht finde ich ihn heute?

I’m goin’ to some place
I’ve never been before
I’m goin’ where the water tastes like wine

Alan Wilson (Canned Heat)
Going Up The Country

 

Ich hatte herrlich lange geschlafen und ausgiebig gefrühstückt und setzte mich dann mit der Gitarre auf die Treppe, die vom Wintergarten in den Garten führte. Entspannt drehte ich mir eine Morgenzigarette, mischte zwecks Horizonterweiterung ein paar Krümel Gras dazu, sah den Rauchwölkchen nach, die im Blau verschwebten, genoss die Frühlingssonne und freute mich über das Vogelgezwitscher und das quirlige Eichhörnchenpaar, das sich im Walnussbaum tummelte. Ich klimperte auf der Gitarre und suchte für den Text, der mir seit einigen Tagen im Kopf herumging, nach einer flockigen Melodie.

Ich sitz in der Sonne,

summe mir ein kleines Lied,

blinzle zu der Wolke,

die da weiß ins Blaue zieht.

Meine Eltern nahmen diese Neigungen zur Brotlosigkeit mit Befremden, wenn nicht gar mit Verbitterung zur Kenntnis. Undankbar sei ich und wisse nicht, wie gut ich es habe, und solange ich meine Füße unter ihren Tisch und so weiter und so fort und überhaupt, was bloß aus mir werden solle?

Das wusste ich nicht so genau, wollte es damals auch noch gar nicht wissen, fand jedoch, im Sonnenschein auf der Schwelle zu sitzen, Gitarre zu spielen und ein Liedchen zu summen, wäre kein schlechter Anfang.

Mein Vater sah das natürlich entschieden anders. »Was gammelst du hier so nichtsnutzig rum?«, fragte er recht rhetorisch, als er die Treppe hochschnaufte. »Wie lange sollen wir dich eigentlich noch durchfüttern? Wenn du schon nichts mit der Firma zu tun haben willst, dann sieh wenigstens zu, dass du mir nicht mehr auf der Tasche liegst. Und geh mal wieder zum Friseur. Mit diesem Wischmopp auf dem Kopf findest du nie einen Job.«

Das wollte ich ja auch gar nicht – es sei denn, als

Ich ging also auf mein Zimmer, packte meinen Rucksack und verstaute die Gitarre in ihrem Koffer. Dann schlurfte ich ins Esszimmer, wo meine Eltern bei Schweinekotelett mit Blumenkohl in Mehlschwitze saßen und mich verblüfft anglotzten.

»Wo willst du denn hin?«, fragte mein Vater.

»Weg«, sagte ich.

»Was soll das heißen --- weg?«

»Weg von hier.«

Meine Mutter guckte ganz entgeistert. »Aber willst du denn vorher nicht noch etwas essen?«

»Nein, danke«, sagte ich. »Und Blumenkohl mochte ich noch nie.«

Als ich dann an der Straße stand und den Daumen in den Wind reckte, war mir etwas unbehaglich bei dem Gedanken, dass ich mich nicht von meinen Freunden verabschiedet hatte. Aber so sang- und klanglos war es allemal abenteuerlicher, romantischer

Der Erste, der mich mitnahm, war ein Handelsvertreter für Herrenkosmetik. Im Heck seines sänftenartigen Opel Commodore stapelten sich Kartons, und der ganze Kombi müffelte nach etwas zu lieblichem Rasierwasser. Nachdem der Mann mehrfach mein linkes Knie mit dem Schaltknüppel verwechselt hatte, erzählte ich ihm, dass ich auf dem Weg zu meiner Verlobten sei.

»Ach, wie schade«, seufzte er entsagungsvoll, »so ein süßer Bengel ---«, hielt an der nächsten Tankstelle an, ließ mich aussteigen und wünschte gute Reise.

Als Nächstes nahm sich ein netter norwegischer Lkw-Fahrer meiner an. Er war in etwa in meinem Alter, hatte meine Gitarre gesehen und mochte die gleiche Musik wie ich. So sangen wir zusammen all die Songs, die wir beide kannten, und weil es inzwischen zu regnen begonnen hatte, schlugen die Scheibenwischer den Takt dazu. Gegen Abend erreichten wir H., wo der Norweger übernachten und am nächsten Morgen Fracht aufnehmen musste. Ich nahm mit der Kargheit einer Jugendherberge vorlieb.

 

Am nächsten Morgen postierte ich mich an einer Autobahnraststätte, klappte den Gitarrenkoffer auf, warf

Jetzt pack ich meine sieben Sachen

Jetzt lass ich’s endlich richtig krachen

Pack den Rucksack und düse los

Ohne dich und ohne Moos

Ohne dich wird’s wunderschön

In Rio, Kairo und Athen

Ohne dich wird’s wunderbar

In Timbuktu und Sansibar

Jetzt hau ich einfach ab

Dabbadi dabbadu dabb dabb

Ich tauge nicht zur Nützlichkeit

Scheiß auf die Strebertüchtigkeit

Schluss mit grauem Alltagsstuss

Ich will Strand und Kokosnuss

Wecker schmeiß ich gleich ins Klo

Schlips und Kragen ebenso

Ich will keinen Blumenkohl

Ich will Sex und Rock’n’Roll

Jetzt hau ich einfach ab

Dabbadi dabbadu dabb dabb

Nachdem ich So Long, Marianne von Leonard Cohen gesungen hatte, gab es sogar zaghaften Applaus, und zwei Frauen warfen mir Blicke zu, die ich nicht so recht einordnen konnte. Kritisch? Wohlwollend? Neugierig? Begeistert gar? Die eine war etwa in meinem Alter und sah umwerfend gut aus. Die andere hätte ihre Mutter sein können, war im Gesicht noch einigermaßen knitterfrei oder jedenfalls knitterfrei geschminkt, in den Hüften allerdings stark aus dem Leim gegangen. Sie tuschelten miteinander. Die Junge kicherte und nickte.

»Ich weiß«, sagte ich. »Es kommt aber erst richtig zur Geltung, wenn so schöne Frauen zuhören.«

»Ach, wie charmant.« Sie schien unter ihrem Sonnenbankteint sogar ein bisschen zu erröten und deutete auf das Pappschild. »Was meinen Sie denn eigentlich mit südwärts?«

Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Das Wort gefiel mir irgendwie. Es war, als triebe mich eine alte Erinnerung an irgendetwas längst Vergessenes nach Süden. Aber das sagte ich natürlich nicht, weil es genauso altklug und pathetisch geklungen hätte, wie es hier jetzt zu lesen steht. Weil mir auf die Schnelle nichts Besseres einfiel, sagte ich einfach, dass ich nach Wien unterwegs sei.

Nun fing die kosmetisch Konservierte wieder an, mit der Naturschönheit zu tuscheln. Die schüttelte zwar einige Male kokett den Kopf, schielte dabei aber zu mir hin. Ihre Mutter oder Tante, oder was auch immer sie sein mochte, keckerte albern. »Wir nehmen Sie gern mit«, sagte sie schließlich zu mir. »Da fahren wir nämlich auch hin.«

Ich kratzte die kümmerliche Gage aus dem Gitarrenkoffer, raffte meinen restlichen Kram zusammen und folgte den zwei ungleichen Grazien zum Parkplatz. Unterwegs waren sie mit einem weißen Mercedes Roadster 107, Zweisitzer, dahinter zwei Notsitze,

Die beiden Frauen banden sich Kopftücher um. Die Breite quetschte sich hinters Steuer, die schöne Schlanke räkelte sich auf dem Beifahrersitz, und schon fädelten wir auf die Autobahn ein. Vor uns lag ein breites Tal, durch das die Fahrbahn wie ein silbergraues, glänzendes Band schnitt. Die Sonne stand strahlend und hoch im Himmelsblau, in dem weiße Schäfchenwolken trieben, die Kopftücher flatterten wie Fahnen im Wind. Vor Glück laut zu schreien, schämte ich mich, tanzte und jubelte aber innerlich umso hemmungsloser. Die reine Lust der Straße! Unter uns rollten die Mittelstreifen ab und umarmten den linken Vorderreifen, als würden Asphalt und Gummi sich lieben. Die Frauen wechselten manchmal ein paar Worte untereinander, und die Schöne drehte sich auch einmal zu mir um und fragte, ob bei mir alles okay sei. Doch ansonsten gab

Bald türmten sich am Horizont die Alpen auf, über deren Gipfeln schwere dunkelgraue Gewitterwolken hingen. Selbst der Fahrtwind wurde von einer fast klebrigen Schwüle durchwabert, die mich schläfrig werden ließ und für ein paar Momente so melancholisch stimmte, als müsste ich wieder umkehren. Was tat ich hier eigentlich? Ich legte meinen Kopf auf den Rucksack, sah über mir einen Vogelschwarm dahinziehen und darüber einen silbern glitzernden Jet, der einen Kondensstreifen ins Blaue schrieb. Und weil ich in der vorigen Nacht im unbequemen Jugendherbergsbett kaum ein Auge zugemacht hatte, schloss ich nun beide und schlief ein.

 

Als ich erwachte, stand der Wagen still im Halbschatten einer Lindenallee, die Sitze vor mir leer, die Frauen verschwunden. Am Ende der Allee führte eine breite Freitreppe in ein Schloss. Leicht benommen fragte

Ich musste also tatsächlich in oder jedenfalls in der Nähe von Wien angekommen sein und wunderte mich, dass ich es offenbar ohne Passkontrolle über die Grenze nach Österreich geschafft hatte. Üblicherweise wurden langhaarige Typen wie ich auf der Suche nach bewusstseinserweiternden Substanzen, die das Gesetz ahnungslos als Betäubungsmittel bezeichnete, penibel gefilzt und von Spürhunden beschnüffelt, und im Gitarrenkoffer vermutete damals jeder wackere Zöllner ein Maschinengewehr der RAF. Womöglich verfügten österreichische Grenzpolizisten jedoch über so viel angeborenen Charme, dass sie die zwei Hübschen im feschen Cabrio lässig durchgewinkt, mich jedoch für ein Gepäckstück gehalten hatten.

Ich stieg aus, schulterte den Rucksack, griff zum Gitarrenkoffer und stieg die Treppe hinauf. Vor der von Säulen gerahmten Drehtür stand ein Page in einer albernen Fantasieuniform stramm, der etwa in meinem Alter war. Seine blasierte Visage formte wortlos