Gewidmet denen, die nach uns kommen und sich etwas Originelleres werden einfallen lassen müssen, als nacheinander alles abzufackeln.
Versucht uns nachzusehen, dass wir nicht mehr für euch übrighatten.
Wenn das Meer vom Himmel gefallen ist, mitten in der Wüste, ein Meer aus Wellen, deren Wasser niemand zu trinken vermag, werdet ihr eure Stämme nach Norden führen und das Land eurer Väter verlassen, für immer.
Djamal stand am Ufer des kalten Meeres, im heißen Saharawind, und fror unter seiner blauen Tunika.
Es konnte nicht sein.
Sie hatten doch alle gewusst, dass Mohammed Omar bloß ein alter Narr gewesen war, ein Wahnsinniger. Der seine letzten Lebensjahre in einer Welt zwischen dieser und dem Himmelreich verbracht und Dinge gesehen hatte, die niemand sah. Dinge, die es nicht gab. Und nie geben würde.
Sie hatten über ihn gelacht. Hinter seinem Rücken, versteht sich, denn es gehörte sich nicht, über die Alten zu lachen.
Zwei Tage war Djamal geritten. Zwei Tage lang, nachdem der Führer der Salzkarawane von Bilma nach Agadez ihm und den Seinen bei seiner Rast in der Oase berichtet hatte von dem silbernen Meer, das aus dem Himmel über die Wüste gefallen war.
Djamal hatte es nicht geglaubt.
Und jetzt stand er am Ufer, kniete sich hin und griff in die spiegelnde, silberne Fläche, die sich bis zum Horizont erstreckte.
Ungläubig betrachtete er den schmalen Silberstreif zwischen seinen Fingern. Ungläubig ließ er ihn los und sah zu, wie der Streifen abwärtssegelte, wie eine Feder im Wind, schaukelnd von links nach rechts, und sich wieder einfügte zwischen seine unzähligen Brüder.
Wo der Wüstenwind nach den Streifen griff und mit ihnen spielte, sah es tatsächlich aus wie das, was Djamal nur aus dem schrecklichen Fernsehapparat kannte, den Ahmed aus Agadez mitgebracht hatte, letztes Jahr. Wasser. Wellen. Ein Meer.
Ein Meer aus wehenden Wellen, deren Wasser niemand zu trinken vermag.
Der Targi setzte sich ans Ufer und blickte düster über die gleißende Fläche. Was Mohammed Omar, der Verrückte, der Narr, vorhergesagt hatte, war geschehen.
Das Meer bringt Staub. Auch die letzten Sträucher werden vergehen, auch die letzten Ziegen werden die Tuareg verlieren, und vergehen wird ihr stolzes Geschlecht, wenn sie nicht das Land ihrer Väter verlassen und nach Norden gehen, zum Wasser.
Sie würden das Land ihrer Väter verlassen, für immer.
Sie würden nach Agadez gehen, zunächst. Dorthin, wo alle Trecks begannen, seit Jahren, die Trecks der Verzweifelten und Verlorenen, die aufbrachen ins Gelobte Land, nach Norden.
Er hatte viel darüber gehört.
Niemand kehrte je zurück.
Und niemand wusste, wie viele von denen, die aufgebrochen waren, ihr Ziel erreicht hatten.
Djamal erhob sich aus dem Sand, stieg auf sein Dromedar und brachte das Tier mit einem scharfen Befehl auf die Beine.
Er fluchte, als er das Dromedar wendete.
Verfluchte den alten Narr.
Und betete zu Allah.
Steh uns bei.
Was unsere Vorstellungen und unser Denken dominiert, bestimmt unser Leben und unseren Charakter. Daher obliegt es uns, den Gegenstand unserer Anbetung mit Bedacht zu wählen, denn was wir anbeten, dazu entwickeln wir uns.
– Ralph Waldo Emerson –
I think, therefore IBM.
– David Ogilvy –
Als sie dachte, sogar der Regen wird mir fehlen, musste Mavie Heller über sich selbst lachen. Was zum Glück niemand hörte, da sie allein auf der großen überdachten Terrasse stand, im sanften Januarwind mit dem Rücken gegen das Geländer gelehnt. Ihr letztes Champagnerglas war leer, ihre Gäste hatten sich verabschiedet, bis auf Daniel und Helen. Mavie hatte beim Zusammenräumen der Teller und Gläser helfen wollen, die der Cateringservice am nächsten Morgen abholen würde, aber das hatten die beiden ihr untersagt. Und sie nach draußen geschickt, zum stillen Abschiednehmen.
Der Blick, der sich ihr bot, half dabei allerdings wenig. Niemand, der von hier oben, aus dem obersten Stockwerk der verglasten Hafen City, über den Hamburger Hafen schaute, nach links auf die Landungsbrücken und die majestätisch aus dem Strom ragende Elbphilharmonie, konnte ernsthaft abreisen wollen. Auch jetzt, um kurz vor ein Uhr morgens, wurde am gegenüberliegenden Ufer gearbeitet, entluden fahrbare Riesenkräne Containerschiffe und zauberten Schattenspiele auf die Dächer der Lagerhäuser unter ihnen, unterlegt vom stetigen leisen Rauschen der Stadt, die nie so ganz schlief. Nicht hier, nicht am Hafen, nicht auf dem nahen Kiez.
Unter sich, auf dem Wasser, sah sie die Schlepper. Die würden ihr allerdings nicht fehlen. Erst recht nicht das, was sie ausdauernd aus dem Hafenbecken zogen, Tag und Nacht. Mavie dachte an die gallertartige Plage, unausrottbar seit nun fast zwei Jahren, und schauderte. Von allen Elementen konnte sie mit Wasser am wenigsten anfangen. Mit bewohntem Wasser erst recht nichts, und doppelt und dreifach nichts, wenn die Bewohner keine richtigen Tiere waren, sondern bloß willenlos im Strom schaukelnde Feuerquallen.
So gesehen war das Hafenbecken doch der richtige Anblick zum Abschiednehmen.
Und auf La Palma gab es keine Quallen. Behauptete jedenfalls Google. Schon gar nicht craspedacusta virulenta, die sonderbare Kreuzungslaune der Natur, die sich seit nun fast zwei Jahren im süßen und zu warmen Elbbrackwasser heimisch fühlte. Auf La Palma gab es angeblich nicht einmal Mückenplagen. Und keine Zeckenplagen. Dafür, wie im Norden, jede Menge Spinnen, aber die störten Mavie nicht.
Sie wandte sich vom Hafenbecken ab und sah durch das große Panoramafenster in die Penthousewohnung über den Dächern der Stadt. Das neue Zuhause von Helens großem Bruder Philipp. Noch nicht ganz fertig eingerichtet. Zwischen Kamin und Designersofas standen noch immer etliche Umzugskartons an den Wänden, aber für ein Abschiedsfest war der große Raum mit der offenen Küche wie gemacht. Sie hatte sein Angebot dankend angenommen.
Und er hatte offensichtlich sogar die Fensterputzer bestellt, zur Feier des Tages, denn vor der Scheibe hingen höchstens zwanzig Spinnen. Die dicksten Exemplare in der Mitte, in den größten Netzen, die kleinsten an den Rändern, im Halbschatten, wohin sich nur die allerdümmsten Opfer verflogen.
Die Terrassentür rollte leise murmelnd nach links, und als Mavie den Kopf wandte, sah sie Daniel auf sich zukommen. Daniel, der Spinnen erklärtermaßen hasste wie die Pest.
»Hey.«
»Hey.« Er trat mit einem raschen Schritt auf die Holzterrasse und blieb neben ihr stehen. »Wir sind fertig.«
»Ich komme gleich.«
»Wir sind doch wohl interessanter als diese … Viecher.«
»Ich brauchte nur mal zwei Minuten frische Luft.«
Daniel nickte und atmete tief ein. »Verstehe. Mit ein bisschen Algen drin. Und Öl.«
»Vergleichsweise frisch.«
Wieder nickte Daniel und strich sich über die kurz geschorenen Haare. Es stand ihm, aber sie vermisste immer noch seine Studentenfrisur, die lange Surfermatte, an die sie sich im Lauf der gemeinsamen Jahre gewöhnt hatte. Sie war regelrecht schockiert gewesen, als er vor einem halben Jahr plötzlich keine Haare mehr gehabt hatte.
»Toller Blick.«
Sie nickte.
»Was macht der Typ? Helens Bruder?«
Mavie zuckte die Achseln. »Soweit ich weiß, nichts.«
»Ziemlich schicke Bude für einen Arbeitslosen.«
»Er hat wohl genug verdient.«
Sie wusste es selbst nicht genau. Helen hatte es ihr irgendwann erzählt, aber sie hatte nicht richtig zugehört. Irgendeine Community zu Zeiten des Web 1.0, vor mehr als fünfzehn Jahren, die Philipp gegründet und die man ihm für sagenhaft viel Geld abgekauft hatte.
Sie sah Helen durch den großen Raum auf die Wohnungstür zugehen.
»Kannst ihn ja selbst fragen«, nickte sie an Daniel vorbei.
Beide traten in den großen Raum. Mavie zog die Terrassentür hinter sich zu und sperrte das Geräusch des Regens aus.
Philipp von Schenck ließ den iAm in seiner Jacketttasche verschwinden, mit dem er die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, und begrüßte seine Schwester mit einer Umarmung. »Na, alles gut?«
»Alles prima. Bis auf deine blöden Kisten. Was machen die Banker?«
»Das Übliche. Nicht genug aus meinem Geld.«
»Ach, Geld. Gib mir Skandale, kein Geld.«
»Um die Zeit? Ich hab dir doch gesagt, du sollst nach Mitternacht nicht arbeiten, das macht einen ganz komischen Eindruck.« Er bemerkte Mavie und trat lächelnd auf sie zu. »Hey, Prinzessin, schon alles vorbei?«
Sie nickte und lächelte, und er begrüßte sie mit einem angedeuteten Kuss auf die Wange. Er roch gut, wie üblich, und er war perfekt rasiert, frisiert und gekleidet. Wie üblich. Dunkelgrauer Anzug, maßgeschneidert, das Diesel-Hemd über der Hose, dazu Budapester, ebenfalls maßgefertigt. Seine graublonden Haare waren deutlich länger geworden, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, und reichten ihm inzwischen bis fast auf die Schultern, aber der spöttische Blick war derselbe geblieben.
Er sah wieder Helen an, gespielt vorwurfsvoll. »Da denkt man, jetzt fängt die Party erst richtig an und alle schönen Single-Frauen haben inzwischen zwei Glas Champagner im Kopf, und dann versteckt ihr die vor mir?«
Helen lächelte. »Als ich gesagt hab, Philipp kommt gleich, mussten alle Frauen ganz plötzlich los.«
»Saboteur.« Er sah Mavie an. »Aber die schönste Frau ist ja auch die mutigste. Wollen wir noch irgendwohin?«
»Ja«, sagte sie. »Ins Bett.«
»Okay, aber lass mich dir vorher einen Drink ausgeben, ich bin altmodisch.«
»Allein.«
Er verzog das Gesicht. »Allein klingt fast so deprimierend wie November.«
Mavie lächelte weiter. Er meinte es weder ernst noch persönlich. Er sah gut aus, das wusste er, aber er war nicht ihr Typ, und das wusste er erst recht.
»Daniel«, sagte Mavie, »Philipp. Philipp, Daniel.«
»Hi«, sagte Philipp, ließ sich ein Klappmessergrinsen ins Gesicht springen, schüttelte Daniel die Hand und sah wieder Mavie an. »Wann fährst du?«
»Morgen früh.«
»Nach?«
»Norwegen.«
»Bist du sicher?«
Helen lachte. »Du bist so blöd, Phil.«
»Nein, ernsthaft, Norwegen? Was gibt’s denn in Norwegen? Sattelst du um, von Klima auf Elche?«
»Ich bleibe beim Klima«, sagte Mavie. »Fürs NCC, in Oslo, da kann ich weiter meine Eiskerne sortieren. Und ich muss wirklich früh raus.« Sie umarmte Helen. »Danke.« Sie sah Philipp an. »Danke auch dir. War toll, dass wir hier feiern durften.«
»Jederzeit. Demnächst auch ohne Umzugskisten, nach unserem Candle-Light-Dinner.«
Mavie sah Daniel an. Er nickte, lächelte Philipp an und schaffte es, dessen souveränen Blick zu kopieren. Dann wandte er sich wieder Mavie zu, wies lässig Richtung Tür und sagte: »Nach dir, Süße.«
Mavie brauchte fast zehn Minuten, um ihren Chauffeur wieder zu beruhigen. Ja, das hatte gesessen. Ja, sie hatte Philipps Blick bemerkt. Ja, das hatte ihn getroffen. Dass der Typ, den er bis dahin bloß angesehen hatte wie irgendwas, das aus seinem Essen gekrabbelt war, einfach die schöne Frau mitnahm, die er gerade angebaggert hatte.
»Ha!«, sagte Daniel, inzwischen zum zehnten Mal, und Mavie fand das spätestens seit dem achten Mal lustig.
»Jetzt hör endlich auf.«
»Ha!«
»Daniel!«
»Der kauft sich jetzt bestimmt einen Porsche! Um das zu kompensieren!«
»Den hat der vermutlich schon.«
»Macht nichts, dann kauft er sich halt noch einen. Einen für jedes Mal, wo er gegen einen Verlierer verliert, gegen einen Studenten oder Laborsklaven! Der soll mir nicht zu oft begegnen, sonst wird das sehr teuer!«
Mavie lachte noch einmal, während der kleine Mazda geräuschlos langsamer wurde und am rechten Straßenrand in eine Parkbucht rollte, direkt vor dem Mietshaus in Eimsbüttel, in dem sie wohnte, auf zwei Zimmern im ersten Stock.
Der Hybridmotor schaltete sich von selbst ab, und Daniel sah Mavie an. Sie erwiderte den Blick.
»War ’ne schöne Zeit«, sagte er.
Sie nickte.
»Sechs Jahre.«
Sie nickte wieder.
Er fasste sich unsicher auf den Kopf, lächelnd. »Ich dachte, ich mach die mal ab, nachdem meine Matte mir auch nichts genützt hat. Aber irgendwie lag’s nicht daran, oder?«
Sie lachte schallend und zog ihn in ihre Arme. »Du bist so süß«, sagte sie und dachte im gleichen Augenblick, dass genau das sein Problem war. Oder ihres mit ihm, denn sie hatte ihn nie als Mann ernst genommen, immer nur als Kollegen und als guten Freund.
»Süß«, sagte er. »Na, super. Süß sind Stofftiere.«
»Gut, so süß dann auch wieder nicht.« Sie küsste ihn auf die Wange, drückte ihn an sich und ließ sich fest umarmen.
»Du wirst mir fehlen«, sagte er.
»Und du mir«, sagte sie und löste sich aus der Umarmung. »Aber wir bleiben in Kontakt. Mal sehen, vielleicht komme ich ja wieder.«
»Ja, Norwegen klingt nicht so spannend.« Er sah sie an, weiterhin lächelnd. »Norwegen?«
Sie nickte.
»Norwegen.«
Sie nickte.
»Okay.« Er gab sich ächzend geschlagen. »Ich erwarte nicht, dass du mir sagst, wohin du wirklich gehst. Aber sobald du dich von da meldest, weiß ich’s sowieso. Außer, wenn du bei der CIA anfängst und dir von denen die Leitungen verschlüsseln lässt. Alles andere kriege ich raus.«
Mavie seufzte. »Ja, das befürchte ich.«
»Das heißt, du meldest dich nie wieder?«
Sie schwieg für einen langen Augenblick. Dann sagte sie: »Ich kündige dir die Freundschaft«, und ließ es in der Luft hängen.
»Musst du nicht«, sagte er. »Wohin?«
»La Palma.«
Daniel zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Was ist auf La Palma, bitte?«
»IICO.«
Diesmal schwieg er. Lange. Und mit ausdauernd hochgezogenen Brauen.
»Das gibt’s wirklich?«
»Ja.«
»Nicht dein Ernst.«
»Doch.«
Natürlich verstand sie seine Überraschung. Das IICO, das International Institute for Climate Observation, war nicht mehr als ein Gerücht, sogar in ihren Kreisen, denen der Klimaforscher und Geoingenieure. Alle redeten seit Jahren darüber, aber niemand wusste Genaues über das Projekt, selbst der Name konnte ein bloßer Platzhalter sein. Man hörte dies und jenes, von einem geplanten Start, dann wieder von Absagen und fehlenden Mitteln, als Nächstes hieß es, das Projekt laufe bereits, mal auf Hawaii, mal in Indonesien, mal auf den Kanaren, mal mithilfe der US-Regierung, mal mit Unterstützung von E.ON, Iberdrola, SSE, GE oder des NASP-Konsortiums, mal dank angeblicher heimlicher Spendenmilliarden von Gates, Buffett oder der Lovelock-Foundation.
Auch Mavie wusste erst seit drei Wochen, dass IICO kein Hirngespinst war.
»Wie jetzt?«, fragte Daniel, und falls er Sekunden vorher noch den Plan gehabt hatte, sich in ihrer letzten Nacht in Hamburg auf einen späten Kaffee einzuladen, hatte er jetzt ein noch interessanteres Thema gefunden. »Wer? Wieso? Und wie kommst du …?«
»Eisele hat mich angerufen.«
Daniels Augen wurden noch ein bisschen größer. »Eisele hat dich angerufen.«
»Ja.«
»Okay.« Er nickte, und Mavie las seine Gedanken.
»Warum mich? Gute Frage. Keine Ahnung.«
»Na ja, so wie der dich schon damals immer angeguckt hat, ich meine, ich versteh’s ja, versteh mich nicht falsch …«
»Vielen Dank. Du meinst, der hat mich nur angerufen, weil er mich irgendwie sexy findet, ja?«
Sie hatte den richtigen Ton getroffen, um diesen Teil der Erklärung umgehend zu versenken, denn natürlich schüttelte Daniel den Kopf und ruderte zurück. »Nein, natürlich nicht, also, er wird schon wissen, dass du gut bist, also, anders gut, ich meine, fachlich.«
Und in seinen Augen stand stumm und vorwurfsvoll die Feststellung: Wir waren beide brillant. Wir beide waren seine besten Studenten in den Kursen, die er damals gegeben hat, in diesem einen Jahr. Warum du? Warum nicht ich?
Sie hätte antworten müssen: Weil du ein Mann bist. Und weil Fritz Eisele auch einer ist. Und auf Frauen steht. Und zwar offensichtlich besonders auf hübsche, junge, blonde Frauen mit großer Klappe und guter Figur. Und sofern die dann auch noch brillante Studentinnen sind – hast du nicht den Hauch einer Chance.
Stattdessen sagte sie: »Eben.«
Er schwieg einen langen Augenblick. »Ist der auch da?«
»Am IICO?«
Er nickte.
»Nein. Zu beschäftigt damit, die Welt zu retten. Er hat mich nur empfohlen, er kennt den Institutsleiter.«
»Und wer ist das?«
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Glaub mir, schon dafür, dass ich dir gesagt habe, wohin ich gehe, können die mich in hohem Bogen feuern.«
»Schweigegelübde?«
»Bei Zuwiderhandlung ewige Verdammnis.«
»Und du bist sicher, dass du den Job nicht noch im letzten Moment einem guten Freund überlassen willst – fachlich in deiner Liga, aber on top mit Nerven aus Stahl?«
Sie lachte.
Er lächelte und nickte. »Na, fein. Dann nicht. Selber schuld. Aber da ich jetzt sowieso weiß, wo du bist: Melde dich.«
»Mach ich.«
»Die Bücher und die Matratze hole ich morgen ab. Ich lass dann den Schlüssel auf dem Tisch liegen.«
»Übermorgen reicht. Der Vermieter kommt erst Freitag.«
Er nickte. »Pass auf dich auf, Mavie.«
»Mache ich. Du auch«, sagte sie, öffnete die Autotür und stieg aus.
Sie winkte ihm noch einmal zu, als er den Wagen wieder in Gang setzte und losfuhr, dann zog sie ihren iAm heraus und hielt ihn vor den Scanner neben der Haustür. Ein halbes Dutzend Mücken stieg unter der Scanner-Abdeckung auf, und Mavie erwischte zwei mit der Linken und zerquetschte sie. Verärgert runzelte sie die Stirn. Ein, zwei Nächte Frost würden doch reichen, um den Viechern den Garaus zu machen. Und das war doch wohl nicht zu viel verlangt, erst recht nach den zurückliegenden zwei warmen Wintern. Konnte sich das Wetter nicht wenigstens für einige Nächte wieder ein Vorbild nehmen an den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts, den vernünftigen Jahren? Nicht nur wegen der Mücken.
Aber als sie sich gerade vorstellte, wieder einmal eine halbwegs kühle Nacht bei weit offenem Fenster durchzuschlafen, fiel ihr ein, dass sie gerade auf dem Weg war, zum letzten Mal in der Wohnung zu schlafen, die sechs Jahre lang ihr Zuhause gewesen war.
Sie würde eine ganze Weile auf die nächste kalte Nacht warten müssen.
Die Demonstranten waren früh dran, aber nicht besonders zahlreich. Als Mavie vor dem Abflugterminal des Hamburg Airport aus dem Taxi stieg, drückte ihr einer der verschlafenen, missmutigen Protestler einen Zettel in die Hand, auf dem ein großes »Nein!« stand, darunter »Stoppt die CO2-Abzocke!«, kleiner »Reisefreiheit für alle!« und eine URL. Sie lächelte, half dem pakistanischen Taxifahrer, ihre Taschen auszuladen, und zahlte Rechnung und Trinkgeld, indem sie ihren iAm vor das Lesegerät des Fahrers hielt. Der Demonstrant war längst weitergeschlurft und belästigte die nächsten Fluggäste mit einem seiner Zettel, und Mavie fragte sich, wieso die Revoluzzer ausgerechnet vor dem Flughafen standen. Konnten die sich nicht denken, dass Menschen, die vor dem Flughafen aus Taxis stiegen – fliegen wollten? Und es sich leisten konnten, im Gegensatz zu den meisten anderen?
Es schienen besondere Demonstranten zu sein. Besonders begriffsstutzige. Jedenfalls wurden sie offensichtlich nicht von der Tourismusbranche bezahlt, so wie ihre zahlreichen Vorgänger in den ersten Monaten nach der drastischen Erhöhung der Flugpreise vor zwei Jahren. Was war das für ein Aufschrei gewesen. Zunächst die seit Jahrzehnten überfällige Besteuerung von Flugbenzin mit Mineralöl- sowie Ökosteuer und vollem Mehrwertsteuersatz, und dann hatte die Einführung der »Cops«, der Carbonpunkte, die jeder Bürger automatisch durch seinen tagtäglichen Energieverbrauch sammelte, der Tourismusbranche den letzten empfindlichen Schlag versetzt.
Flugreisen waren über Nacht fast dreimal so teuer geworden wie noch im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, und es hatte ein paar Monate gedauert, bis die deutschen Anbieter begriffen, dass darin nicht nur ein Fluch lag, sondern auch ein Segen. Denn verreisen wollten die Leute natürlich weiterhin, und das dringend. Also buchten sie, zunächst murrend, näher liegende Ziele als solche in der Karibik oder in Asien. Die Reichen verreisten weiterhin, wohin sie wollten, die Betuchteren verreisten weiterhin bis auf die Kanaren, aber auch die weniger Wohlhabenden benötigten Tapetenwechsel und dazugehörige Unterkünfte – und waren, wie sich rasch herausstellte, gar nicht so unglücklich, in den wie Pilze aus dem deutschen Boden schießenden neuen Erlebnisparks und Wohnanlagen ihre Urlaubszeit zu verbringen. Und so waren schon zwei Jahre nach Einführung der »Cops« fast alle Proteste verstummt – denn abgesehen von den Fluglinien, die ihre Flotten hatten verkleinern müssen, dafür aber reich von der EU entschädigt worden waren, hatten alle gewonnen. Vor allem die Tourismusbranche selbst und die Regierung. Denn das in Deutschland verdiente Geld floss nicht mehr in Milliardensturzbächen nach Spanien oder in die Türkei, sondern sorgte im Land selbst für Beschäftigung, und wer in den Sommermonaten auf Urlaub verzichtete und stattdessen einheimischen Touristen die Betten machte oder Eistüten verkaufte, verdiente mit etwas Glück genug, um den Rest des Jahres alles deutlich geruhsamer angehen zu lassen.
Die Protestler vor dem Flughafen schienen davon auch nach all den Jahren noch nichts mitbekommen zu haben, aber Mavie verzichtete darauf, sie darauf hinzuweisen. Nicht nur, weil sie keine Zeit hatte.
Am Automaten ließ sie sich die Bordkarte auf ihren iAm übertragen und nahm erleichtert zur Kenntnis, dass ihr »Cop«-Konto nicht mit der Klimawirkung von 1,8 Tonnen CO2 belastet wurde, dem »Budget« eines Inders für ein ganzes Jahr. IICO zahlte, nicht nur den Flugpreis erster Klasse.
Die Maschine nach Palma war nur zu einem Drittel gebucht, in der ersten Klasse saß außer Mavie nur ein einziger weiterer Fluggast, ein älterer Herr mit verwegener Frisur, der sie an ihren Vater erinnerte, an Edward. Nur dass Edward sich nicht in ein Flugzeug gesetzt hätte, nicht mehr, nie mehr. Vor nun schon fast 25 Jahren, quasi mit dem Tag der Beerdigung von Mavies Mutter Christina, hatte Edward sein Cabrio verkauft und sich strikt geweigert, jemals wieder ohne Not irgendetwas Gefährliches zu tun. Er hatte sogar aufgehört, morgens schwimmen zu gehen. Schließlich war er von diesem Tag an der einzige noch lebende Verwandte seiner damals achtjährigen Tochter Mavie gewesen, und Edward hatte seine Verantwortung ernst genommen. Sehr ernst. Es war seine Antwort auf den Schicksalsschlag gewesen, seine einzige Möglichkeit, mit dem Verlust der Frau, die er liebte, fertigzuwerden: ein verbissener Sprung in ein neues Projekt, das Projekt Tochter.
Er hatte seine Sache gut gemacht, fand Mavie. Es war anstrengend gewesen mit ihm, manchmal, aber sie hatte in ihrer Kindheit und Jugend weit mehr Zuwendung, Liebe und Förderung erfahren als alle anderen Menschen, die sie kannte. Sie wusste, dass sie ihn vermissen würde, seine Nähe. Die regelmäßigen Treffen mit ihm, einmal in der Woche, meist am Samstag, um zusammen auf dem Markt einkaufen zu gehen, zu kochen, zu essen, zu reden und zu trinken, oft bis in den Abend hinein. Der Termin mit ihm war eine wichtige Konstante in ihrem Leben gewesen.
Aber es war höchste Zeit, alles zu ändern. Auch die Konstanten in ihrem Leben, die angenehmen ebenso wie die unangenehmen.
Als Fritz Eisele sie angerufen hatte, war sie überrascht gewesen, denn sie hatte mehr als zwei Jahre nichts von ihrem ehemaligen Professor gehört. Noch überraschter war sie gewesen, als er ihr ohne Umschweife einen Job anbot. Am IICO, das offiziell nicht einmal existierte.
Das Gespräch war kurz gewesen. Ob sie die Inhalte komplett für sich behalten könne? Ja. Ob sie den Job wolle, als Nachfolgerin eines jungen Forschers, spezialisiert auf Eiskerne, Datenerhebung und integrierte Klimasystemanalyse, alles im Rahmen eines ehrgeizig angelegten Geoengineering-Projekts? Ja. Ob sie den Job binnen zwei Wochen antreten könne, sofern er, Eisele, mit Rieter spräche, dem Leiter der Hamburger Climate System Analysis and Prediction, wo sie seit Jahren als Forschungsassistentin feststeckte? Ja. Ob sie sich ihr Talent erhalten habe, jenseits ausgetretener Pfade kreative Abkürzungen zum Ziel zu finden? Sie bejahte auch diese Frage, obwohl sie nicht sicher war. Die letzten Jahre am CLiSAP hatten sie mancher Illusion beraubt, aber das musste Eisele nicht wissen.
Er versprach ihr einen Anruf der Assistentin von Bjarne Gerrittsen, des IICO-Leiters. Und er werde sich bei ihr melden, sobald sie auf Palma gelandet sei und sich akklimatisiert habe.
Nach dem Gespräch hatte Mavie ihren iAm eine ganze Weile einfach angestarrt und sich gefragt, ob sie noch ganz bei Trost war. Ihren Job, ihre Stadt, ihren Freundeskreis einfach über Nacht aufzugeben, alles wegzuwerfen, um für ein Institut zu arbeiten, über dessen Projekte und Ziele sie praktisch nichts wusste – nur weil irgendein Exprofessor sie anrief und fragte?
Aber Fritz Eisele war nicht irgendein Exprofessor und schon gar nicht irgendwer. Sondern »Al Gores attraktiver europäischer Bruder« (laut FAZ), was er nicht gern hörte, weil er weder Gore noch die USA sonderlich schätzte, wahlweise der »Weltmahner« (laut taz), was er erst recht nicht gern hörte, weil er die Linke noch viel weniger schätzte als Gore und die USA. Tatsache war aber, dass er mahnte – und dass man ihm zuhörte, seit Langem, und seit einigen Jahren weltweit. Ganz gleich, wohin er reiste, um über den Klimawandel und die Optionen der Menschheit zu sprechen, diesem Klimawandel zu begegnen, füllte er Hörsäle und Veranstaltungshallen. Was nicht nur an seinem Thema lag, sondern auch und nicht zuletzt daran, dass er, anders als die meisten Wissenschaftler, ein charismatischer Redner war, der seine Zuhörer nicht langweilte, sondern es verstand, hochkomplexe Sachverhalte auf das Wesentliche zu reduzieren – auf prägnante Formulierungen und Schlagsätze, die jeder Zuhörer sofort verstand. Und die jeder Journalist dankbar aufnahm. Der Planet kommt ohne uns klar, aber wir nicht ohne ihn. Energie ist nicht erneuerbar, aber unser Denken und Handeln ist es. Wer die Welt verbessern will, muss sie zuerst verstehen. Die Erde hat alle Zeit der Welt – wir nicht. Den Untergang der Titanic verhindert man nicht mit einem Teelöffel.
Man schätzte und bewunderte ihn für deutliche Worte wie diese – und Mavie respektierte ihn, weil sein Ziel, sein Anliegen, für das er so vehement und leidenschaftlich stritt, auch ihres war: die Welt zu verstehen, mittels strenger Wissenschaft – und mitzuwirken, egal, auf welchem Weg, diese Welt vor dem drohenden Kollaps zu bewahren. Auch wenn Mavie durchaus nicht immer gefiel, was Eisele von sich gab, denn bei mancher Vereinfachung zuckte sie innerlich zusammen, weil sie nur zu genau wusste, dass sie alles Wesentliche unberücksichtigt ließ. Aber die Hintergründe dieser seiner »Neigung zum Simplen, nicht Fachsimpeln«, hatte er ihr schon vor Jahren erklärt, als sie ihn unter vier Augen, bei einem Abendessen, freundlich darauf angesprochen hatte. Er müsse nicht die Zustimmung von Wissenschaftlern gewinnen, von ein paar Gelehrten, die sich intellektuell mit ihm auf Augenhöhe befanden, sondern die Zustimmung der Massen, der Ungebildeten, der Dummen, die über die Aufmerksamkeitsspanne von Stubenfliegen verfügten und dennoch über das Schicksal des Planeten und all seiner Bewohner entschieden – mit der Fernbedienung, an der Supermarktkasse, an der Wahlurne. Und er meinte nicht nur den sprichwörtlichen Mann von der Straße, sondern auch dessen gewählten Vertreter. Politiker gehörten in Eiseles Augen ausdrücklich zu denen, die nur einfache Wahrheiten verstanden – Wahrheiten, die man problemlos zu Wahlslogans machen konnte. Um also diese Menschen, das Volk und seine Vertreter, auf Kurs zu bringen oder zu halten, im Sinne der Menschheit, um zu verhindern, dass sie alles vernichteten, brauchte es klare und deutliche Formulierungen. Bei Bedarf Vereinfachungen. Notfalls Übertreibungen. Jedenfalls Worte, die Eindruck machten. Die blieben. Und etwas bewirkten.
Etwas bewirkt, wenngleich nur im Kleinen, hatte auch sein Anruf bei ihr. Es war wie ein Weckruf gewesen. Sie steckte fest, sie drehte sich im Kreis, schon seit Langem. In der immer gleichen Stadt und mit dem immer gleichen Abteilungsleiter im CLiSAP, der sie aus ganz und gar egoistischen Gründen nie im Leben vorankommen lassen würde. Sie steckte fest in ihren Routinen, vom allmorgendlich gleichen Müsli über die Pilates- und Tai-Chi-Kurse dienstags und donnerstags bis zu den immer gleichen Samstagsbesuchen bei ihrem Vater.
Und erst als die Maschine Hamburg hinter sich zurückgelassen und Reiseflughöhe erreicht hatte, fiel Mavie auf, dass sie, obwohl sie Flugzeugstarts furchterregend fand, die ganze Zeit selig gelächelt hatte.
Beim Landeanflug auf den Flughafen von La Palma lächelte Mavie nicht. Stattdessen krallte sie sich mit beiden Händen in den Sitz, als der Pilot die Maschine bei starkem Seitenwind erst nach rechts, dann nach links kippen ließ, um die direkt am Meer auf einer Klippe gelegene und, von oben betrachtet, unmöglich kurze Landebahn zu treffen. Auch nachdem die Maschine endlich zum Stehen gekommen war, blieb Mavie noch eine ganze Weile erstarrt sitzen, im felsenfesten Glauben, sie werde im nächsten Moment hören, wie sich das Flugzeug mit einem fiesen Knirschen nach vorn neigte, weil der vordere Teil des Fahrwerks längst meterweit über dem Wasser hängen musste. Erst als ihr Mitreisender mit der verwegenen Frisur an ihr vorbei aus der Maschine schlenderte und sie mitleidig anlächelte, brachte sie es fertig, ihren Gurt zu lösen und auf wackligen Beinen die Flucht anzutreten.
In der Ankunftshalle des kleinen Flughafens erwartete sie ein unauffällig uniformierter Mann, der ein Plastikschild hochhielt, auf dem ihr Name geschrieben stand, in ordentlichen Druckbuchstaben. Sie lächelte ihn freundlich an, kriegte aber nichts zurück. Der Mann stellte sich knurrend als »José« vor, nahm ihr die zwei schweren Reisetaschen ab und ging voraus, demonstrativ ächzend, zu einem vor dem Terminal geparkten SUV.
Mavie trat ins Freie, in die sonnenwarme Luft, schloss die Augen und atmete tief ein. Alles fühlte sich richtig an. Als empfinge die neue Welt, für die sie sich entschieden hatte, sie mit einem Lächeln und mit offenen Armen.
»Señorita?«, knurrte José, und Mavie öffnete die Augen und beeilte sich, in den Wagen zu klettern.
Eine kurze Fahrt führte sie über die Hauptstraße nach Santa Cruz, und unmittelbar vor der Hauptstadt bog José nach links ab und steuerte den SUV unter üppig mit Mispeln behangenen Bäumen hoch in die Caldera, einen in sich zusammengesackten Vulkankrater oberhalb der Stadt. Mavie hatte die Insel ausführlich studiert, mithilfe von Google Earth, und natürlich war ihr der Krater aufgefallen. Aber auf den offenbar nicht ganz aktuellen Bildern der Urbanisación hatte das wichtigste Gebäude gefehlt – ein schmucklos weißer, unauffälliger Betonkomplex, den man erst vor knapp zwei Jahren dort errichtet hatte, kurz vor dem Ende aller Billigflugreisen, und der jetzt vor den ehemaligen Ferienreihenhäusern im schwarzen Sand thronte.
José brachte den Wagen vor einem Pförtnerhaus zum Stehen. Der Mann, der heraustrat, trug eine hellgraue Uniform, wie José, war aber, anders als José, bewaffnet. Er winkte dem Fahrer mürrisch zu, zog seine Keycard durch den Schlitz am Torpfosten, und das schwere Eisentor glitt zur Seite. Während José weiterfuhr, nahm Mavie erstaunt zur Kenntnis, dass das ganze Gelände streng gesichert war. Das Eisengitter erstreckte sich um die ganze Anlage, drei Meter hoch, von Stacheldraht gekrönt, und in regelmäßigen Abständen waren Überwachungskameras an den Eisenstreben befestigt.
José parkte den Wagen vor dem Hauptgebäude und wies sie auf Spanisch an, sich zum Empfang zu begeben. Ihre Taschen werde sie in ihrem Quartier finden.
Ob die Taschen verschlossen seien? Mavie nickte, verwundert, und José hielt die Hand auf und sagte: »Code«. Mavies Erstaunen nahm zu, aber sie verriet dem Fahrer die Kombination, ohne Fragen zu stellen. Sein Blick verriet, dass er die sowieso nicht beantwortet hätte.
Sie musste zehn Minuten am Empfang warten, dann holte Gerrittsens Assistentin sie ab. Mavie hatte dreimal mit Agneta Olsen gesprochen, per Vidline, und erwartete auch von ihr keinen sonderlich herzlichen Empfang. Schon bei den kurzen Videotelefonaten hatte Olsen kein einziges Mal gelächelt, sondern sich darauf beschränkt, mit in sämtliche Züge betoniertem Ernst von der neuen Angestellten lückenlose Dokumentationen ihres gesamten Werdegangs anzufordern, inklusive polizeilicher Führungszeugnisse, Auskünften der Schufa sowie einer vollständigen Krankenakte. Aber obwohl Mavie alles wie gewünscht geliefert und alle Verträge unterschrieben zurückgemailt hatte, verbrachte sie nach der kühlen Begrüßung durch Olsen die nächsten zweieinhalb Stunden mit sachlichen Verwaltungsangestellten, die ihr nicht nur eine Keycard aushändigten, sondern sie nachdrücklich auf ihre Aufgaben und vor allem ihre Pflichten hinwiesen. Sowie auf die Paragrafen 16 bis 36 in Vertragszusatz 8, die sehr genau regelten, was sie alles nicht durfte, und, in Prosa übersetzt, wie vollständig ihre Insolvenz lebenslänglich ausfiele, verstieße sie jemals gegen auch nur eine der zahllosen Vorschriften. Mavie nickte zu allem freundlich. Weshalb niemand etwas über das IICO wusste, war ihr schon beim ersten Durchlesen der Verträge in ihrer Hamburger Wohnung klar gewesen. Aber sie hatte nichts dagegen, die Verschwiegenheitserklärungen zu unterschreiben. Den Preis zahlte sie gern für die Aufnahme in diesem exklusiven Klub. Und es war allenfalls eine angenehme Zugabe, dass ihr Anfangsgehalt beim IICO doppelt so hoch sein würde wie ihr bisheriges.
Nachdem sie alles artig beantwortet, abgenickt und unterschrieben hatte, hießen die Verwalter sie mit einem Händedruck als Mitglied des Teams willkommen. Man übertrug ihr eine Karte des Geländes auf den iAm, in der das ihr zugewiesene Quartier verzeichnet war, und teilte ihr mit, Olsen werde sie benachrichtigen, sobald Professor Gerrittsen Zeit für sie habe.
Mavie begab sich in ihr Quartier, eines der kleinen Reihenhäuser, die vor der Tourismuskrise Teil einer Ferienanlage gewesen waren. Ein Wohnzimmer unten, mit winziger Terrasse Richtung Gebirge, im Obergeschoss ein Schlafzimmer, ein kleineres Zimmer und ein Badezimmer. Vom Schlafzimmerfenster aus konnte sie einen Zipfel Atlantik sehen, links neben der Fassade des Hauptgebäudes, und zu ihrer Rechten lagen die Tennisplätze, die offensichtlich schon seit Jahren nicht mehr benutzt wurden. Nur auf einem der acht Plätze hing noch ein einsames Netz, aber auch das sah aus, als würde es beim ersten Ballkontakt zerbröseln.
Mavie packte ihre Taschen aus. José und seine Security-Freunde hatten offensichtlich alles durchsucht, aber nichts konfisziert. Sie fragte sich, ob die Jungs wenigstens Spaß an ihrer Unterwäsche gehabt hatten, und ihre Freude, angekommen zu sein, wurde von ihrem Befremden überdeckt, dass sie am nächsten Tag mit Unbekannten in der Kantine zusammensitzen würde, die wussten, was sie unter dem Laborkittel trug.
Anderthalb Stunden nach ihrer Ankunft ertönte der dezente Summton der Klingel neben der Tür ihres Quartiers. Mavie öffnete, und vor ihr stand eine junge blonde Frau, die tatsächlich: lächelte.
»Hi«, sagte Mavie, hocherfreut über das unerwartete Geschenk.
»Hi«, sagte die junge Blonde. »Sandra Goldt.«
Mavie schüttelte Sandras Hand, Sandra nickte über die Schulter in Richtung Hauptgebäude.
»Kommst du mit? Der Boss will dich sprechen.«
Mavie nickte lächelnd. »Dann lassen wir ihn nicht warten.«
Auf dem Weg versuchte sie es mit Small Talk und erfuhr, dass Sandra aus München stammte, seit gut einem Jahr am IICO tätig war, als Assistentin Gerrittsens beziehungsweise Assistentin seiner Assistentin, gern hier arbeitete und das Klima schätzte – sowohl das der Insel als auch das betriebliche. Die Kollegen seien nett, jedenfalls die meisten.
»Privates fällt demnach nicht unter das Schweigegelübde?«, sagte Mavie und war erleichtert, dass Sandra lachte.
»Nein«, sagte sie. »Solange es nicht nach draußen dringt.«
Sandra ging voraus, zog ihre Keycard durch den Schlitz neben dem Seiteneingang des Hauptgebäudes und führte Mavie durch einen langen Korridor nach rechts, zu den Fahrstühlen. Mavie sah sich um, und Sandra erklärte ihr, während die Fahrstuhltüren aufglitten, oben befänden sich fast ausschließlich die Räume der Verwaltung sowie die Büros von Gerrittsen und seinen Abteilungsleitern.
Auf der Stockwerkleiste des Fahrstuhls befanden sich fünf Knöpfe. EG, 1 und drei Kellergeschosse. Sandra drückte auf »-2«.
In dem etwa zehn mal zehn Meter großen Raum, den sie nach kurzem Marsch durch einen unterirdischen Korridor erreichten, standen neben vier Schreibtischen und diversen großformatigen Servern fünf Männer vor einem großen, frei schwebenden Display, leise murmelnd vertieft in die Betrachtung eines impressionistischen Gemäldes aus silbernen und schwarzen Flecken vor sandfarbenem Hintergrund. Jedenfalls sah es für Mavie im ersten Augenblick so aus, von der Tür aus, durch die Sandra sie in den Raum führte.
Eine unsichtbare Hand zoomte in eine höhere Auflösung, und auf den zweiten Blick erkannte Mavie, was das Bild tatsächlich zeigte. Aluminiumschnipsel im Sand. Sehr viele Aluminiumschnipsel, verteilt auf einer Wüstenfläche, die etliche Quadratkilometer groß sein musste. Sie hatte von der Idee gehört, denn sie gehörte zu den beliebteren Steckenpferden der globalen Geoingenieure, aber sie hatte nicht gewusst, dass tatsächlich jemand im großen Stil damit experimentierte.
Einer der Männer, in dunkelgrauem Anzug, drehte sich zu den beiden eintretenden Frauen um, im nächsten Augenblick war der Bildschirm urplötzlich verschwunden, und auch die anderen Männer wandten sich Sandra und Mavie zu. Keines der Gesichter blickte freundlich.
Sandra wollte eben zu einer Erklärung ansetzen, als der Mann im grauen Anzug begriff, wer die hübsche junge Frau war, die sie ihm mitgebracht hatte. Sein finsterer Gesichtsausdruck wich einem breiten Grinsen.
»Ah. Frau Heller«, sagte Gerrittsen und kam auf Mavie zu, eine große Hand in ihre Richtung ausstreckend. Mavie nahm sie und lächelte.
»Freut mich sehr«, sagte sie.
Er war fast kahl und kleiner, als sie erwartet hatte. Sie hatte sich seine im Netz verfügbaren Vorträge angesehen, aber dabei hatte er natürlich immer auf einem Podest gestanden und natürlich immer allein. Zudem lagen die Vorträge schon eine Weile zurück, und bei allen hatte er noch Haare auf dem Kopf gehabt.
Sie ging unauffällig ein bisschen in die Knie, um ihn mit ihren einssechsundsiebzig nicht zu überragen. Das änderte aber nichts daran, dass er zunächst einmal erfreut ihre Brüste begrüßte.
»Wie schön, wie schön. Sehr erfreulich.« Er sah ihr endlich in die Augen. »Fritz schwärmt ja sehr von Ihnen.«
Mavie bemerkte die Blicke, die die anderen Männer austauschten. Das fing ja gut an. Sie war noch keinem von ihnen vorgestellt worden, und schon hatte sie ihren Stempel weg. Blond, schlank, sportlich, 70C. Eine von Eiseles Gespielinnen und demnächst die vom Boss. Solange wir nicht mit der arbeiten müssen: kein Problem.
Sie lächelte weiter. »Er sagte, Sie brauchen jemanden, der um die Ecke denken kann – da konnte ich nicht Nein sagen.«
Immerhin. Die Herren hinter Gerrittsen sahen jetzt in ihre Richtung und schienen zumindest bereit, ihr endgültiges Urteil zu verschieben. Vielleicht war sie nicht bloß hübsch, sondern auch noch gefährlich.
»Sehr gut«, sagte Gerrittsen. »Sehr gut. Recht hat er. Aber das ist ja bei ihm nicht ungewöhnlich. Wenn Sie so gut sind, wie er sagt, werden wir viel Freude miteinander haben.«
Mavie lächelte weiter. Gerrittsen machte es ihr nicht leicht.
Er entließ Sandra mit einer Handbewegung, dann wandte er sich den anderen Herren zu und stellte sie Mavie vor. Die beiden Forscher in den weißen Laborkitteln hießen Holger Sandhorst und Hugo Sastre, beide waren Geoingenieure, der kleinere Mann dazwischen, aus dessen Kittel der Kragen eines schwarzen Rollis lugte, war Thilo Beck, zuständig für »Architektur und Design«. Den Anzugträger, einen gewissen Edgar Sawyer, bezeichnete Gerrittsen einigermaßen vage als Mitarbeiter der Geschäftsleitung.
Mavie schüttelte Hände, lächelnd, und die Herren erwiderten das Lächeln ökonomisch. Bis auf Beck, der Mavie unverhohlen ablehnend musterte.
»Thilo wird Sie unter seine Fittiche nehmen«, sagte Gerrittsen, und Becks Blick wurde noch ein bisschen finsterer. »Aber natürlich werde auch ich mich um Sie kümmern. Sofern meine Zeit es erlaubt.«
»Architektur?«, fragte Mavie und ließ ihr Lächeln zwischen Beck und Gerrittsen hin und her pendeln.
»Ja«, sagte Gerrittsen. »Auch ein Universalgenie braucht irgendeinen Titel. Und Institutsleiter war schon vergeben.«
Die Herren lachten. Sogar Beck lachte höflich mit. Aber mit dem Blick, den er dabei mitten in Mavies Augen abfeuerte, hätte man den Rest von Grönland im Vorbeigehen eisfrei bekommen.
Nach drei Tagen unter Thilo Becks sogenannten Fittichen gab Mavie die Hoffnung auf, den arroganten Rollkragenpullover mit irgendetwas gnädig stimmen zu können. Er reagierte nicht auf Höflichkeit, nicht auf intelligentes Nachfragen, nicht auf ihre dezenten Hinweise, sie habe zeit ihres Studienlebens keinen Repetitor gebraucht, sondern sei immer die Beste ihres Jahrgangs gewesen, und es beeindruckte ihn erst recht nicht, und zwar nicht im Geringsten, dass der große Fritz Eisele große Stücke auf sie hielt.
Am ersten Tag hatte Mavie noch geduldig gelächelt und ihn sehr höflich darauf hingewiesen, sie brauche keinen kompletten Grundkurs für Idioten in Sachen Klimamodelle und Geoengineering, aber das hatte Beck offenbar erst recht davon überzeugt, dass sie außer guten Zähnen nichts im Kopf hatte, denn seine Ausführungen waren von da an noch ein gutes Stück gründlicher und langatmiger geworden. Ihr Job, erfuhr Mavie, würde zunächst darin bestehen, Datensätze zu überprüfen. Das klang ungefähr so anspruchsvoll wie »Kaffee kochen«, und am Abend des zweiten Tages fragte sie Beck, ob das IICO für derartige Tätigkeiten keine Praktikanten habe.
Er beantwortete die Frage mit einem dünnen Lächeln. Mehr musste er auch nicht tun, um Mavie klarzumachen, wofür er sie hielt.
Den dritten Tag verbrachte sie im langweiligsten Teilbereich der langweiligsten Datenbank, die sie je gesehen hatte, einem Teilbereich, in dem Siebzigerjahre-Klimadaten aus dem Großraum Bonn erfasst worden waren; Niederschlagsmengen, Tages- und Nachttemperaturen, Wind, Luftdruck. Sie fand keinen einzigen Fehler. Jedenfalls nicht in den Daten. Aber sie vermutete einen in ihrem Leben, und der hieß, sofern nicht ein Riesenmissverständnis vorlag, IICO.
Am Abend trat sie an Becks Schreibtisch, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte, ohne zu lächeln: »Wir müssen reden.«
»Worüber?«, sagte Beck, ohne den Blick von seinem Display zu wenden.
»Über meine Aufgabe.«
»Qualitätssicherung. Wird unterschätzt, ist aber essenziell.«
»Ohne Frage. Ich mach’s auch gern weiter, sofern ich neben meiner eigentlichen Tätigkeit dazu komme. Aber dazu brauche ich ein paar grundsätzlichere Ausführungen. Sollte Fritz Eisele mich als Mädchen für die Qualitätssicherung empfohlen haben, müsste ich nämlich mal ein ernstes Wort mit ihm sprechen.«
Beck sah sie kurz an und wieder auf das Display. »Ich sehe seine schuldbewussten Sorgenfalten förmlich vor mir.«
Mavie atmete tief ein und gründlich wieder aus. »Was soll das?«, sagte sie.
»Was?«
»Das. Hab ich irgendwas verpasst? Kennen wir uns von früher oder aus einem früheren Leben? Und hab ich dich unwissentlich verletzt oder schwer beleidigt? Was hab ich gemacht? Deine Katze überfahren? Deine Sartre-Sammlung versehentlich in Brand gesetzt?«
Für einen Augenblick dachte sie, er werde sie anschnauzen oder, schlimmer noch, einfach weggehen und sie kommentarlos stehen lassen.
Aber sein finsterer Blick hielt diesmal nicht lange. Sondern verwandelte sich nach und nach in ein feines, wenn auch fast unmerkliches Lächeln. Als er mit der Metamorphose fertig war, schnaubte er belustigt. »Camus«, sagte er.
»Gut«, sagte sie ernst. »Wollte ich trotzdem nicht, das Feuerzeug ist mir aus der Hand gefallen. Außerdem war das meine letzte Inkarnation, und in dieser bin ich wesentlich netter.«
Das Lächeln stand ihm viel besser als der finstere Blick. Es blieb zwar nicht lange in seinen Mundwinkeln, aber es blieb in seinen Augen. Er nickte fast unmerklich.
»Nett wäre eine Zugabe. Entscheidend ist was anderes.«
»Intelligenz?«
»Würde helfen.«
»Hilft immer. Und ob du’s glaubst oder nicht, das weiß ich nicht aus der Gala, sondern aus Erfahrung. Du müsstest mir allerdings eine Chance geben, meine unter Beweis zu stellen. Ich bin zwar blond, aber man muss mich nicht nach jeder Mittagspause neu anlernen. Und dass Milchkaffee der Knopf in der Mitte ist, hab ich inzwischen gespeichert.«
Sie kriegte ein weiteres belustigtes Schnauben. Und einen weiteren fast freundlichen Blick. »Was willst du wissen?«
»Danke«, sagte sie erleichtert und zog sich einen Stuhl heran. »Du machst mich zu einem glücklichen Menschen.«
»Ach, deshalb die Camus-Verbrennung, mangels Bedarf?«
»Genau«, lächelte sie. »Wenn der nur mit so anspruchslosen Mädchen wie mir unterwegs gewesen wäre, hätte er sich den ganzen Sisyphos glatt geschenkt.«
»Ich sehe Fragen auf mich zukommen, die mich unterfordern.«
»Was ist IICO?«
»Wie der Name schon sagt – das Internationale Institut für Klimabeobachtung, und weil die Welt englisch spricht …«
»Ja. Danke«, sagte sie und setzte dazu ihr freundlichstes Buddha-Lächeln auf. »Beobachtung ist ein relativ weiter Begriff. Konkret?«
»Konkret alles«, sagte er. »Und nichts davon im kleinen Stil. Datenerhebung und Sammlung in beispiellosem Umfang, Experimente …«
»Welcher Art?«
»Der nützlichen. Keine Caldeira-Schornsteine bis rauf in die Stratosphäre, um CO2 loszuwerden, aber das ist dir vermutlich schon aufgefallen.«
»Die hätte ich vermutlich beim Anflug nicht übersehen können.«
»Wohl kaum. Derzeit vor allem unsere zwei Salter-Prototypen.«
»Wolkenboote?«
Er nickte. »Liegen vor der Nordküste. Nicht, dass wir hier direkt von Paparazzi verfolgt werden, aber unten im Hafen wären die zwei doch ein ziemlicher Hingucker.«
»Sag nicht, dass die funktionieren.«
»Wir machen interessante Fortschritte.«
»Das klingt gut«, sagte Mavie. »Und wirklich spannend, ohne Frage. Aber für zwei Boote und sehr viele Wolken braucht man nicht die Niederschlagsmengen im Großraum Bonn für jeden Tag der letzten hundert Jahre. Und erst recht keine hundert Wissenschaftler.«
»Hundertvierunddreißig. Und noch mal die doppelte Zahl an Angestellten in der Verwaltung, für die Security und für die Gartenpflege. Nein, die Boote sind spannend, aber weiß Gott nicht das Hauptthema. Vor allem sind wir Sammler.«
»Datensammler.«