Mein Lieblingstier heißt Winter

Ferdinand Schmalz

Mein Lieblingstier heißt Winter

Roman

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Ferdinand Schmalz

Ferdinand Schmalz, geboren 1985 in Graz, aufgewachsen in Admont in der Obersteiermark, erhielt gleich mit seinem ersten Theaterstück »am beispiel der butter« 2013 den Retzhofer Dramapreis und wurde zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gewählt. Sein Stück »jedermann (stirbt)« wurde am Burgtheater uraufgeführt und mit dem Nestroy-Theaterpreis ausgezeichnet. 2017 nahm er an den Tagen der deutschsprachigen Literatur teil und gewann mit einem Auszug aus »Mein Lieblingstier heißt Winter« den Ingeborg-Bachmann-Preis. Ferdinand Schmalz lebt in Wien.

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Der Wiener Tiefkühlkostvertreter Franz Schlicht soll einem makabren Wunsch nachkommen. Sein Stammkunde Doktor Schauer ist fest entschlossen, sich zum Sterben in eine Tiefkühltruhe zu legen, wo sonst sein heiß geliebtes Rehragout lagert. Er überzeugt Franz Schlicht, dass er seinen gefrorenen Leichnam auf eine Lichtung verfrachtet. Zum vereinbarten Zeitpunkt ist die Tiefkühltruhe jedoch leer, und Schlicht begibt sich auf eine höchst ungewöhnliche Suche nach der gefrorenen Leiche. Dabei begegnet er der Tatortreinigerin Schimmelteufel, einem Ingenieur, der sich selbst eingemauert hat, und einem Ministerialrat, der Nazi-Weihnachtsschmuck sammelt.

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Büro Ziegler

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-490920-2

Ingeborg Bachmann, Der Fall Franza

Wie ausgestorben liegt er da, der Ort. Dort zwischen Buschwerk und Gestrüpp, wo auch das Gras schon meterhoch verdorrt, streckt ein Triceratops den dreibehornten Kopf empor. Das Nackenschild da in die Schultern reingepresst, das Maul zum Schrei weit aufgerissen. Doch nichts zu hören. Kein urzeitlicher Klang, der Mark und Bein zum Beben bringen würd. So harrt es still, das Ungetüm, vielleicht weil dort unter den Bäumen, hinter ihm im Schatten, schon der Fressfeind lauert. Zwischen Baumstämmen ist schon der dichtbezahnte Kiefer eines Tyrannosaurus zu entdecken. Die kleinen Händchen dicht am Leib. Den Killerblick da auf die Beute schon gerichtet, lauert er, wartet auf den Augenblick, in dem die messerscharfen Zähne er ins Fleisch des Vogelbeckensauriers dann schlagen könnt. Gräulich liegt ein Duft jetzt von Versengtem in der Luft, als wäre ein Vulkan hier in der Nähe ausgebrochen oder so ein Himmelskörper brennend da vom Himmel rausgestürzt, um sich dann in die Erde reinzugraben. Fast unscheinbar dieser Geruch, der doch erzählt vom Untergehen ganzer Welten. Ein Stückchen weiter, da am Wasserloch, ein umgekippter Stegosaurus. Die Rückenschilder teils da in den Schlamm hineingerammt, teils schon von dichtem Schimmel überzogen, weshalb auch Harald drum der Echse auf dem Bauch draufsteht, mit einem Schrubber ausgestattet. Und sich von Norbert diesen Eimer mit den Chemikalien jetzt reichen lässt, mit denen sie den

»Kernkeulenpilz. Sagt dir das was?«, fragt er, der Harald, dann nach längerer Pause. Und bricht kurz Norberts Stimme jetzt, dass ein Geräusch unkontrolliert seinen Stimmbändern entkommt, ein Laut, der etwas von der Angst erzählt, die da, tief drin, im Norbert sitzt, die Angst davor, dass er auf sich gestellt, allein etwas entscheiden müsst, dass er vielleicht

Und beide jetzt wie festgefroren. Versteinerte Fossilien. Der Harald aus Respekt, der sich aus ihrem Angesicht ihm hat nun eingeflößt. Doch warum sie, die Schimmelteufel, nicht wie sonst, wenn Harald etwas so verpatzt, sofortest ihn aufs übelste anherrscht, warum auch sie für einen Augenblick verharrt, liegt daran, dass auch sie jetzt runterblickt an ihr, an ihrem Körper runter, dass auch ihr Blick gerade runter fällt und auf den Harald drauf, der da im Schlamm zu ihren Füßen liegt. Fällt auf ihn drauf der Blick, oder besser: fällt durch ihn durch. Sieht da in ihm jetzt die Vergangenheit. Tritt in der Maske jetzt der Gegenwart ihr die Vergangenheit entgegen. Weshalb sie grad nicht anders kann, als sich erinnern müssen. Und muss man jetzt mal sagen, dass so ein Blick in die Vergangenheit das weitaus Kompliziertere doch ist. Weil in so eine Zukunft schauen, das kann nun wirklich jeder. Hat man die Hoffnungen und Ängste erst erspäht, die da im Menschen drinnen wohnen, dann fächern sich dazwischen all die Möglichkeiten auf, auf die der Blick der Vorsehung sich werfen kann. Auch wenn der Zufall immer noch in diese Zukunft reinpfuscht dann, wird doch die Möglichkeit, in die der Blick der Vorsehung mal reingespäht, allein durch dieses Reinspähen schon wahrscheinlicher. Und sagt man drum dazu auch Selffulfilling Prophecy. Doch in die andere Richtung blicken, da rein, in die Vergangenheit hinein, wo unter Trümmern all der Zeiten das Vergangene verschüttgegangen ist, dort in das Dickicht rein, wo keine Möglichkeiten sich mehr aufspannen, dort reinzublicken braucht es schon einen Blick, der sich durch alle Schichten wie ein Ölbohrkopf durchbohrt. Und gerade so ein Blick

 

Als sich der Vormittag schön langsam auch zu Ende neigt, sitzt sie, die Schimmelteufel, wieder da drin in ihrem Firmensitz, an ihrem Schreibtisch dann und schlägt, schlägt fester noch mal jetzt die Stimmgabel gegen das Knie, das ihre, dass sie in Schwingung wird versetzt von diesem Schlag. Vibriert jetzt lautlos das Metall da in der Luft über dem Knie. Woraufhin sie die Stimmgabel nun auf dem Schreibtisch, dem Laminatholztisch, aufsetzt, da zwischen all die Rechnungsstapel, zwischen Aufträge und Anträge hinein, presst auf die Deckschicht sie, dass diese Laminatschicht nun von dem Vibrieren angesteckt auch nun in Schwingung noch gerät, und auch die Spanholzplatte drunter, ein jeder Span in ihr, der Spanholzplatte, schwingt jetzt mit in der Frequenz. Vierhundertvierzig Hertz. Leiht er, der Schreibtisch, jetzt der Stimmgabel den Klangkörper, wodurch, hat erst ein jeder Span das Seinige mal beigetragen, nun klar und deutlich der Kammerton vernehmbar wird. Und denkt in sich, den Ton im Ohr und noch den leisen Schmerz im Knie, denkt sie, die Schimmelteufel, dass so ein Schlag, dass die Gewalt, mit der sie das Metall der Stimmgabel da an ihr Kniegelenk geknallt,

Der Schimmel kam erst mit der Zeit, der Teufel war schon vorher da. Auch wenn sie heute jeder nur als Schimmelteufel kennt, weil halt das Schild da an der Zufahrt zu der Firma, ihrer, steht. Prangt an der Einfahrt zu dem kleinen Grundstück hinterm Bahndamm, nachts in Neonlicht getaucht, das

Und noch mal ein Vibrieren. Gefolgt von keinem Kammerton vibriert es auf dem Schreibtisch jetzt. Und greift sie sich, die Schimmelteufel, an die Schläfen, weil dieser Schmerz durch ihren Körperinnenraum jetzt wieder hallt. Und noch mal bohrender, noch dringlicher vibriert, fast wie ein Schlagbohrer ihr Handy auf dem Laminatholztisch. Und leuchtet da auf dem Display ein Name auf. In großen Lettern steht dort Kerninger. Und greift nur widerwillig nach dem Ding, klappt auf es und spricht ein kurzes, atemloses »Was gibt’s?« hinein in diesen Apparat. Um reinzuhören dann, da in die Leitung rein, die keine Leitung ist in Wirklichkeit, das weiß sie schon, dass das nur Wellen, hochfrequente Schwingungen, die jetzt von draußen durch die Luft herein und in

Er, Franz Schlicht, sieht sich in seinem Innersten, in seiner tiefsten Prägung als, wie man so sagt, wüsten Charakter. Sieht allerdings darin sich als Gewordenen. Genauer gesagt, denkt er sein Schicksal als von einem Moment, einem Augenblick ausgegangenes. An diesem Punkt, Sekundenbruchteil, an dieser Gabelung seines Lebens, stellten sich die Weichen. Da fuhr er ab, dieser Charakterzug mit ihm. Da nahmen sie, diese Entwicklungen, die schicksalhaften, ihren Ausgangspunkt, an deren Endpunkt er nun steht, oder besser der schwache Charakter, als den er sich heut sieht. Und obwohl die Welt in so einfachen Bahnen sich nicht denken lässt, obwohl sich jeder jederzeit auch anders, also gegen sein Schicksal entscheiden kann, würden ihn keine zehn Seelsorger davon überzeugen können, sich nicht als das Produkt dieses einen schicksalhaften Augenblicks zu sehen. Und gerade weil sich in ihm diese Gewissheit eingenistet hat, dass seinem Schicksal und Charakter nicht zu entkommen sei, dass er sich selbst, wie man so sagt, nicht entkommen könne, egal in welchen Zug er steigt, dass keiner ihn auch einen Meter nur von seinem Charakter entfernen könnt, darum begann er nun sich seiner Prägung, dieser ungewollten Schuld, nicht mehr zu schämen. Im Gegenteil, insgeheim hat er sich damit abgefunden, keiner von den sogenannten guten Jungs zu sein. Zwar bekennt er sich nicht in aller Öffentlichkeit, doch da in seinem innerst Inneren zu seiner charakterlichen

Am Rand der Stadt. Halbwildnis, die er wieder mal durchstreift. Brachland, durchzogen von vereinzelt hingestreuten Siedlungen. Reihenhäuser wie Gefängnisblocks. Dahinter sterile Vorgärten, in denen Plastikkinderrutschen erodieren. Dann wieder Schrottplätze und Autobahnverteiler. Dickflüssig liegt die Luft hier in den Straßen, die müde von dem Tag. Die Reifen schmatzen am glühenden Asphalt, der flimmernd sich schon aufzulösen scheint. Als würde er, der flüssige Asphalt, am Ende dieser Straße Wellen in die Luft schon schlagen. So gräbt sich Schlicht nun seinen Weg, schiebt sich durch das Gallert der Hitzewelle, die andauert, schonungslos, kein Ende kennt. Und bringt doch surrend er auch ein Versprechen mit, auf Abkühlung in dieser Stadtsteppe. Es sind die Hundstage nun mal die umsatzstärksten nach der Weihnachtszeit. Weil hat man erst die Ware durch den Hochofen der Parkplätze gebracht. Hat man erst unaufgetaut in seiner Thermotasche das Tiefgefrorene die Treppen raufgetragen. Hat sie, die Auswahl bunter Eis am Stiel, es erst mal in die Tiefkühltruhen treuer Kundinnen und Kunden dann geschafft, kann sich der Endverbraucher oder sie, die Endverbraucherin, auch daran abkühlen. Und von den Lippen, Zungen, Mägen all der überhitzten Körper macht sich vorübergehend eine Abkühlung nun wieder breit. Macht es für

Und steht in der vom Schweiß durchnässten Eismannuniform jetzt vor der Tür des nächsten Kunden: Herr Doktor Schauer. Und blättert nach in seinen Unterlagen, in dem Kalender in der abgenutzten Hülle drin aus Kunstleder, wo vorne drauf das Firmenlogo prangt. Unter dem Namen Doktor Schauer steht dort doppelt unterstrichen: Rehragout.

Und weiß sofort, was ihm das Stichwort jetzt zu sagen hat. Es ist gerade diese Kenntnis persönlicher Vorlieben, die für so einen fahrenden Vertreter von äußerstem Interesse sind. Man muss die heimlichen Schwächen der Kundschaft kennen. Zum Beispiel im Sahnetortensegment: Weiß man erst die Geschmacksrichtung, für die der Kunde oder sie, die Kundin, ihre Schwächen hegt, dann hat man leichtes Spiel. Auch wenn, wie eben bei Frau Übelbacher, Lehrerin, alleinstehend und kurz vor ihrem Ruhestand, ein »Heute nichts!« jegliche Anbahnung, geschäftlicher Natur, zu unterbinden sucht, kann so ein beiläufiges »Der Bienenstich wär heut im Angebot« oft ungeahnte Wirkung tun. Ist man jedoch in dem Moment nicht absolut geschmackssicher, ist jede Chance dahin.

»Rehragout«, und weiß sofort, dass es bei Doktor Schauer nicht viel zu holen gibt, seit mittlerweile sieben Jahren macht der Schlicht hier jeden zweiten Mittwoch halt, um Doktor Schauer eine Portion tiefgefrorenes Rehragout ins Haus zu

Und geht die Tür jetzt auf, dahinter er, der Doktor Schauer, oder besser nur der Schatten seiner selbst. Wirkt nun sogar in dieser Hitze noch, als würde es ihn frösteln. Das war dem Schlicht beim letzten Mal schon aufgefallen, fällt’s ihm jetzt ein, dass der Herr Doktor Schauer nicht ganz auf der Höhe war, dass er nicht mehr den frischesten Eindruck vermitteln konnt. Und hat sich vor zwei Wochen schon gedacht, auch das fällt wieder ihm jetzt ein, dass er sich damals schon gedacht, ob das vom vielen »Rehragout« nicht kommen könnt. Weil man doch immer wieder hört, dass so viel Wildfleisch essen, also wegen Tschernobyl und auch hier Vogelgrippe, Schweinepest. Also rein gesundheitlich hat er, als er den Doktor Schauer hat gesehen letztes Mal, schon durchaus seine Bedenken da gehegt. Doch nun gibt’s keinen Zweifel mehr, dass der Gesundheitszustand von dem Doktor Schauer, dass der wirklich bedenklich ist. Und drum auch nun peinlichstes Schweigen zwischen ihnen. Und hat man manchmal das Gefühl, dass mit der Temperatur, der steigenden, auch so ein Schweigen zwischen Menschen schlimmer wird. Drum wird auch da in diesen Cowboyfilmen in der Hitze der Prärie das Schweigen gern mal unerträglich, bis einer von den Cowboys den andren abknallt dann. Und auch jetzt, als dieser Schweißtropfen schon über Schlichts Nasenrücken rollt, wird es, das Schweigen, unerträglich. Und anstatt ihn jetzt zu fragen, ob ihm das Rehragout vielleicht nicht ganz bekomme oder ob er

Im Keller. Die Wände voller Jagdtrophäen. Geweihe aller Art. Sogar ein Zwölfender. Sonst nichts. Nur dieser Eiskasten, vor dem der Doktor Schauer steht. Der Schlicht ist hier zum ersten Mal. Sonst liefert er die Ware für gewöhnlich an die Türe. Doch nun steht er, die Packung Rehragout in seinen Händen, da im Keller drin. Und öffnet nun der Schauer diesen Tiefkühlschrank, dass ein Schwall kalter Luft rausstürzt und auf dem Fliesenboden nebelnd sich verteilt. Randvoll ist er, der Schrank, schon mit der tiefgefrorenen Wildspezialität. Jahrelange Liefertätigkeit liegt hier auf Eis. Die untersten Packungen gezeichnet schon von übelstem Gefrierbrand. »Umgerechnet fast ein ganzes Reh«, spricht’s aus dem Schauer jetzt heraus. Im Schlicht hat sich eine Erleichterung nun breitgemacht, weil diese Schuld an Schauers Gesundheitszustand offensichtlich nicht mehr auf den übermäßigen Konsum der Tiefkühlkost zurückzuführen ist. Und deutet Doktor Schauer aufs Hirschgeweih, da an der Wand über dem Eiskasten, jetzt hin. »Er wollt nicht mehr.« Da spürt der Schlicht, wie ihm die Kälte von dem Rehragout, das er noch immer da in seinen Händen hält, wie sie, die Kälte, ihm nun in die Finger kriecht. »Hat sich von mir erschießen lassen. Der wusste ganz genau, dass ich auf dieser Lichtung steh. Hat das Gewehr in meiner Hand gesehen. Der Hirsch ist auf mich zu, die Brust herausgestreckt, bis ich hab abgedrückt. Bis sich die Kugel da in seinen Leib hineingedrückt hat dann. Der wollt nicht mehr.« Während der Schauer ihm nun von dem Krebs erzählt, der sich in seine Lunge frisst, während das Kühlgerät zu piepsen schon beginnt, weil ja die