Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-17196-3
ISBN E-Book 978-3-688-10504-5
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ISBN 978-3-688-10504-5
Berichte aus der Vergangenheit können eine Form der Abwehr auf der Ebene der Rationalisation sein, müssen es aber nicht.
Vgl. A. Mitscherlich, Der Kampf um die Erinnerung, München 1975
«Es ist ein fast allgemeiner Charakter dieser ‹Abfallsbewegungen›, daß eine jede sich eines Stücks aus dem Motivenreichtum der Psychoanalyse bemächtigt und sich auf Grund dieser Besitzergreifung selbständig macht», sagt Freud (GW XV, S. 154).
W. Schmidbauer (Hg.), Evolutionstheorie und Verhaltensforschung, Hamburg 1974. – Ders., Vom Es zum Ich. Evolution und Psychoanalyse, München 1975
Viele Leser werden bemerken, daß die mit «Fassade» und «Kind» bezeichneten Sachverhalte sonst als Über-Ich, Eltern-Ich, innere Eltern bzw. als Es, Kindheits-Ich (natürliches Kind) usw. angesprochen werden. «Über-Ich» ist der metapsychologische Ausdruck für eine seelische Instanz, die sich im Verhalten nicht unmittelbar äußert, sondern aus ihm erschlossen werden muß. «Fassade» macht die Gesamtheit der aus den frühkindlichen Anpassungsprozessen nach innen und außen stammenden Abwehrformationen anschaulich. Das Eltern-Ich der Transaktionsanalyse ist demgegenüber ein Ich-Zustand, der im Verhalten faßbar wird; als «Tapes», im Kopf laufende Tonbänder, aufgefaßt, enthält es nicht den spezifischen Abwehr-Aspekt, unter dem ja aus der Fülle der Eltern-Botschaften eine dynamische Auswahl getroffen wird. Wichtig ist mir, daß beide Ausdrücke etwas treffen, was ich persönlich sehe – z.B. auch das Starre, «Gemachte», dem Wiederholungszwang Unterliegende in der «Fassade» und die spontane, ungezügelte Kreativität im «Kind». Wenn ich in Gruppen zu viele vorgeformte Ausdrücke verwende – also Über-Ich, Ich, Es oder Eltern-Ich, Erwachsenen-Ich, Kindheits-Ich usw., dann werden damit theoretische, das Erlebte in Bücherwissen ableitende Verbindungen geschaffen. Ich möchte mit diesen Ausdrücken auch nicht Schule machen; damit wäre erreicht, was ich gerade zu vermeiden trachte. Sie sollen eher die Kreativität anregen, eine eigene, dem Gruppenprozeß nahe Sprache zu finden. Die Verwirrung über die zahlreichen Richtungen und Schulen in der Psychotherapie und in der Gruppendynamik spiegelt letztlich wider, daß die Beeinflussung von Menschen beides ist: Wissenschaft und Kunst. Sie folgt teils bekannten, überprüfbaren Gesetzen, entfaltet aber durch kreative Einfälle erst ihre ganze Wirkung. Ein Dichter, der die Leistung eines früheren Genies kopiert, ein Künstler, der sich eine fremde Malweise aneignet – sie können uns vielleicht durch ihr Geschick beeindrucken, doch nie so bewegen wie eine im Augenblick geborene Produktivität. Die Vielfalt der Konzepte und Theorien in der Gruppendynamik ist Zeichen einer Kreativität, die von einem wissenschaftlichen Reduktionismus nicht eingeholt werden kann. Unsere Klienten reagieren einfach anders, wenn sie in einer Weise angesprochen werden, die sie nicht schon aus Büchern kennen. Dadurch wird den Mitgliedern ebenfalls mehr Kreativität ermöglicht, anders als in einer Gruppe, die an jedem Wendepunkt wieder die alten theoretischen Schablonen vorfindet.
Zur theoretischen Grundlegung dieses Konzepts siehe den Anhang I «Zur Entwicklungsgeschichte der Gruppenbildung», S. 205
S. Langer, Vom Instinkt zur Intuition, in: W. Schmidbauer (Hg.), Evolutionstheorie und Verhaltensforschung, Hamburg 1974
W. Schmidbauer, Mythos und Psychologie, München 1970
Vgl. W. Schmidbauer, Jäger und Sammler, München-Planegg 1973. – E. Borneman, Das Patriarchat, Frankfurt 1975
C.Lévi-Strauss, Traurige Tropen, Köln 1960
W. Schmidbauer, Die sogenannte Aggression. Die kulturelle Evolution und das Böse, Hamburg 1972. – E. Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktion, Stuttgart 1974
Obwohl natürlich auch stabile, wechselseitig befriedigende Partnerschaften in S- oder Therapiegruppen entstehen können.
Das folgende Modell ist eine Weiterentwicklung der Bionschen Lehre von den «Grundannahmen» durch Bennis und Shepard, die ich schon in einer früheren Arbeit (1973) verwendet habe und hier weiter ergänze und verändere.
Ein Beispiel für das Artefakt einer «gegenabhängigen» Haltung durch unangemessenes Verhalten des Gruppenleiters: «Ein Psychologiestudent reagierte auf die Verkündung der Gruppengesetze durch den Gruppenleiter mit Rausgehen – er hatte gefragt, ob man nicht darüber diskutieren könne, und hatte dann auf die Bemerkung des Leiters, wenn er die Gruppengesetze nicht akzeptieren könne, müsse er rausgehen, den Raum verlassen. Er wurde auf Vorschlag der Gruppe mit Zustimmung des Leiters wieder hereingeholt. Er reagierte aber ständig gegenabhängig, zeigte keinerlei Einsichten und forderte die Aufhebung des Sexualtabus in der Gruppe» (G. Ammon 1976, S. 257). Hier ist das «gegenabhängige» und «uneinsichtige» Verhalten des Gruppenmitglieds eine Antwort auf das Verhalten des Gruppenleiters, der selbst eine gegenabhängige Haltung einnimmt (indem er so tut, als läge ihm nichts daran, über seine Vorschläge für die «Gruppengesetze» zu sprechen und mit der Gruppe ein vernünftiges Arbeitsbündnis zu schließen).
Die Phantasie vom Tod des Partners ist ein relativ häufiges Zeichen für eine Abhängigkeitsbeziehung: Nur der Tod scheint fähig, die Symbiose zu lösen.
M.R. Rioch, Die Arbeit Wilfred Bions mit Gruppen, in: C.J. Sager u.H.S. Kaplan, Handbuch der Ehe-, Familien- und Gruppentherapie, Bd. 1, München 1973
H. Henseler, Narzißtische Krisen, Hamburg 1975, beschreibt den Selbstmord als Mittel, diesen Zustand spannungslosen, narzißtischen Behagens herzustellen, wobei das vernünftige Ich mehr oder weniger zurücktritt bzw. Konzessionen macht, die sich in der Art ausdrücken, in der die Rettung unbewußt arrangiert oder verhindert wird.
M. Balint, Therapeutische Aspekte der Regression, Stuttgart 1970. – H. Kohut, Narzißmus, Frankfurt 1973
Vgl. J. Willi, Die Zweierbeziehung, Reinbek 1975
R. Cohn, Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion, Stuttgart 1975
S. Freud, Bruchstück einer Hysterie-Analyse, G.W., V.
«Und wo der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott, zu sagen, was ich leide!»
Wahrscheinlich werden die Primärtherapeuten die Unterscheidung zwischen der gutartigen und der bösartigen Regression einbeziehen müssen, die z.B. M. Balint (Therapeutische Aspekte der Regression, Stuttgart 1970) vorschlägt. Der zu gutartiger Regression neigende Patient kann durch die Primärtherapie gewinnen; der zu bösartiger Regression neigende wird entweder noch kränker oder suchtartig an die periodische Wiederholung der Primärerlebnisse gebunden. Ihm gelingt die Integration der wiederbelebten, frühen Szenen nicht. Er kann nach der Therapie nur Baby sein oder sektiererisch andere bekehren wollen.
Ausführlich in: Lieberman, M.A., I.D. Yalom und M. Miles, Encounter-Groups: First Facts, New York 1972
Buchpublikationen u.a.: Kleine Psychotherapie, München 1969; – Seele als Patient, München 1971; – Handbuch der Rauschdrogen, München 1971 (zusammen mit Jürgen vom Scheidt); – Erziehung ohne Angst, München 1972.
Der Gesamterwartungswert kann zwischen 27 und 135 schwanken; der Mittelwert bei 58 Befragten liegt bei 94, die Standardabweichung beträgt 14,7.
Nach dem Gießen-Test-Handbuch sind Veränderungen von 5–6 T-Werten signifikant. Dieser Wert erschien uns jedoch nach eigenen Berechnungen zu gering. Auf Anfrage bei dem Testautor D. Beckmann ist uns mitgeteilt worden, daß erst 5–6 Rohwerte eine signifikante Veränderung bedeuten.
Geprüft mit dem Vorzeichentest hinsichtlich der Annäherungen an die Durchschnittswerte der Skalen.
Man hat nämlich festgestellt, daß Extremwerte bei verschiedensten Größen wie Länge, Intelligenz u.a. sich angenähert haben (vergleiche Seidenstücker, 1975).
Ein Ergebnis der S-Gruppe ist eine bessere Trennung zwischen eigenen und fremden Bedürfnissen, d.h. der Abbau eines zwanghaften «Helfer»-Verhaltens.
Verwendet wurde der Vorzeichen-Rang-Test von Wilcoxon, siehe E. Kreyszig 1967, S. 343ff.
bei einem Signifikanzniveau von 1 %
Nachahmungsverhalten, das auf Nicht-Artgenossen bezogen ist, erscheint als biologisches Kuriosum, z.B. das Sprechen von Papageien.
W.A. Mason, Die soziale Entwicklung von niederen Affen und Menschenaffen, in: W. Schmidbauer (Hg.), Evolutionstheorie und Verhaltensforschung, Hamburg 1974, S. 103f.
W.A. Mason, a.a.O., S. 266
V. Reynolds, Open groups in hominid evolution, Man 1, 1966, 441–452; I. DeVore, Die Evolution der menschlichen Gesellschaft, in: W. Schmidbauer (Hg.), Evolutionstheorie und Verhaltensforschung, Hamburg 1974
Q. Wright, A Study of War, Chicago 1942. Vgl. auch W. Schmidbauer, Die sogenannten Aggressionen, Hamburg 1972, wo sich eine Theorie der Zusammenhänge zwischen kultureller Evolution und menschlicher Aggressivität findet, sowie E. Borneman, Das Patriarchat, Frankfurt 1975
S. Freud, Studien über Hysterie, G.W. I, S. 87, London 1950
E. Berne, Was sagen Sie, nachdem Sie guten Tag gesagt haben?, München 1975
Vgl. W. Schmidbauer, Vom Es zum Ich – Evolution und Psychoanalyse, wo ich die Grundlagen einer evolutionstheoretischen Revision der psychoanalytischen Traditionen darstelle und das Konzept der Neugieraktivität als «energetischer Ich-Funktion» im Anschluß an die Gedanken von H. Hartmann (Ich-Autonomie), I. Hendricks (Bemächtigungstrieb) und R.W. White (Kompetenz) entwickle.
1 = hoch 27 = niedrig
absolute Häufigkeiten; die mittleren Antwortkategorien sind hier weggelassen
absolute Häufigkeiten; die mittleren Antwortkategorien sind hier weggelassen
Ziel dieses Buches ist, eine praxisnahe Einführung in die Arbeit mit psychoanalytisch orientierten Selbsterfahrungsgruppen zu geben. Sie richtet sich aber nicht nur an die Leiter solcher Gruppen, sondern auch an alle Interessierten, vor allem in den sozialen Berufen. Die S-Gruppe scheint mir in diesem Bereich eines der wichtigsten Mittel emanzipatorischer Arbeit zu sein, das wir haben. Studenten der Pädagogik, Psychologie, Rechtskunde und Medizin sollten über diese Möglichkeit in der Erwachsenenbildung ebenso orientiert sein wie praktisch tätige Lehrer, Ärzte, Sozialarbeiter oder Anwälte. Um das Ziel einer möglichst anschaulichen und lebendigen Darstellung zu erreichen, habe ich zahlreiche Beispiele in den Text aufgenommen. Sie wurden so verschlüsselt, daß die Betroffenen nicht identifizierbar sind.
Meine Erfahrungsgrundlage ist die Tätigkeit als Gruppenleiter und als Ausbilder in der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik (G.a. G.), in der sich durch die Initiative von Dr. med. Hans Kemper, Dipl.-Soz. Christian Maul und Dipl.-Psych. Heinrich Küfner eine rege wissenschaftliche Arbeit entfaltet hat, über deren Ergebnisse in einem Schlußkapitel berichtet wird. Dieses Buch wäre ohne die Gruppe von Psychotherapeuten, durch deren Initiative die G.a.G. entstanden ist, ebensowenig denkbar wie ohne die aktive Mitarbeit unserer Ausbildungskandidaten. Sie haben es mir ermöglicht, als Lehrer ein Lernender zu bleiben. Neben den Genannten danke ich Dr. Edmund Frühmann, Dr. Maria Helmrich, Dr. Ursula Heim und Dr. H.G. Preuss für ihre Anteile an meiner analytischen Ausbildung. Besonders viel habe ich aus dem Dialog mit Dr. Siegfried Gröninger gelernt; ihm und den anderen, mit denen ich zusammen Gruppen geleitet und Gruppenprozesse durchgesprochen habe, schulde ich Dank für das, was sie mir sagten, und für die Art, in der sie mir zuhörten. Dazu gehören Dr. Lenore Gröninger-Enzler, Karl-Gottfried von Knobloch-Droste, Roland Fink, Dr. Alois Tafertshofer, Ulrich Herzig, Silvia Kniepkamp, Dr. Clemens Cording, Barbara Langmaak, Adolf Heimler und last not least Ursula Schmidbauer-Schleibner.
München, August 1976
Wolfgang Schmidbauer
Mehrere Menschen, meist acht bis zwölf, die sich treffen, um über ihre wechselseitigen Beziehungen zu sprechen, sind der Ausgangspunkt dieser Darstellung. Die Gruppen-Selbsterfahrung soll hier unter ihren verschiedenen Aspekten geschildert und analysiert werden. Dabei geht es darum, einer Antwort auf Fragen näher zu kommen, die etwa lauten: Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, daß die Selbsterfahrungsgruppe nützliche Lernerfahrungen ermöglicht? Wie entwickelt sich der Gruppenprozeß? Was kann der Leiter tun, um günstige Prozesse zu fördern? Welche theoretischen Grundlagen gibt es, um solche Gruppenvorgänge zu verstehen (und damit die Voraussetzung zu gewinnen, sie auch zu verändern)? Der Untertitel zeigt, daß Gruppendynamik hier durch ein psychoanalytisches Modell erklärt wird. Die Psychoanalyse scheint aus mehreren Gründen geeignet, K. Lewins Gedanken fortzuführen. Der Ansatz des Begründers der Gruppendynamik war (vielleicht auch durch seinen frühen Tod) lückenhaft geblieben. Die abstrakte, wenig auf konkrete soziale Vorgänge anwendbare Feldtheorie stand neben den genial erdachten Experimenten. Das Verharren ausschließlich im Hier und Jetzt, so sinnvoll es als Ausgehen von der Oberfläche und Erfassen von Emotionen (im Gegensatz zu den so oft «historisierend» vorgebrachten Rationalisationen[*]) sein mag, setzt doch enge Grenzen. Es gefährdet nicht nur die Übertragbarkeit der im Schonraum des «Laboratoriums» oder der T-Gruppe gewonnenen Einsichten, sondern führt auch zur Gefahr einer Einengung der Theorie.
Mir scheint, daß die verwirrende Vielfalt der gruppendynamischen Praxis ebenso wie die in zahllose «Schulen» und Einzelstudien zerfallende wissenschaftliche Bearbeitung dieses Gebietes nicht zuletzt dadurch entstanden sind, daß ohne eine umfassende Theorie gearbeitet wurde. Eine umfassende Theorie menschlichen Verhaltens ist ohne die Annahme unbewußter Vorgänge nicht denkbar. Das psychoanalytische Verständnis von Beziehungen ist gewissermaßen die Grundlage, auf der eine theoretische Arbeit überhaupt erst stattfinden kann. Zugleich sind gründliche Kenntnisse der Psychoanalyse auch für alle angewandten Formen der Gruppendynamik notwendig. Eine Encounter-Gruppe, in der vorwiegend mit Übungen gearbeitet wird, kann zu einem höchst befreienden und für die meisten Mitglieder produktiven Erlebnis werden oder die Teilnehmer frustriert und verängstigt zurücklassen – je nachdem, ob der Leiter die Übungen einsetzt, um den Gruppenmitgliedern zu Einsichten und neuen Gefühls- und Denkmöglichkeiten zu verhelfen, oder ob er sie blindlings verwendet, um die eigenen Allmachtsphantasien auszuleben und spontane Gruppenprozesse, die er nicht verstehen und bearbeiten kann, immer wieder zu unterbrechen. Nach den Erfahrungsberichten in der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik ist das Gespür für das Unbewußte in der Gruppe beim Leiter die wichtigste Voraussetzung für einen konstruktiven Gruppenprozeß. Die Problematik theoretisch wenig ausgearbeiteter, praktisch-handwerklich orientierter Verfahren in der Gruppendynamik liegt darin, daß mit ihrer Hilfe häufig rasch und in kurzen Zeiträumen wirksam gearbeitet werden kann, solange sie ein Gruppenleiter handhabt, der selbst über gründliche (tiefen)psychologische Kenntnisse verfügt. Diese bleiben im Hintergrund, fließen weniger in die neue gruppendynamische Technik als in die Art ihrer Handhabung ein. In der Hand von Epigonen verlieren dann diese Werkzeuge plötzlich ihren hilfreichen Charakter, werden zu einem unproduktiven, schematischen Verfahren. Sie sind nicht mehr das Ergebnis einer umfassenden Erfahrung, die sich in wenigen, aber optimal gehandhabten Interventionstechniken ausdrückt. Sie werden vielmehr mißbraucht, um einen Mangel an Gespür für die unbewußten Vorgänge in der Gruppe zu verdecken und Gegenübertragungsreaktionen des Leiters unentdeckt zu lassen.
In einem Seminar über Transaktionsanalyse fragt eine ältere Psychologin, die einen Kurs an einer Volkshochschule abhält, den Leiter, woran es denn liege, daß ihre Gruppenmitglieder vollständig unbeeindruckt blieben, wenn sie ihnen sage, sie sollten nicht so von ihrem Eltern-Ich aus sprechen. Es wird deutlich, daß durch solche vorwurfsvollen Feststellungen die Leiterin ihre eigenen Autoritätsprobleme verhüllt. Gleichzeitig wird dadurch der Gruppenprozeß blockiert: Wo ständig eine strenge Elternfigur präsent ist, verschanzt man sich möglichst hinter dem eigenen Eltern-Ich.
Ein Gruppenleiter pflegt weibliche Gruppenmitglieder, die besonders viel Zuwendung und Aufmerksamkeit von der Gruppe verlangen, nach kurzem Abwarten mit der Bemerkung abzufertigen, sie sollten über diese hysterische Unersättlichkeit nachdenken. Er überträgt damit seine eigenen Schwierigkeiten mit einer dominierenden Mutter und einem schwachen Vater auf die betreffenden Gruppenmitglieder (Abwehr der projizierten Gefräßigkeit der Mutter; Verteidigung der introjizierten Schwäche des Vaters, rationalisiert durch die Rücksicht auf die «an die Wand gedrängten» restlichen Gruppenmitglieder).
Das letzte Beispiel zeigt, daß auch die analytische Gruppendynamik (aus der es stammt) durchaus schematisch verwendet und in den Dienst der eigenen Abwehr gestellt werden kann. Doch ist die Psychoanalyse deshalb als Grundlage der vielfältigen Anwendungsbereiche der Gruppendynamik in Theorie und Praxis anzusehen, weil sie eine systematische Analyse der Vorgänge von Übertragung und Gegenübertragung in menschlichen Beziehungen ermöglicht. In der Praxis kommt man natürlich im günstigen Fall darum herum, Übertragung und Gegenübertragung zu analysieren. Aber das theoretische Konzept muß diese Möglichkeit einschließen; sonst ist es unvollständig und bietet keinen sinnvollen Ausweg, wenn es zu Störungen kommt. In einer Zeit, die technische Zweckrationalität in vielen Lebensbereichen als höchsten Wert anerkennt, ist diese Forderung der Psychoanalyse unbequem genug.[*] Nicht wenige Psychologen, Ärzte, Sozialarbeiter und andere Berufsgruppen, die sich mit Gruppendynamik beschäftigen, wenden sich Ansätzen im Verständnis sozialpsychologischer Fragen zu, die wissenschaftsgeschichtlich einen Rückschritt darstellen, sosehr sie sich als Befreiung von einer angeblich unwissenschaftlichen Auffassung (eben in der Psychoanalyse) hinstellen mögen. Das gilt vor allem für die an dem engen Modell der behavioristischen Lernpsychologie orientierte Verhaltensforschung und Verhaltenstherapie, aber auch für andere Versuche, die Vielfalt emotionaler und intellektueller Handlungsmöglichkeiten, bewußter wie unbewußter Zusammenhänge auf wenige handliche Formeln zu bringen. Es scheint mir hier gar nicht notwendig, den viel debattierten Gegensatz zwischen der hermeneutischen Methode der Psychoanalyse und einem positivistischen Ansatz ins Spiel zu bringen. Auch vom Standpunkt der Biologie her kann man das Verhalten lebender Systeme nur dann angemessen beschreiben, seine Gesetze erkennen und Voraussagen ableiten, wenn sämtliche wichtigen Systemeigenschaften berücksichtigt werden. Hier scheint eine ich-psychologisch und gruppendynamisch erweiterte Fassung der psychoanalytischen Theorie am ehesten in der Lage, die verwickelte Entstehung des Verhaltens von Homo sapiens zu beschreiben. Theorien, welche das Unbewußte ausklammern und den Einfluß der frühen Bezugspersonen auf die Ebene bedingter Reflexe und operanter Reaktionen festlegen wollen, ergeben allenfalls eine Schönwetterpsychologie. Sie sind dem Versuch eines Piloten vergleichbar, auf meteorologische Informationen zu verzichten, weil der Wetterbericht nicht immer zuverlässig sei, und das Radargerät auszuschalten, weil die Deutung der flimmernden Lichtpunkte nicht einfach zu erlernen ist. Solange die Sicht gut ist, die Sonne scheint und der Himmel ohne Wolken bleibt, wird sich dieser Pilot über die Bedenken seiner auf umfassende Informationen bedachten Kollegen hinwegsetzen. Aber sobald das Wetter umschlägt, fliegt er in die Irre.
Die Psychoanalyse hat eine lange Tradition, hat ihre konservativen und fortschrittlichen Vertreter. Sie bietet ein so weites Spektrum von Aussagen, Begriffen, therapeutischen Methoden, daß viele Begründer neuer Verfahren (vor allem in der Gruppenarbeit) ihre eigene Originalität dadurch unter Beweis zu stellen suchten, daß sie sich von «der Psychoanalyse» abgrenzten. Tatsächlich übernahmen sie größere oder kleinere Teilbereiche der psychoanalytischen Gesamtaussagen. Die Polemik gegen ein Zerrbild der «orthodoxen» oder «klassischen» Analyse diente dann dazu, die Wurzeln des eigenen Denkens autochthoner erscheinen zu lassen, als sie es waren.[*]
Die analytische Gruppendynamik sieht demgegenüber den Ansatz zu einer umfassenden und praktikablen Hilfe für Klienten mit Selbsterfahrungs-, aber auch mit therapeutischen Bedürfnissen nicht in einer polemischen Position gegen die Psychoanalyse, sondern in ihrer Ergänzung durch spezielle gruppendynamische Gesichtspunkte und Techniken. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, daß dieser zunächst aus pragmatischen Gründen vollzogene Schritt – die Erweiterung der Psychoanalyse zu einer Gruppenpsychologie – mit einer engeren Verbindung zwischen Psychoanalyse, Kulturanthropologie und Evolutionstheorie einhergeht.[*] Wenn dieser Weg einer Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie beschritten wird, dann zeigt sich, daß die Gegen-Positionen zur Psychoanalyse, welche viele neuere Gruppenmethoden bezogen haben, keine objektive Grundlage haben, sondern eher auf Mißverständnisse zurückzuführen sind, auf einseitige Auffassung oder das einfühlbare, subjektive Bedürfnis, sich gegenüber den erdrückenden Entdecker-Leistungen Freuds zu profilieren. Andrerseits kann das nur dann deutlich werden, wenn nicht die bisherigen, aus der Einzelsituation gewonnenen Ergebnisse, sondern die Methoden der Analyse auf Gruppenprozesse angewandt werden. Das erste Vorgehen – die Anwendung der Ergebnisse – führt zu angeblich «psychoanalytisch» begründeten Vorurteilen, wie z.B., daß in Gruppen nur das Ich (und nicht das Es) angesprochen werde, daß die Übertragung nicht durchgearbeitet und damit eine neurotische Problematik nicht behoben werden könne usw. Diese Vorurteile brachten es mit sich, daß eine gründliche, der einzelanalytischen Ausbildung vergleichbare Schulung in analytischer Gruppenpsychotherapie bisher in vielen Ausbildungsinstituten unterblieben ist. Gruppendynamisch interessierte Analytiker waren und sind teilweise bis heute auf Ausbildungswege außerhalb der offiziellen Lehrinstitute angewiesen, vor allem, wenn ihnen auch das Kostüm der traditionellen analytischen Gruppenpsychotherapie zu eng wird. Die analytische Gruppendynamik weist auf das Verbindende, auf die Gemeinsamkeiten zwischen den in der psychoanalytischen Tradition entwickelten therapeutischen Verfahren und den neuen Anwendungsmöglichkeiten in der S-Gruppe hin. Sie versucht, keine neue Schule zu begründen, die sich feindselig gegenüber dem Bestehenden abgrenzt, sondern einen integrativen Ansatz. (Hier ist z.B. zu sagen, daß viele gruppendynamische Techniken nicht mit der klassischen Einzelanalyse verglichen werden sollten, sondern weit sinnvoller mit der analytischen Kindertherapie.)
Forschung und wissenschaftliche Kontrolle der praktischen Tätigkeit sind unerläßlich, wenn fundierte Arbeit geleistet werden soll. Nach Lewins Motto «Nichts ist praktischer als eine gute Theorie» sollte die Psychoanalyse sich nicht in den Elfenbeinturm der hermeneutischen Disziplin zurückziehen, sondern ihren Platz unter den biologisch (im weitesten Sinn) orientierten Wissenschaften vom Menschen suchen, deren Aussagen nachgeprüft werden können und müssen. Das wichtigste Forschungsmedium ist in der analytischen Gruppendynamik die kontrollierte Beobachtung, auf der einen Seite von Gruppenprozessen, auf der anderen Seite von Folgeerscheinungen bei den einzelnen Mitgliedern. Dieser Forschungsansatz spiegelt die Grundposition wider, mit der ganzen Gruppe und mit dem einzelnen in der Gruppe gleichermaßen zu arbeiten. Wenn die spontanen Reaktionen eines von Sachaufgaben befreiten Menschen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung sind, ist es nicht sinnvoll, von künstlichen Eingrenzungen wie «Analyse der ganzen Gruppe» oder «Arbeit mit dem einzelnen» auszugehen. Beide Gesichtspunkte gehören unbedingt zusammen. Manche Mitglieder einer S-Gruppe werden nur dann angemessen gefördert, wenn sich der Leiter intensiv einschaltet und in der Gruppe mit ihnen arbeitet. Für andere wäre dieses Vorgehen wenig nützlich. Das Gefühl, in einer zeitweise symbiotisch verschmolzenen Gruppe geborgen zu sein, macht den wichtigsten Inhalt ihrer Selbsterfahrung aus. Solche Gesichtspunkte lassen sich durch Nachbefragung abklären.
Ich glaube nicht, daß es heute noch sinnvoll ist, gruppendynamische Methoden gewissermaßen in chemisch reiner Form zu entwickeln. In dieser Arbeit ist teilnahmslose Objektivität nicht möglich, es sei denn, man entschließt sich, mit einem Tonbandprogramm in Gruppen zu arbeiten. Ein Leiter mit standardisiertem, stets gleichbleibendem Verhalten ist nicht neutral, sondern wegen seiner unmenschlichen Wirkung auf die Gruppe sehr störend. Objektivität läßt sich hier nur durch umfassendes Einbeziehen des Subjekts erreichen; daher auch die Betonung der Analyse von Übertragungen und Gegenübertragungen in der analytischen Gruppendynamik. Die Wahl einer bestimmten Interventionstechnik ist kein rein technisches Problem mehr, sondern ebenfalls eine Frage in diesem Problemfeld von Übertragung (der Gruppenmitglieder) und Gegenübertragung (des Leiters). Es geht nicht um abgrenzbare technische Kunstgriffe oder um einzelne Teilstücke menschlicher Beziehungen (Transaktionen, Ich-Zustände, Gestalten, Muskelverspannungen, Urerlebnisse usw.), sondern um die umfassende Erforschung von zwischenmenschlichen Situationen. Deshalb wird es auch mit dieser (und wohl nur mit dieser) Methode möglich (wenn auch keineswegs nötig), auf strukturierende, unmittelbar «pädagogische» Verfahren in der Gruppe zu verzichten – auf Übungen, Interaktionsspiele, direktive Fragen und Aufforderungen, Rollenzuweisungen, Inszenierungen. Analytische Gruppendynamik ist somit kein eklektisches Verfahren, das versucht, aus den zahlreichen Richtungen der Psychotherapie und Gruppentherapie die für eine emanzipatorische Arbeit nützlichsten Teile herauszunehmen. Obwohl der Gruppenleiter nicht selten Komponenten aus anderen «Schulen» verwendet, geschieht das immer im Zusammenhang seiner analytischen Orientierung mit ihren unverwechselbaren Grundprinzipien. Gruppenleiter, die keine umfassende, an einem Längsschnittmodell der menschlichen Entwicklung orientierte Übersicht haben (wie sie die psychoanalytische Theorie bietet), leben in der Gruppe gewissermaßen aus der Hand in den Mund. Sie orientieren sich kurzfristig an der aktuellen Gruppensituation, deren Hier und Jetzt aber nur dann voll verständlich ist, wenn die lebensgeschichtliche Dimension der Mitglieder erfaßt wird. Die analytische Gruppendynamik vermittelt diese Perspektive, den Arbeitsrahmen, in den sich eingliedern läßt, was jetzt bei diesem Klienten mit diesem spezifischen Kernkonflikt mit welcher Methode (z.B. Exploration, Deutung, Übung, Provokation von Feedback aus der Gruppe) zu erreichen ist. Nur wer von diesem langfristigen Entwicklungsmodell ausgeht, wird die Möglichkeiten von Kurzzeitgruppen wirklich nützen, wird planvoll und gezielt vorgehen können. Analytische Gruppendynamik ist daher mehr als eine «Schule», d.h. ein Erklärungsprinzip, das andere ausschließen muß, um selbständig zu bleiben. Sie ist ein Teil der Wissenschaften vom Menschen; deren Prinzip, möglichst objektive und umfassende Theorien zu entwickeln, ist auch ihr Prinzip. «Die Psychoanalyse … ist unfähig, eine ihr besondere Weltanschauung zu schaffen. Sie braucht es nicht, sie ist ein Stück Wissenschaft und kann sich der wissenschaftlichen Weltanschauung anschließen. Diese verdient aber kaum den großtönenden Namen, denn sie schaut nicht alles an, sie ist zu unvollendet, erhebt keinen Anspruch auf Geschlossenheit und Systembildung. Das wissenschaftliche Denken ist noch sehr jung unter den Menschen, hat zu viele der großen Probleme noch nicht bewältigen können. Eine auf der Wissenschaft aufgebaute Weltanschauung hat außer der Betonung der realen Außenwelt wesentlich negative Züge, wie die Bescheidung zur Wahrheit, die Ablehnung von Illusionen. Wer von unseren Mitmenschen mit diesem Stand der Dinge unzufrieden ist, wer zu seiner augenblicklichen Beschwichtigung mehr verlangt, der mag es sich beschaffen, wo er es findet. Wir werden es ihm nicht verübeln, können ihm nicht helfen, aber auch seinetwegen nicht anders denken.» (S. Freud, Über eine Weltanschauung, GW XV, S. 197).
Ich finde, diese Absage Freuds an alles Sektierertum, an alle Versuche – auch die in den eigenen Reihen, ja vielleicht sogar in ihm selbst –, aus der Psychoanalyse eine neue Glaubenslehre zu machen, ist gerade in der heutigen Situation der Gruppenarbeit sehr bedenkenswert. Wir müssen lernen, unsere Fähigkeit, andere Menschen zu beeinflussen, realistisch einzuschätzen und immer wieder kritisch zu überprüfen. Die analytische Gruppendynamik ist dazu eine unschätzbare Hilfe, solange sie eine offene, empirische und emanzipatorische Wissenschaft bleibt. Offen heißt dabei, daß es keinen Methodenkanon, keine Abschließung gegen andere Arbeitsweisen gibt, solange diese anderen Verfahren wissenschaftlich fundiert sind, das heißt – unser zweites Kriterium – eine empirische Überprüfung zulassen. Das dritte Merkmal – der emanzipatorische Charakter – besagt eine Überprüfung von Praxis und Theorie der gruppendynamischen Arbeit unter den Gesichtspunkten der menschlichen Selbstbefreiung, wie sie etwa in der Charta der Vereinten Nationen ausgesprochen wurden. Mir scheint, daß in einer Tätigkeit, in der die empirischen Ergebnisse noch sehr dürftig sind, trotzdem aber in der praktischen Arbeit immer wieder Entscheidungen getroffen werden müssen, die Frage nach den sozialen und politischen Gesichtspunkten unerläßlich ist. Wo sie unausgesprochen bleibt, einem positivistischen Wissenschaftsideal gemäß, überwuchert das Dunkel unreflektierter Subjektivität und persönlicher Willkür weite Bereiche eines ansonsten vorgeblich «objektiven» Denkens und auch Handelns.
Ich war mit einer Gruppe anderer Studenten vor dem Haus von Prof. X. Wir sollten eine Glocke an dieses Haus montieren. Ich sehe die hohen, aus Kalksteinen gemauerten Wände noch vor mir. Die Sache mit der Glocke klappte nicht gut. Wir brauchten noch Material, Seile und so. Deshalb ging ich zu einem Schuppen in der Nähe. Als ich herankam, hörte ich in dem Schuppen ein leises Weinen. Ich öffnete die Tür. Da sah ich etwas ganz Schreckliches: Ein halb verdurstetes und verhungertes Kind, ganz verdreckt und mit Spinnweben überzogen, steckte zwischen dem Gerümpel eingeklemmt (Der Traum eines 30jährigen Arztes während seiner Lehranalyse).
1. Nach dem dieser Arbeit zugrundegelegten Konzept einer evolutionstheoretisch gesehenen Psychoanalyse[*] geht die seelische Entwicklung von einem primär dem Überleben dienenden, mit zweckmäßigen emotionalen Mechanismen ausgerüsteten inneren System aus, das einen größeren Umfang hat als das «Ich» der zweiten Topik Freuds, aber diesem Ich ähnliche Aufgaben erfüllt. Unter dem Einfluß der Primärgruppe entstehen aus diesem noch wenig differenzierten Ich das Es und parallel dazu das Über-Ich. Anders gesprochen: Teile des Ichs werden abgespalten, weil sie von der Primärgruppe nicht durch Gewährung von Reizschutz in ihrer Entwicklung gefördert oder sogar aktiv verboten und abgelehnt werden.
2. In der Selbsterfahrungsgruppe finden sich die Mitglieder in einer einzigartigen sozialen Situation. Sie sind aufgefordert, sich über ihre wechselseitigen Gefühle und Beziehungen klarer zu werden. Hinter diesen Gefühlen stehen die verschiedensten Wünsche: Abwehrformen werden wiederbelebt, die im sozialen Alltag mit mehr oder weniger Geschick überspielt werden und verdeckt bleiben.
Eine typische Folge ist der Unterschied zwischen dem Gefühl in der Gruppe während der gemeinsamen Sitzungen und bei «Nachsitzungen», etwa im Wirtshaus nach dem Gruppentreffen, oder in informellen Gesprächen zwischen Gruppenmitgliedern auf dem Nachhauseweg usw. Dann ist, so sagen die Gruppenmitglieder häufig, die Stimmung lockerer, man rede lauter, äußere offener Gefühle, fühle sich wohler. (Solche Schilderungen bleiben nicht unwidersprochen; die Nachsitzungen werden manchmal, vor allem in länger bestehenden Gruppen oder auch von Mitgliedern, die solche Äußerungen als Kritik am Gruppenleiter verstehen und deshalb vermeiden, als «Klatsch», «Stammtischgerede» u.ä. abgewertet.) In der Gruppe werden zunächst verwundert das lange Schweigen registriert, die gespannte Atmosphäre, die starken Gefühle von Angst und Unsicherheit. Teilweise gilt der Leiter als ihre Quelle (er ist es auch manchmal, wenn er die analytische Haltung als «graue Wand» und Kälte mißversteht), doch erkennen viele Gruppen bald, daß die Tatsache des Sprechens zu einer ganzen Gruppe, die sich auf den Sprecher konzentriert, für die Gruppenspannung verantwortlich ist. Die Gruppe, welche durch soziale Rituale unbeschwichtigt dem einzelnen volle Aufmerksamkeit zuwendet, enthüllt die Formen des Grundgefühls in der Primärgruppe. – Sie lassen sich in inneren Formeln darstellen wie: «Ich darf nicht auffallen!» – «Ich darf nur dann aggressiv werden, wenn es um andere geht, die ich in Schutz nehme!» – «Ich muß um Aufmerksamkeit kämpfen!» – «Wenn ihr mich nicht liebt, werde ich euch schon zeigen, wie ich euch dazu bringe, mich abzulehnen!» – «Hier ist zuwenig los, keiner kümmert sich um den anderen!» – «Hier ist eine schreckliche Unruhe, man springt von einem Thema zum nächsten!» Insgesamt ist die Anfangsphase einer analytischen Gruppe ein überzeugender Beweis dafür, wie oft die genaue Beobachtung eines Menschen als strafend empfunden wird, wie oft für den Menschen unserer Zivilisation Aufmerksamkeit als Angriff gilt, wie wenige Menschen fähig sind, sich spontan, ohne vorher erbrachte Anpassungs- oder Abwehrleistung, in einer Gruppe angenommen zu fühlen.
3. Auf der Ebene der elementaren Lernprozesse des Konditionierens schafft diese gesteigerte soziale Angst in der Anfangsphase einer analytischen Selbsterfahrungsgruppe eine wirksame Möglichkeit zum Angstabbau. Wer es über sich bringt, angstbesetzte (da von der Primärgruppe nicht bestätigte) Bereiche seines Erlebens zu äußern, gewinnt mehr innere und äußere Freiheit. Die scheinbare Erschwerung solcher Äußerungen durch den Verzicht des analytischen Leiters auf beschwichtigende Rituale führt letzten Endes zu einer wirksameren und tiefer gehenden Arbeit in der Gruppe. Denn in den Situationen des Lebens, in denen die offene Äußerung von Gefühlen notwendig und für Beziehungen produktiv ist, kann niemand damit rechnen, daß er sofort von anderen gestützt wird. In der analytischen Gruppe wird eine Haltung beobachtbar und damit korrigierbar, bei der Gefühle immer erst dann gezeigt werden, wenn die emotionale Position des Partners genau bekannt ist. Durch solche Absicherungen wird die produktive Erweiterung einer Beziehung aber erschwert. Das nüchterne Wohlwollen des analytischen Leiters ermöglicht es, eine realitätsbezogene Haltung gegenüber den eigenen Gefühlen zu gewinnen.
4. Das Ziel einer Selbsterfahrungsgruppe ist Einsicht. Echte Einsicht schließt eine korrigierende emotionale Erfahrung ein; sie muß von bloßem Wissen unterschieden werden. Zugrunde liegt eine Haltung der Einfühlung im Unterschied zu der Haltung des Rechthabens und der Feststellung von Tatsachen.
Zu Beginn einer Selbsterfahrungsgruppe verspricht sich ein Teilnehmer. Er gebraucht ein offenbar emotional bedeutsames Wort an der Stelle eines distanziert-neutralen. Der Leiter greift diese Fehlleistung auf und fragt nach ihrer Bedeutung. Dieses Verhalten wird von anderen Gruppenmitgliedern als Bosheit, als Kritik, als Versuch, ihnen etwas Schlechtes nachzuweisen, ohne sich selbst preiszugeben, aufgefaßt.
In einer Selbsterfahrungsgruppe für Ehepaare berichtet ein Paar über immer wiederholte, scheinbar unlösbare Streitigkeiten. Der Mann schlägt vor, man müsse doch immer ein Tonband laufen lassen, um dann feststellen zu können, wer recht gehabt habe. Er sagt öfter: Wenn sie mir einen Fehler nachweisen will … weil sie mir doch immer unterstellt … Allmählich bemerkt die Gruppe, daß der Mann kaum fähig ist, sich in seine Frau einzufühlen. Er reagiert nicht auf ihre (nur angedeuteten: das ist ihr Anteil am Streit) emotionalen Wünsche, sondern erst dann, wenn sie diese Wünsche über ihr eigenes Über-Ich ausdrückt, d.h. als Vorwürfe. Seine Verteidigung gegen diese Vorwürfe auf der Ebene des Rechthabens empfindet sie als Zurückweisung ihrer Gefühle und reagiert wütend oder deprimiert. Die Frau fragt etwas zögernd, weil sie sich scheut, einen Wunsch offen zu äußern: «Möchtest du heute mit mir ausgehen?» Der Mann spürt das Gefühl nicht und lehnt ab. Die Frau ist enttäuscht; nach einer Weile sagt sie nachdrücklich: «Nie gehst du mit mir aus, alles schlägst du mir ab!» Der Mann beginnt, sich zu rechtfertigen und ihr vorzurechnen, wann er zuletzt mit ihr ausgegangen sei. Auf dieser Ebene des Rechthabens und der Rechtfertigung (der Über-Ich-Ebene) ist aber ein Fortschritt nicht möglich. Es können keine Einsichten gewonnen werden, da Einsicht mit Nachgeben, Sich-in-die-Kinderrolle-bringen-Lassen, Hilflos- und Abhängig-Sein und ähnlichen Situationen verknüpft ist. Solche Verknüpfungen aufzulösen, ist beträchtliche Arbeit notwendig: Erst wenn die Gruppe in den gegenseitigen Beziehungen die Fruchtbarkeit der einfühlenden Haltung erfährt, werden die Mitglieder allmählich fähig, den eigenen Gefühlen gegenüber eine bejahende, realitätsorientierte Haltung einzunehmen. Ihr inneres Kind verkümmert nicht mehr hinter einer zweidimensionalen Fassade von «richtig» oder «falsch», sondern lernt, sich in einem inneren Haus zu bewegen, das viele Fenster und Ausgänge hat.
5. Während die Lernprozesse und Identifizierungen in der Primärgruppe dazu führen, daß rasche Antworten auf soziale Situationen eingeübt werden, bietet die S-Gruppe eine Möglichkeit, Reaktionen des zweiten Schritts zu erarbeiten. Bildlich gesprochen: Das innere Kind, die spontanen, aus den natürlichen Anlagen kommenden emotionalen Bedürfnisse, Wünsche und Phantasien werden weniger unter die Diktatur des «man tut» oder «man tut nicht» gestellt. Das Kind ruft nicht durch sein Erwachen sofort das Eingreifen der verinnerlichten Eltern hervor, sondern es darf seine Neugieraktivität entfalten, wie es etwa in der Beziehung zu einem einfühlenden Erwachsenen der Fall ist. Unsere ersten, fast automatisch erfolgenden Antworten auf soziale Situationen in unseren Gefühlen, Körperhaltungen oder «vernünftigen» Ansichten sind fast immer durch die Eltern in unserem Kopf diktiert. Solche schnellen Antworten halten Verdrängungen aufrecht, weil sie verhindern, daß bestimmte seelische Vorgänge einmal genauer untersucht und ins helle Licht der bewußten Aufmerksamkeit gerückt werden. Die S-Gruppe bietet, mehr noch als die Deutung des Analytikers in der Einzeltherapie, eine Möglichkeit, bisher im Hintergrund gebliebene, automatisierte Abwehrvorgänge klarer zu erfassen und auf diese Weise mehr innere Freiheit zu gewinnen.
Diese innere Freiheit wird oft in der S-Gruppe selbst später deutlich als außerhalb. Ein 30jähriger Handwerker, der durch seine Verschlossenheit und äußere Kälte immer wieder seine Ehefrau enttäuscht und zu heftigen Flirts mit anderen Männern provoziert hatte, berichtete nach einem halben Jahr Teilnahme an einer S-Gruppe über erstaunliche Veränderungen in seinen Beziehungen außerhalb der Gruppe. Er hatte erstmals engeren Kontakt zu einer anderen Frau gefunden, seine Ehe damit in eine schwere Krise gebracht, die er dann gemeinsam mit seiner Partnerin überwand. Die Ehe wurde erheblich befriedigender für beide Partner. Während dieser ganzen Veränderungen verhielt sich dieser Mann in der Gruppe immer gleich. Er meldete sich nie zuerst, überlegte sich die wenigen Sätze, die er hie und da sagte, sehr sorgfältig, berichtete im Gegensatz zu den übrigen Gruppenmitgliedern niemals über belastende Erlebnisse aus seiner Kindheit oder aus seinem Beruf. Dennoch war hinter dieser glatten, unangreifbaren Fassade eine Weiterentwicklung ermöglicht worden. Dieses Gruppenmitglied hatte seine ganze späte Kindheit und Jugend in Internaten verbracht; hier übernahm es (wohl auf einer bereits aus der frühen Kindheit stammenden Grundlage) die innere Haltung, die sich etwa in der Formel ausdrücken läßt: «Ich muß mich abschließen und meine Gefühle zurückhalten, dann kann ich überleben.» Die Verschmelzung mit den in der Gruppe von anderen Mitgliedern geäußerten Gefühlen und Konflikten gestattete ihm nun, die eigenen, wohlverkapselten Gefühle bewußter zu erleben – allerdings nicht, sie in der Gruppensituation zu äußern.
6. Die Fassade ist von berechenbaren, genau definierten und in der Welt der Eltern oder der Über-Eltern (der Vorbilder und Ideologien) gültigen Sprachformen bestimmt. Die Sprache des Kindes ist bildhaft, emotional, sie hat wenige abgrenzbare Begriffe, unterliegt den Einflüssen von Verdichtung und Verschiebung. Das Ziel der analytischen S-Gruppe ist eine fortschreitende Integration zwischen den Sekundärvorgängen des vernünftigen und weitgehend fassadenhaften Ichs und den Primärprozessen des Kindes, die dem Erwachsenen in künstlerischer Arbeit, in Traum, Spiel und in der Gruppenarbeit zugänglich bleiben. Im Gegensatz zu Freud, der die Primärprozesse für biologisch nicht angepaßt und kulturfeindlich hielt, geht die evolutionstheoretisch orientierte Psychoanalyse davon aus, daß sich Organismen als ganze Systeme entwickeln. Es widerspricht diesem Wachstumsprinzip, daß sich einem urtümlichen, undifferenzierten, dem Überleben gleichgültig gegenüberstehenden Kern (wie Freud das Es sah) differenzierte, realitätsorientierte Randzonen anlagern. Vielmehr schreitet die gesamte Organisation von einfacheren zu komplexeren Formen fort, wobei auf jeder Stufe durch kultur- und gruppenspezifische Einflüsse Anteile von dem weiteren Entwicklungsprozeß ausgeschlossen werden können. Das Ergebnis ist in der bildhaften Sprache, die notwendig ist, um Kopf und Bauch zugleich anzusprechen, das vernachlässigte, verwahrloste Kind hinter der prächtigen Fassade – die innere Beschaffenheit der meisten Menschen in unserer Gesellschaft.
7. Zwar ist das Unbewußte von Primärprozessen bestimmt, doch sind nicht alle Primärprozesse unbewußt, z.B. in der künstlerischen Phantasie oder im Traum. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal ist das Fehlen einer verbindlichen Grammatik, Syntax und lexikalischer Bedeutungen, welche die diskursive Symbolik des Sekundärprozesses kennzeichnen. Die Primärprozesse lassen sich nur durch Negationen verbal definieren. Ihre Elemente werden durch ihre unmittelbaren, sinnlichen Bezüge zueinander verbunden; es gibt keine verbindlichen Regeln dafür.
In einer S-Gruppe berichtet ein 35jähriger Arzt, ein Mann, der sehr gefaßt, ordentlich, sportlich und abgehärtet wirkt, über ein merkwürdiges Erlebnis: Er ging auf der Straße an einer Militärkapelle vorbei und blieb stehen, um zuzuhören. Auf einmal fühlte er sich dem Weinen nahe und hatte von sich die Vorstellung, ein Ei ohne die harte Kalkschale zu sein, das ungeheuer gefährdet sei und bei der kleinsten Verletzung auslaufen könnte. Er schüttelte die Vorstellung ab (bei dem Bericht darüber in der Gruppe zuckte er mit den Schultern), wandte sich seinen Besorgungen zu – die Musik sei Zeitverschwendung –, doch verfolgte und beunruhigte ihn die Vorstellung weiter.
Eine solche Vorstellung ist ein typisches Beispiel für eine primärprozeßhafte Phantasie, die zwar dem Bewußtsein zugänglich ist, aber deren Bedeutung erst nach einer längeren Arbeit erschlossen werden kann. Dabei ist das Bild als solches wahrscheinlich nie wirklich erschöpfend mit Hilfe sekundärprozeßhafter Aufklärungen zu erfassen. Doch die Auseinandersetzung damit schafft eine innere Situation, in der das Bild nicht mehr fremd ist, sondern an die ganze Person angegliedert wird, die damit ein Stück mehr innere Freiheit gewinnt. Im Verlauf einer Stunde erarbeitete die Gruppe unter anderem folgende Aspekte: