(K)EINE MUTTER

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Inhaltsverzeichnis

»(K)eine Mutter« porträtiert zwölf Frauen, die abgetrieben haben. Das Buch gibt ihrer Geschichte Raum. Ihrem Erleben und ihrem Empfinden. Ihrer Weiblichkeit und ihrer Stärke. Ihrer Verwundbarkeit und ihrer Schönheit. Ihrer Entscheidung. Ihren Worten. Zerbricht Sprachlosigkeit.

Im Durchschnitt entscheidet sich jede vierte Frau einmal im Leben dafür, eine Schwangerschaft abzubrechen, im vergangenen Jahr haben rund 101000 Frauen in Deutschland abgetrieben. Illegal, wenn auch straffrei. Die meisten von ihnen schweigen – im Privaten, im Kleinen, im engen Familienkreis, gegenüber Freunden und Bekannten. Sie schweigen oft auch und erst recht im großen, breiteren, im weiteren gesellschaftlichen Kontext. Das Thema greift tief, es berührt das Fundament individueller Lebens-Weg-Entscheidung. Es ist das vielleicht letzte große Tabuthema unserer Gesellschaft.

Die Diskussion über Notwendigkeit und Veränderung des Paragrafen219a hat eindrucksvoll gezeigt: Nur sehr wenige Frauen, die abgetrieben haben, beteiligten sich an den öffentlichen Debatten. Politiker und Ärzte, Aktivisten, Richter und Abtreibungsgegner, Kirchenvertreter und Journalisten redeten wortgewaltig und meinungsstark – darüber. Ob Werbung für Schwangerschaftsabbrüche verboten bleiben sollte oder erlaubt werden müsse. Und was das denn eigentlich sei, Werbung in diesem Kontext, was Zugang

Ich auch nicht. Weder im Privaten, im Kleinen noch im Großen. Ich habe abgetrieben und es jahrelang verschwiegen. Ich wünschte mir, mit Vertrauten darüber zu sprechen. Und konnte es nicht. Ich fand keine Worte, schon gar keine passenden. Ich hatte Angst vor dem Unverständnis und vor dem Urteil der anderen. Ich hatte Angst, dass es mir nicht gelingen würde zu erzählen, was war. Zu erklären, warum. Dabei wollte ich das so gern – und ich wollte es eben gerade nicht, ich wollte es verbergen.

Ich begann mir auszumalen, wie der Raum, der Gesprächsrahmen sein müsste, der stimmte. Der (urteils-)frei wäre und dennoch klar begrenzt, der mich behütet und trotzdem weit ist, offen. In dem mir mein Gegenüber mit Respekt begegnet. So entstand die Idee für dieses Buch.

»(K)eine Mutter« gibt zwölf Protagonistinnen Raum, ihre Geschichte zu erzählen: in welcher Lebenssituation sie schwanger wurden. Wie sie über einen Abbruch nachdachten, sich informierten, den Prozess erlebten. Wie sie sich fühlten, davor, währenddessen, danach, seitdem. Ob und wie die Entscheidung sie beeinflusst hat – ihre Beziehung zu sich selbst, die Beziehung zum Partner, zu Vertrauten, Freunden und Familie. In ihrer Schönheit und in ihrer Berührbarkeit. In ihrem riesengroßen Mut, Erlebtes mit uns

Zwischen Juli 2019 und Februar 2020 haben Laura Wencker und ich die zwölf Frauen persönlich getroffen. Wir sind uns an Orten begegnet, die sie ausgesucht haben, dort haben sie mir ihre Geschichte erzählt; Laura hat sie fotografiert, meist im Anschluss an unser Gespräch. Aus dieser Begegnung entstanden Porträts in Wort und Bild. Das gesprochene, gehörte, interpretierte, aufgeschriebene Wort gibt den Details Raum, dem Erlebten, den Ereignissen, chronologisch, emotional, es erinnert und dokumentiert in gewisser Weise. Laura Wenckers Porträtfotografie ergänzt die Worte der Frauen um ihr Bild. Was zeigst du von dir? Während du sprichst oder kurz darauf? Was nehme ich wahr von dem, was du zeigst - bewusst oder unbewusst?

Es ging nicht darum, zu posieren, zu spielen. Es ging darum zu zeigen: Was bedeutet es, in diesem Moment, in dieser höchst intimen Situation zu sein? Über den Schwangerschaftsabbruch zu sprechen? Sich zu zeigen - authentisch, berührbar, dadurch auch verletzlich. Stark. In jedem einzelnen Fall: tief beeindruckend. Unsere Porträts sollen die Frauen so spiegeln, wie wir sie in diesem Moment wahrnehmen durften. Wie sie waren an dem Tag, den wir gemeinsam verbracht haben.

Die Protagonistinnen sind: junge Frauen. Ältere Frauen. Mütter. Keine Mütter. Frauen, die nie Mutter werden wollen. Frauen, die sich heute Kinder wünschen. Frauen aus Ost- und Westdeutschland. Frauen, die vor langer Zeit abgetrieben haben. Frauen, die vor wenigen Monaten abgetrieben haben.

Die Porträts zeigen, dass Abtreibung ein sehr persönliches Thema ist. Das Erlebte ist individuell, variiert mit den Lebensumständen, der (Welt-)Anschauung, den Wünschen, Träumen und Zielen jeder einzelnen Frau. Jede Geschichte unterscheidet sich. Immer. Von allen anderen Frauen. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir beginnen, offen und respektvoll über das Tabuthema Abtreibung zu sprechen – und zwar mit Frauen, die abgetrieben haben. Nur so können wir einen gesellschaftlichen Rahmen schaffen, der stimmig ist – medizinisch, ethisch, emotional, kommunikativ, politisch und juristisch.

Wenn ein Recht einmal erkämpft wird, dann bleibt es für immer. Von dort aus entwickeln wir uns als Gesellschaft nach vorn. Diese Selbstvergewisserung erzählen wir einander, wir leben in der Sicherheit eines modernen Landes, in der Gleichberechtigung selbstverständlich ist. Oder nicht? Für das Wahlrecht, das 2019 in Deutschland seinen 100. Geburtstag feiern konnte, mag das stimmen. Ein hundertjähriges Recht nimmt uns niemand mehr weg. Doch bei Schwangerschaftsabbrüchen ist die Geschichte eine andere – und zudem eine, über die viele Menschen kaum etwas wissen. Und das, obwohl die Entscheidung darüber, eine Schwangerschaft abzubrechen, etwas Alltägliches ist und etwas sehr Altes. Menschen aus allen Generationen können darüber erzählen, aber noch immer nicht so, als wäre ihr Schwangerschaftsabbruch etwas gewesen, das in ihrer Biografie so normal ist, wie einmal verliebt gewesen zu sein, einen Job begonnen oder sich von einem Beinbruch erholt zu haben. Doch es ist normal. Etwa jede vierte Frau wird im Laufe ihres Lebens einmal die Entscheidung gegen eine Schwangerschaft treffen. Aus ganz individuellen Gründen. Jede dieser Entscheidungen ist in einer freien Gesellschaft legitim. Denn in solchen Gesellschaften haben Menschen das Recht, ihr Leben selbst in

Abgetrieben wird schon immer und auch dort, wo Schwangere keine legalen Zugänge zu Abbrüchen haben und sie diese nur unter unsicheren Bedingungen vornehmen lassen können. Sogar dann, wenn sie es selbst tun müssen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass von den 56 Millionen Abtreibungen, die weltweit pro Jahr durchgeführt werden, rund 25 Millionen unter Bedingungen stattfinden, die gesundheitsgefährdend sind oder sogar lebensgefährlich werden können. Mindestens 22000 Frauen sterben jedes Jahr, Millionen andere leben mit den gesundheitlichen Folgen, weil ihnen ein sicherer Schwangerschaftsabbruch verwehrt wurde.

Die meisten Todesfälle nach Schwangerschaftsabbrüchen ereignen sich in Entwicklungsländern. Doch auch in hochentwickelten Ländern wie Deutschland sind Schwangerschaftsabbrüche keine reguläre medizinische Prozedur. Sie sind vor allem kein Recht, wie viele fälschlicherweise annehmen. Zwar sind die Methoden hierzulande gesundheitlich sicher, doch der rechtliche Status von Abbrüchen ist fragil. Dies erklärt vielleicht, warum es in einem vermeintlich modernen und aufgeklärten Land schwierig sein kann, über den eigenen Körper zu entscheiden, und warum dieser Weg noch immer stigmatisiert wird. Für diejenigen, die unerwartet schwanger geworden sind, kommt es oft überraschend, dass sie im Rahmen ihrer Entscheidung bevormundet, teils schikaniert werden und sie sich am Ende dieser Erfahrung oft fremdbestimmt fühlen und schämen. Dabei könnten

Das sind nicht die einzigen Dinge, über die man zu Recht wütend sein darf. Hinzu kommt, dass der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen sich in den letzten Jahren in Deutschland verschlechtert hat und der Trend weiterhin in diese Richtung geht. Immer weniger Ärzt*innen bieten Abtreibungen im Rahmen ihres Leistungsspektrums an, sodass ungewollt Schwangere lange Wege in Kauf nehmen und teilweise sogar das Bundesland wechseln müssen. Bisweilen bedeutet das sogar wieder den Weg nach Holland wie in den 70er-Jahren, weil es manchmal nicht möglich ist, bis zum Ablauf der Frist in einer deutschen Praxis einen Termin zu bekommen. Weil Schwangerschaftsabbrüche noch immer nicht legal sind, werden sie zudem von den Krankenkassen nicht übernommen. Das finanzielle Risiko von Sex verbleibt damit bei denjenigen, die schwanger werden können. Im Zweifel müssen sie die Kosten allein tragen. Solidarität kennt unser Gesundheitssystem an dieser Stelle nicht. Dabei sind wir alle in dieses Thema involviert und sollten als Gesellschaft endlich gemeinsam dafür einstehen, dass diejenigen, die schwanger werden können, immer eine Wahl haben und wir ihrer Entscheidung vertrauen.

In der deutschen Gesetzgebung sind Schwangerschaftsabbrüche noch immer im Strafgesetzbuch geregelt und innerhalb der ersten zwölf Wochen lediglich »straffrei« und

Abbrüche gehören noch immer nicht zur regulären Gesundheitsversorgung. Ob ein Abbruch in der Stadt, in der man wohnt, vorgenommen werden kann, ist Glückssache. Es gibt kein Recht, das besagt, dass eine Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch im näheren räumlichen Umkreis bestehen oder dass jede Klinik mit gynäkologischer Abteilung die medizinische Prozedur anbieten muss. Konfessionell gebundene Krankenhäuser können die Leistung ablehnen, obwohl auch sie staatliche Gelder erhalten.

Dass immer weniger Ärzt*innen sich dafür entscheiden, ungewollt Schwangere zu behandeln, hat unter anderem damit zu tun, dass professionell organisierte Abtreibungsgegner*innen Druck ausüben, Drohbriefe schicken und vor Praxen protestieren. Als Ärzt*in weiterhin Abbrüche anzubieten, ist damit heute auch immer noch ein politisches Statement und mit der Entscheidung verbunden, Kritik und Angriffe auszuhalten sowie sich zu überlegen, wie man die eigenen Patient*innen schützt, wenn sie in die Praxis kommen. Daher sind es oft ältere Ärzt*innen, die den Kampf der Frauenbewegung um die Liberalisierung von Abbrüchen in den 70er-Jahren miterlebt haben, die weiterhin und

Irland hat vorgemacht, wie es besser geht. In einem Referendum und einer nationalen Debatte arbeitete die irische Gesellschaft im Jahr 2018 das bis dahin geltende Abtreibungsverbot auf und machte den Weg dafür frei, Schwangerschaftsabbrüche zu legalisieren. Seither herrscht dort eine liberalere Regelung als in Deutschland und im restlichen Europa. Irische Politiker*innen baten die Frauen um Entschuldigung für das jahrzehntelange Unrecht. Die weitgehende Liberalisierung sollte auch als ein Versuch der Wiedergutmachung für durch das Verbot verursachtes Leid verstanden werden. Der Gesundheitsminister Simon Harris kommentierte die Verabschiedung des Gesetzes im Parlament mit den Worten, dass die Entscheidung ein Zeichen sein solle, das Stigma von Abtreibungen zu beenden und die Entscheidungen von Frauen zu unterstützen. Und er hat recht: Denn überall dort, wo Abtreibungen weiterhin

Wie gleichberechtigt ist unsere Gesellschaft, wenn sie noch immer Menschen für etwas Selbstverständliches stigmatisiert: über den eigenen Körper und das eigene Leben entscheiden zu wollen? Denn solch eine gesetzliche Regelung betrifft im deutschen Recht ausschließlich diejenigen, die schwanger werden können. Kein Cis-Mann muss jemals eine ähnliche Einschränkung über seine reproduktive Selbstbestimmung befürchten. Die aktuelle Gesetzeslage ermöglicht es in Deutschland, dass Schwangere gegen ihren ausdrücklichen Willen dazu gezwungen werden, eine Schwangerschaft auszutragen. Für mich, die selbst zwei Schwangerschaften bis zur Geburt erlebt hat, ist das eine ungeheuerliche Vorstellung. Ich kann mir kaum eine schwerer wiegende Verletzung sowohl meiner körperlichen als auch meiner seelischen Integrität vorstellen, als meiner Selbstbestimmung bei der Entscheidung über eine Schwangerschaft beraubt zu werden. Diese Entscheidung muss

Aus diesem Grund müssen wir auch rund 50 Jahre, nachdem die feministische Bewegung in Deutschland zumindest die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen durchsetzte, weiterhin für diesen elementaren Teil sexueller Selbstbestimmung kämpfen. Und wir müssen Menschen erzählen lassen und zuhören, wie sie die Abtreibung erlebt haben. Menschen wie den Frauen in diesem Buch. Denn wir sollten uns als Gesellschaft nicht hinter dem Halbwissen verschanzen, dass Schwangerschaftsabbrüche immer und überall möglich sind. Solange ein Schwangerschaftsabbruch kein Recht ist, können sich die Möglichkeiten der reproduktiven Selbstbestimmung auch schnell und unerwartet wieder verschlechtern. Dass Rückschritte möglich sind, zeigen zum Beispiel Gesetzesänderungen in Polen, aufgrund derer Polinnen wieder in Nachbarländer wie Deutschland reisen, um ungewollte Schwangerschaften zu beenden.

Wir sollten es nicht hinnehmen, dass ungewollt Schwangere immer noch stigmatisiert werden, dass ihr Weg zu einem Schwangerschaftsabbruch voller Hürden ist und sie noch immer für ihre Entscheidungen mit Scham und Schuldgefühlen belegt werden. Denn all das hindert Frauen daran, wirklich frei zu sein. Sofern wir in einer tatsächlich gleichberechtigten und menschlichen Gesellschaft leben möchten, sollte sich jede*r dafür einsetzen, dass diejenigen von uns,

Die Frauen in diesem Buch haben den Weg in die Öffentlichkeit gewählt und wollen anderen damit zeigen, dass es keine Gründe gibt, sich zu verstecken und zu schweigen. Denn was die Autorin Jeanne Diesteldorf, die Fotografin Laura Wencker und die porträtierten Frauen in diesem Buch zusammengebracht hat, ist, dass sie erkannt haben, dass ihre Erfahrungen politisch sind und der Kampf um reproduktive Selbstbestimmung nicht abgeschlossen ist. Als Leser*innen werden Sie hier Geschichten begegnen, die vielleicht Ihrer eigenen ähneln, Sie werden dazulernen und erfahren, dass die Entscheidungen dieser Frauen so unterschiedlich und individuell waren, wie Menschen nun einmal sind. Bis es sich endlich ändert, dass Schwangere noch heute schlecht behandelt werden, wenn sie sich für einen Abbruch entscheiden, sollten wir diese Erfahrungen immer wieder miteinander teilen. Wir sollten uns zusammentun und einsetzen für eine Gesellschaft, die Frauen endlich voll und ganz vertraut.

Was immer eine Person, die schwanger wird, entscheidet, sie wird das Richtige tun. Wenn in Zukunft über die Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft gesprochen