Paul Auster

Mein New York

Zusammengestellt von Thomas Überhoff

Mit Fotos von Frieder Blickle und einem Vorwort von Luc Sante

Deutsch von Joachim A. Frank und Werner Schmitz

 

Bei den Worten «New York» fällt mir als Erstes die Wohnung meiner Großeltern ein, Ecke Central Park South und Columbus Circle, sechster Stock; ich stehe am Fenster und sehe hinaus. Das Fenster ist offen, ich habe einen Penny in der Hand und will ihn loslassen, um zu sehen, wie er auf die Straße fällt. Ich kann damals höchstens vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Gerade als ich die Hand aufmachen wollte, sah meine Großmutter zu mir rüber und rief: «Tu das nicht! Wenn der Penny jemanden trifft, durchschlägt er ihm glatt den Schädel!»

VORWORT

Paul Auster besitzt den Schlüssel zur Stadt. Ich rede nicht von so einem fünf Pfund schweren vergoldeten Ding, das der Geist des legendären städtischen Empfangschefs Grover Whalen in Zylinder und Bratenrock irgendwem auf einem Podium vor dem Rathaus überreicht – nicht dass es nicht angemessen wäre. Doch Austers Schlüssel gleicht eher dem Schlüssel zur Freiheit, dem clé des champs. Es ist ein Dietrich, der Zugang zu Korridoren, Kellern und verrammelten Häusern gewährt, die sonst niemand zur Kenntnis nimmt, zu einem Reich vielfältiger, einst für abstrakt gehaltener Erscheinungen, deren tatsächliche Existenz erst Auster nachgewiesen hat. Dieses Reich liegt mitten in New York, es breitet sich durch alle Straßen der Stadt, die Bürogebäude, Wohnhäuser und Parkanlagen aus, und doch hat, bevor Auster dort seine Fahne aufpflanzte, niemand es als solches wahrgenommen.

Ich möchte dies mit einem privaten Beispiel erläutern. Am Abend des ersten Tages, den ich als frisch gebackener Student in New York an derselben Universität verbrachte, die Auster ein paar Jahre zuvor besucht hatte, ging ich mit meinen neuen Zimmergenossen noch etwas trinken. Als wir die Bar verließen, war ich ziemlich angesäuselt; als wir an einer Buchhandlung vorbeikamen, schnappte ich mir im Vorbeigehen Kafkas Amerika vom Straßenständer und schob mir das Buch unter den Pullover. Als ich dann den Broadway überquerte und die Verkehrsinsel in der Straßenmitte erreichte, stellte sich mir ein großspuriger Teenager in den Weg und versetzte mir ohne jede Vorwarnung einen harten Schlag in den Magen; genauer gesagt: auf Amerika. Es tat kein bisschen weh, aber ich war so verblüfft, dass ich einfach weiterging.

Oder: Einige Jahre später sah ich abends an einer Straßenecke ein Pärchen; die beiden tanzten zu einem Song aus einem Radio, das sie an einer Laterne abgestellt hatten. «Wie schön», dachte ich. Zwei Straßen weiter stieß ich auf ein weiteres Pärchen an einer Straßenecke, und die beiden tanzten zu demselben Song aus dem Radio. An einem anderen Abend sahen ein Freund und ich auf dem Bürgersteig vor einem hell erleuchteten Bankgebäude die gesammelten Werke von Wilhelm Reich sorgfältig in chronologischer Reihenfolge ausgelegt. Ein oder zwei Jahre später bog ich in der Lower East Side um eine Ecke und sah die Straße voll gestellt mit Klappstühlen, auf denen kleine Kinder in Kirchenschuluniform saßen und, projiziert auf die Fassade des Pfarrhauses, den Film Frankenstein sahen.

Diese amüsanten, verwirrenden oder seltsam lyrischen Szenen schienen außerhalb jedes Kontextes zu stehen; es waren Seifenblasen, die für sich allein im Wind trieben. Heute jedoch erkenne ich sie als Teil von Paul Austers imaginärem Reich, ja als seine Schöpfungen. Es ist bemerkenswert, dass all diese Szenen sich abspielten, bevor Auster seine erste Prosa schrieb. Andererseits, wenn Borges behaupten konnte, Kafka (schon wieder Kafka) sei Hawthornes Vorgänger gewesen, dann ist es ebenso möglich, dass Austers Handschrift sich in Ereignissen zeigt, die stattfanden, als seine Romane noch kaum ein Funkeln in seinen Augen waren. Tatsächlich tauchen Dinge, wie ich sie erlebt habe, ganz buchstäblich in seinen Büchern auf: zum Beispiel der Klarinettist, der zur Begleitung von Aufzieh-Äffchen gespielt hat. Und Doc Humes, den ich nie kennen gelernt habe, aber dessen Schüler zu meiner Collegezeit allgegenwärtig waren: Mit argwöhnisch gen Himmel gerichtetem Blick hielten sie nach linsenförmigen Wolken Ausschau und entwarfen einheitliche Feldtheorien einer globalen Verschwörung.

Dieses Reich, das wir Austeralien nennen könnten, deckt sich in der geographischen Ausdehnung mit New York City wie das Nervensystem mit dem menschlichen Körper. Die damit verbundenen Erscheinungen sind Zufall, Gleichzeitigkeit, Bilokation und andere Dinge, die das Metaphysische streifen, aber man denkt dabei auch an Chiffren, Spiele, Aufführungen, spontane Darbietungen auf dem Bürgersteig – die Insiderscherze der Großstadt. Scheinbar zufällige Elemente sind wie durch Tunnel oder Gassen miteinander verbunden. Auster findet mühelos durch diese Labyrinthe. Wäre er kein Dichter, hätte er dieses Reich und seine geheimen Verbindungswege nie entdecken können. Er besitzt eine enorme und nie nachlassende Fähigkeit zum Staunen, seine Antennen sind außerordentlich empfindlich, und er hat die Geduld eines Einsiedlers, die Geduld, die man braucht, wenn man die immer neuen Geheimschriften der Großstadt entziffern will. Paul Austers New York ist manchmal ein einsamer, verlassener Strand, manchmal ein Volksfest mit allem Drum und Dran; in jedem Extrem aber erstrahlt die Stadt in einzigartiger, dunkler Schönheit. Sein Werk vermittelt dem Leser die Fähigkeit, diese Schönheit mit eigenen Augen zu erblicken.

 

Luc Sante