Patricia Koelle
24 Stück vom Glück
FISCHER E-Books
Mit Illustrationen
von Katharina Schmidt
Patricia Koelle ist eine Berliner Autorin mit Leidenschaft fürs Meer – und fürs Schreiben, in dem sie ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften, unwahrscheinlichen Planeten zum Ausdruck bringt. Bei FISCHER Taschenbuch erschienen ist die Ostsee-Trilogie mit den Bänden ›Das Meer in deinem Namen‹, ›Das Licht in deiner Stimme‹ und ›Der Horizont in deinen Augen‹, außerdem der alleinstehende Roman ›Die eine, große Geschichte‹. ›Wenn die Wellen leuchten‹, ›Wo die Dünen schimmern‹ und ›Was die Gezeiten flüstern‹ sind die drei Bände ihrer Nordsee-Trilogie, die auf Amrum spielt. ›Ein Engel vor dem Fenster‹ ist eine Sammlung von Wintergeschichten, ›Der Himmel zu unseren Füßen‹ ein Weihnachtsroman.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Weihnachtszeit ist Patricia-Koelle-Zeit. Denn sie ist die Meisterin der Geschichten über die kleinen Dinge in unserem Alltag. Dinge, die für viele unbemerkt bleiben, fasst sie in poetische, nachdenkliche, fröhliche und manchmal auch traurige Worte, gibt ihnen Raum und macht sie sichtbar. Und macht uns bewusst, wie nahe das Glück eigentlich ist – wir finden es in den kleinen Geschehnissen des täglichen Lebens, die uns innehalten und genau hinschauen lassen. Wir müssen nur achtsam sein und unsere Augen für sie öffnen.
24 Weihnachtsgeschichten, in denen jeweils eine kleine DIY-Inspiration versteckt ist, liebevoll illustriert von Katharina Schmidt.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: www.buerosued.de
Coverabbildung: Birgid Allig/living4media und www.buerosued.de
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491014-7
Als die Haustürklingel schrill seine Gedanken zerriss, betrachtete Johannes Gärtner gerade den Weihnachtsstern, der auf seinem Fensterbrett vor sich hinwelkte. Er hatte die Pflanze doch ordentlich gegossen und dafür gesorgt, dass sie genug Licht bekam! Das mit dem Licht war in diesen trüben Tagen Anfang Dezember nur nicht so einfach. Er fragte sich, ob und womit man Weihnachtssterne düngen sollte, und ihm kam die verrückte Idee, ob wohl die Krümel eines Spekulatius’ helfen würden. Spekulatius waren das einzige Gebäck, das er selbst an Weihnachten noch mochte. Aber der Weihnachtsstern …? Er schüttelte den Kopf. Wenn er noch länger allein lebte, wurde er womöglich immer wunderlicher. Aber er war selbst schuld.
Johannes war bekümmert, denn Frau Lenz von nebenan hatte es gut mit ihm gemeint, als sie den fröhlich blühenden Topf vorbeibrachte. Er hätte sich gern bei ihr revanchiert, er wusste nur nicht, womit.
Wer wohl um diese Zeit noch klingelte? Es wollte doch schon lange niemand mehr etwas von ihm. Als er öffnete, floss ein Strom Kälte direkt in seine Pantoffeln. Hoffentlich war es nicht Frau Lenz, die kontrollieren wollte, wie es ihrem Weihnachtsstern ging. Johannes wollte sie keinesfalls enttäuschen. Er mochte die Wärme in ihren braunen Augen.
Doch die Silhouette in der Dunkelheit war ihm fremd. Im ersten Augenblick. Aber dieser Augenblick dehnte sich seltsam. Er hätte schwören können, dass diese Gestalt schon einmal auf seiner Schwelle gestanden hatte. Mehr noch, dass sie da hingehörte.
Die Lichterkette auf Nachbar Neumanns Balkon blinkte. Für zwei Sekunden erhellte sie das Gesicht unter der Pudelmütze, ehe die Nacht es wieder verschluckte. Johannes’ Herz setzte einen Schlag lang aus, wie die Lichterkette. Das konnte doch nicht …? Wieder der helle Moment. Als wäre es nicht Neumanns Lichterkette, sondern ein Blitz gewesen, schlug bei Johannes die Erkenntnis ein, dass er sich nicht geirrt hatte.
»Hast du deinen Schlüssel verloren?«, war das Einzige, was er endlich herausbrachte. Seine Stimme war heiser. Vielleicht lag es daran, dass das letzte Gespräch dieser Art siebzehn Jahre her war.
»Nein. Ich habe mich nur nicht getraut, ihn zu benutzen.« Wie vertraut die Hand war, die den Schlüssel an einem Band unter dem Pullover hervorzog wie ein Amulett. Schließlich hatte Johannes diese Hand oft genug fest in der seinen gehalten. Beim ersten Schritt in die Wellen. Auf dem Schulweg. Bei Albträumen in der Nacht. Nach dem ersten verlorenen Fußballturnier. Das war alles noch viel länger als siebzehn Jahre her. Später hatte er die Hand nicht mehr gehalten. Da war sie nicht mehr klein, und es wäre Paul peinlich gewesen. Aber er hatte sie beobachtet. Wie sie sorgfältig die Figuren beim Schach setzte. Die Schlittschuhe zuschnürte. Sich noch einmal durch die Haare kämmte, bevor Paul in die Disco ging.
»Ich wusste doch nicht einmal, ob du mich sehen möchtest.« Pauls Stimme klang ebenso heiser wie seine eigene. Wie konnte sein Sohn nur so etwas denken? Dabei wartete Johannes immer wieder sehnsüchtig auf das Aufflackern der Lichterkette, damit er Pauls Gesicht sehen konnte, so hell und klar und unerwartet. Er konnte sich nicht sattsehen daran. Jetzt erwachte er aus seiner Erstarrung. Was für ein Idiot er war! Da stand er hier in der offenen Tür und rührte sich nicht und wartete auf diese blöde Lichterkette. Anstatt seinen Jungen hereinzuholen, wo er hingehörte! Er stolperte rückwärts und riss die Tür weit auf. »Paul. Paul. Junge, bitte komm rein.«
Im Flur war das Licht zu grell. Jetzt wäre es Johannes fast lieber gewesen, es würde auch an und aus gehen, denn in den Momenten der Dunkelheit war es leichter gewesen, nicht verlegen zu sein.
Paul schien es ähnlich zu gehen. Er blickte ratlos umher. Es fiel ihm schwer, seinem Vater in die Augen zu sehen. Johannes war fast dankbar dafür. Er musste sich erst daran gewöhnen, dass sein Junge hier vor ihm stand. Paul sah sich im Flur um und durch die Tür ins Wohnzimmer und in die Küche. Nichts bewegte sich.
Damals, früher, hatte Marga dort mit den Töpfen geklappert und vor sich hingesummt, während im Wohnzimmer die Katze schnurrte. Jetzt lauerte da Stille, und die leeren Jahre machten die Schatten in den Ecken dick wie Sirup. Sie konnten nicht hier im Flur stehen bleiben, nicht ewig, dachte Johannes, aber er wusste nicht wohin. Auf einmal hatte er dieselbe Scheu vor dem Wohnzimmer und der Küche, wie er sie in Pauls Blick entdeckte, als der seinem endlich begegnete.
»Ist unten noch das Kartenzimmer?«, fragte Paul. Als würde ein Zimmer einfach verschwinden. Aber Johannes wusste, was er meinte. Ob da unten vielleicht noch die alte Kameradschaft zu finden wäre.
»Ja«, sagte er. »Komm.«
Er ging voraus, die Treppe hinunter in den Keller. Das Licht funktionierte noch, als er den Schalter kippte. Zum Glück. Mit der Birne unter dem warmen gelben Lampenschirm flammte auf, wonach sie suchten. Hier unten standen die verlorenen Jahre nicht so groß zwischen ihnen. Hier war alles wie früher. Manchmal war Johannes hier gewesen, hatte gelüftet und Staub gewischt, in der Hoffnung, dass es so blieb und die Spinnweben nicht bedeckten, was ihm so kostbar war. Auch wenn er erst viel zu spät pfleglich damit umging.
Vielleicht war es doch noch nicht zu spät, dachte er jetzt, als Paul sich auf die Eckbank schob, auf seinen gewohnten Platz.
Johannes wagte kaum zu glauben, dass das die Wirklichkeit war und nicht eine Vision aus einem weihnachtlichen Wunschtraum.
Paul fuhr mit dem Finger einen Kratzer auf der Tischplatte nach. »Den habe ich mit dem kaputten Weinglas gemacht, weißt du noch?«
Johannes setzte sich gegenüber. »Ja. Ich weiß alles noch! Es tut mir so leid, Paul. Ich wollte dir das schon lange sagen. Aber ich wusste nicht, ob ihr das hören wolltet.«
Paul blickte auf. »Mir tut es auch leid. Mama hatte recht. Am Ende hatte sie recht. Aber nicht am Anfang, weißt du. Am Anfang war ich glücklich mit Josephine. Mama hat einfach nur gewusst, dass es nicht immer so sein würde.«
»Ich hätte nach Mamas Tod nicht so deutlich zu dir sagen dürfen, dass ich ihr recht gab. Ich war ungerecht in meinem Schmerz. Ohne Marga, das war …«
»Schon gut, Papa. Josephine hat mich verlassen. Ich weiß jetzt, wie es sich anfühlt. Ein bisschen jedenfalls. Weißt du noch, die Abende hier? Weißt du, es ist komisch. Je schwieriger das mit Josephine wurde, desto öfter dachte ich an diesen Keller. Hast du das Schachspiel noch?« Er blickte sich suchend um. »Ach, da ist es ja!« Er sprang auf, hob das Brett behutsam vom Regal und trug es zum Tisch. Ehrfürchtig nahm er das Pferd in die Hand. »Ich habe es immer genossen, den kalten Marmor zu berühren und zu spüren, wie er in der Hand warm wird.«
»Und wie stolz du warst, als du mich schließlich besiegt hast. Du warst elf.«
Zum ersten Mal flog ein Lächeln über Pauls Gesicht. Johannes unterdrückte den Impuls, ihm über die Haare zu streichen wie damals. »Und dann später die Abende, als wir Karten gespielt haben«, sagte Paul verträumt. »Mit deinen Freunden. Ralle und Julius und Helga. Ich war so froh, dass ich nun dabei sein konnte. Auch später noch, als ich erwachsen war und mit euch Wein trinken durfte. Und manchmal haben wir bei einem Glas Wein nur geredet. Es war immer feierlich, wenn du die richtige Sorte aus deinem Regal ausgewählt hast. Jeder Schluck war etwas Besonderes, genau wie so ein Abend. Damals konnten wir über alles sprechen. Oder einfach nur zusammen lachen.«
»Ich würde dir gern einen Wein anbieten«, sagte Johannes bedauernd. »Aber es ist keiner hier. Ich darf nicht mehr trinken. Muss auf meine Zuckerwerte achten.« Er lächelte verlegen. »Außerdem war niemand mehr da, für den ich eine Flasche hätte kaufen können.«
Paul blickte ebenso verlegen. »Ich darf auch nicht mehr trinken. Weißt du, es gab eine Phase, da habe ich zu viel …«
»Schon gut, mein Junge.« Paul stand auf, zog einen Sack unter der Bank hervor und stellte ihn auf den Tisch. »Sieh mal, was noch da ist.«
Paul machte große Augen. »Du hast sie alle aufgehoben?« Er nahm einen Korken heraus und schnupperte daran. »Er duftet noch nach damals.«
»Ja. Ich habe sie aufgehoben, weil sie mir zeigen, wie viele solcher Abende wir zusammen hatten. Ich habe es nicht über mich gebracht, sie wegzuwerfen. Eben weil jeder etwas Besonderes war.«
Paul griff nach einem weiteren Korken. Dabei riss der morsche Sack ein Stück auf und die Korken rollten über die Tischplatte. Gedankenverloren fing Paul an, sie zu ordnen, legte fünf nebeneinander und dann vier obendrauf in die Ritzen. Wie früher mit den Legosteinen. »So hätten wir es machen müssen! Ein Jahr auf das andere bauen. Der Streit war es nicht wert, so lange keinen Kontakt zu haben«, sagte er. »Wie schön, dass die Erinnerungen noch da sind.«
Johannes legte auch drei Korken auf das kleine Werk, dann zwei und dann einen. »Ja. Darauf kann man aufbauen.«
»Guck mal«, sagte Paul verblüfft und hörte sich an wie damals, als er elf war. »Von der Seite sieht das aus wie ein Weihnachtsbaum!«
Tatsächlich. Was sie wie eine Pyramide aufgebaut hatten, indem sie jeweils in die Zwischenräume einen Korken legten, in jeder Reihe einen weniger, bis der letzte eine Spitze bildete, ähnelte einem Weihnachtsbaum. Manchen der Korken haftete sogar noch eine Spur Rotwein an, so dass sie von der Seite wirkten wie eine rötliche Kugel. Anderen hatten die Jahre einen sanften goldenen Schimmer verliehen, als der Kork alterte. »Daraus können wir etwas machen«, sagte Paul. Die Schwermut war aus seinem Gesicht verflogen. »Diese Korken sind zu schade, um sie hier vergammeln zu lassen. Hast du Leim?«
Als Johannes oben im Wohnzimmer den Kleber vom Schreibtisch nahm, fiel ihm auf, dass der welke Weihnachtsstern auf der Fensterbank begonnen hatte, sich aufzurichten.
Einträchtig klebten sie Weihnachtsbäume in verschiedenen Größen zusammen, während sie sich Dinge erzählten. Stück für Stück holten sie die verlorenen Jahre nach und mit jedem befestigten Korken, der durch ihre Hände ging, schloss sich eine Lücke.
»Erinnerungen sind wie guter Wein, sie haben nur mehr Farben«, sagte Paul. Er suchte in dem alten Eckschrank herum. »Was ist das hier?«
»Stoffreste von den Näharbeiten deiner Mutter.«
»Genau was wir brauchen!« Sie schnitten bunte Kreise aus, die auf die Enden der Korken passten und so den Bäumen hier und da ein fröhliches Muster verliehen. »So ist sie auch mit dabei«, sagte Paul zufrieden.
Johannes sägte derweil aus einem Ast aus dem Garten Scheiben ab, auf die sie die fertigen Bäume montierten, so dass es wie ein Stamm wirkte. Aus der silbernen Folie einer Zigarettenschachtel fertigte Paul Sterne, die Johannes mit einer Stecknadel aufrecht auf den Spitzen der Bäumchen befestigte.
Zusammen betrachteten sie den kleinen Wald auf ihrem Tisch. »Heißt es nicht, bevor die Welt untergeht, soll man einen Baum pflanzen?« fragte Paul. »Anscheinend haben wir damals einen ganzen Wald ausgesät, ohne es zu bemerken.«
Johannes legte für einen Augenblick seine Hand auf die Schulter seines Sohnes und drückte sie fest.
»Lass uns doch morgen deine alten Freunde besuchen«, schlug Paul vor. »Jeder bekommt einen Baum, und dann laden wir sie zum Kartenspielen ein!«
»Zu denen habe ich auch lange keinen Kontakt gehabt«, sagte Johannes.
»Na und? Das sind schließlich auch ihre Korken. Sie werden sich erinnern.«
Es war eine gute Idee, dachte Johannes. Sorgfältig wählte er den schönsten Baum aus und stellte ihn beiseite. Jetzt wusste er endlich, womit er sich bei Frau Lenz bedanken konnte.
»Autsch!«, entfuhr es ihr, als sie mit der Hand gegen etwas stieß. Maxi hatte gedacht, der riesige Schrank wäre jetzt leer. Wahrscheinlich hatte sie das Ding ganz hinten in der dunklen Ecke übersehen, weil ihr beim Ausräumen immer wieder die Tränen kamen. Sie hatte gehofft, es würde helfen, etwas Nützliches zu tun. Arbeit war sicher besser, als in ihrer Erstarrung zu verharren, in der sich die dunklen Gedanken pausenlos im Kreis drehten wie ein Sog, der sie in eine fremde Tiefe zog.
Leon und sie hatten dieses Fach schon lange nicht mehr benutzt, weil nichts mehr hineinpasste. Es war voller Sedimente ihres Lebens. Briefe von Freunden und Cousinen, über die sie sich einst zu sehr gefreut hatten, um sie wegzuwerfen. Leergeschriebene Kugelschreiber. Bunte Kerzenstummel, die von Stunden glücklicher Zweisamkeit erzählten. Außerdem fand sie einen erstaunlich großen Vorrat an Streichhölzern. Sie zog eines über die Zündfläche der Schachtel und freute sich insgeheim über das Ratsch, das die Stille im Zimmer, die so schwer lastete, für einen Augenblick unterbrach. Die Wärme der kleinen Flamme war wie eine tröstende Berührung an ihrer Handfläche. Viel zu schnell verlöschte sie wieder. Doch selbst wenn Maxi sämtliche Streichhölzer angezündet hätte, wäre ihr innerlich nicht warm davon geworden. Ihr wurde seit Wochen nicht mehr warm.
Sie blickte auf den blauen Müllsack, in dem sie alte Ansichtskarten, leere Schachteln und hart gewordene Radiergummis versenkt hatte. Zeichen eines Lebens, das es nicht mehr gab. Dinge, die ohne Leon seltsam sinnlos geworden waren, und doch tat es so weh, sich davon zu trennen. Aber was blieb ihr anderes übrig? Leon hatte immer alles aufgehoben. Aber nun taten diese angehäuften Dinge nur weh und machten alles noch schwerer. Maxi wusste nicht, wie sie diesen Tagen begegnen sollte, die vor ihr lagen. Die Nachbarn hatten ihre Fenster weihnachtlich geschmückt, das Radio mochte sie vor lauter Weihnachtsmusik nicht einschalten, und selbst wenn sie beim Bäcker Brot holte, kam sie nicht um die Strohsterne und Tannenzweiggirlanden herum, die den Tresen schmückten. Eine wohlmeinende Freundin hatte ihr sogar einen Strauß Tannenzweige vorbeigebracht. In der großen Vase in der Ecke wirkte er beinahe wie ein Weihnachtsbaum. Aber Maxi wünschte sich nur, das alles würde dieses Jahr ausfallen.
Doch Weihnachten ließ sich ebenso wenig aufhalten wie andere Dinge, die einfach geschahen. Maxi seufzte, schleppte den Sack nach draußen und holte sich einen feuchten Lappen, um den Schrank auszuwischen. Sie fühlte sich kein bisschen besser als vorher, im Gegenteil, und wusste nicht, was sie eigentlich in dem Schrank gesucht hatte. Sie hatte Platz schaffen wollen, Platz für Neues. Aber es war nicht das Neue, was sie sich wünschte. Sie wollte das Alte, ihr altes Leben zurück! Wollte die Zärtlichkeit von Leons Stimme, wollte jeden Morgen den Kopf an seine Schulter legen, in die Grube an seinem Hals, die immer nach Frühling duftete. Wollte sich vor dem Einschlafen mit ihm zusammen über den Tag freuen, den sie erlebt hatten, und auf den nächsten.
Sie biss die Zähne zusammen und wischte den Staub der Jahre aus dem dunklen Fach. Als sie überraschend gegen den harten Gegenstand stieß, den sie übersehen hatte, zog sie eine Holzkiste ans Licht. Maxi erkannte sie sofort wieder. Ihr Herz machte einen Hüpfer.
Sie umklammerte die Kiste mit beiden Händen und setzte sich mit ihr auf dem Schoß in den Schaukelstuhl. Bis jetzt hatte sie gar nicht bemerkt, wie erschöpft sie vom Aufräumen war. Es war jedes Mal ein kleiner Tod von etwas gewesen, wenn sie wieder ein Stück Vergangenheit hatte loslassen müssen. Vor dem Fenster fing es an zu schneien. Sie starrte in die tanzenden weißen Flocken, und nach einer Weile wurden die weißen Punkte am Himmel zu weißen Punkten auf einer Frühlingswiese. Ein halbes Leben war das her, eigentlich ein ganzes, denn manchmal hatte sie das Gefühl, ihr Leben hätte erst an jenem Tag begonnen.
Die Schneeglöckchen auf der Wiese am Rande des Weges schwankten an ihren filigranen Stängeln im Wind. Maxi kniete davor, ohne zu beachten, dass sie nass wurde, und versuchte, von wenigstens einer Blüte ein scharfes Bild mit ihrer Kamera einzufangen. Der Frühling hatte so lange auf sich warten lassen, dass sie ihn unbedingt festhalten wollte, falls er es sich morgen anders überlegte und wieder verschwand.
Als sie den überraschten Ausruf hinter sich hörte, zuckte sie vor Schreck zusammen und löste aus Versehen eine Aufnahme aus. Neben ihr bremsten zwei Turnschuhe so scharf ab, dass Kies vom Weg in die hochgekrempelten Aufschläge ihrer Jeans flog.
»Oh, Entschuldigung! Ich hatte nicht damit gerechnet, dass noch jemand heute Wind und Wetter trotzt. Was fotografieren Sie da? Eulen?«
Maxi rappelte sich auf. Ihre Beine waren vom Knien ganz steif geworden. Besorgt pustete sie Sand von ihrer Kamera. »Ja, die Winterzwergeule. Sie ist ein Bodenbrüter und nistet zwischen den Schneeglöckchen«, erwiderte sie todernst.
Als sie zu dem Mann aufblickte, bemerkte sie, dass er für einen Augenblick verdattert zwischen die Schneeglöckchen spähte, bevor er zu lachen anfing. »Nicht schlecht. Für einen Augenblick habe ich Ihnen geglaubt«, sagte er.
»Wie kommen Sie nur auf Eulen?«
Er wies auf das Schild an dem Baum, unter dem sie gekniet hatte. Darauf prangte eine stilisierte Eule, die das Symbol dieses Wanderweges war. »Ich habe mich heute schon ein paarmal verlaufen und bin heilfroh, wieder eine davon zu sehen. Ich bin neu in dieser Gegend. Mein Orientierungssinn hat Anpassungsschwierigkeiten.«
»Dann sollten Sie vielleicht beim ersten Mal langsamer laufen und nicht gleich joggen.«
»Wenn Sie mich ein Stück begleiten und mir erklären, wo dieser Weg hinführt, befolge ich diesen Rat gern. Ich bin übrigens Leon.«
Später sichtete sie die Bilder auf ihrem Computer. Dabei fand sie jenes, das sie vor Schreck aus Versehen ausgelöst hatte, als ihr beinahe die Kamera aus der Hand gefallen war und sich halb gedreht hatte. Auf dem Bild entdeckte Maxi die Hälfte ihres erstaunten Gesichts, im Hintergrund die Silhouette von Leon vor viel Himmel und am Bildrand ein Stück Baumstamm mit einem Flügel der Eule.
Abends fiel der Kies aus ihren Hosenaufschlägen auf den Boden im Badezimmer und piekte unter ihren nackten Sohlen. Da wusste sie noch nicht, dass nicht nur dieser Tag spürbare Folgen in ihrem Leben hinterlassen sollte, sondern dass der sandige Weg mit den Schneeglöckchen geradewegs in eine andere Zukunft führte, die ebenso funkelte wie die letzten Schneekristalle zwischen den windverwehten Blüten.
In diesem Frühling gingen sie diesen Weg noch oft zusammen, während die Schneeglöckchen verblühten und durch Schlüsselblumen ersetzt wurden, die wohl ihrem Namen alle Ehre machten. Denn für Maxi und Leon öffnete sich etwas, das sie nie gekannt und nie für möglich gehalten hatten. Sie hatten beide schon zuvor geliebt, aber noch nie war die Welt so hell und leuchtend und weich geworden, so voller Abenteuer, sobald sie zusammen waren. Bald verlief Leon sich nicht mehr auf dem Eulenweg, obwohl sie jedes Mal Neues darauf entdeckten. Und auch Maxi verlief sich nicht mehr in ihrem Leben, solange Leon bei ihr war. Im August, als das Frühlingsgrün einer allgemeinen Reife gewichen war, die die Beeren im Gebüsch und die Äpfel an den Bäumen rund machte, versprachen sie sich an der Stelle, an der sie sich das erste Mal getroffen hatten, dass sie für immer zusammenbleiben würden. Sie wussten beide ohne den geringsten Zweifel, dass es richtig war. Abends saßen sie beieinander, und während sie sich an ihn lehnte, sprachen sie davon, was sie alles zusammen in den nächsten Jahren tun wollten. Ihre Ideen passten zusammen, als hätten sie immer schon darauf gewartet, sich zu ergänzen.
»Mach eine Liste, damit uns nichts verlorengeht«, sagte Leon, und Maxi holte einen Zettel und notierte alles, was ihnen einfiel.
»Ich möchte mit dir im Garten einen Teich bauen«, sagte Maxi.
»Ich möchte mit dir ein Aquarium einrichten«, sagte Leon.
»Ich möchte mit dir auf einen Vulkan steigen.«
»Ich möchte mit dir Drachen fliegen lassen.«
»Ich möchte mit dir an die Ostsee fahren.«
»Ich möchte mit dir in einem Wintergarten sitzen, der uns gehört.«
»Ich möchte mit dir tausend Blumenzwiebeln pflanzen.«
»Ich möchte mit dir und unseren Freunden viele Spielabende voller Gelächter machen.«
»Ich möchte an meinem nächsten runden Geburtstag wie ein Kind eine Riesenparty feiern, mit allen Menschen, die wir kennen, und mit einem Zauberer.«
»Ich möchte auf dem Jahrmarkt für dich einen Preis gewinnen, indem ich die meisten Büchsen umwerfe.«
»Ich möchte mit dir Raddampfer fahren.«
»Ich möchte mit dir Weihnachtskekse backen.«
»Ich möchte mit dir an Silvester tanzen und jedes Jahr Feuerwerk machen, das mit den Sternen, das keine Geräusche macht.«
Jeder weckte in dem anderen neue Wünsche, Wünsche, die nicht zu groß waren, sondern sich desto schöner anhörten, je kleiner sie waren. Dass sie das alles zusammen tun durften, das war es, was sie so groß machte. Beide hatten von sich selbst gar nicht gewusst um diese Wünsche, die in ihnen schlummerten, als hätten sie seit langem auf den anderen gewartet. Und auch nicht, dass es schon so glücklich machte, sie nur miteinander zu entdecken.
Maxi schrieb alles auf, auch in den Tagen danach noch, und dann legte sie den Zettel sorgfältig in den Schrank und vergaß ihn bald, denn es war ja Alltag, und der Alltag war voller Arbeit und Einkaufen und Putzen und Bürokram, wie es eben geschieht, sogar wenn man verliebt ist. Er machte die Tage oft zu kurz für Träume.
Doch an Maxis Geburtstag, dem ersten, den sie zusammen feierten, zündete Leon Kerzen an, nahm sie in den Arm und überreichte ihr ein Geschenk.
Unter dem grünen Seidenpapier fand sie eine Holzkiste, wie eine Truhe geformt, oben mit zarten Blumen bemalt. Neugierig drehte sie den Schlüssel im Schloss und öffnete den Deckel. »Oh!«
Die Kiste war bis obenhin mit Eulen gefüllt. Andächtig nahm Maxi eine heraus und betrachtete sie genau. »Die sind ja aus leeren Klopapierrollen! Hast du die etwa selbst gemacht?«
»Jawohl!«, sagte er stolz. »Ich habe sogar meine Freunde gebeten, auch welche zu sammeln, obwohl sie mich ausgelacht haben.«
Die Rollen hatte er oben und unten säuberlich eingeklappt und danach ein wenig flach gedrückt. So entstanden oben Ohren und unten Füße. Dann hatte er sie angemalt, jede in einer anderen Farbe. Aus buntem Papier hatte er Augen und Schnäbel ausgeschnitten und darauf geklebt, und an die Seiten Flügel. Manche Flügel zeigten nach unten, andere freudig nach oben, und manche Eulen schienen Maxi zuzuwinken. Auf Brust und Bauch klebten aus noch bunterem Papier Federn, nur mit dem oberen Ende angeklebt, so dass sie unten abstanden wie echte Federn. Maxi schluckte. Sie sah vor sich, wie Leon mit seinen großen Fingern zärtlich und behutsam Feder für Feder ausgeschnitten und zum Teil sogar bemalt hatte. Und alles für sie! So etwas hatte noch nie jemand getan.
»Oh, Leon! Wie schön. Danke!«
»Mach eine auf«, sagte er eifrig und verlegen. »Sie sind nämlich gar nicht das Geschenk, sie sind nur die Verpackung. Ich dachte, weil die Eulen Zeugen unserer ersten Begegnung und unseres ersten Weges waren, wären sie die geeigneten Hüter unserer Träume.«
Vorsichtig klappte Maxi eine am unteren Ende auf. Innen fand sie eine kleine Rolle Papier.
Einen Teich bauen, las sie darauf. »Oh wie schön, das sind ja unsere Pläne!«
»Ja. Das ist unsere Schatztruhe! Immer, wenn wir einmal Zeit für uns haben, wollen wir eine Eule aufmachen und die Idee darin umsetzen. Komm!« Er sprang auf und nahm ihre Hand.
»Wohin?«
»Na, was wohl? Einen Teich bauen.« Er zog sie übermütig in den Garten. »Mach du den ersten Spatenstich. Dann bin ich dran.«
Als sie, nachdem sie Leon ausgiebig geküsst hatte, den Fuß auf das Metall setzte und es in den Boden trieb, wusste sie, dass hier Seerosen blühen würden. Sommer für Sommer würden sie sich weit zum Himmel öffnen, jedes Jahr mehr, während sie und Leon sich darüber beugten und ihr gemeinsames Spiegelbild im Wasser sahen, über dem blaue Libellen umherflirrten.
Genau so kam es, weil sie es wahr machten, und während diese Sommer und die dazugehörigen Winter vergingen, rutschte die Kiste mit den Eulen im Schrankfach nach hinten, vor Kinderhänden in Sicherheit gebracht, während eilig verstaute Dinge sich davor ansammelten. Es geschah allerlei Überraschendes und Alltägliches. Es gab nie eine Lücke in Maxis und Leons buntem Leben, in der sie sich bei den Eulen hätten Rat holen müssen, weil ihnen langweilig war. Die Jahre liefen immer schneller. Die Tage waren voller Sonne und Sorgen, Musik und Müdigkeit, Auf und Ab, Frost und Frühling. Währenddessen veränderten sich Maxi und Leon miteinander und wuchsen zusammen und liebten einander umso tiefer, weil sie all diese Veränderungen gemeinsam durchmachten und die Schneeglöckchen mit jedem Frühling kostbarer wurden, vor allem, als Leon krank wurde.
Nun saß Maxi allein hier in der Stille. Eule für Eule nahm sie in die Hand, begrüßte sie wie einen alten Freund und fuhr zärtlich über die Federn, die so bunt waren wie damals, mit so viel Liebe von Leon gefertigt. Eule für Eule öffnete sie und las die Wünsche und Pläne darauf, die sie sich zusammen in jener allerersten Woche vorgenommen hatten.
Und mit jeder Eule, mit jedem Zettel, den sie entrollte, wurde die schwere, eisige Trauer in ihr leichter, und in das Dunkel flossen Farben.
Denn als sie die letzte Eule aus der Hand legte, hatte sie keinen Wunsch gefunden, der unerfüllt geblieben war. Sie hatten in der Zeit, die ihnen geschenkt worden war, jeden einzelnen davon wahr gemacht. Und noch viele andere dazu. Aber es bedeutete Maxi unendlich viel, dass sie gerade diese ersten Wünsche alle wirklich in ihr Leben gewoben hatten. Zusammen.
Auch wenn Leon nun hatte gehen müssen, so hatten sie doch zuvor alles richtig gemacht. Sie hatten einander nicht enttäuscht. Sie hatten ihre Schatztruhe wahr gemacht, ohne etwas offen zu lassen! Nicht ein einziger kleiner Traum war vergessen worden.
Es war ein gutes, einzigartiges Leben gewesen. Morgen würde sie wieder einmal den Eulenweg entlangwandern. Sie war sich sicher, dass Leon mit ihr gehen würde, auch wenn ihn niemand sah.
Maxi stellte die Kiste beiseite, stand auf und setzte die Eulen behutsam in die Tannenzweige.
Vielleicht würde sie selbst einige basteln und ihren Freunden und Nachbarn schenken. Damit auch diese Hüter für ihre Wünsche hatten.