Dietrich Grönemeyer
Dein Herz
Eine andere Organgeschichte
FISCHER E-Books
Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer, einer der bekanntesten Ärzte Deutschlands, war bis 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Radiologie und Mikrotherapie an der Universität Witten/Herdecke. 1997 gründete er das interdisziplinär ausgerichtete Grönemeyer-Institut für Mikrotherapie in Bochum. Seit Jahren Vorsitzender des Wissenschaftsforums Ruhr e.V., erhielt er für seine Verdienste um die Modernisierung der Region den Titel »Ehrenbürger des Ruhrgebiets«. Als Arzt, Wissenschaftler und Autor zählt Dietrich Grönemeyer zu den entschiedenen Verfechtern einer Medizin zwischen High-Tech und traditionellen Heilweisen. In seiner eigenen Stiftung engagiert er sich dafür mit zahlreichen Projekten. Seine Bücher ›Mensch bleiben‹, ›Mein Rückenbuch‹, ›Lebe mit Herz und Seele‹, ›Der kleine Medicus‹ und ›Grönemeyers neues Hausbuch der Gesundheit‹ wurden ebenso Bestseller wie sein letztes Buch ›Dein Herz‹, das im Herbst 2010 bei S. Fischer erschienen ist.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Was ist unser Herz, ist es nur eine »Pumpe«? Oder ist es doch mehr? Wie sieht es aus und wie wird es versorgt? Wodurch wird es überhaupt zum Schlagen gebracht? Wie und weshalb kann es erkranken? Welche Krankheiten und welche Möglichkeiten der Heilung gibt es? Was kann man selbst und auch vorsorgend tun? Und wie ist das eigentlich mit den Gefühlen und dem gelegentlich pochenden Herzen, den Angelegenheiten zwischen Herz und Seele? Welche Rolle spielen diese Zusammenhänge in der Gedankenwelt, der Philosophie, der Literatur, Kunst, Religion und Medizin unserer und anderer Kulturen? Diesen Fragen geht Dietrich Grönemeyer informativ umfassend, sehr persönlich, spannend und mitunter auch provokativ nach.
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Kardiologisches Fachlektorat/Mitarbeit:
Dr. Jochem Stockinger, Herz-Zentrum Bad Krozingen
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2012 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: Thomas Schuster/picture-alliance und Science Photo Library
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ISBN 978-3-10-402640-4
Hans Magnus Enzensberger
Es schmilzt uns es blutet es lacht uns im Leibe
Wir tragen es auf der Zunge
Wir schütten es aus
Wir machen ihm Luft
Wir grüßen von ihm
Wir essen es in Aspik
Es ist steinern es ist weich
golden hart brennend gespickt
halb leicht tief gut oder schwer
gebraten gebrochen erweitert verfettet
Wir bringen etwas darüber und tragen etwas darunter
Wir legen die Hand darauf
Wir schließen etwas darin ein
Wir drücken etwas daran
Wir nehmen uns etwas dazu
Wir haben etwas darauf
Wir hängen es an etwas hin
Es hat Klappen Blätter und Damen
Es hat Fehler Schläge Gründe Beutel und Gruben
Anfälle Kammern und Lüste
Wir lassen uns etwas daran wachsen
und etwas darein schneiden
und etwas daran greifen
Ein Stein fällt uns davon herunter
Wir machen eine Mördergrube daraus
Wir haben es auf dem rechten Fleck
Erich Kästner
Der erste Doktor sagte:
»Ihr Herz ist nach links erweitert.«
Der zweite Doktor klagte:
»Ihr Herz ist nach rechts verbreitert.«
Der dritte machte ein ernstes Gesicht
und sprach: »Herzerweiterung haben Sie nicht.«
Na ja.
Der vierte Doktor klagte:
»Die Herzklappen sind auf dem Hund.«
Der fünfte Doktor sagte:
»Die Klappen sind völlig gesund.«
Der sechste machte die Augen groß
und sprach: »Sie leiden an Herzspitzenstoß.«
Na ja.
Der siebente Doktor klagte:
»Die Herzkonfi guration ist mitral.«
Der achte Doktor sagte:
»Ihr Röntgenbild ist durchaus normal.«
Der neunte Doktor staunte und sprach:
»Ihr Herz geht dreiviertel Stunden nach.«
Na ja.
Was nun der zehnte Doktor spricht,
das kann ich leider nicht sagen,
denn bei dem zehnten, da war ich noch nicht.
Ich werde ihn nächstens fragen.
Neun Diagnosen sind vielleicht schlecht,
aber die zehnte hat sicher recht.
Na ja.
Das Herz als Symbol findet sich auch in einer der wichtigsten bildlichen Darstellungen der Romantik. Caspar David Friedrichs (1774–1840) sehnsüchtiger Blick geht durch einen herzförmigen Ausschnitt zwischen zwei Kreidefelsen auf das Meer. Vor diesem Ausschnitt, also gleichsam auf dem Herzen, symbolisieren die farben Rot und Schwarz die beiden romantischen Leitmotive Liebe und Tod.
Hilflos sitze ich am Bett meiner Tochter, innerlich aufgewühlt, kraft- und ratlos. Was soll nun, was muss geschehen? Kein Stein will mehr auf den anderen passen. »Ganz klein mit Hut« liegt meine Tochter im Bett, seit Tagen hat sie fast 41 Grad Fieber. Tapfer versucht sie, mit ihrer frechen Mütze cool zu bleiben. Erschrecken, Verwunderung, Angst verraten ihre Blicke. Eben haben uns die behandelnden Ärzte mitgeteilt: Verdacht auf Myokarditis – Herzmuskelentzündung. Ein Schock, von dem wir uns langsam erholen müssen, weiß ich doch aus eigener leiblicher Erfahrung, was die Diagnose bedeuten kann.
Meine Tochter war gerade aus Südamerika zurückgekehrt. Nach einer eitrigen Mandelentzündung entwickelte sich das Fieber, Tag für Tag, eine Woche lang. Keine Antibiotika zeigten Wirkung. Kurzfristige Entfieberung konnte nur durch fiebersenkende Mittel und Wadenwickel erzielt werden; eine nachhaltige und deutliche Fiebersenkung war erst durch Kortison in hohen Dosen zu erreichen.
Wie habe ich meine Tochter bewundert, wie sie tapfer kämpfend diese Fieberschübe mit beängstigendem Schüttelfrost und Schwitzen bei der Entfieberung durchgehalten hat, vier-, fünfmal am Tag. Dieses Leiden und die eigene Hilflosigkeit waren zum Weinen. Als Vater konnte ich die nötige ärztliche Distanz nur schwer, im Grunde gar nicht aufbringen. Ärzte unseres Vertrauens hatten die Behandlung mit Empathie, Gewissenhaftigkeit und Erfolg übernommen.
Die beginnende Herzmuskelentzündung wurde gestoppt, meine Tochter erst einmal zufrieden entlassen. Danach aber kamen die Fragen: Was ist eine Herzmuskelentzündung? Warum ist sie lebensbedrohlich? Welche Folgen kann sie haben? Was sind Herzrhythmusstörungen? Wie sieht eigentlich das Herz aus, und wie wird es versorgt? Wie ist das mit den Gefühlen und dem gelegentlich pochenden Herzen, den Angelegenheiten zwischen Herz und Seele? Welche Rolle spielen diese Zusammenhänge und besonders das Herz in der Gedankenwelt, der Philosophie, der Literatur, Kunst, Religion und Medizin unserer und anderer Kulturen?
Fragen über Fragen, die sich auch mir plötzlich auf eine ganz neue Weise stellten und auf die ich in diesem Buch nach Antworten suchen möchte. Dabei geht es mir nicht um eine Bereicherung der kardiologischen Fachliteratur und auch nicht der geisteswissenschaftlichen. Diesen Beitrag leisten andere, hochqualifizierte Wissenschaftler. Aber vielleicht kann meine durchaus persönliche Betrachtung dazu anregen, sich wieder etwas mehr und vor allem umfassender mit dem Herzen zu beschäftigen. Deshalb habe ich versucht, »eine andere Organgeschichte« zu erzählen, für mich und für alle, die ihr Herz verstehen wollen.
Wer aber einfach nur das ein oder andere nachschlagen möchte, kann in den dritten, vierten und fünften Teil des Buches schauen, wo einzelne Herzkrankheiten, Therapieansätze und Behandlungsmethoden noch einmal ausführlich erklärt werden. Auch Hinweise zur Selbsthilfe oder Verständnishilfen für das Lesen eines Beipackzettels finden sich dort. Auf die vielfältigste Weise will das Buch so immer wieder auftauchende Fragen beantworten. Und ganz bewusst werden dabei die Grenzen der medizinischen Wissensbereiche im engeren Sinne überschritten. Denn wer sich auf das Thema erst einmal einlässt, merkt schnell, dass es mit dem Herzen mehr auf sich hat, als wir Ärzte uns allein zu erklären vermögen. Auch als Therapeuten sollten wir uns psychologisch, philosophisch und kulturgeschichtlich beraten lassen, wenn wir verstehen möchten, was das heißt: In der Mitte … das Herz.
Dietrich Grönemeyer
Ich erinnere mich noch gut, welches Jubelgefühl, welche herzerfrischende Stimmung mich erfasste, als ich, ein kleiner Junge, zum ersten Mal das Lied »Geh aus mein Herz und suche Freud« hörte. Geradezu hineingerissen wurde ich von dieser Melodie. Einzelne Passagen konnte ich nach kurzer Zeit mitsingen: »Narzissus und die Tulipan, die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide«. Es war, als wenn diese Musik mein Herz füllen und streicheln würde. Alles vibrierte, flimmerte; ein Zauber, der bis heute nichts von seinem Reiz verloren hat. Ein flüchtiger Gedanke daran, und wohlige Stimmung macht sich breit. Erste Herzensfreude, herüberstrahlend aus der Kindheit!
Oder Jahre später. Jeder kennt es, dieses phantastische Herzrasen, die glückliche Aufgeregtheit, wenn man sich zum ersten Mal verliebt. Ein Blick, Bruchteile einer Sekunde haben genügt, ein Empfinden der Glückseligkeit zu wecken. Von den Augen mitten ins Herz. Berauschende Freude nach dem erwiderten Lächeln und dazu »Wackelpuddingbeine«, Schmetterlinge im Bauch, trockener Mund und feuchte Hände: ein wundervolles Gefühl mit »mentalem Herzflimmern«, unvergesslich fürs Leben – wieder so eine Erfahrung, die Bleibendes stiftet, weil sie uns das Herz spüren lässt.
Irgendwann, in späteren Jahren, müssen wir dann aber auch die ganz andere Herzenserfahrung machen, Beklemmung, Druck und Angst. Das Berufsleben zumeist bringt dies in der modernen Welt mit sich. Überforderung, Ungerechtigkeit, Betrug treffen uns so, dass es einem im wahrsten Sinne des Wortes das Herz abschnürt. Jahrelang haben wir an einem Projekt gearbeitet, und plötzlich müssen wir erleben, wie ein anderer, einer, dem wir womöglich vertrauten, die Erfolge unter seinem Namen präsentiert, während wir noch vergebens nach den verschwundenen Unterlagen suchen. Viele müssen solche und ähnliche Erfahrungen immer wieder machen; und nicht immer sind unsere Herzen dem gewachsen. Vielfach reagieren sie mit Beklemmung, mitunter auch mit Infarkt, krankhaftem Herzflimmern oder Herzmuskelentzündungen. Das meiste davon lässt sich heute glücklicherweise wieder ausheilen. Was aber bleibt, ist die Erinnerung an den Druck auf Herz und Seele, an das schmerzhafte Empfinden in der Brust.
Ohne die Erfahrung von Liebe und Leid ist unser Herz nicht zu verstehen. Als bloßer Muskel lässt es sich nicht behandeln. Auch als Ärzte werden wir immer wieder daran erinnert. Erschüttert denke ich daran, wie mein Vater schrie, nachdem mein Bruder, der zweite von uns dreien, in seinen Armen gestorben war. Vergebens hatten wir versucht, seine Leukämie zu besiegen. Der Medizin waren Grenzen gesetzt. Damals musste ich schweren Herzens erkennen und verstehen lernen, dass leben zu dürfen eine Gnade und Sterben unser ständiger Begleiter ist. Am Ende hat das mein Herz erleichtert und befreit. Das Herz meines Vaters aber blieb gebrochen. Der Verlust hinterließ bis zu seinem baldigen Tod einen flimmernden Herzschmerz. Erst allmählich konnten wir das verstehen.
Auch dank solcher Erfahrungen weiß ich heute, dass unser Herz nicht nur eine Pumpe ist, so wie wir es in der medizinischen Ausbildung lernen. Als ein sogenanntes psychosomatisches Organ reagiert es auf seelische Erschütterungen, auf positiven oder negativen Stress. Es schlägt den Takt des Lebens in einem sehr viel umfassenderen Sinn. An ihm hängen Anfang und Ende, auch wenn uns das oft erst in der Not bewusst werden mag. Wer einmal am Bett eines Herzkranken gesessen hat, weiß, wie viele Fragen da plötzlich auftauchen und dass dem Patienten, dem Menschen, mit anatomischen Erklärungen allein nicht geholfen ist. Wenn jemand beispielsweise Tage um Tage mit 41 Fieber gerungen hat, weil er eine Herzmuskelentzündung hatte, will er danach nicht nur hören, dass es sich um eine Myokarditis handelte, nicht bloß erfahren, welche Ursachen und Folgen das haben könnte, er will auch wissen, was das Herz überhaupt ist, was es mit unserer Seele und den Gefühlen, dem Glück der Liebe und mit den Ängsten des Todes zu tun hat. Seit Jahrtausenden schon kreisen die Gedanken der Menschen um diese Fragen, in der Philosophie, in der Kunst sowie in der Literatur und natürlich in der Medizin. Keine Kultur, in der der Herz-Kult nicht eine zentrale Rolle spielt, in der das Herz nicht in die Mitte des Lebens rückte. Wer vom Herzen spricht, berührt immer das Ganze und den Einzelnen zugleich, Empfindung und Verstand zusammen.
Das Organ hat seine eigene Geschichte. Und wer sie verstehen will, der muss die Grenzen der Naturwissenschaft überschreiten. Denn wir Menschen leben nicht nur vom Schlag unseres Herzens, wir fühlen es auch, wir spüren, dass es lachen und weinen, Purzelbäume schlagen oder zerreißen kann. Jeder erfährt das auf seine Weise durch Freude, Liebe, Schmerz und Leid. In zahllosen Kunstwerken, in Bildern, in Versen und Romanen ist diese Erkenntnis aufgehoben. Nur die Wissenschaft hat dies lange nicht wahrhaben wollen. Zum Glück aber gibt es unterdessen auch hierzu neueste Studien, die nun sogar naturwissenschaftlich beweisen: Das Herz fühlt!
Paul Klee (1879–1940), Herzdame. Das Gemälde entstand 1922 und hängt heute in Luzern (Sammlung Rosengart).
Teil I