Dagur Sigurðsson

Feuer und Eis

Mit Leidenschaft zum Erfolg

Mit Fred Sellin

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Dagur Sigurðsson

Dagur Sigurðsson, geboren 1973 in Reykjavik, errang mit Valur Reykjavik fünf Meistertitel. Er spielte 215-mal für die isländische Nationalmannschaft, unter anderem bei Europa- und Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen. 1996 wechselte er nach Wuppertal in die 2. Handball-Bundesliga und stieg schon ein Jahr später mit diesem Team in die 1. Bundesliga auf. Er verließ Wuppertal im Jahre 2000, um die nächsten drei Jahre beim japanischen Verein Wakunaga Hiroshima als Spielertrainer tätig zu werden. Anschließend wurde er Spielertrainer beim österreichischen Verein A1 Bregenz, mit dem er viermal Meister und zweimal Pokalsieger wurde. Anschließend wurde er Manager und Geschäftsführer bei seinem ehemaligen Verein Valur Reykjavik. Von Februar 2008 bis Juli 2010 war er Trainer der österreichischen Nationalmannschaft. Ab dem Sommer 2009 trainierte er den deutschen Bundesligisten Füchse Berlin. Mit den Füchsen erreichte er das Final Four-Turnier in der EHF Champions League 2011/12 und gewann den DHB-Pokal 2014. Seit August 2014 trainiert er die deutsche Handball-Nationalmannschaft. Mit ihr wurde er am 31. Januar 2016 in Polen Europameister. Nach diesem Erfolg wurde er zum »Welthandballtrainer des Jahres 2015« gewählt.

 

Fred Sellin, Jahrgang 1964, studierte Journalistik und arbeitete als Redakteur bei verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen. Als freier Autor hat er unter anderem die Autobiografien von Maria Höfl-Riesch, den Klitschko-Brüdern und Ben Becker sowie Biografien über Heinz Rühmann und Boris Becker verfasst.

Impressum

© 2016 Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Dennis Grombkowski / Bongarts / Getty Images

ISBN 978-3-426-44262-3

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but doesn’t.«

Tom Waits

I
Reykjavík

Vorstadtidylle – Viele Beben, ein Vulkan – Wie Vater gegen Eusébio spielte – Handball oder Fußball? – Theódór, Þorbjörn und die anderen – Der Fluch der Niederlage – Geschäftsideen – Siegermentalität

Wir hatten eine Idee, mein Bruder Lárus und ich. Wir wollten Geschäftsleute werden. Also überlegten wir nicht lange und gründeten eine Firma. Wir gaben ihr den Namen Sigur. Das ist das isländische Wort für Sieg und drückte ziemlich treffend unsere Ambitionen aus. Wir meldeten Sigur ordnungsgemäß beim Handelsregister an. Als Unternehmenszweck schrieben wir: Die Träume der Eigentümer verwirklichen. Ich erinnere mich nicht genau, aber Lárus meint, die Formulierung sei so genehmigt worden. Erst später ersetzten wir sie durch eine, die den Hauptzweck unseres Geschäfts mit »Investment« beschrieb.

Den Firmensitz von Sigur richteten wir in unserem Elternhaus ein. Das stand – und steht noch immer – in Laugardalur, einem für isländische Verhältnisse recht grünen Stadtteil im Nordosten von Reykjavík. Das Haus, ein klassisches Einfamilienhaus mit etwa hundertfünfzig Quadratmetern Wohnfläche, hatte einst unser Großvater, der väterlicherseits, gebaut. Nicht wie man das heute sagt, obwohl man in Wirklichkeit bauen lässt, sondern mit den eigenen Händen, Stein für Stein. Eines der Zimmer im Haus wurde damals als Abstellkammer genutzt. Das richteten wir kurzerhand als Büro her. Irgendwo trieben wir ein Regal auf, das stellten wir an eine freie Wand. In die Mitte des Raums schoben wir einen alten Holztisch und zwei Stühle. Auf der Tischplatte, ebenfalls in der Mitte, bekam unsere größte Errungenschaft ihren Ehrenplatz: ein nagelneues Faxgerät. Das Internet, wie man es heute kennt, steckte zu der Zeit noch in der Startphase. Bei uns hatte das niemand, zumindest keiner, den wir kannten. Das Faxgerät hatte ich beschafft. Es war mein Teil des Stammkapitals, das ich in unser kleines Unternehmen einbrachte. Lárus, der im Gegensatz zu mir bereits verdiente, steuerte Geld bei.

Wir schrieben das Jahr 1993. Ich war zwanzig, Lárus zwei Jahre älter. Er war gerade aus Akureyri zurückgekehrt, einer Stadt im Norden Islands, wo er für zwei Spielzeiten bei der ersten Mannschaft von Þór Akureyri im Tor gestanden hatte. Þór spielte damals in der höchsten isländischen Fußball-Liga. Ich hingegen hatte mich für Handball entschieden, obwohl ich zuvor – parallel zum Handball – auch Fußball gespielt und es mit sechzehn Jahren bis in die isländische Junioren-Nationalmannschaft geschafft hatte.

Mein Heimatverein – beim Fußball wie beim Handball – war Valur Reykjavík. Dort hatte ich gemeinsam mit Lárus angefangen, als ich ungefähr acht Jahre alt gewesen war. Das Vereinsgelände von Valur lag viereinhalb Kilometer von unserem Zuhause entfernt. Es gab andere Sportklubs, die schneller und zu Fuß erreichbar gewesen wären. Da aber unsere Eltern schon bei Valur gespielt hatten, war es für uns selbstverständlich, die Familientradition fortzusetzen.

Die Messlatte lag durch die beiden ziemlich hoch. Mutter war Handballerin gewesen, sie hatte als Linksaußen oder in der Mitte gespielt. Mit ihrer Mannschaft brachte sie das seltene Kunststück fertig, zehn Jahre hintereinander die isländische Meisterschaft zu gewinnen – jeweils in der Altersklasse, in der sie gerade war. Wer weiß, zu welchem Ruhm sie das Handballspielen noch geführt hätte, wäre sie nicht mit einundzwanzig schwanger geworden. Zwar kehrte sie nach Lárus’ Geburt und später auch nach meiner aufs Handballparkett zurück, aber ihr Fokus war in der neuen Rolle als Mutter natürlich ein anderer geworden. Bjarki, mein jüngerer Bruder, soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden. Er wurde allerdings erst sieben Jahre nach mir geboren, zu diesem Zeitpunkt hatte Mutter ihre Handballkarriere bereits beendet.

 

Meine Eltern, Lárus und ich (vorn). Schon als Zweijähriger war ich ganz begeistert von meinem Ball

© Privatarchiv Ragnheiður Lárusdóttir

 

Unser Vater hat es als Sportler sogar zu einiger Berühmtheit gebracht. In Island ist er eine Legende. Wobei er das selbst niemals von sich behaupten würde, das entspricht nicht seinem Naturell. Dabei muss er ein Multitalent gewesen sein. Er fing als Leichtathlet an, wechselte zum Handball, spielte recht erfolgreich, bis er für den Fußball entdeckt wurde – durch Zufall, während eines Schulfußballspiels, bei dem er als Torwart für die Lehrermannschaft einsprang. Da war er neunzehn oder zwanzig, also nicht gerade in einem Alter, in dem man eine Fußballerkarriere startet. Aber das Verblüffende kommt noch: Er kämpfte sich nicht nur bei Valur bis in die erste Mannschaft empor, er wurde einige Jahre später sogar ins Nationalteam von Island berufen.

Nun sind wir nicht unbedingt als die stärkste Fußballnation bekannt. Die diesjährige Europameisterschaft in Frankreich war das erste große Turnier, für das sich eine isländische Nationalmannschaft jemals qualifizieren konnte. Wobei das Team die Rolle des Underdogs immer besser zu spielen versteht und auf diese Weise für einige Sensationen sorgt. Man denke nur an die beiden Siege gegen die Niederlande in der Qualifikation. Und vor allem daran, was die Mannschaft dann bei der Europameisterschaft selbst zustande brachte: Die hoch favorisierten Portugiesen mit einem Unentschieden düpiert. Ich war bei dem Spiel im Stadion. Die Jungs fighteten wie früher die Wikinger. Und dann erst das Spiel gegen Österreich! Ich wäre vor dem Fernseher beinahe gestorben. In der allerletzten Sekunde der Nachspielzeit der Siegtreffer zum 1, der den Einzug ins Achtelfinale perfekt machte. Als Gruppenzweiter wohlgemerkt, vor Portugal. Es erschien einem fast wie ein Traum. Ganz zu schweigen von der Partie gegen England – kaum zu glauben, dass das wirklich passiert ist: Das kleine Island schickte die Mutternation des Fußballs nach Hause. Dass uns die Franzosen dann im Viertelfinale vorführten – geschenkt. Sicher war das keine Sternstunde, aber wie oft hat es das bei einem solchen Turnier gegeben, dass ein Neuling bis ins Viertelfinale vorstieß? Unsere Mannschaft sollte einen Orden bekommen. Über die Tage von Frankreich wird man in Island noch in hundert Jahren reden.

Solche Nadelstiche wie gegen Portugal, Österreich oder England, die vor allem durch einen unbändigen Willen gelingen, sind eine Spezialität der Isländer. Damit haben sie früher schon so manchen Favoriten gepiesackt, wenn auch nicht in dieser Dimension. Zu Zeiten meines Vaters zum Beispiel die Nationalmannschaft der DDR, die als Olympiadritter von 1972 weitaus stärker eingeschätzt wurde als Island, aber durch ein überraschendes Unentschieden in Magdeburg und eine noch überraschendere Niederlage in Reykjavík aus der Qualifikation für die Europameisterschaft 1976 geschossen wurde. Bei dem Spiel in Reykjavík gelang meinem Vater ein Abstoß, an den sich die älteren Fußballfans in Island bis heute erinnern: Die Ostdeutschen hatten einen Angriff abgeschlossen, der Ball war neben seinem Tor gelandet. Blitzschnell schnappte er sich das Leder, um es mit einem kraftvollen Schuss Richtung gegnerisches Tor zu befördern. Der Ball landete bei Ásgeir Sigurvinsson, der ihn Sekunden später im Netz des DDR-Keepers Jürgen Croy unterbrachte. Ásgeir, den sie in Island als Jahrhundert-Fußballer verehren, stand damals als einer der ersten isländischen Fußballer im Ausland, bei Standard Lüttich, unter Vertrag. Später ging er zu Bayern München und zum VfB Stuttgart, mit dem er 1984 sogar Deutscher Meister wurde.

Und noch zwei andere Begegnungen, an denen mein Vater beteiligt war, gingen in die Geschichtsbücher des isländischen Fußballs ein. Die erste hielt lange – ich glaube, für mehr als vier Jahrzehnte – den Rekord für die meisten Zuschauer bei einem Spiel in Island. Es fand am 18. September 1968 statt, im Laugardalsvöllur, damals wie heute unser Nationalstadion. Dieses Datum nimmt jeder, der bei Valur trainiert – ob Fußball, Handball oder Basketball –, früher oder später auf wie Muttermilch. Denn obwohl es kein Länderspiel war, wurde es ein Ereignis von nationaler Bedeutung. Das Interesse war gigantisch. Bereits Stunden bevor die Eintrittskarten verkauft wurden, standen Hunderte Fußballfans Schlange. Nach nur fünfundfünfzig Minuten waren alle Tickets weg. Was neben der Absicht, die einheimische Mannschaft tatkräftig unterstützen zu wollen, zu einem nicht geringen Teil wohl auch an dem prominenten Kontrahenten gelegen haben dürfte: Benfica Lissabon.

Valur war im Europacup der Landesmeister, der heutigen Champions League, gegen den portugiesischen Serienmeister gelost worden. Benfica allein besaß eine ungeheure Strahlkraft, die durch einen berühmten Spieler jedoch noch um ein Vielfaches verstärkt wurde: Eusébio da Silva Ferreira, der »Schwarze Panther«, einer der besten Fußballer aller Zeiten. In Portugal das Sportidol schlechthin, die Menschen dort verehren ihn bis heute, über seinen Tod hinaus, wie einen Gott. Jemanden seines Kalibers verschlug es nicht oft nach Island. Einmal im Leben Eusébio Fußball spielen – ach, was sage ich? – zaubern sehen. Ungefähr das müssen sich meine Landsleute damals gedacht haben.

Bis das Spiel an diesem Septemberabend um 18.15 Uhr angepfiffen wurde, waren 18 309 Zuschauer ins Stadion gepilgert, so viele, wie es Plätze bot, die Stehplätze mit eingerechnet. Für isländische Verhältnisse damals eine fast schon astronomische Zahl. Man darf nicht vergessen, dass in unserem Land nur rund 330 000 Menschen leben. Um in Deutschland den gleichen Prozentsatz zu erreichen, müssten etwa viereinhalb Millionen zu einem einzigen Fußballspiel gehen. Obwohl die Zuschauer auf den Rängen des Laugardalsvöllur in den folgenden neunzig Minuten kein einziges Tor zu sehen bekamen, jubelten nach dem Schlusspfiff alle, die gekommen waren.

 

Ein Highlight in der Fußball-Karriere meines Vaters: die Begegnung mit Eusébio im Spiel gegen Benfica Lissabon

© Archiv Valur Reykjavík

 

 

Unser Vater erinnerte sich noch Jahre später mit Freude an das Spiel, wohl auch mit ein wenig Stolz. Es gibt ein Foto, auf dem er mit Eusébio zu sehen ist. Es muss während der Partie entstanden sein. Beide Männer lächeln. Eusébio hält mit seiner rechten Hand Vaters Nacken. Man könnte meinen, sie hätten sich einen Augenblick zuvor umarmt und waren gerade dabei, sich wieder voneinander zu lösen. Was immer zu dieser Situation geführt haben mochte, Vater hatte allen Grund, zufrieden zu sein. Eusébio war der torgefährlichste Stürmer seiner Zeit. Im selben Jahr verlieh ihm die UEFA den »Goldenen Schuh« (»Soulier d’Or«), die Trophäe für den erfolgreichsten Torjäger der Saison. Zweiundvierzig Mal hatte er in der Primeira Divisão getroffen. Gegen meinen Vater jedoch war ihm kein einziges Tor gelungen.

In einer der Sporthallen auf dem Valur-Gelände, oben auf der Galerie, hängt eine große Tafel, die an die legendäre Begegnung erinnert. Hinter Glas sind neben dem Vereinswimpel und einem Originaltrikot von Benfica zahlreiche Zeitungsartikel zu sehen. Eine der Überschriften lautet: »Das Spiel endete mit einem Unentschieden, 0, und Sigurður Dagsson war der Held«. Damit war der Torhüter gemeint – mein Vater.

Auf das Rückspiel zwei Wochen später im Estádio da Luz in Lissabon spricht man ihn besser nicht an. Noch einmal ließen sich die Portugiesen nicht den Schneid abkaufen. Sie fegten Vaters Mannschaft regelrecht vom Platz. Nach dreiunddreißig Minuten stand es bereits 5 : 0, und am Ende wurde es ein 8 : 1. Wobei Eusébio sich gnädig zurückhielt und nur ein Tor beisteuerte.

Über das andere Spiel, das in die Annalen einging, gibt es nicht so viel zu sagen. Es war ein Länderspiel gegen Nordirland um die Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1978. Das Hinspiel in Reykjavík hatte Island 1 : 0 gewonnen. Es war das erste Zusammentreffen der beiden Nationalteams gewesen. Obwohl das Rückspiel, das im September 1977 in Belfast ausgetragen wurde, nicht erfolgreich endete – Island kassierte zwei Tore und schoss selbst keins –, blieb es stärker in der Erinnerung haften als der Sieg zu Hause. Der Grund hierfür war auch in dem Fall ein Spieler der gegnerischen Mannschaft. Für ihn wurden ähnliche Superlative bemüht wie einst für Eusébio. Sogar Pelé soll einmal über ihn gesagt haben, er sei der beste Spieler gewesen, besser als er selbst. Mit diesem Lob adelte er niemand anderen als George Best, das nordirische Ballgenie, einer der ersten Popstars unter den Fußballern, der dann leider in die Alkoholsucht abdriftete und daran wohl auch zugrunde ging.

 

Vater als Torhüter der Nationalmannschaft gegen Nordirland. George Best (dahinter) beobachtet, wie er den Ball hält

© Victor Patterson

 

In jenem September absolvierte Best, der beim Hinspiel in Reykjavík nicht auf dem Rasen gestanden hatte, einen seiner letzten Auftritte im nordirischen Nationaltrikot. Gegen jemanden wie ihn zu spielen, hatte für meinen Vater natürlich einen speziellen Reiz. Best war noch immer enorm antrittsschnell und konnte mit beiden Füßen nahezu gleich gut schießen. Immerhin gelang es meinem Vater, sein Tor eine Stunde sauber zu halten. Um genau zu sein: bis zur 62. Minute. Dann musste er zum ersten Mal hinter die Torlinie greifen. Und eine knappe Viertelstunde darauf noch einmal. Doch der Schütze hieß in beiden Fällen nicht George Best.

Valur besitzt für meine Brüder und mich eine besondere Bedeutung, ich meine, über das Sportliche hinaus. Ohne den Verein wären sich unsere Eltern wahrscheinlich nie begegnet, jedenfalls nicht so, dass aus den beiden ein Paar geworden wäre. Und dann gäbe es unsere Familie nicht. Mutter war achtzehn, als sie eines Tages vor der Sporthalle von einem jungen Mann angerempelt wurde. Der musste sich sputen, um nicht zu spät zum Training zu kommen, und hatte sie in der Hektik offenbar übersehen. So klingt die Version aus dem Mund meines Vaters. Er sei kurz stehen geblieben, um sich zu entschuldigen, habe ihr dabei ins Gesicht geguckt – und sei von ihrem Anblick sofort fasziniert gewesen. Wenn er davon erzählt, schmunzelt er immer.

In der Erinnerung meiner Mutter beginnt die Geschichte etwas später. Den unsanften Rempler schien sie vergessen zu haben, kaum dass er geschehen war. Aber auch für sie fand der erste Kontakt zwischen ihnen bei Valur statt, im Vorbereich, den man durchqueren musste, um zu den Umkleidekabinen und in die Halle zu gelangen. Dort seien sie sich einige Male begegnet. Anfangs hätten sie lediglich Blicke getauscht, bald aber auch miteinander gesprochen, bis die ersten Verabredungen folgten. Wobei das noch keine richtigen Rendezvous waren. Sie gingen gemeinsam mit Freunden nach dem Training essen, in der Gruppe, so war das üblich in ihrer Jugend. Gegessen wurde meist Smörrebröd, die dänische Brotspezialität, die auch unter Isländern sehr beliebt ist. Zwei Jahre später heirateten sie.

Fragt man meine Eltern, sagen sie, ich hätte von beiden das Beste mitbekommen: das Ruhige vom Vater, das Temperamentvolle von der Mutter. Na ja, ich weiß nicht … Gern erzählen sie auch, dass ich ein Geburtstagsgeschenk gewesen sei – weil ich am 3. April geboren wurde, einen Tag vor dem Geburtstag meiner Mutter. Aber das war Bjarki, der Jüngste von uns, dann auch, nur eben für unseren Vater. Bjarki kam am 26. September zur Welt, einen Tag vor Vaters Geburtstag. Man hätte es glatt als Absicht auslegen können, als hätten wir beide den entscheidenden Moment bewusst hinausgezögert. Sowohl Bjarkis als auch mein Geburtstermin war von den Ärzten nämlich für deutlich früher errechnet worden. Bjarki kam sogar erst zwanzig Tage nach dem vorhergesagten Datum. Die Wahrheit aber dürfte sein, dass die Geburtsterminberechnungen zur damaligen Zeit einfach um einiges ungenauer ausfielen als heutzutage.

1973, das Jahr meiner Geburt, begann mit gewaltigen Eruptionen, wie sie Island lange nicht erlebt hatte. Auf Heimaey, einer der Westmännerinseln vor der Südwestküste, Luftlinie etwa einhundertzwanzig Kilometer von Reykjavík entfernt, zehn Minuten mit dem Flugzeug, begann am Abend des 21. Januar die Erde zu beben. Über einhundert Erschütterungen wurden in den folgenden Stunden registriert. Allerdings waren sie so schwach, dass niemand ahnte, welch Unheil sich da ankündigte. Erdbeben gehören in Island zum Alltag. Fast ständig brodelt es irgendwo, vor allem im Hochland und besonders im Gebiet des Vatnajökull. Und meist mit einer Stärke von weniger als 3 auf der Richterskala, gelegentlich allerdings auch darüber, was dann fast im gesamten Land zu spüren ist.

Die Beben auf Heimaey lagen zwar im niedrigen Bereich, dafür brach zwei oder drei Tage später auf einer Länge von etwa drei Kilometern die Erdkruste auf. Ausgerechnet in unmittelbarer Nähe des Hauptortes, in dem nahezu alle der rund fünftausend Inselbewohner lebten. Es dauerte nicht lange, und aus dem riesigen Spalt schossen gigantische Lava-Fontänen bis zu einhundertfünfzig Meter in die Höhe. An einer Stelle, wenige Schritte neben einem Gehöft, auf dem eine Kirche stand, war der Ausbruch besonders heftig. Nach nur zwei Tagen hatten sich dort die Lavamassen zu einem etwa einhundert Meter hohen Vulkankegel aufgetürmt.

Die Inselbewohner hatten Glück im Unglück. Ein Großteil von ihnen lebte vom Fischfang. Hätten an den Tagen zuvor nicht orkanartige Stürme getobt, wären die meisten Schiffe auf dem Wasser gewesen. So aber konnte sofort begonnen werden, die Bevölkerung zu evakuieren. Das Wetter war inzwischen umgeschlagen, der Wind abgeflaut. Einige Insulaner, hauptsächlich Kranke und Gebrechliche, die anders nicht zu transportieren waren, wurden mit kleinen Propellermaschinen nach Reykjavík geflogen. Nach sechs Stunden waren fast alle in Sicherheit gebracht.

Viele Isländer versuchten, den Evakuierten beizustehen. Meine Großeltern mütterlicherseits stellten ihr Sommerhaus in Mosfellsbær zur Verfügung, wo wir später als Kinder viele ausgelassene Sommertage verbringen sollten. Zwei Familien fanden dort für einige Monate ein neues Zuhause. Der Vulkan spie noch Lava und Gesteinsbrocken in die Luft, als ich auf die Welt kam. Insgesamt fünf Monate blieb er aktiv. An manchen Orten auf Heimaey bedeckte die niedergegangene Asche meterhoch den Erdboden. Mehr als vierhundert Häuser wurden zerstört, dazu das Kraftwerk der Insel und Teile des Hafens, der für die Fischversorgung ganz Islands von Bedeutung war. Die Aufräumarbeiten dauerten Jahre. Bis heute ist die Temperatur im Inneren der erstarrten Lavaströme so hoch, dass das heiße Gestein zur Stromgewinnung genutzt wird.

 

Mit meinen Eltern, Lárus (2.v.r.) und Bjarki (vorn) Anfang der Neunzigerjahre

© Privatarchiv Ragnheiður Lárusdóttir

 

Ich wurde in ein typisches Reykjavíker Vorstadtleben hineingeboren. Man könnte es auch Vorstadtidylle nennen. Entlang unserer Straße, die eine etwa zehnminütige Autofahrt von der Innenstadt entfernt lag, reihten sich auf beiden Seiten Ein- und Zweifamilienhäuser. Viele waren von einem kleinen Garten umgeben. Nach Lárus’ Geburt war Mutter zu Hause geblieben. Vater arbeitete als Grundschullehrer. Neben den allgemeinen Fächern unterrichtete er Sport. Seine Fußballkarriere betrieb er als Freizeitbeschäftigung, was nicht ungewöhnlich war. Selbst heute gibt es bei uns Nationalspieler, die keine Vollprofis sind. Damals war es, soviel ich weiß, keiner. Es war aber auch deshalb nicht ungewöhnlich, weil viele Isländer zwei oder sogar drei Jobs gleichzeitig haben. Warum das so ist? Dazu hat wahrscheinlich jeder seine eigene Philosophie. Ich glaube, abgesehen von der Tatsache, dass es um Geldverdienen geht, sind die meisten Isländer einfach gern beschäftigt. Müßiggang ist nicht ihr Ding. Wie sonst sollte man auch die endlos langen Tage im Sommer herumbringen? Und womit die unzähligen dunklen Stunden im Winter ausfüllen? Aber sagen wir doch einfach: Isländer sind ein fleißiges Völkchen und traditionell recht geschickt darin, sich auf mehr als nur eine Sache zu konzentrieren. Das ist jedenfalls nicht die schlechteste Gabe, wie ich selbst noch erfahren sollte.

Außer meinen Eltern, Lárus, mir und später Bjarki lebte noch mein Großvater väterlicherseits mit in dem Haus, das er einst erbaut hatte. Großmutter, seine Frau, habe ich leider nie kennengelernt, sie war in dem Jahr vor meiner Geburt gestorben. Die beiden waren nicht die leiblichen Eltern meines Vaters, sie hatten ihn als Baby adoptiert. Vater sagt immer, er habe großes Glück gehabt, er hätte sich keine besseren Eltern wünschen können.

Großvater hieß Dagur. Von ihm habe ich meinen Namen. Den Namen an seine Nachfahren weiterzugeben, ist keine Pflicht, aber eine alte Tradition in Island. Auch Lárus, der noch einen zweiten Vornamen hat, Blöndal, ist auf diesem Weg zu seinem Namen gekommen, er wurde nach dem Vater unserer Mutter benannt. Mutters Eltern wohnten auch in Reykjavík. Ihr Vater besaß auf der Laugavegur, der Haupteinkaufsstraße, einen Buchladen, von dem noch die Rede sein wird. Großvater war kein ausgebildeter Buchhändler. Das Wissen, das er für das Geschäft benötigte, hatte er sich selbst angeeignet. Auch so eine Geschichte, die typisch ist für Island: Man hat eine Idee und packt’s einfach an. Der Laden lief viele Jahre gut. Erst als Bücher auch in Supermärkten vertrieben wurden, wurde die Konkurrenz zu groß, und er verkaufte ihn. Aber da war er auch schon siebzig Jahre alt.

Die Sache mit den Namen sollte ich genauer erklären. Sie ist etwas gewöhnungsbedürftig, zumindest für Fremde. In Island existieren nämlich keine traditionellen Familiennamen. Wenn man geboren wird, bekommt man ganz normal einen Vornamen, oder auch zwei. Der Nachname jedoch wird nicht von den Eltern übernommen, sondern aus dem Vornamen des Vaters gebildet, in Ausnahmefällen aus dem der Mutter. Das nennt man Patronym beziehungsweise Metronym. Eltern und Kinder haben also unterschiedliche Nachnamen, und die Eltern selbst auch. Das ändert sich nicht einmal durch die Eheschließung, sonst würde das System keinen Sinn machen. Da mein Vater mit Vornamen Sigurður heißt, erhielt ich den Nachnamen Sigurðsson – Sigurðurs Sohn. Genau wie Lárus und Bjarki. Hätten wir eine Schwester gehabt, trüge sie den Nachnamen Sigurðardottir – Sigurðurs Tochter. Eigentlich ganz einfach. Wer mal nach Island kommt, wird schnell merken, dass die Nachnamen im alltäglichen Umgang kaum eine Rolle spielen. Das Telefonverzeichnis zum Beispiel ist nach Vornamen sortiert. Selbst der Präsident, das Staatsoberhaupt, oder der Premierminister werden mit ihren Vornamen angesprochen.

 

Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, fällt mir als eines der ersten Dinge ein Ball ein, den ich ständig und überall mit mir herumschleppte. Ich vermute, er stammte aus dem Sportgeschäft, das meinem Onkel Guðjón gehörte. Jedenfalls waren wir beide, der Ball und ich, unzertrennlich. Es war ein Fußball aus schwarz-weißem Leder, der später natürlich auch mit zur Schule musste – und zwar jeden Tag. Meine Mutter erinnert sich gut an einen Elternabend, bei dem ihr mein Lehrer sein Leid klagte: Ich würde in den Pausen mit dem Ball immer als Erster nach draußen flitzen und am Ende immer als Letzter wieder an meinem Platz erscheinen. Und jedes Mal würde ich schwitzen wie ein … Moment, dieses Wort will mir gerade nicht einfallen. Ich glaube, er meinte ein grunzendes Tier. Und dann – er schien etwas verzweifelt zu sein – fragte er meine Mutter, ob sie mich nicht in einer Musikschule anmelden wolle. Nun ist Musik eine großartige Sache und eine wunderbare Beschäftigung noch dazu, ich liebe Musik, aber das entdeckte ich erst später – und ganz ohne Zwang.

Unser Schulhof war auch nach dem Unterricht ein beliebtes Revier. Anders als in Deutschland sind Schulgelände und deren Sportplätze in Island den ganzen Tag zugänglich, und das auch in den Ferien. Erst lief ich zum Mittagessen schnell nach Hause. Der Weg war ein Klacks, es dauerte keine fünf Minuten, bis ich vor unserem Haus ankam. Und anschließend zog ich wieder los, um noch ein paar Stunden mit Schulkameraden zu spielen. Wenn man das heute jungen Leuten erzählt, hört es sich an, als käme man aus einer anderen, sehr fernen Epoche: Handys, Tablets, Computerspiele – all das gab es nicht, und fernsehen durften wir nur am Wochenende, eine halbe Stunde Kinderprogramm.

Der Ball erinnert mich aber auch an die herrlichen Sommer, die unsere Familie in Mosfellsbær verbrachte. Mutters Eltern besaßen ihr Sommerhaus dort schon länger. Vater baute eins für uns, als ich ungefähr fünf Jahre alt war, ganz in der Nähe. Nichts Luxuriöses – vier Wände, ein Dach, ein paar Fenster, eine Tür. Zum Duschen gingen wir zu den Großeltern. Wenn ich daran denke, bekomme ich Gänsehaut – die Dusche befand sich nämlich draußen. Nur einen Steinwurf von unserem Häuschen entfernt gab es eine große Wiese – oder besser gesagt ein Feld, dessen Boden eben genug war, um darauf Fußball zu spielen. Lárus und ich konnten den Tag immer kaum erwarten, an dem die Eltern unseren Saab vollpackten und es endlich losging. Da wir meistens über die gesamten Sommerferien blieben, die fast drei Monate dauerten, von Anfang Juni bis Ende August, war es jedes Mal wie ein kleiner Umzug.

Wenn uns dort draußen auf dem Land jemand beobachtet hätte, er hätte vermutlich gedacht: Diese armen Kinder, sie müssen monatelang angekettet gewesen sein. Den ganzen Tag tobten wir durch die Gegend. Oder wir jagten Stunde um Stunde dem Ball hinterher. Oder wir spielten Indianer. Großvater bastelte uns Flitzebogen aus Bambus. Irgendwann fanden wir die Kieferknochen von einem Schaf – das wurden unsere Pistolen. Lárus war der Häuptling, ich hatte ihm zu folgen. Wobei ich das nicht lange gut fand, dann wäre ich gern selbst der Anführer gewesen. Aber darüber ließ mein Bruder nicht mit sich diskutieren.

Vielleicht lag es daran, dass wir zu unterschiedlich waren, charakterlich meine ich. Vielleicht war es aber auch, weil wir ständig zusammenhockten, von morgens bis abends. Was auch immer die Gründe gewesen sein mochten – es gab Momente, in denen es mit Lárus und mir einfach nicht funktionierte. Mutter meint, ich sei jemand, der schnell mal explodiert, sich dann aber fast genauso schnell wieder einkriegt. So sei ich als Kind schon gewesen. Klingt ein wenig nach Klischee, von wegen brodelnder Vulkan und Eisberg und so. Aber wenn sie das sagt, werde ich mich nicht hinstellen und das Gegenteil behaupten. Sie ist meine Mutter, sie kennt mich am längsten. Und schließlich gibt sie ja selbst zu, dass ich ihr Temperament geerbt habe.

Niemand von unserer Familie kann sich an den Grund erinnern, ich auch nicht, obwohl es mich am meisten betraf. Trotzdem scheint es für alle eine Geschichte zu sein, die sich ins Gedächtnis gebrannt hat. Mit Ausnahme von Bjarki, er war noch zu klein und kennt sie deswegen nur vom Hörensagen. Sobald wir bei irgendeiner Gelegenheit auf unsere gemeinsamen Sommer in Mosfellsbær zu sprechen kommen, ist es meist nur eine Frage der Zeit, bis sie jemand hervorkramt. Ich muss neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. Lárus und ich hatten miteinander gespielt und waren uns dabei in die Haare geraten. Worum es ging, ist wie gesagt inzwischen ein Rätsel. Auf jeden Fall muss ich ganz schön wütend gewesen sein, mehr als üblich wenn wir stritten. Ich stiefelte los, schnappte mir das erstbeste Fahrrad, an dem ich vorbeikam, es war das meiner Tante, setzte mich drauf und trat in die Pedale, was das Zeug hielt.

Ob ich sofort entschied, wohin ich verschwinden wollte, oder erst nachdem die schlimmste Wut verraucht war, weiß ich nicht mehr. Den ersten Teil, wie ich mit zornesrotem Kopf von unserem Grundstück stapfte, bekamen meine Eltern noch mit. Da das nicht zum ersten Mal vorkam und Lárus und ich manchmal auch so stundenlang durch die Botanik stromerten, dachten sie sich nichts weiter dabei. Wahrscheinlich glaubten sie, ich würde zu den Großeltern hinübermarschieren und mich spätestens dort abreagieren.

An dem Tag zog sich das Abreagieren allerdings etwas länger hin, fast fünfundzwanzig Kilometer – bis zu unserem Zuhause in Reykjavík. Anderthalb bis zwei Stunden dürfte ich für die Strecke gebraucht haben, es ging ein paarmal bergauf und bergab, was mit dem Rad gar nicht so leicht zu bewältigen war. Zu meinem Verdruss bekam ich noch am gleichen Tag die – zugegeben unfreiwillige – Gelegenheit, den Asphalt der Straße ein zweites Mal zu vermessen, diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Nachdem ich nicht wieder aufgetaucht und auch bei den Großeltern nicht zu finden war, herrschte in Mosfellsbær Alarmstimmung. Ich war schon ein Weilchen zu Hause, als auf einmal das Telefon läutete – mein Vater war dran. Er war extra zum nächsten Hospital gefahren, da weder wir noch die Großeltern im Sommerhaus einen Telefonanschluss hatten. Zwar klang er erleichtert, als er meine Stimme hörte und erfuhr, dass mir nichts geschehen war. Dann aber fand er, dass es nun reichte mit meinen Mätzchen. Ich sollte mich aufs Rad schwingen und schleunigst zurückkommen.

Etwa zu der Zeit war es auch, als meine Begeisterung fürs Ballspielen zusätzlich angestachelt wurde. Lárus meldete sich bei Valur an, und ich wollte natürlich unbedingt dabei sein. Mein Bruder meint, wir seien aufgewachsen wie Zwillinge. Wenn er irgendwo hinging, hatte er mich im Schlepptau. Ob ihm das immer gefiel? Ich kann es mir kaum vorstellen. Aber er war nun einmal der Älteste von uns Kindern und somit verantwortlich für seine jüngeren Geschwister. Meine Eltern jedenfalls sahen darin seine Pflicht. Ich fand diese Regelung perfekt. Für mich gab es nichts Aufregenderes, als mit den größeren Jungs zusammen zu sein. Und nicht nur mit ihnen Zeit zu verbringen, sondern ihnen bei dem, was sie trieben, möglichst ebenbürtig zu sein. Am Anfang war das eine mächtige Herausforderung, aber genau das muss mich gereizt haben. So sehe ich es heute, damals habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. In dem Alter dürften solche Prozesse eher im Unterbewusstsein ablaufen. Wie auch immer. Meinem Ehrgeiz schien diese Konstellation, die ich selbst herbeiführte, jeden Tag aufs Neue, nicht abträglich gewesen zu sein. Es dauerte nicht lange, dann durfte ich im Verein bei den Älteren mitspielen.

Einige Monate nachdem wir mit dem Fußball begonnen hatten, kam Handball hinzu. Das fügte sich zwangsläufig so, aufgrund des isländischen Klimas. Damals gab es so gut wie keine Fußballhallen, und auch Kunstrasenplätze waren äußerst rar, sodass nur in den wärmeren Monaten Fußball gespielt wurde. Wobei »wärmer« in diesem Zusammenhang als ein relativer Begriff zu verstehen ist. In Island sagt man, es gibt nur zwei Jahreszeiten: Hoffnung und Enttäuschung. Manche nennen es auch Dauerherbst. Mit Hoffnung sind jene Monate gemeint, in denen sich die Sonne am Tag höchstens für zwei, drei Stunden blicken lässt oder zumindest hinter dicken Wolken dafür sorgt, dass es nicht vollkommen nachtfinster bleibt. Die restlichen Monate fallen unter Enttäuschung. Zwar ist es dann länger hell, doch Sonnenscheindauer und Höhe der Temperaturen liegen in einem Bereich, der einen nicht wirklich zufrieden stimmt. Richtig warm wird es selbst im Hochsommer nicht. Es sei denn, man findet fünfzehn Grad richtig warm. Dafür wird es durch den Golfstrom aber auch fast nie richtig kalt. Zumindest wenn man sibirische Winter als Maßstab für Kälte nimmt. Wobei ich das gar nicht so dramatisch sehe. Ich mag das raue Klima, es hat Charakter. Das isländische Wetter ist eine robuste Kämpfernatur, eine Urgewalt.

Es war also der normale Lauf der Dinge, dass wir Fußballer als Handballer überwinterten, um im Frühjahr den kleineren Ball wieder gegen den größeren zu tauschen und die beheizte Halle gegen den zugigen Fußballplatz. In den Übergangsphasen überlappte es sich manchmal, sodass wir für einige Wochen beide Sportarten parallel trainierten. Aber das störte mich nicht, im Gegenteil. Wäre es nach mir gegangen, ich hätte jede freie Stunde bei Valur verbracht. Wobei ich nicht hätte sagen können, was mir mehr Spaß bereitete. Ob ich lieber Tore warf oder schoss. Ich spielte sogar auf ähnlichen Positionen, beim Fußball im Mittelfeld, beim Handball im mittleren Rückraum. Was vermutlich kein Zufall war. Naturgemäß gibt es die unterschiedlichsten Spielertypen. Ich war einer, der gern von hinten heraus agierte, Spielzüge aufbaute und dabei möglichst noch den Überblick behielt. Und das funktionierte auf diesen Positionen am besten.

Im Nachhinein lässt sich da vieles hineininterpretieren. Einer meiner damaligen Mitspieler beim Handball behauptet, man habe bei mir schon früh erkennen können, dass ich taktisches Verständnis besaß, ein Spiel gut lesen konnte und somit wie geschaffen war für eine Führungsrolle. Wenn es so gewesen sein sollte, wunderbar, das würde mich freuen. Das heißt aber nicht, dass ich mit dem Vorsatz zum Fußball oder Handball gegangen wäre, ein Führungsspieler zu werden. Oder weil ich erpicht darauf war, mir eines Tages eine Kapitänsbinde über den Arm streifen zu dürfen. Ich hatte einfach Spaß am Sport. Und der Spaß war immer dann am größten, wenn wir ein Spiel gewannen. Also war es nur eine logische Konsequenz, dass ich alles unternahm, um meinen Teil zum Erfolg beizusteuern. Das musste mir nicht erst jemand sagen. Und es machte für mich auch keinen Unterschied, ob wir ein Trainings- oder Freundschaftsspiel absolvierten oder eins, bei dem es um Punkte in der Meisterschaft ging. Wer anfängt, dazwischen zu unterscheiden, sägt selbst den Ast ab, auf dem er sitzt. Mag sein, dass ich ein wenig übertreibe, aber ein Siegertyp wird nur der, der immer gewinnen will, ausnahmslos. Dass das – immer zu siegen – niemandem gelingt, ist eine andere Geschichte. Trotzdem muss erst mal der Wille da sein, sonst klappt es von vornherein schon nicht.

Meine Mitspieler, zumindest die beim Handball, müssen das ähnlich empfunden haben. Vielleicht trügt die Erinnerung, aber ich habe es so gespeichert, dass wir in manchen Spielzeiten – und das waren nicht wenige – keine einzige Partie verloren. Wahrscheinlich haben wir uns ein paar Unentschieden eingehandelt, aber die verhinderten nicht, dass wir ein ums andere Mal isländischer Meister wurden. Jetzt, da ich mir die alten Bilder anschaue, fällt mir auf, dass ich gleich in meinem ersten Jahr bei den Handballern am Erfolg schnuppern durfte. Da spielte ich noch mit Lárus in einer Mannschaft. Auf dem Foto, das anlässlich unseres Gewinns der Meisterschaft aufgenommen wurde, hocken wir beide in der vorderen Reihe. Lárus trägt auf seinem roten Valur-Trikot die Nummer 10, ich hatte die 8, die meine Nummer blieb, bis ich in die Männermannschaft aufrückte. Aber das war Zukunftsmusik, ungewiss und weit entfernt.

 

Meine erste Handball-Mannschaft: Ich bin der mit der Nummer 8, Lárus hat die 10, links unser Trainer Magnús Blöndal

©Archiv Valur Reykjavík

 

Natürlich gab es auch Spielzeiten, in denen wir weniger erfolgreich waren und manche Niederlage kassierten. Allerdings, das gebe ich zu, war ich nie gut darin, mich damit abzufinden. Einmal verloren wir kurz vor Ende der Saison ein Auswärtsspiel, was uns die Meisterschaft vermasselte, also doppelt ärgerlich war. Heute könnte ich den Frust, der nach dem verpatzten Spiel in mir hochkochte, verbergen. Wer mich nicht so gut kennt wie meine Familie, würde kaum merken, wie es in mir brodelt. Obwohl ich innerlich genauso kochen würde wie damals. Ich wünschte, es wäre anders, aber das hat sich in all den Jahren kein bisschen geändert. Eine Niederlage ist wie ein fieser Schlag in die Magengrube, der einen üblen Schmerz auslöst, der einen quält und nicht so bald nachlässt. Oder kurz gesagt: einfach Bullshit. Ich hasse es, zu verlieren, das frisst mich auf.

Und jetzt muss man sich vorstellen, dass ich ein Teenager war, ein Heißsporn wie er im Buche stand. Ich war stocksauer. Nicht nur, dass unsere Mannschaft besiegt worden war. Ich hatte es nicht verhindern können, deshalb war es auch meine ganz persönliche Niederlage. An dem Tag hatte sich die ganze Welt gegen uns verschworen, so kam es mir vor. Nicht jedes Detail von dem, was anschließend geschah, ist mir präsent geblieben. Aber ich muss ganz schön geflucht haben und wie ein angestochenes Tier durch die Kabine gesprungen sein. Und hinterher sah eine Tür nicht mehr aus, wie sie hätte aussehen sollen. Dafür entschuldige ich mich nachträglich, ich fürchte, das war mein Fuß.

Þorbjörn Jensson, der früher selbst spielte, für Island bei den Olympischen Spielen 1984 antrat und später mein Trainer werden sollte, erzählte einmal, ich hätte nach manchen Niederlagen sogar Tränen vergossen, und das im Alter von zwanzig Jahren noch. Ich könnte jetzt leicht sagen: Da muss sich der gute Þorbjörn verguckt haben, das waren keinen Tränen, sondern Schweißtropfen. Jeder weiß, dass beim Handball Sturzbäche an Schweiß fließen. Doch warum sollte ich lügen? Wenn man etwas aus vollster Überzeugung und mit ganzem Herzen tut, ist es für einen in dem Moment die wichtigste Sache der Welt. Man wirft alles, was einem zur Verfügung steht, in die Waagschale, um es zu einem guten Ende zu bringen. Und wenn das dann schiefgeht, all die Mühen und der Aufwand nicht belohnt werden – also, wenn man in einer solchen Situation keine Gefühle zeigen darf, dann weiß ich auch nicht.

Es ist schwer zu beschreiben. Der Verein, die Leute, das Drumherum – irgendwie übte das Ganze einen besonderen Zauber auf mich aus. Und der steigerte sich, je länger ich dabei war. Unser Jahrgang war eine eingeschworene Truppe. Jeden von uns trieb auf seine Weise der Ehrgeiz an, aber wir spürten nie so etwas wie Zwang oder Druck. Wir spielten nicht für den Trainer oder sonst wen im Verein, wir spielten für uns. Wir mussten nicht gewinnen, sondern: Wir wollten gewinnen. Vielleicht war das der Grund unseres Erfolgs. Neben der Tatsache natürlich, dass wir gute Handballer waren und noch bessere werden wollten.

Hätte mich zu der Zeit jemand gefragt, welches Ziel ich habe, was ich als Handballer einmal erreichen möchte, die Antwort wäre mir leichtgefallen. Weder träumte ich davon, viel Geld zu verdienen, was in Island ohnehin ein vergebliches Unterfangen gewesen wäre. Handballer waren bestenfalls Halbprofis und weit davon entfernt, Reichtümer anzuhäufen. Noch schwebte mir vor, in die Welt hinauszuziehen, um in Deutschland oder Spanien oder sonst wo auf dem Planeten bei einem namhaften Klub anzuheuern. Das Größte, was ich mir als zwölf- oder vierzehnjähriger Junge vorstellen konnte, war: eines Tages in der ersten Männermannschaft zu spielen – hier in Reykjavík, bei meinem Heimatverein. Und vielleicht noch, mit etwas Fantasie: im Nationalteam, mit der Flagge unseres Landes auf der Brust. Wie das Geir Sveinsson tat, der heute die isländische Nationalmannschaft trainiert, oder Valdimar Grímsson, Guðmundur Hrafnkelsson, der Torhüter, Jakob Sigurðsson, Júlíus Jónasson und wie sie alle hießen. Diese Männer waren unsere Helden. Sie trainierten mehr und härter als alle anderen. Sie steckten Verletzungen weg, als würden sie die gar nicht spüren, Prellungen, Verstauchungen, selbst Rippenbrüche. Und sie hatten erreicht, wovon wir kaum zu träumen wagten. Ihnen eiferten wir nach. Wie sie wollten wir werden.

Für mich war es schon ein riesiger Ansporn, mit älteren Jungen in einer Mannschaft trainieren und spielen zu dürfen. Aber das war nichts im Vergleich zu der Motivation, die in uns wachgekitzelt wurde, weil wir bei Valur unseren Helden so nah sein konnten. Wir trainierten in derselben Halle wie sie, wir benutzten die gleichen Umkleidekabinen. Im Foyer liefen sie an uns vorüber, als wäre es die normalste Sache der Welt – und das war es ja auch. Wir grüßten sie und bemühten uns dabei, nicht schüchtern zu wirken, nicht wie kleine Jungs. Und während wir ihnen hinterherguckten, bewunderten wir sie still für ihren letzten Sieg.

Mag sein, dass mein Blick in die Vergangenheit etwas romantisch wirkt. Dabei beschreibe ich nur, wie wir es in dem Alter empfanden. Und ich glaube, dass sie heute nicht viel anders funktioniert, die Sache mit den Vorbildern und der Motivation. Ein Weltmeistertitel oder gar ein Olympiasieg als Ziel ist in diesem Stadium viel zu abstrakt, um daraus einen besonderen Antrieb zu entwickeln. Was man sich vornimmt, sollte zur eigenen Vorstellungswelt passen. Es bringt nichts, dabei gedanklich in Bereiche emporzuschweben, die einem selbst utopisch erscheinen. Das müssen wir damals instinktiv erkannt haben. Die erste Mannschaft, das war unser Ziel, ambitioniert – nicht jeder schaffte den Sprung –, aber kein Hirngespinst. Ansonsten dachten wir von Spiel zu Spiel, getreu dem Motto: Es gibt nur ein Spiel, das wirklich wichtig ist – das nächste. Aber das war dann auch das allerwichtigste überhaupt, an dem Tag und in jeder Minute, die man auf der Platte stand. Oder auf dem Rasen, beim Fußball galt das genauso.

 

 

Als Fußballer im Nachwuchs-Nationalteam: Ich stehe in der hinteren Reihe, genau in der Mitte

© Archiv Valur Reykjavík